Weniger ist mehr!

Von der Kontrollwirtschaft zur Vertrauenskultur

am 20. Juni 2008 anläßlich des „Querdenker-Frühstücks“ der Novartis Pharma GmbH, Berlin

Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren,

ich danke herzlich für die freundliche Einladung, vor Ihnen und mit Ihnen über unser deutsches Gesundheitswesen reden zu dürfen. Es gibt zu diesem Thema bekanntlich aus allen Fakultäten Mannigfaltiges beizutragen. Ich will mich aber heute – nicht zuletzt in Anbetracht unserer bunten Zusammenkunft aus den verschiedensten Disziplinen – wesentlich auf philosophische Gesichtspunkte konzentrieren. Mein Heimatgebiet der Juristerei stelle ich daher vorerst zurück. Zur Sache:

1.) Ihnen allen sind die vier klassischen Grunddisziplinen der Philosophie bekannt: Anthropologie, Ontologie, Gnoseologie und Praxeologie. Auch sind Ihnen sicher die gedanklichen Ansätze der sogenannten Subjekt-Objekt-Spaltung bereits begegnet. Auch wenn diese Felder einem schon mindestens begrifflich-terminologisch hohen Respekt einflößen, so gehen sie doch allesamt auf eine eher einfache Grundidee zurück. Diese lautet in etwa: Was immer ein Mensch betrachtet, er steht dem Gegenstand seines Interesses stets unausweichlich irgendwie gegenüber. Die Welt „da draußen“ muß erst in seinen Kopf, um sie zu begreifen.

Egal also, was der Mensch betrachtet: Immer muß das „Objekt“ des Interesses in das Hirn des Menschen (also in das Hirn des „Subjektes“) hinein. In Ansehung dieser Grundkonstellation stellte Aristoteles fest, „Wahrheit“ sei demnach die adaequatio rei et intellectus. Nur wenn das, was „da draußen“ in der Welt – außerhalb unseres Hirns – ist, eine getreue Abbildung in dem findet, was wir in unserem Hirn darüber denken, kann von Wahrheit ausgegangen werden.

Das hört sich im Ansatz einfach an, wird aber recht bald zum Problem. Denn der liebe Herrgott (oder wer immer dafür verantwortlich ist, daß es uns hier gibt) hat uns nur fünf Sinne mit auf unseren Lebensweg gegeben. Diese bilden gleichsam die Eingangstore für Welterkenntnis. Nur das, was durch diese Tore aus der Welt in unser Hirn hineinkommt, können wir auch wissen. Was nicht durch diese Tore passt, bleibt draußen. Wenn aber etwas draußen bleibt, dann kann es auch keine Wahrheit geben. Denn zwischen dem, was in der Welt ist, und dem, was in unserem Kopf ist, herrscht ja dann keine Entsprechung.

Diesem Erkenntnisprobleme widmet sich die so genannte Gnoseologie (oder Epistemologie oder Erkenntnistheorie). Und zuletzt muß der Mensch sich – als Subjekt – in diesem Abenteuergarten namens objektiver Welt auch noch angepasst verhalten können. Wie er das am besten anstellt, ist die Kernfrage der Praxeologie, deren Unterdisziplin „Ethik“ wohl die bekannteste von allen ist.

Für unseren Zusammenhang des Gesundheitswesens sind aus diesen allgemeinen Vorbemerkungen jetzt besonders zwei Fragen interessant: Wie erlangen wir Wissen über die Welt? Und: Wie reagieren wir auf diese Umwelt? Das erste ist demnach die erkenntnistheoretische und das zweite die praktische Dimension unseres menschlichen Verhaltens. Ich werde zeigen, daß es genau jene Grundherausforderungen zwischen Mensch bzw. System einerseits und Welt bzw. Wirklichkeit andererseits sind, die uns in dem gegebenen System so erhebliche Probleme bereiten.

Mit alledem habe ich den ersten (begrifflichen) Teil meiner heutigen Einleitung abgearbeitet. Damit komme ich zu einer Zwischenbemerkung:

2.) Unser Gesundheitssystem ist bekanntlich inzwischen in einer Weise komplex, die kaum noch möglich macht, eine sinnvolle Verständigung auf kurzen Wegen zu erreichen. Folglich muß man – nach meiner Überzeugung – stets sehr ausufernde Einleitungen vorschalten, um anschließend auch nur hoffen zu dürfen, überhaupt verstanden zu werden. An meine begrifflichen Vorbemerkungen schließe ich daher nun noch einige geradezu spieltheoretische Klarstellungen an. Sie mögen das Instrumentarium der philosophischen Grunddisziplinen weiter verdeutlichen.

a.) Nehmen wir zunächst an, ein einzelner Mensch habe sich in einer großen Stadt zurechtzufinden. Dies stellt zunächst seinen Erkenntnisapparat vor gewisse Herausforderungen. Er muß sehen, wo er ist. Er muß Gefahren erkennen (heranbrausende Straßenbahnen etc.), sein Ziel definieren und dann seine Reise durch die fremde Stadt entsprechend der Erkenntnisse umsetzen. Er muß angepasst handeln.

Das ist für einen gesunden Erwachsenen in seiner eigenen, vertrauten Stadt scheinbar simpel. Wie schwierig diese Aufgabe der zielgerichteten Welterkenntnis und Wirklichkeitsanpassung aber tatsächlich ist, wird vielleicht erst klar, wenn man sich vorstellt, was es bedeuten würde, ohne Augenlicht auf einem Bein vom Bahnhof Friedrichstraße zum Hotel Adlon gelangen zu müssen. Wirklichkeitsanpassung ist eine echte Aufgabe und Herausforderung. Und es ist ein großes Glück, daß der Herrgott (oder, wie gesagt, wen immer Sie persönlich für unsere Lage für verantwortlich halten) die Kommunikationswege zwischen unseren Sinnen und dem Zentralrechner namens Hirn so kurz (und mithin relativ fehlerunempfindlich) ausgestaltet hat.

b.) Dies verdeutlicht besonders eine erste Ableitung von meinem Beispiel, in dem „nur“ ein Mensch die Anforderungen einer Großstadt bewältigen muß. Nehmen wir an, eine Mutter hat mit ihren beiden Kindern (zweieinhalb und vier Jahre alt) denselben Plan, durch eine Stadt zu laufen. Sie muß für zwei nicht angepasste Menschen mitbeobachten, mithören, mitdenken und mithandeln. Das kann sehr anstrengend sein. Insbesondere, wenn sie sodann auch noch gewährleisten muß, daß beide Kinder auch die richtigen Befehle zur Wirklichkeitsanpassung tatsächlich ausführen. Hier sind die Erkenntnis- und Kommunikationswege schon weitaus länger, als im „Grundfall“.

c.) Das Beispiel läßt sich ohne weiteres ausdehnen. Als zweite Ableitung bitte ich Sie, sich vorzustellen, was es heißt, zwanzig Kindergartenkinder durch eine Großstadt zu manövrieren; vom Kindergarten mit der Straßenbahn zum Zoo und zurück. Hier erlangen die Aufgaben einen Komplexitätsgrad, der sich mit „einer Mutter“ nicht mehr bewältigen läßt. Kindergärtnerinnen sind immer in der Mehrzahl unterwegs. Der Erkenntnisapparat jeder einzelnen Kindergärtnerin muß für alle Kinder mitarbeiten. Die gewonnenen Erkenntnisse müssen für sie selbst und für alle Kinder verarbeitet und in Handlungsanweisungen umgesetzt werden. Die effektive Durchführung aller Handlungsanweisungen bedarf der Gegenkontrolle. Nur so gelingt die Anpassung aller an die Wirklichkeit. Und: Anders als die eine Mutter alleine, die in ihrem einen Kopf alle Informationen verarbeiten kann, müssen die Kindergärtnerinnen auch noch miteinander kommunizieren, was ihr jeweiliges Bild von der Welt ist. Die adaequatio rei et intellectus einer jeden Aufpasserin muß auch auf ihre jeweilige Übereinstimmung mit der persönlichen adaequatio aller anderen Kindergärtnerinnen hin gegengeprüft werden. Kein Wunder, daß Mütter und Kindergärtnerinnen an solchen Abenden sehr müde sind.

Wir können also festhalten: Je mehr Menschen an einem gemeinschaftlichen System beteiligt sind und dessen zielgerichtete Steuerung gemeinsam betreiben, desto komplexer wird nicht nur das System. Insbesondere steigen die Anforderungen an Koordination, Kommunikation und Erfolgskontrollen ganz erheblich. Jeder einzelne ist mehr und mehr gefordert.

d.) So ist es nicht ohne Grund besonders das Militär, das sich mit der Massenträgheit solcher menschlicher Großsysteme zuerst besonders beschäftigen muß. Als dritte Ableitung meines Beispiel-Marathons blicke ich nun auf ein Heer, das – aus ungezählten einzelnen Menschen bestehend und einen gemeinsamen Oberzweck verfolgend – die Umwelt erkennen soll und sich in dieser angepasst (zieladäquat) verhalten will.

Die Sinne eines jeden einfachen Soldaten an ungezählten Stellen im Feld sind zugleich die Sinne des Großsystems Armee. Die Schaltzentrale aber (das Hirn) findet sich in Gestalt des Generals fernab dieser Sinnesorgane. Um überhaupt Erkenntnis gewinnen zu können und anschließend wirklichkeitsangepasst handeln zu können, müssen die Kommunikationswege sinngemäß denen eines biologischen Mechanismus angepaßt werden.

Was nützt es mir, wenn ich ein auf der Straße herannahendes Auto erkenne, der Verarbeitungsweg dieser Information aber so lang ist, daß ich schon überfahren bin, bevor der interne Impuls zum Weglaufen mein Hirn verlässt? Und: was nützt es mir, wenn die Erkenntnis früh genug kommt, der Befehl zum Laufen in den Beinen aber erst nach einer halben Stunde ankommt? Natürlich nichts!

Nicht anders muß eine Armee schnell reagieren, um sich in der Umgebung angepasst zu bewegen. Diese Erkenntnis führt auf der einen Seite zur Pflicht, immer und überall auf streng vorherbestimmten Wegen „Meldung“ zu machen. Und sie führt auf der anderen Seite dazu, daß der „Befehl“ ohne Wenn und Aber, ohne Gegenvorstellung und ohne vorherige Grundsatzdiskussion ausgeführt werden muß. Wo käme das System Heer oder Armee denn hin, wenn auf jeder Hierarchie-Ebene zunächst axiomatische Grundsatzkritiken erlaubt würden?

Der Militär-Apparat kann folglich nur dann in der Umgebung bestehen, wenn er sich selbst intern eine gewisse Starrheit verordnet. Klare Strukturen und abgesicherte Pfade geben dem System nach Innen den Halt, den es braucht, um außen bestehen zu können. Jedenfalls scheint es auf erstem Blick so. Daß die Dinge gegen diese erste Annahme jedoch anders liegen, werden wir sogleich noch im einzelnen sehen.

3.) Und damit bin ich nun – endlich! – bei meinem eigentlichen Thema angelangt. Bei unserem Gesundheitssystem. Auch dieses ist nämlich zunächst nichts anderes als ein System, das sich handelnd in der Wirklichkeit bewegt.

Mit seinen Millionen und Abermillionen von Teilnehmern ist es bekanntlich hochkomplex und nicht nur dem sozialversicherungsrechtlichen Laien nicht mehr ansatzweise durchschaubar oder verständlich.

Da die Größe und Komplexität des Systems faktisch jede menschliche Vorstellungskraft sprengt, behelfe ich mir immer gerne mit einem Bild: Stellen Sie sich vor, Sie fliegen mit dem Flugzeug über ein Ballungsgebiet (das Ruhrgebiet etwa, oder Berlin) und blicken Sie in die Tiefe. Alles, was Menschen dort unten tun und treiben muß zeitgleich erfaßt, verstanden, gespeichert, verarbeitet und geordnet werden. Dann müssen für jeden einzelnen in jeder Lage die richtigen Anweisungen erteilt und in ihrer tatsächlichen Durchführung überprüft werden. Nur wenn dies alles gelingt, stimmen zum Schluß die normativen Vorgaben der Gesetze mit den Tatsachen auf dem Boden überein. Nur dann bleibt das System im Gleichgewicht der sogenannten „Globaläquivalenz“, wie sie sich § 220 SGB V vorstellt. Daß dies geradezu traditionell nicht gelingt, wissen alle Eingeweihten längst.

Ich will hier nicht der weit verbreiteten Versuchung erliegen, nun weitere Details dieses Nichtfunktionierens zu beschreiben. Mein Thema bleibt, wie die Koordination von Informationen, deren Verarbeitung und der Anweisung zu bestimmten Handlungen zwischen dem Subjekt „Gesundheitssystem“ und dem Objekt Welt bzw. Wirklichkeit vonstatten geht.

4.) Bei meinem Beispiel von der Steuerung militärischer System hatte ich bereits aufgezeigt, warum derartige Großsysteme in ihrem Inneren zu gewissen Starrheiten neigen (müssen). Wenn das Riesensystem zu flexibel (böse gesagt: zu schwammig) ist, dann wird es zu träge, um die Herausforderung einer Anpassung an die Umgebungsbedingungen bewältigen zu können. In der Konsequenz dieser Schaffung interner Starrheiten liegt, daß die Teilnehmer derartiger Systeme eine Art „Blickwende“ vollziehen. Sie blicken mit ihren Sinnen nicht mehr ausschließlich oder überwiegend auf die Außenwelt, die sie vordergründig interessieren sollte, sondern sie schauen verstärkt und vermehrt auf das Innere ihres Systems; sie betreiben Introspektion.

In demselben Maße, in dem nun aber nicht mehr die Umwelt beobachtet wird, sondern die inneren Funktionsmechanismen des Systems wird eine Anpassung seiner Steuerung an Umweltveränderungen immer schwieriger. Das Systems reibt sich mehr und mehr an der objektiven Wirklichkeit. Innerhalb des Systems erwächst ein zunächst nur diffuses, dann aber immer bestimmteres Gefühl, daß „etwas“ nicht gut läuft. Dieses unbestimmte Gefühl des unrunden Ganges der Dinge löst einen Reaktionsimpuls aus. Üblicherweise mündet dieser in zwei Überzeugungen: Die eine lautet, wir müssen mehr Informationen über die

Wirklichkeit haben, um das „unrunde“ Funktionieren zu beseitigen; die zweite heißt, wir benötigen höhere Stringenz und festere Strukturen, damit schneller auf die künftig hoffentlich besser (das heißt genauer) erkannte Wirklichkeit reagiert werden kann.

Wie schon gesagt: Aristoteles wusste, daß Wahrheit die Übereinstimmung zwischen Tatsachen in der äußeren Welt und ihrer gedanklichen Erfassung innerhalb des erkennenden Subjektes erfordert. Wem die informationellen Sinne fehlen, die Welt zu erkennen, der scheitert an dieser Wahrheit ebenso wie der, der falsche Handlungsimpulse in die Wirklichkeit setzt.

5.) Ich komme noch einmal zurück auf meine Ableitungen eingangs, bei denen Kinder von ihrer Mutter oder Kindergärtnerin durch eine pulsierende Stadt geleitet werden mußten. Sie alle wissen: Wenn Kinder nicht mehr freiwillig den Befehlen der Erwachsenen gehorchen, dann ist Zeit für stringentere und strengere Botschaften. „Jetzt werden andere Saiten aufgezogen“ heißt es dann oder „Dir zeige ich, wo der Hammer hängt“ oder auch „Ihr werdet mich noch kennen lernen“.

Dieser Verzweiflungspädagogik gegen pubertierende Autonomiebestrebungen entspricht im Wehrstrafrecht die Verschärfung der Sanktionen im sogenannten „Verteidigungsfall“. Wenn es ernst wird, muß sichergestellt werden, daß alle Teile des Armeesystems unverzüglich und befehlsgerecht funktionieren. Dann ist keine Zeit mehr, Debattenkulturen im System zu pflegen. Dann muß gehandelt werden, notfalls gegen alle Zweifel und Widerstände.

6.) Im hochkomplexen Gesundheitssystem findet diese Verzweiflungspädagogik ihre Entsprechung in Phänomenen wie dem der Korruptionsbekämpfung oder der „Bekämpfung von Fehlverhalten“ überhaupt (vgl. §§ 81a, 197a SGB V). In Anbetracht einer augenscheinlich schwieriger (oder gar nicht mehr) zu beherrschenden Wirklichkeit werden die Methoden zur Sicherstellung des Gesetzesgehorsams ruppiger.

7.) Für den Kenner rechtsgeschichtlicher Vergleichsbeispiele sind derartige Maßnahmen im Inneren eines Systems Indiz seiner Agonie. Das vorangegangene planwirtschaftliche Großexperiment beispielsweise des sogenannten „Ostblocks“ kannte in großem Umfange das Phänomen des Saboteurs. Hier schließt sich – um noch einen anderen historischen Bezug aufzuzeigen – die monarchistische Überzeugung vom „The King can do no wrong“ nahtlos an die Allwissenheit des Gesamtplaners an: Wenn etwas nicht funktioniert, so kann es selbstverständlich nicht an fehlerhafter Planung liegen, sondern allenfalls an Saboteuren, die das Funktionieren hintertreiben.

Paul Watzlawick hat dies in einem bemerkenswerten Essay über die „Bausteine ideologischer Wirklichkeiten“ mit breiter Empirie unterlegt und nachgezeichnet. In einem seiner Beispiele berichtet er, wie ungarische Landwirtschaftsexperten sich dem Vorwurf der Sabotage ausgesetzt sahen, nachdem sie den zuständigen sozialistischen Sowjet Ungarns darauf hingewiesen hatten, daß entgegen seiner Vorstellung am Balaton Orangen nicht angebaut werden können. Weil die Parteiexperten jedoch zuvor Spanien besucht und topographische Ähnlichkeiten mit dem heimatlichen See entdeckt zu haben glaubten, ordneten sie derartigen Orangenanbau dennoch an. Als der wegen der Temperaturverhältnisse erwartungsgemäß scheiterte, wurden die Experten als vermeintliche Saboteure des guten Plans verantwortlich gehalten. Irgendeiner muß es ja schuld sein!

8.) Aus alledem läßt sich – grob gesprochen – folgende Faustregel herleiten: Je höher die Komplexität eines Systems ist, desto existenzgefährdender sind ihm Veränderungen der Umgebungsbedingungen. Aus genau diesem Grunde führen exogene Änderungen nicht selten zum katastrophischen Kollaps derartiger Großsysteme. Mindestens werfen sie ein System in seinem Fortschritt zurück. Auch dies erweist die Geschichte, auf die es sich stets lohnt, lernwillig zurückzublicken.

a.) Unter Historikern besteht durchaus Einigkeit, daß die sogenannte „kleine Eiszeit“ in Europa zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Reformation in ihren Auswirkungen beflügelt und bestärkt hat. Wenn infolge von klimabedingten Zusammenbrüchen der Versorgung mit Nahrungsmitteln das Vertrauen in eine bestehende Ordnung allgemein schwindet, dann wächst umgekehrt die allgemeine Bereitschaft, sich anderen Ordnungen gegenüber zu öffnen.

b.) Auch die französische Revolution von 1789 wurde zu nicht geringem Teil von Engpässen in der Lebensmittelversorgung ausgelöst (die übrigens, am Rande bemerkt, ebensowenig mit Kohlendioxidbelastungen der Erdatmosphäre zu tun hatten, wie die der kleinen Eiszeit oder heute; aber das ist ein anderes Thema).

c.) Jung Chang beschreibt in ihrer beeindruckenden Biographie über Mao tse-Tung, wie dieser Ende der 1950-iger Jahre den „Großen Sprung nach vorne“ für die chinesische Stahlwirtschaft planen und machtvoll durchsetzen wollte. Nachdem er in nur drei Jahren die gesamte chinesische Infrastruktur von landwirtschaftlicher Produktion auf das Stahlkochen bis in das letzte Dorf umgestellt hatte und hierbei die drakonischsten Strafen gegen Saboteure verhängen ließ („Wer einen Nagel versteckt, der versteckt einen Konterrevolutionär“), genügte eine klimabedingte Missernte in weiten Teilen des Landes, um die schwerste Hungerkatastrophe der bekannten Menschheitsgeschichte auszulösen. Infolge Fehlplanung starben mindestens 38 Mio. Chinesen den Hungertod. Maos Karriere wurde kurzfristig zurückgeworfen. Auch hier hatte also die exogene Ursache „Hungersnot“ das machtvoll geplante Großprojekt „Stahlexport-Weltmeister“ gestoppt.

9.) Bevor ich wieder auf unser eigentliches Thema, nämlich die vielleicht eines Tages dann doch wieder mögliche Steuerung des deutschen Gesundheitssystems, zurückkomme, verweise ich auf einen anderen, kulturhistorisch bemerkenswerten Umstand: Quer durch alle Zeiten und unabhängig von allen kulturellen Besonderheiten läßt sich ein sehr interessantes Muster des Zusammenhangs zwischen kollabierenden Systemen und ihrer Architektur feststellen. Immer dann, wenn ein einstmals funktionierendes Großsystem seinen Zenit überschritten und in den Zustand des Vergehens übergegangen ist, entwickelt es eine geradezu unwiderstehliche Neigung, die imposantesten Bauwerke zu errichten.

Die größten Papstpaläste in Rom wurden gebaut von Päpsten, die schon nichts mehr zu sagen hatten. In dem großartigen Buckingham Palast zu London lebte nie ein König, der noch irgendetwas Substantielles zu sagen hatte. König Ludwig II. baute die Schlösser Neuschwanstein, Herrenchiemsee und Linderhof, während er zeitgleich seine Macht verlor. Die beeindruckende Stadt Neu-Delhi wurde als vorbildliche Hauptstadt für eine Kolonialverwaltung 1929 fertiggestellt, also in dem Jahr, in dem die indische Befreiungsbewegung den Sieg über England faktisch errungen hatte.

Northcote Parkinson, der britische Historiker und Ökonom, der diese Fakten 1957 in seinem Buch „Parkinsons Gesetz“ beschrieb, konnte denknotwendig nicht wissen, daß der neue Bonner Bundestag im Jahre 1992 fertiggestellt wurde, als Berlin bereits wieder Hauptstadt Deutschlands geworden war. Er konnte auch nicht wissen, daß das Bundeskanzleramt und das beeindruckende Abgeordnetenhaus in Berlin zu einem Zeitpunkt entstanden, als alle Gesetze schon zu 80% aus Brüssel kamen. Und er konnte nicht wissen, zu welchem Zeitpunkt das neue Gesundheitsministerium der Bundesrepublik Deutschland fertiggestellt wurde …

10.) Nach diesen breiten historischen Exkursen, die Sie mir als Ihrem eingeladenen „Querdenker“ bitte nachsehen mögen (diese Leute sind so), komme ich – endlich – wieder zurück zu unserem Gesundheitswesen.

Daß das System sich in den Umgebungsbedingungen der Wirklichkeit unwohl fühlt, weil „etwas“ nicht mehr rund läuft, hatte ich bereits beschrieben. Genau dieses Unwohlsein ist regelmäßig Anlaß zu immer neuen Reformen, die letztlich nichts anderes sind, als das Eingeständnis unzureichender Wirklichkeitsanpassung.

Neben der optimierten Datenbeschaffung interessiert das System daher nun – wie ebenfalls schon angesprochen – die Optimierung der Beherrschbarkeit aller Beteiligten. Anders als in militärischen Zusammenhängen, in denen Befehlswege stets Einbahnstraßen sind, stellte sich das „alte“ Modell der kassenärztlichen Versorgung beispielsweise nicht als ein solches Einbahnstraßensystem dar. Vielmehr wurden gesetzliche Anweisungen nur „von oben“ bis an die Grenze der kassenärztlichen Selbstverwaltung gegeben. Dort brandeten die Befehle des Gesetzgebers gegen die Klippen der basisdemokratisch „von unten“ legitimierten Vertragsärzteschaft.

In demselben Maße, in dem das Gesundheitssystem die eigenen Funktionsunfähigkeiten erkennt, neigt es nun dazu, jene vermeintlichen Saboteure in der basisdemokratischen Vertragsärzteschaft durch zunehmende Starrheit des Anordnungssystems in die Pflicht zu nehmen. Der Arzt wird zunehmend Befehlsempfänger eines die medizinischen Maßnahmen stringent anordnenden Systems. Nur so scheinen die Widerstände der Selbstverwaltung, die als ein wesentlicher Faktor der Funktionsschwäche ausgemacht sind, bekämpft werden zu können (eine Darstellung der anderen Leistungserbringerschaften jenseits der Kassenärzte mit ihren dort wachsenden Starrheiten erspare ich uns hier aus Zeitgründen; die Phänomene sind bekanntlich überall dieselben).

11.) Die Grundidee einer kassenärztlichen Vereinigung war allerdings nicht ursprünglich die eines basisdemokratischen Widerstandsnestes. Vielmehr sollte – ebenso wie beispielsweise in der gemeindlichen Selbstverwaltung des Kommunalrechtes – die größere räumliche Nähe zum Patienten „vor Ort“ dezentral zu sachangemessen(er)en Lösungen führen. Damit war zugleich ein weiteres systematisches Phänomen abgearbeitet: Ich nenne es das der „Dehnungsfuge“.

Was bedeutet in diesem Zusammenhang eine „Dehnungsfuge“? Wann immer Sie ein Haus bauen, eine Brücke errichten oder sonst ein System in eine Wirklichkeit einfügen, müssen Sie den Übergang zwischen System und Umwelt harmonisieren bzw. anpassen. Weil ein Haus mit seinen verschiedenen Materialien zwischen Hitze und Kälte, Wind und Wetter je anders „arbeitet“ als sein Fundament, müssen die mehreren Materialien des Systems sowohl zu diesem, als auch gegeneinander flexibel bleiben. Wer eine große Betonfläche gießt, ohne Dehnungsfugen einzubringen, der errichtet ein bald brüchiges Bauwerk.

Ebenso, wie jedes dieser Bauwerke „Toleranzen“ benötigt, muß auch ein Großsystem wie das des Gesundheitswesens Toleranzen zulassen. Wo sie fehlen, bricht das System. Dies wiederum sind diejenigen Augenblicke, in denen – wie vorstehend breit erklärt – Systeme insgesamt kollabieren. Jenes Kollabieren wird jedoch durch die Bekämpfung der Toleranz bzw. Flexibilität „vor Ort“ durch stringente und starre Anordnung gerade befördert.

12.) Was also kann insgesamt aus diesen systematischen Erwägungen für unser Gesundheitswesen gelernt werden?

a.) Zunächst ist eine deutliche Reduzierung seiner Komplexität erforderlich. Es bedarf einer deutlichen Verkürzung sowohl der Erkenntniswege des Systemsubjekts, als auch seiner Entscheidungswege in die objektive Umwelt. Dies läßt sich nur durch die konsequente Schaffung und Zulassung kleinerer Einheiten mit eigenen Entscheidungsbefugnissen bewerkstelligen. Es ist kein Zufall, daß – um ein letztes Mal militärische Parallelen zu bemühen – die sogenannten regulären Großarmeen stets die größten Schwierigkeiten haben, einen Gegner im Guerilla-Krieg zu besiegen. Die Guerilla agiert autonom und flexibel in kleinen Einheiten. Sie ist im weit höherem Maße in der Lage, eigenes Erkennen und Handeln in der Wirklichkeit abzustimmen als ein schwerfälliger Großapparat, der trotz gigantischen Aufwandes seine Ziele in der Welt nur suboptimal erreicht.

b.) Auch für diese „Herabzonung“ von Handlungsverantwortung auf kleinere Einheiten sowie für die erlaubte Flexibilisierung vor Ort gibt es deutliche historische Beispiele. Das Oktober-Edikt von Friedrich Wilhelm III. aus dem Jahre 1807 erlaubte ausdrücklich den freien Handel und befreiten Grundbesitz für Adel ebenso wie Bauern, Bürger und vormals „Unfreie“, weil die vorangegangenen Napoleonischen Kriege die gesamte Wirtschaft und Versorgungssituation in Preußen in eine katastrophale Lage gestürzt hatten. Friedrich Wilhelm III. erkannte, daß er mit hoheitlicher Gesamtplanung das Elend nicht erfolgreich bekämpfen konnte. Daher ließ er seinem Volk freie Hand. Deutschland und Preußen blühten danach bekanntlich auf.

In etwa zeitgleich ließ sich nichts anderes in den Vereinigten Staaten von Amerika beobachten. Die Siedler hatten mit den unfassbarsten Schwierigkeiten zu kämpfen. Naturgewalten stellten sich ihnen entgegen. Jede Infrastruktur fehlte. Gleichwohl gelang es, die USA auf lange Zeit hin zur größten Wirtschaftsmacht der Welt auszubauen. Die Ursache hierfür lag nicht zum wenigsten darin, daß die Siedler jedenfalls mit einem nicht kämpfen mußten: Mit Überregulierung, Bürokratie und Verwaltung.

c.) An einer Deregulierung (beinahe möchte man sagen: Demilitarisierung) des Gesundheitswesens führt daher dann kein Weg vorbei, wenn vor Ort wieder bezahlbare und qualitativ erfreuliche Medizin geleistet werden soll. An die Stelle des Verwaltungszwanges und der gesetzgeberischen Einschnürungen muß daher die Schaffung flexibler dezentraler Einheiten in eigener Verantwortung treten. Dies wiederum erfordert Vertrauen in die Handelnden. Und genau dies ist die Essenz meiner hiesigen Ausführungen: Wir brauchen eine Vertrauenskultur im Gesundheitswesen, statt der heutigen Kontrollwirtschaft, die von Zwängen geprägt und dem Zusammenbruch geweiht ist.

d.) Der Weg in diese Vertrauenskultur führt jedoch nach meiner Einschätzung und Erwartung – insoweit bin ich Realist oder Skeptiker, je nachdem, was Sie lieber mögen – nicht über Einsicht und gezielte Umsteuerung. Vielmehr erwarte ich ein Kollaps-Szenario unseres notorisch lernresistenten Gesundheitssystems im Vollbild der skizzierten historischen Beispiele.

Wer also gutwillig ist und Interesse hat, eine Gesundheitsversorgung nach diesem Kollaps sicherzustellen, der muß heute beginnen, über Strukturen und Netzwerke für die Zeit danach nachzudenken.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!

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