Vortrag auf dem anästhesiologischen Aktionstag des Berufsverbandes Deutscher Anästhesisten am 11. November 2006 in Frankfurt am Main
Sehr geehrte Damen,sehr geehrte Herren,
ich danke für die Einladung, heute bei Ihnen über Leninismus, Sozialismus und das deutsche Sozialgesetzbuch sprechen zu dürfen.
Nachdem meine Vorredner Sie bereits im Fußmarsch intensiv durch das Dickicht und Untergehölz namentlich des Vertragsarztrechtes und des Krankenhausrechtes für Ärzte geführt haben, möchte ich nun den Versuch unternehmen, gleichsam einen kleinen historischen Hubschrauberflug über diesen sozialrechtlichen Dschungel zu unternehmen. Denn aus dem Abstand besehen erschließen sich dem Betrachter häufig erst diejenigen Zusammenhänge, die – inmitten des Gestrüpps – verborgen bleiben.
Wegen der Nähe Ihres heutigen Veranstaltungsortes zu der langjährigen Wirkungsstätte des berühmten Neomarxisten Jürgen Habermas habe ich mich – in Ihrem vermuteten Einverständnis – entschlossen, meinen heutigen Ausführungen den Titel „Frankfurter Plädoyer für eine herrschaftsfreie Medizin“ zu geben.
Der Hintergrund ist einfach: Jürgen Habermas hat die Welt nicht nur unerquicklich durch marxistische Augen betrachtet, sondern weitaus erbaulicher (auch) die interessante Theorie des sogenannten „herrschaftsfreien Diskurses“ vertreten. Zur Wahrheit kann demnach nur ein solcher Diskurs unter Menschen führen, der nicht von Herrschafts- oder Machtinteressen einzelner Beteiligter gelenkt und beeinträchtigt wird.
Nach meinem Dafürhalten verhält es sich mit Medizin nicht anders: Nur dann, wenn sie frei von Herrschaft und Macht ausgeübt und in die freie Verantwortung von Ärzten (und Patienten!) gestellt ist, kann sie zu allseitigem Nutzen und allseitigem Wohle ausgeübt werden.
Ich habe an anderen Stellen in jüngerer Vergangenheit gegenüber Ärzten immer wieder darauf hingewiesen, daß eine „herrschaftsfreie Medizin“ – namentlich in der Gestalt frei abgeschlossener zivilrechtlicher Verträge zwischen Ärzten und Patienten – nichts Ungewöhnliches und nichts Ungehöriges ist. Nur Verträge zwischen Menschen entsprechen einem mitmenschlichen Beisammensein und einem Handeln mit Menschenmaß. Ich will heute versuchen, Ihnen zugleich zu vermitteln, daß die Situation, in der Sie sich derzeit als Kassen- und Krankenhausärzte befinden, ebensowenig außergewöhnlich und unvorhersehbar ist. Vielmehr ergibt sich diese Situation aus langfristigen gesellschaftspolitischen Weichenstellungen, die der „historische Hubschrauberblick“ recht deutlich erhellt.
Ich möchte Ihnen zur Einstimmung ein kurzes Zitat zur Verlesung bringen und Sie mögen – während ich vorlese – spekulieren, aus welchem Munde es wohl stammt. Was glauben Sie: Ist es ein Rückblick eher von Renate Schmidt (SPD) oder von Ursula von der Leyen (CDU), wenn wir lesen:
„Statt des 10- bis 12-stündigen Arbeitstages …. ist jetzt der 7-Stunden-Arbeitstag eingeführt, und einzelne …. arbeiten 6 Stunden und weniger am Tage bei einer sechstägigen Arbeitswoche, bzw. sie haben bei gleicher Arbeitsdauer die 5-Tage-Woche mit zwei arbeitsfreien Tagen; allgemein wurden gesündere Arbeitsbedingungen geschaffen; …. das Realeinkommen der Arbeiter in der Industrie und im Bauwesen ist …. gestiegen, die …. Verkürzung der Arbeitszeit in Rechnung gestellt; …. die Wohn- und Lebensbedingungen haben sich bedeutend verbessert; die Bildung ist allgemein und wird vom Staat finanziert; die Gesellschaft bestreitet einen bedeutenden Teil der Aufwendung für die Erziehung der heranwachsenden Generation. …. Die Zahl der Schüler in den allgemeinbildenden Schulen ist …. angewachsen; es wurde ein einheitliches System der Altersversorgung geschaffen. Die Renten werden vom Staat …. bezahlt. Das Rentenalter ist …. niedriger als in den meisten anderen Ländern; die kostenlose medizinische Betreuung und der Schutz von Mutter und Kind wurden eingeführt.“
Ich behaupte, daß Sie kaum verbindlich werden entscheiden können, welche unserer bundesrepublikanischen Vertreter diese gar zu vertraut klingenden Thesen formuliert haben. Erstaunt sein werden Sie aber vielleicht, zu hören, daß es Thesen des Zentralkomitees der kommunistischen Partei der Sowjetunion sind, die im Jahre 1970 zum 100. Geburtstag Wladimir Lenins verfaßt wurden1.
Vielleicht ist der Untergang des Ostblocks eine doch nicht allzu fern liegende geschichtliche und gesellschaftspolitische Konstellation?
Um die Mechanismen zu erklären, die das Zusammenleben einzelner Individuen in einer Gemeinschaft nach unserem bundesrepublikanischen Staatsverständnis ermöglichen sollen, greife ich in jüngerer Zeit gerne auf eine Geschichte zurück, die der deutsch-amerikanische Nationalökonom Hans-Hermann Hoppe vor einiger Zeit erzählte. In dieser Geschichte wird die Fiktion ausgearbeitet, am kommenden Sonntag wären Weltwahlen. Jeder erwachsene Mensch, der zum Zeitpunkt der Wahl auf dieser Erde lebt, hat eine Stimme. Was wäre das Ergebnis einer solchen Weltwahl? Es bedarf keiner großen Phantasie, um zu erkennen, daß es zu einer indisch-chinesischen Koalitionsregierung käme.
Nähme man weiter an, diese indisch-chinesisches Koalitionsregierung setzte es sich zur Aufgabe, durch Umverteilung gleiche Lebensbedingungen und „soziale Gerechtigkeit“ unter allen Menschen herzustellen, so liegt eine Erkenntnis nicht fern: Eine Analyse dieser Koalitionsregierung ergäbe, daß der Westen und Amerika über verhältnismäßig viele Güter verfügen, andere Länder hingegen über weniger Güter (zum Beispiel China und Indien). Es käme zu einer Umverteilung. Denn die Mehrheit könnte die Minderheit überstimmen.
Das, was anhand dieser Fiktion auf der Hand liegt, läßt sich in ein einfaches Schema übertragen: Wenn A und B mit C in einer Gemeinschaft leben und feststellen, daß C etwas besitzt, was A und B gerne auch besäßen, so haben A und B zwei Möglichkeiten. Die eine ist, selbst fleißig zu sein und sich das zu beschaffen, was C bereits besitzt. Die zweite ist, eine demokratische Abstimmung zwischen A, B und C darüber durchzuführen, ob C verpflichtet ist, A und B jeweils sein Besitztum herauszugeben, wenn die Mehrheit aus den Reihen dafür stimmt. Die weiteren Details hierzu bedürfen erkennbar keiner weiteren Ausführung.
Demokratietheoretiker haben genau dieses Problem gesehen. Und sie haben ein Mittel gegen die hieraus drohenden Gefahren für Minderheiten (und insbesondere für die kleinste aller Minderheiten: das Individuum) geschaffen. Diese Mittel heißen Grundrechte und/oder Menschenrechte. Diese Grundrechte werden bisweilen bezeichnet als „negative Kompetenznormen für den Staat“. Dies bedeutet nichts anderes als: Im Bereich des Grundrechtes hat der Staat keine Befugnis, Gesetze zu erlassen. Grundrechte sind folglich nichts anderes als „Laß-mich-in-Ruhe-Rechte“.
Eines dieser „Laß-mich-in-Ruhe-Rechte“ ist beispielsweise Ihre Berufsfreiheit als Ärzte. Wenn Sie sich das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland zur Hand nehmen, dann stellen Sie fest, daß Sie in Wahl, Ausbildung und Ausübung Ihrer Berufsfreiheit grundsätzlich Freiheit genießen. Allerdings kann in Ihre diesbezüglichen Berufsfreiheiten gesetzlich eingegriffen werden. Mißlich hieran ist, daß die Eingriffsbefugnisse in diese Grundrechte wiederum von Mehrheiten definiert werden.
Das macht die Sache nicht einfacher. Denn namentlich für das Sie interessierende Gesundheitswesen wird von dem Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung die Auffassung vertreten, die Allgemeinheit habe ein ganz überragend wichtiges Interesse daran, daß dieses öffentliche Gesundheitswesen funktioniere. Spiegelbildlich also minimiert sich der Umfang Ihrer Berufsfreiheit. Eine typische Formulierung des Bundesverfassungsgerichtes hierzu lautet etwa:
„Neben der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung, die das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung als besonders wichtiges Gemeinschaftsgut bezeichnet hat, hat gerade im Gesundheitswesen der Kostenaspekt für gesetzgeberische Entscheidungen erhebliches Gewicht. Die Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung ist für das Gemeinwohl anerkanntermaßen von hoher Bedeutung. Soll die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung mit Hilfe eines Sozialversicherungssystems erreicht werden, stellt auch dessen Finanzierbarkeit einen überragend wichtigen Gemeinwohlbelang dar, von dem sich der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Systems und bei der damit verbundenen Steuerung des Verhaltens der Leistungserbringer leiten lassen darf.“2
Damit ist die Lage für Sie als Ärzte und „Leistungserbringer“ nicht einfach. Ihre Möglichkeit, zivilrechtliche Verträge mit Patienten zu schließen, ist auf Basis dieser Verfassungsrechtsprechung erheblich eingeschränkt. Mehr noch: In allerjüngster Zeit müssen wir sogar von einem bundesdeutschen Landessozialgericht lesen:
„Artikel 12 Abs. 1 GG [das Grundrecht der Berufsfreiheit] schützt zwar auch die Freiheit des (Zahn)arztes, sich zu entscheiden, ob er im Rahmen des vertrags(zahn)ärztlichen Versorgungssystems oder privatrechtlich tätig werden möchte. Dies gilt aber dann nicht mehr, wenn diese Freiheit … durch konzertiertes Verhalten zu dem Zweck mißbraucht wird, Druck auszuüben, etwa um dem Gesetzgeber oder die Normgeber der Selbstverwaltung der Vertrags(zahn)ärzte zur Änderung von Rechtsvorschriften zu bewegen … Denn die Berufsausübungsfreiheit des (Zahn)arztes wird durch Gemeinwohlbelange beschränkt, zu denen insbesondere der Schutz eines funktionierenden vertrags(zahn)ärztlichen System im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung gehört.“3
Daß allerdings in Wahrheit aus ökonomischen Gründen mit geradezu naturgesetzlicher Zwangsläufigkeit nur und ausschließlich zivilrechtliche Verträge zwischen Ärzten und Patienten auf Dauer zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung der Gesamtbevölkerung führen, hat sich unter den gegebenen Bedingungen der deutsche Sozialgesetzgebung und –rechtsprechung in den letzten Jahrzehnten traurig bewahrheitet. Es ist geradezu der empirisch-experimentelle Nachweis darüber geführt worden, daß die Konstruktion des SGB V weder für stabile Finanzierungsgrundlagen sorgen kann, noch auch für eine dauerhaft gute medizinische Versorgung der Bevölkerung. Ganz zu schweigen von einer nachhaltig angemessenen und die Grundrechte aller Beteiligten respektierenden Vergütung der sogenannten „Leistungserbringer“.
Die Einzelheiten hierzu habe ich in meinem freundlicherweise viel gelesenen Aufsatz „Lenin und der Kassenarzt“ im einzelnen dargelegt. Ich werde an dieser Stelle nicht weiter auf diesen Gesichtspunkt eingehen4. Sie interessiert, aus welchen Gründen heute – und nach Maßgabe der anstehenden „Gesundheitsreform“ aus den „Eckpunkten“ der Bundesregierung – weiterer existenzbedrohender und existenzvernichtender politischer und rechtlicher Druck auf Sie ausgeübt wird. Auch hier stehen Sie – leider – nicht in einer historisch zufälligen Situation. Vielmehr folgen alle bisherigen und absehbar künftigen Entwicklungen zu Lasten ihrer Berufsfreiheit als Ärzte einer ebenso traurigen wie gefährlichen politischen Automatik.
Der Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek hat schon im Jahre 1944 auf diese Gefahren hingewiesen. Unter anderem formulierte er wörtlich:
„Sobald der Staat die Planung des …. Wirtschaftslebens übernimmt, ist unvermeidlich, daß die Frage, welche Stellung den einzelnen Individuen und Gruppen zukommt, zum Kernproblem der Politik wird. …. Wenn ich mich recht erinnere, so war es Lenin selber, der …. das …. Schlagwort einführte: ’Wer -Wen?’ …. Wer plant wen? Wer dirigiert und beherrscht wen?“5
Genau dies ist das, was Sie derzeit in den Medien beobachten und an Ihren eigenen Abrechnungsbescheiden, Frequenztabellen etc. ablesen. Welche Stellung Ihnen als Kassenärzten zukommt, wird im Kern von der Politik definiert und bestimmt. Ihre individuellen Vorstellungen treten mehr und mehr in den Hintergrund. Es ist – so auch typischerweise heute – kein Zufall, daß in derartigen Debatten immer wieder an George Orwells Roman „1984“ erinnert wird. Ebenso, wie die jetzigen politischen Behauptungen, es werde der Wettbewerb gestärkt, genau das Gegenteil dessen besagen, was tatsächlich legislativ beabsichtigt ist, hatte George Orwell beschrieben, wie aus Kriegsministerien Friedensministerien werden. Tatsächlich war George Orwell im Jahre 1944 Leser eben des vorzitierten Friedrich August von Hayek und hat mit seinem Roman „1984“ ausdrücklich der philosophischen und nationalökonomischen Darstellung Friedrich August von Hayeks eine literarische Fortführung beigeben wollen.
Ein anderer Nobelpreisträger, Karl Raimund Popper, formulierte etwa zeitgleich – in der deutschen Ausgabe 1958 – folgendes:
„Ich möchte …. hinzufügen, daß jede Art ökonomischer Intervention …. die Tendenz haben wird, die Gewalt des Staates zu vergrößern. …. Wenn wir …. dem Staat …. durch das interventionistische ’Planen’ zusätzliche Gewalt verschaffen, dann kann es leicht geschehen, daß wir unsere Freiheit verlieren.“6
Genau diese Tendenz, die Karl R. Popper beschrieb, den Staat zu vergrößern, ist das, was Sie heute in ihrer eigenen, aktuellen Lebenssituation erfahren. Die bereits öffentlich-rechtlich ausgestaltete Funktion beispielsweise eines Gemeinsamen Bundesausschusses, die bislang (noch) ansatzweise in selbstverwalteten Händen einer Gesundheitsverwaltung lag, soll nach den heutigen Plänen der Bundesregierung gänzlich in eine staatlich gelenkte Medizin überführt werden. Die Gewalt des Staates wird durch interventionistisches Planen – auch im Gesundheitswesen – schlicht vergrößert.
Hayek und Popper haben sich mit ihren zitierten Werken gegen eine tragische Tendenz des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts gewendet, die ich Ihnen mit einem weiteren Zitat illustrieren möchte:
„Wir waren die ersten, die erklärt haben, daß die Freiheit des Individuums um so mehr beschränkt werden muß, je komplizierter die Zivilisation wird.“
Das, was in diesem Zitat scheinbar so plausibel daherkommt, entspringt schlicht einer totalitären Ideologie. Das Zitat stammt nämlich von Benito Mussolini und aus dem Jahre 19297. Aus einer merkwürdigen Angst vor einer sich verkomplizierenden Welt wird der Wunsch, mit staatlicher Gewalt „auf Biegen und Brechen“ steuernde Wirtschaftsplanung zu betreiben. Diese jedoch erreicht genau das Gegenteil dessen, was sie zu erreichen vorgibt: Statt wohliger, warmer Verhältnisse für alle werden unfreie und unsägliche Verhältnisse produziert.
Daß nach der heute absehbaren Modifizierung Ihrer Berufsbedingungen nicht dezidiert ein Berufsverbot ausgesprochen wird (etwa nach dem Motto: Es gibt zu viele Kassenärzte, wir müssen 35 % von Ihnen mit einem Berufsverbot belegen o.ä.), steht dieser generellen Tendenz zur Aushöhlung der Versorgung vor Ort nicht entgegen.
Es stehen durchaus andere gesetzgeberische Mittel zur Verfügung, dasselbe Ziel auf – um mit Roland Baader (einem Schüler Friedrich August von Hayeks) zu sprechen – „Samtpfoten“ zu erreichen. Nicht anders beispielsweise ging die Deutsche Demokratische Republik mit dem von ihr ungeliebten Hauseigentümern um. Hauseigentümer in der DDR wurden in der Regel nicht mit einmaligem Verwaltungsakt zugunsten des Staates bzw. Volkseigentumes enteignet. Vielmehr wurden sie in eine wirtschaftliche „Klemme“ getrieben. Einerseits wurde ihnen (noch sozialistischer Doktrin, daß Wohnraum billig zu sein habe) auferlegt, daß Mieten z. B. nur 30 Mark betragen dürfen. Andererseits aber wurde durch entsprechende kommunale Anweisungen dafür gesorgt, daß Häuser kostenträchtig, z. B. für 30.000 Mark, saniert werden mußten. Da die Unterhaltskosten für das Haus aus den vereinnahmten Mieten nicht getragen werden konnten, waren die Eigentümer zunächst auf den Verbrauch ihres eigenen Kapitales angewiesen. War dieses erschöpft, bot ihnen in der Regel die örtliche Kreissparkasse einen Spezialkredit an. Diese wurde mit einer Hypothek „mit Vorrang vor allen übrigen Lasten“ in das Grundbuch eingetragen. Nach mehrmaliger Wiederholung dieses Vorganges war das Grundstück zugunsten der Kreissparkasse hemmungslos überschuldet. Dies war dann der Zeitpunkt, zu dem ein Mitarbeiter der kommunalen Gebäudeverwaltung das freundliche Übernahmeangebot unterbreitete, um den Eigentümer von den nicht mehr tragbaren Lasten zu befreien.
Wenn Ihnen die heute beabsichtigte Ausdünnung der Kassenarztversorgung zugunsten von Polikliniken (genannt Medizinische Versorgungszentren) in etwa ähnlich vorkommt, so ist dies keine historische Zufälligkeit. Auch die Klemme, die das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen konstruiert, ist durchaus perfide: Wenn die Kassenärzte aussteigen wollen, steht ihnen hierfür kein Schutz durch Menschenrechte zu; wenn sie im System bleiben, schrumpfen ihre Honorare bis unter die Grenze der faktischen Existenzchance. Sie stehen also ersichtlich in einer schwierigen Kontinuität historischer Entwicklungen.
Was also ist zu tun?
Nach meiner Überzeugung haben Sie als Kassenärzte nur eine einzige Möglichkeit: Sie können (wahrscheinlich am ehesten über sogenannte „Körbe“) in großer Zahl aus der kassenärztlichen Versorgung aussteigen. Sie müssen (!) sogar mit hoher Wahrscheinlichkeit gleichsam en bloc aussteigen, um den Planern Ihres Berufslebens die Chance zu nehmen, durch ängstlich im System bleibende Kollegen eine dürftige Notversorgung der Menschen vorübergehend sicherzustellen. Denn nur wenn Sie als Ärzte insgesamt (!) sich in Ihren Interessen für Ihre Patienten nicht aufteilen lassen, wird Ihnen auf Dauer eine herrschaftsfreie Medizin zu Gunsten dieser Patienten überhaupt noch möglich sein. Dies ermöglicht Ihnen dann anschließend, mit Ihren Patienten sinnvolle und zivilrechtliche Behandlungsverträge abzuschließen. Denn nur wer den „Gesundheitsplanern“ ihre Planungsmöglichkeiten nimmt, der nimmt ihnen auch ihre Potentiale zur Gängelung von Ärzten.
Wenn ich mir Ihre rechtliche und wirtschaftliche Situation als Ärzte betrachte, so komme ich zu dem für mein Land wenig schmeichelhaften Ergebnis: Es nicht mehr die Zeit, die Freiheit zu verteidigen, sondern es ist Zeit, Ihre Freiheit zurückzuerobern. Es geht um die Freiheit zu individueller Entscheidungsbefugnis statt zu bürokratischer Fernsteuerung. Es geht darum, daß der Mensch „Arzt“ den Menschen „Patient“ als sein individuelles Mitgeschöpf ernst nehmen und respektvoll behandeln kann, statt den Kranken nur als Objekt eines technisch-bürokratischen Verwaltungsmechanismus plankonform abzuarbeiten.
Wenn nämlich tatsächlich richtig wäre, daß unser heutiges Sozialversicherungswesen ein so großartiges wäre, wie bisweilen behauptet wird, dann frage ich mich: Warum werden wir mit Mitteln des Strafrechtes (§ 266 a StGB etc.) in dieses System hineingezwungen?
Sie alle sind heute versammelt aus einer bestimmten beruflichen Perspektive. Dies hier ist also keine unmittelbar politische Versammlung. Weil wir jedoch in unserem Land Gesundheit und Medizin verpolitisiert haben, ist unausweichlich, auch zu politischen Fragen am Rande Stellung zu beziehen. Ich stelle deswegen klar: Ich habe nichts gegen Sozialismus; ich wende mich nur dagegen, daß man unfreiwillig an ihm teilnehmen muß.
Ich habe auch nichts gegen Planung. Aber Zwangsplanung wäre allenfalls dann akzeptabel, wenn der Planer allwissend ist (und allwissend kann auch ein noch so investigativ tätiger Planer im Raum- und Zeitkontinuum unserer Welt niemals sein; mit anderen Worten: nicht einmal das Bundesgesundheitsministerium verfügt über eine Zeitmaschine, derer es jedoch bedürfte, um aus gesicherter Zukunftserkenntnis heraus heutige Planung zu betreiben).
Mir ist wohl bewußt, daß Kritiker gegen den sogenannten „Systemausstieg der Kassenärzte“ ins Feld führen, daß durch ihn die Sicherheit der Kassenärzte im heutigen System verlorenginge. Diesen Kritikern entgegne ich jedoch: Glauben Sie ernsthaft, daß es für Sie in dem heutigen System noch irgendeine Sicherheit gibt?
Gegen einzelne, die Kassenärzten zu dem Ausstieg raten, wird polemisiert, sie wollten mit den ausgestiegenen Kassenärzten anschließend nur eigene Geschäfte machen. Diesen Kritikern entgegne ich: Ja, es werden Geschäfte gemacht. Aber auch die Ärzte werden ihre Geschäfte mit diesen Menschen machen können.
Gegen die Perspektive des Abschlusses zivilrechtlicher Verträge wird erklärt: Ärzte sind keiner Unternehmer. Ich sage demgegenüber: Wer die Verantwortung für das Leben seiner Patienten übernehmen kann, der hat auch das intellektuelle und seelische Handwerkszeug, um sein eigenes Leben wirtschaftlich zu beherrschen.
Betrachten Sie also nach allem nüchtern Ihre eigene wirtschaftliche und rechtliche Situation als Kassenärzte. Und dann denken Sie bisweilen an eine jahrhundertealte indianische Weisheit: „Wenn du merkst, daß das Pferd, das du reitest, tot ist – dann steig ab!“
der KPdSU zum 100. Geburtstag Wladimir Iljitsch Lenins, APV-Verlag,
Moskau 1970, Seite 33 f.
Seite 23)