Anonyme Alarmisten und ihre bequemen Unwahrheiten Betrachtungen über ein einflußreiches duo fatal

Gängelband des Jahres 2007 Laudatio

Stiftung Liberales Netzwerk

Potsdamer Platz 6a, 10117 Berlin

19. Oktober 2007

Carlos A. Gebauer

Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren,

die Stiftung Liberales Netzwerk verleiht das Gängelband des Jahres stets an eine Person, die eigene Interessen in herausragender Weise über das Interesse der Allgemeinheit stellt und hierdurch die persönliche Freiheit einzelner Bürger maßgeblich behindert.

Der Preis wird in diesem Jahr nicht – wie in der Vergangenheit üblich – an eine individualisierbare Person oder an eine bestimmte Institution verliehen. Die Stiftung hat statt dessen entschieden, einen Preisträger auszuzeichnen, der selber nur sehr schwer greifbar ist. Unser diesjähriger Preisträger ist nämlich einerseits überall, andererseits auch nirgendwo.

Dieser Umstand macht es nicht gerade einfach, ihm eine Preisrede zu widmen. Sie erfordert daher zunächst eine Vorbemerkung und dann noch drei weitere Zwischenbemerkungen, bevor zum eigentlichen Grund seiner Auszeichnung ausgeführt werden kann.

I.

Wer einen anderen Menschen „gängeln“ möchte, um die Interessen bestimmter Personen gegenüber dem Wohl der Allgemeinheit rücksichtslos durchzusetzen, der sieht sich zunächst vor eine rein technische Aufgabe gestellt. Diese lautet: Wie bewegt man Menschen zu Handlungen, zu denen sie aus eigenem Antrieb und aus eigener Veranlassung nicht bereit wären? Es stellt sich mit anderen Worten die ganz grundlegende Frage: Wie gängelt man möglichst effektiv?

1.) Die brachialste Form, einen anderen Menschen zu Handlungen zu zwingen, die er selbst eigentlich nicht vornehmen würde, besteht schlicht darin, Gewalt anzuwenden. Dies ist gleichsam die maoistische Variante des Gängelns, frei nach dem Motto: Die Macht kommt aus den Gewehrläufen.

Die Anwendung äußeren Zwanges (oder auch nur dessen glaubhafte Androhung) ist in der Regel ohne weiteres geeignet, andere Menschen zu bestimmten Handlungen zu bewegen. Auch hier gibt es allerdings verschiedene Schattierungen der Gewaltinstrumentalisierung. Sie reichen über den Einsatz des schon genannten militärischen Gewehres über den Bau antifaschistischer Schutzwälle bis hin zu feineren Methoden.

Aus dem Bereich der Gastronomie bekannt ist der Standard einer Schutzgelderpressung („Wenn Du nicht zahlst Luigi, dann bruzzeln in Deinem Laden demnächst nicht nur die Sardellen!“). Ein ähnlicher Mechanismus ist beispielsweise auf dem Gebiet der Sozialversicherung bekannt in der Gestalt von Versicherungspflichten nach dem Sozialgesetzbuch in Zusammenschau mit der gefängnisandrohenden Strafvorschrift des § 266a StGB.

2.) Eine demgegenüber im Ansatz weitaus freundlichere Methode, andere Menschen zu bestimmten Handlungen anzuhalten, besteht in der friedlicheren Variante des Bittens. Wer einen anderen um einen Gefallen bittet oder ihn um eine barmherzige Tätigkeit ersucht, der kann ebenfalls Handlungen erwirken, die dieser andere ohne entsprechende Aufforderung nicht sogleich vorgenommen hätte.

3.) Eine dritte Variante, fremdes Handeln zu bewirken, liegt in der Verbreitung von Fehlinformationen bzw. Lügen. Diese Methode ist nicht nur Heiratsschwindlern bekannt. Auch im politischen Bereich gibt es hierfür hinlänglich bekannte Beispiele: „Die Renten sind sicher“. Jedenfalls ist diese Technik aber nie völlig zu trennen von der Erkenntnis, daß Lügen kurze Beine haben (wobei dies ausdrücklich keinerlei Bezug zu der Körpergröße von Norbert Blüm hat!). Ein Merksatz für den Hausgebrauch in diesem Zusammenhang könnte in etwa sein: „Die Politologen, bis sich die Balken bogen“.

4.) Eine vierte – für unseren heutigen Zusammenhang besonders interessierende – Variante, andere Menschen zu Handlungen zu bewegen, die diese eigentlich nicht hatten vornehmen wollen, besteht in der Verbreitung von Angst. Dieser Mechanismus ist ebenso simpel wie effektiv. Nehmen Sie beispielsweise an, ich wollte sie bewegen, jetzt sofort den Saal zu verlassen. Ich müßte wahrscheinlich nur laut und panisch genug „Feuer!!!“ rufen. Mit einiger Überzeugungskraft würde mir dann bestimmt gelingen, Sie zum zügigen Verlassen dieses Raumes zu bewegen. Argumente bräuchte ich nicht.

5.) Gegenüber den drei erstgenannten Methoden hat diese letztgenannte ganz wesentliche Vorteile: Zum einen ist das Verbreiten von Ängsten (mit der daraus folgenden Handlung fremder Menschen) weitaus weniger aufwendig, als die Androhung oder gar Durchsetzung von Gewalt. Denn Panzer sind bekanntlich teuer und Zuchthäuser personalintensiv. Die Verbreitung einer Angst läßt sich kostengünstiger bewerkstelligen. Zudem ist sie in der Regel auch weitaus unblutiger, was sie auf ersten Blick sympathischer macht. Die Verbreitung von Ängsten ist nächstens verläßlicher, als das bloße Bitten um gewisse Handlungen anderer. Denn sie stellt den immer noch verbreiteten Eigennutz des anderen, gesund überleben zu wollen, zugleich in den Dienst der eigenen Zielvorstellungen. Schließlich aber ist die Verbreitung von Ängsten auch moralisch erheblich wertvoller, als das alternativ genannte Lügen. Der ertappte Lügner steht in der Regel vor der Gesellschaft schlecht dar. Sein Interesse sollte folglich stets sein, selbst wie ein Wohltäter zu erscheinen (jedenfalls, wenn er nicht nur kurzfristig, sondern längerfristig und nachhaltig gängeln möchte). Nicht zuletzt dies mag auch der Grund dafür gewesen sein, warum Maximilien de Robespierre nicht Mitglied einer „Bundeszentrale für das öffentliche Kopfabhacken“ o.ä. während der Französischen Revolution war, sondern (solange er seinen eigenen noch besaß) führender Kopf des „Comité de salut public“, zu gut deutsch: Des Wohlfahrtsausschusses. Auch dieser Wohlfahrtsausschuß ist später übrigens umgenannt worden in „Comité de sureté générale“. Auch hieran läßt sich ablesen, wie sehr Sicherheitsversprechen, Machtpositionen und Ängste miteinander ein enges Amalgam eingehen.

6.) Unter überwiegend friedlichen Umständen in einer Gesellschaft wird eine Regierung nach allem stets ein Interesse daran haben müssen, möglichst intensiv Ängste zu nutzen, um das von ihr angestrebte Verhalten der bürgerlichen Untertanen zu bewirken. Genau dies ist die Entstehungsvoraussetzung – und der politische Humus – für einen Typus, dem die heutige Laudatio und mithin unser diesjähriges Gängelband gewidmet sind. Preisträger des Jahres 2007 ist: Der anonyme Alarmist!

7.) Zwar hätten sich bei der Findung des Preisträgers durchaus viele einzelne, prominente Alarmisten ausfindig machen und benennen lassen können. Doch das wahrhaft Charakteristische an diesem Gängelband-Preisträger besteht nach Auffassung der Stiftung darin, daß gerade die Vielfalt seiner Erscheinung und die Vielfältigkeit seiner angstverbreitenden Alarme das Wesen seiner Existenz ganz besonders auszeichnen.

Nur wenn jeder Bürger jeden Tag mindestens je an einer komplett farbig plakatierten Hauswand mit Werbebotschaften von oder für Obdachlosenzeitungen und/oder Kriminalitätsopfer und/oder Pflegebedürftige und/oder Hungernde und/oder Dürstende und/oder Unfallverletzte und/oder Witwen und/oder Waisen und/oder hilfsweise Blinde vorbeigelaufen ist, erreicht der angestrebte Alarmstatus den nötigen Intensitätsgrad. Denn erst dann begründet das allgemeine Angstgefühl in der Bevölkerung den nötigen Lähmungseffekt gegen jedweden Mut zur selbstbewusst individuellen Handlung, den es – besonders zugunsten der Alarmprofiteure und ihrer Freunde – im Ergebnis zu vermeiden gilt. Nur so trägt nämlich das ständige Warnen und Hysterisieren für den anonymen Alarmisten seine eigentliche Frucht. Statt seine Dienste wie ein ehrlicher Händler oder Dienstleister den kritischen Märkten anzubieten, schürt er die Furcht und präsentiert sich dann – vermeintlich ganz uneigennützig – heldenhaft als Retter, alimentiert aus den Mitteln staatlich abgepresster Abgaben.

II.

Gestatten Sie mir nach dieser Vormerkung nun ankündigungsgemäß noch drei weitere Zwischenbemerkungen, die für das Verständnis des Nachfolgenden bedeutsam sind.

1.) Man muß nach allem also fragen, was genau einen erfolgreichen Alarmisten kennzeichnet. Der gute Alarmist verbreitet stets die maximal mögliche Angst. Ziel ist also eine Art globale Universalpsychose möglichst aller Menschen dieser Welt. Hierzu setzte der gute Alarmist am liebsten eine Art Breitspektrums-Anti-Sedativum ein. Es geht also darum, möglichst jede Art von Ruhe oder Selbstvertrauen in der Bevölkerung – individuell oder gemeinschaftlich, vorübergehend oder auf Dauer – zu vermeiden.

Ein passables Zwischenergebnis auf dem Weg zur perfekten Alarmistin hat vor einigen Jahren beispielsweise die amerikanische Publizistin Barbara Ehrenreich präsentiert, die ihr Buch mit dem Titel „Angst vor dem Absturz – Das Dilemma der Mittelklasse“ mit den Worten bewarb:

Das Kapital der Mittelklasse ist viel vergänglicher als Reichtum und jeder einzelne Angehörige dieser Klasse muß es sich stets aufs Neue mühsam erarbeiten. Keiner kommt darum herum, Selbstdisziplin zu üben … Diese Elite … ist also unsicher und zutiefst besorgt. Wie jede Klasse, die nicht im Geld schwimmt, lebt sie in ständiger Angst vor dem Schicksalsschlag, der zum gesellschaftlichen Abstieg führen könnte. Doch die Mittelklasse kennt noch eine weitere Angst – die Angst vor der inneren Schwäche, Angst davor, weich zu werden … Selbst der Wohlstand, so oft das Ziel all dieses Strebens, kann zur Bedrohung werden, könnte er doch zu Hedonismus und Hemmungslosigkeit führen. Ob die Mittelklasse hinunterschaut in die Welt der Entbehrungen oder hinauf ins Reich des Überflusses, die Angst vor dem Absturz verläßt sie nie.

Während der Rezensent der „newsweek“ dieses Buch im Jahre 1989 als ein Lektürevergnügen empfohlen haben soll, muß – unter unserem heutigen Blickwinkel – Frau Ehrenreich durchaus eine Rüge erteilt werden: Einem Mittelständler, der zum einen Angst hat, arm zu werden und zum anderen Angst, reich zu werden, fehlt erkennbar noch immer eine wesentliche Angst. Die Angst nämlich, daß sich nichts verändert! Ein wirklich guter Alarmist also hätte nicht verabsäumt, den beiden von Frau Ehrenreich beschriebenen zwei Ängsten noch die lückenfüllend-letzte, dritte hinzuzufügen, um die perfekte globale Universalangstpsychose zu generieren. Mit anderen Worten: Was schert mich ein Dilemma, wenn ich auch ein Trilemma haben kann?

2.) Die zweite Zwischenbemerkung, die mir angezeigt erscheint, befaßt sich mit der Frage: Wie geht der aufgeklärte Europäer des 21. Jahrhunderts mit derartigen anonymen Alarmisten um? Ich glaube, es gibt nur eine einzige Methode, auf diese Daueralarme zu antworten. Es ist dies die Technik der Entlarvung durch Offenlegung. Wer also gemeinsam mit unserer Stiftung diesen Weg der Offenlegung gehen möchte, der mag formulieren: „Wir sind die Menschen, vor denen Sie Ihr Kreistagsabgeordneter schon immer gewarnt hat!

3.) Betrachten Sie daher nun gemeinsam mit mir das alarmistische Werk unseres Preisträgers: Blicken wir auf das Alphabet des Grauens! Allerdings sollten wir uns vor der Bearbeitung dieser Phänomenologie noch, und dies ist meine dritte Zwischenbemerkung, jedenfalls über eines einig sein: Über „Kohlendioxid“ reden wir heute definitiv nicht! Dieses Thema ist – bei Gott – zu ernst, um derzeit kritisch durchleuchtet zu werden.

Bei allem, was folgt, gilt also: Kohlendioxid bleibt außen vor. Absolut. Denken wir statt dessen an die vielen, vielen emsigen anderweitigen Arbeiten des heute ausgezeichneten anonymen Alarmisten in den letzten Jahren.

III.

Nachdem wir alle an der Erzeugung von Atomkraft gestorben waren und Aids uns hingerafft hatte, wie Rock Hudson und Freddy Mercury, starben wir in dem Bewußtsein, lediglich einem sonst sicheren Tod durch Asbest oder Al Kaida zu entgehen. Diejenigen, die nicht Opfer von Anthrax-Attacken wurden, starben sogar in Gemeinschaft; sie wurden Teil des Artensterbens.

Einer der größten lebenden deutschen Artensterber ist bekanntlich Bundesumweltminister Sigmar Gabriel. Kürzlich wies er darauf hin, daß tagtäglich weltweit 150 Arten sterben und uns dadurch wertvolle DNA-Informationen auf ewig verlorengehen. Ob Sigmar Gabriel, der Mann neben Knut, dem Eisbären, bei alledem bedacht hat: Die Menschheit weißüberhaupt nicht, wie viele Arten es weltweit überhaupt gibt. Biologen wissen, daß die Untersuchung eines einzigen Astes im Regenwald ohne weiteres zur Entdeckung von rund 1000 neuen Arten führen kann. Gleichwohl sterben Arten. Und Sigmar Gabriel will es wissen. Das Aussterben der Art „Bundesumweltminister“ wird sich allerdings bis auf weiteres dadurch vermeiden lassen, daß gewisse Besuche bei bestimmten Eisbären nach zwischenzeitlichen Wachstumsprozessen des niedlichen Rackers eher unterlassen werden. Daß seine kompetenten Ministerialbeamten Sigmar Gabriel auf diese Gefahr hingewiesen haben, wollen wir unterstellen.

Viele Menschen, die an diesen unter „A“ genannten Gefahren gestorben waren, hatten zunächst noch Nudeln gegessen. Nudeln waren besonders gefährlich wegen der darin enthaltenen – Sie erinnern sich? – Bruteier. Manchmal überlagerten sich die Gefahren dieser Bruteier allerdings sogar mit denen aus BSE, das sich meist – unerkennbar und typisch spät auftretend – in den Fleischbeilagen zwischen den Nudeln befand. Die Gefahren eines Burnout waren demgegenüber weitaus greifbarer.

Unter der Gefahren-Klasse „C“ bearbeiten wir – wie angekündigt – ausdrücklich nicht das Thema CehOhZwei. Statt dessen blicken wir besorgt auf die Gefahr namens Creutzfeld-Jacob, die bekanntermaßen in keiner Relation stehen zu den Gefahren, die uns drohen aus Phänomenen wie Däubler-Gmelin, Engelen-Kefer, Matthäus-Maier, Kühn-Mengele, Wettig-Danielmeier oder Göhring-Eckhard. Die Inkubationszeit bei Creutzfeld-Jacob ist definitiv länger (allenfalls noch vergleichbar mit der von Claudi-Aroth). Die Angst dauert also an. Und das ist gut so.

Viele von uns starben durch Dioxine, andere durch Dreckige Bomben. Wir wollen zwar nicht über Erderwärmung oder Erdabkühlung reden, aber die Gefahren, die aus Ebola, Elitenbildung oder Elektrosmog resultieren müssen uns kümmern! Besonders gefährlich ist, einen Elektrosmog aussendenden Radiowecker neben dem Bett auf einem Nachttisch der Firma IKEA stehen zu haben. Denn nicht nur das Billy-Regal dieses Herstellers sonderte tödliches Formaldehyd ab (besonders wahrscheinlich, wenn es mit dem immer verbreiteteren Falschgeld gekauft worden war).

Ich persönlich bin mehrmals wegen FCKW unter einer fehlenden Atmosphäre gestorben, einige Male jedoch auch infolge von Feinstaubbelastungen. Insofern habe ich in meinem derzeitigen Leben mit Freude die kürzliche Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes zur Kenntnis genommen, daß jedermann nun gegen seine Gemeinde einen einklagbaren Anspruch auf Frischluft hat. Ich bereite daher derzeit für den kommenden Frühling eine Klage gegen meine Heimatstadt Duisburg vor, mich zu schützen vor dem äußerst aggressiven Pollenflug, der meine empfindlichen Bronchien in der Regel irritiert. Über die Ergebnisse dieser prozessualen Bemühungen werde ich gelegentlich berichten. In der Zwischenzeit warte ich einfach ab und bleibe dabei insbesondere auch körperlich so unglaublich untätig, daß der anonyme Alarmist mich sicher auf die Gefahren drohender Fettsucht hinweisen wird.

Nachdem Gentechnik unser Essen und Glykol unser Trinken gefährdet haben, hatte ich nicht nur über Geldwäsche, sondern auch viel über Grenzwertüberschreitungen nachgedacht, insbesondere wenn ich in den ortsansässigen Dönerläden Gammelfleisch-Burger aß. Dies ist natürlich eine unausweichliche Konsequenz der Gefahren aus der obwaltenden Globalisierung, auf die der Alarmist (mit dem noch nicht verlängerten Zeitvertrag) aus dem Gesundheitsamt besonders verweist.

Mit Flugzeugen kommen nicht nur ferne HIV-Gefahren zu uns, sondern auch H5N11, Hühnergrippe, Hedgefonds und Heuschrecken. Gerade letztgenannte Heuschrecken zeigen, wie erfolgreich anonyme Alarmisten altbekannte Topoi (beispielsweise aus der Bibel) nutzen, um Ängste zu verbreiten. Von geradezu biblischen Ausmaßen sind greifbar auch die Gefahren des häufig beschworenen Islamismus. Dieser überwiegt in seiner Aggressivität bei weitem noch die allgegenwärtigen Gefahren der Jugendkriminalität. Denn Jugendkriminalität ist ein weites Feld. Bekanntlich hat Gustave Flaubert ein sogenanntes „Wörterbuch der Gemeinplätze“ zusammengetragen, in dem er auf gerne formulierte Plattheiten des Alltages hinwies. Zahnärzte seien demnach immer reich, die Luft auf dem Lande immer frisch und Obst stets gesund. Für Jugendkriminalität würde Flaubert gesagt haben: Immer steigend!

Für viele von uns war es ein Segen, überhaupt „Jugendliche“ zu werden. Denn die meisten von uns starben schon als Kinder. Entweder, weil sie von Kampfhunden getötet oder von Kindertee vergiftet wurden. Die Gefahren des Kapitalismus jedenfalls führten häufig zu Kinderarmut. Niemand weiß zwar, was genau Kinderarmut ist. Nach einer Definition der Vereinten Nationen ist arm, wer pro Tag weniger als einen US-Dollar zur Verfügung hat. Nach dieser Definition wäre also kein einziger in Deutschland lebender Mensch überhaupt „arm“. Der anonyme Alarmist bedurfte daher für sein Thema anderer Definitionsansätze. Üblicherweise argumentierte er in den vergangenen Jahren damit, daß arm sei, wer weniger als 50% des Durchschnittseinkommens zur Verfügung habe. Da die Gruppe dieser modernen Aussätzigen aber für alarmrhetorische Zwecke schlichtweg zu klein geriet, modifizierte der Alarmist seine Definition. Nunmehr ist „arm“, wer weniger als 60% des durchschnittlich verfügbaren Einkommens besitzt. Damit ist endlich eine Millionenstärke der Gesellschaft erreicht, die für angstmachende Effekte hinreichend effizient eingesetzt werden kann2. Mich persönlich hat übrigens immer irritiert, Plakate zu sehen, auf denen es heißt, für nur € 2 täglich lasse sich für ein Kind in der sogenannten Dritten Welt ein Heim, eine Gesundheitsvorsorge und eine vernünftige Ausbildung finanzieren. Unter Armutsgesichtspunkten habe ich mich bisweilen gefragt: Warum geht das in meinem Land eigentlich nicht?

Eine weitere wichtige Botschaft des anonymen Alarmisten ist: Du entkommst Deinem Verderben nicht! Krankheiten werden bekämpft mit Medikamenten. Medikamente aber sind tödlich. Lipobay liefert dem Alarmisten das Beispiel. Wer also nicht vom Liberalismus dieser Welt getötet wird, den rafft Lipobay dahin. Ohne Lipobay stirbt man an Milzbrand, an Magersucht oder – neuerdings – an Malaria oder Monsterwellen. Ob diese allerdings infolge der Erdbeben unter der Meeresoberfläche ursächlich durch einen erhöhten Kohlendioxidwert in der Atmosphäre ausgelöst werden, ist streitig. Es bleibt dabei: Uns interessiert dies heute nicht. Wir blicken statt dessen auf die äußerst gefährlichen Phänomene aus Nitraten und Nitriten, aus Nationalismus und – natürlich – Neoliberalismus.

Wenn Sie, meine Damen und Herren, nach Verleihung des heutigen Gängelbandes mit einem Glas Wein auf die Terrasse heraustreten werden, um den herbstlichen Blick über den Berliner Tiergarten zu genießen, gebe ich Ihnen einen wesentlichen und wichtigen Rat: Nutzen Sie einen hohen Sonnenschutzfaktor! Denn das Ozonloch ist unerbittlich. Sonnenschutzfaktor 50 – auch bitte nachts – ist unausweichlich. Sobald Sie Ihr Glas ausgetrunken haben, sollten Sie – möglichst ohne jede körperliche Belastung – zügig wieder in den Innenraum zurückkehren. Denn Ozon ist für Ihre Atemwege ein gefährliches Gift. Organisierte Kriminalität ist nichts dagegen (sagt jedenfalls Luigi, Sie erinnern sich).

Hier in den Innenräumen drohen Ihnen wenigstens – vorläufig und soweit ersichtlich – keine Gefahren aus Pestiziden. Auch die neuentdeckten Gefahren des Passivrauchens sind hier eher noch beherrschbar. Gleiches gilt heute Abend für das bekanntlich fast immer unerträgliche Profitstreben. Über das Abschmelzen von Polkappen wollen wir ja – es bleibt dabei – nicht reden. Wenn Sie quer über den Pariser Platz schauen und das Hotel Adlon erblicken, denken Sie an den Ratschlag eines anderen anonymen Alarmisten: Bevor Sie ein Hotelzimmer beziehen, überprüfen Sie, ob Ihr Vorgänger nicht Polonium (hilfsweise die Pocken oder eine sonst aggressive Pandemie) im Raum vergessen hat. Derartige Gefahren häufen sich, wie gewöhnlich gut unterrichtete Kreise wissen, besonders in Parallelgesellschaften.

In guten Hotels sollte man zwar heute davon ausgehen können, daß das Qualitätsmanagement derartige radioaktive Verseuchungen erkennt und deren Beseitigung rechtzeitig vor Neubezug des Hotelzimmers anordnet. Dennoch: Unterschätzen Sie nicht die Gefahren aus Qualitätsmängeln wegen versagenden Qualitätsmanagements! Solange nicht der letzte Qualitätspfad ausgetreten und der kleinste Zertifizierer akkreditiert ist, bleiben immer noch unbeherrschbare Risiken.

Weil wir – ich sagte es wohl schon? – über die Gefahren der Kohlendioxidbelastung unserer Atmosphäre nicht reden wollen, schweigen wir auch über die tödlichen Gefahren der allgegenwärtigen Regenwaldrodung. Alleine in Brasilien werden bekanntlich seit Jahrzehnten jeden Tag Waldflächen von einer Größe der ehemaligen Sowjetunion auf ewig vernichtet3. Erfreuen Sie sich statt dessen Ihres Blicks über den Tiergarten (soweit er seinerseits noch nicht gerodet wurde), vergessen Sie für einen Augenblick die radioaktiven Gefahren des Hotels Adlon und betrachten Sie, wie ungezählte Reisebusse das Brandenburger Tor passieren. Jeder einzelne dieser Reisebusse ist eine tödliche Gefahr. Ich selber bin bereits bei fünf Butterfahrten von herabfallenden Heizdecken erschlagen worden. Denn Reisebusse sind (einschließlich ihrer Gepäcknetze) häufig nicht so gewartet, wie man es erwarten möchte. Die Rußpartikel, die hinten aus Reisebussen abgesondert werden, sind zwar für Passanten gefährlich. Für die Passagiere hingegen ist der Reisebus die eigentliche Gefahr, gefährlicher möglicherweise noch als der allgegenwärtige Rassismus jenseits der nichtzertifizierten Panoramascheiben.

Wenn Sie auch bislang nicht von Skinheads erschlagen wurden, dann werden Sie mindestens an Salmonellen sterben. Vielleicht erfrieren Sie auch in sozialer Kälte oder werden von einem Selbstmordattentäter (respektive einem erweckt-erwachten Schläfer) in die Luft gesprengt. Zyniker haben darauf hingewiesen, daß Politiker derzeit damit befaßt sind, das Weltklima zu stabilisieren, während dieselben Politiker andernorts nicht einmal in der Lage sind, die Beträge für die gesetzliche Krankenversicherung stabil zu halten. Ich persönlich frage mich namentlich im Hinblick auf maskulin-adoleszente Gewalt, ob nicht möglich sein müßte, das Phänomen der männlichen Glatze ganz grundsätzlich in den Griff zu bekommen. Denn die Faktoren, die zum männlichen Haarausfall führen, können auch nicht vielschichtiger sein, als die, die zu einer Erderwärmung (oder Erdabkühlung, je nach Standpunkt) führen. Ich bin wirklich froh, über dieses Thema heute Abend nicht reden zu müssen.

Das Übergehen dieser Fragen ermöglicht auch, über den Treibhauseffekt Stillschweigen bewahren zu können. Statt dessen blicken wir mit den anonymen Alarmisten auf die Gefahren von Turbokapitalismus und allgegenwärtig drohende Terroranschläge durch Terrorzellen.

Wenn Sie nicht an gesundheitssystematischer Unter-, Über- oder Fehlversorgung laborieren, dann könnten Sie immer noch an der Vogelgrippe sterben. Erinnern wir uns: Lange ist nicht her, daß Sie Teil des Waldsterbens wurden. Erst starb damals der Wald, dann starben wir. Das dahingeschiedene Holz pinselten Sie möglicherweise mit Xyladekor. Auch diese Gefahren unterschätzten wir. Ebenso wie die aus Xenophobie. Der anonyme Alarmist hingegen wußte stets: Das Leben ist ein Abenteuer. Und Sie werden es nicht überleben.

Betrachten wir für heute Abend wenigstens den Buchstaben „Y“ als einen ungefährlichen und wenden uns statt dessen noch kurz den Gefahren aus dem Flug von Zugvögeln oder sonstigen Zuwanderern zu. Waren das nicht herrliche Zeiten, als wir noch sorglos und fröhlich jedes Wochenende mit den Federn von Vogelkadavern spielten? Wenn Sie jetzt hingegen bei der Beobachtung von Zaunkönigen u.a. in der Natur durch Waldstücke und über Felder streifen, beachten Sie: Sie werden sterben. Denn auch Ihr Zeckenbiß ist von Gott schon vorherbestimmt.

IV.

Ich hoffe gezeigt zu haben, wie der anonyme Alarmist uns alphabetisch durch alle Ängste trieb und treibt. Wir stehen also – und dies mag für heute Abend das „Y“ symbolisieren – an einem Scheideweg. Entweder, wir entscheiden uns dafür, sicherer Erkenntnis zu folgen oder aber diffusen Ängsten und Glaubenssätzen den Vorzug zu geben. Der oppositionelle DDR-Theologe Ulrich Woronowicz hatte in seinem bemerkenswerten Buch vom „Sozialismus als Heilslehre“ vor vielen Jahren formuliert:

Warum lernen wir … so schwer aus der Geschichte? Wir sind doch der Wissenschaftlichkeit verbunden. Wissenschaftliche Wahrheit kommt … durch die Übereinstimmung unserer Erkenntnis mit der Realität zustande. Wissenschafter beweisen ihre Behauptungen.

Wenn uns also anonyme Alarmisten mit immer neuen Ängsten konfrontieren, ohne diese beweisen zu können, so müßten wir – eigentlich – nicht um unser Leben fürchten. Jedenfalls solange nicht, wie der Beweis nicht angetreten ist. Dennoch: Bei allen Toden, die wir – quer durch das Alphabet – gestorben sind, hat sich doch eine ganz bestimmte, erschütternde Befürchtung jedenfalls nicht verwirklicht. Es war dies eine Befürchtung, die der großartige Wolf Schneider vor rund 20 Jahren in die angstvollen Worte faßte:

Vielleicht wird noch in diesem Jahrtausend der Tag kommen, an dem eine Fernsehsammelschaltung vier Fünftel der Menschheit vor der Mattscheibe vereint – wenn es gut geht, einer Weltmeisterschaft oder einem Spaziergang auf dem Mars zu Liebe, wenn es schlecht geht, eines Propaganda-Auftritts vor den Vereinten Nationen wegen, bei dem ein Wortköder ausgelegt wird, auf den die ganze Menschheit anbeißen soll. … Wer die Macht des Definierens an sich reißt, ist Herr … der Seelen und nur mit Entsetzen können wir der Stunde entgegensehen, da ein großer Demagoge die Menschheit so am Bildschirm hängen hätte wie einst Goebbels die Deutschen am Volksempfänger.4

Wir alle wissen, daß diese Angst Wolf Schneiders absolut unbegründet war. Sie hat sich bisher nicht realisiert. Und sie wird sich auch in Zukunft nie realisieren. Sie kann sich nie realisieren. Denn es ist völlig ausgeschlossen, daß selbst der einflußreichste Weltbürger – und sei er Staatspräsident, Vorstand einer Weltfirma oder sonst berühmt – irgendeine allzumenschliche Urangst (zum Beispiel die uralte gallische Panik, uns könne der Himmel auf den Kopf fallen, oder ähnliches) reaktiviert. Es scheidet aus, daß ein solcher Mensch mit Freunden aus der Filmbranche einen hochemotionalen Film drehen könnte. Niemals würden wir, wir aufgeklärten Menschen des 21. Jahrhunderts, uns diesen Film auf allen Fernsehsendern ansehen. Nie würden größere Mengen in die Kinos strömen oder einen solchen Film auf DVD bzw. Video erwerben. Es ist abwegig, zu erwarten, ein solcher Film könne einen „Oscar“ erzielen. Es wäre auch ganz absurd, anzunehmen, ein solcher Alarmist könnte mit derartig neu aufgelegtem Druidenschmäh Bücher verkaufen oder gar einen Friedensnobelpreis erhalten. Freuen wir uns also, gegen diese von Wolf Schneider befürchtete Gefahr gemeinsam mit der gesamten Menschheit gewappnet zu sein. Es gibt Dinge, die nicht geschehen. An dieser Front wenigstens ist Alarm definitiv nicht angezeigt.

V.

Widmen wir uns nach all diesen Aufregungen zum Schluß einer gänzlich anderen Perspektive, die Richard Powell in seinem hübschen Roman „Die Kwimpers“ vor vielen Jahren beschrieb.

Mr. Kwimper, ein arbeitsloser Amerikaner, war mit seinem Auto über eine neu errichtete und noch nicht für die Allgemeinheit freigegebene Küstenstraße gefahren, vom Weg abgekommen und pannenbedingt „gestrandet“. Mit seinen Kindern richtete er sich daraufhin an der Küste ein und führte auf einem zum Ärger der Behörden legal angeeigneten Meergrundstück ein zivilisationsfernes, privates Leben. Natürlich dauerte nicht lange, bis die Leiterin der zuständigen Kreiswohlfahrtspflege bei ihm und seinen Kindern vorstellig wurde, um amtspflichtgemäß die Wohltaten eines modernen und vorsorglich-fürsorglichen Sozialstaates an ihm und seiner Familie zu exekutieren. Da Mr. Kwimper unwillig war, den Segnungen des Kreiswohlfahrtsamtes zu folgen und statt dessen lieber privat für sich vor Ort bleiben wollte, entspann sich folgender Dialog:

Aber nehmen Sie nun mal an, ein Wirbelsturm kommt und bläst Sie weg. Oder nehmen Sie an, fast alle Fische krepieren an einer Seuche. Oder nehmen Sie an, Sie haben eine langandauernde Krankheit. Hunderte von schlimmen Dingen könnte passieren.

Pop sagte: „Natürlich. Es könnten aber auch Hunderte von netten Dingen passieren.

Vielleicht ist dies – neben der eingangs genannten Entlarvung des anonymen Alarmisten – eine weitere schöne Strategie gegen das allgegenwärtige Angstmachen: Verweisen wir auf die einfachen Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung! Und stellen wir dann fest: Es können auch viele, viele nette Dinge passieren.

1 Einem Gerücht zufolge sollen russischer Hacker derzeit eine H5N2-Variante zum kostenlosen Herunterladen ins Internet gestellt haben. Man braucht nur windows NT oder höher, und schon lassen sich Massenedipemien weltweit in Szene setzen, was meines Erachtens schon für sich gesehen einen legitimen Grund für staatliche online-Durchsuchungen darstellt.

2 Nicht nur für diese Klärung danke ich Joffe, Maxeiner, Miersch und Broder ganz besonders! Ihr „Schöner denken“-Lexikon ist insgesamt äußerst lesenswert.

3 Der tropische Regenwald ist daher augenscheinlich hilfloser als das mitteleuropäische Unkraut, das aus unseren verrottenden Bürgersteigen wächst; da sieht man, wohin es unsere ökologische Respektlosigkeit schon gebracht hat!

4 Wolf Schneider: Wörter machen Leute, München, 1985, Seite 342

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