1. Auflage, Berlin 2007
Karl Lauterbach enttäuscht mit
einer Polemik über den „Zweiklassenstaat“
Nur wenige Bücher werden schon vor ihrem Erscheinen intensiv öffentlich diskutiert. Dem Buch des Bundestagsabgeordneten Karl Lauterbach über den „Zweiklassenstaat“ wurde dieses Privileg soeben zuteil. Mithin wollte scheinen, als sei Lauterbach gelungen, Mängel unseres Sozialstaates wissenschaftlich fundiert darzulegen, sie detailliert zu kritisieren und substantielle Alternativen aufzuzeigen. Immerhin galt Professor Lauterbach vielen bislang als akademisch ausgewiesener Kenner insbesondere des deutschen Gesundheitssystems. Bei genauer Lektüre müssen indes sowohl seine Auffassungen, als auch die Bereitschaft, ihnen medialen Raum zu geben, irritieren.
Lauterbach widmet den Bereichen Bildung, Medizin, Rente und Pflege je ein eigenes Kapitel. Dann resümiert er, wie „die Privilegierten“ das Land systematisch ruinierten. Seine Analysen bleiben allerdings insgesamt erstaunlich unsystematisch, die Reformansätze bruchstückhaft und konzeptlos. Zugleich sind die Radikalität seiner „Kampfansage an die bestehenden Strukturen“ und die Vielzahl von Widersprüchen bemerkenswert.
Zunächst beschreibt er Beamte als Profiteure des Bildungswesens. Sie sorgten dafür, daß ihre „Gewinnerkinder“ von (meist türkischen) Verlierern des Schulsystems ferngehalten würden. Aufgabe des Staates müsse sein, den verwerflichen Bevorzugungswillen von Eltern per Gesetz zu brechen und zugunsten der Armen ein moralisches Bildungssystem zu etablieren. Erstes Mittel hierzu sei die Einführung einer kostenlosen Zwangsganztagsvorschule für alle. Ohne diese sei der „sozialen Lotterie“ um gesellschaftliche Chancen nicht beizukommen. Ein entgegenstehender Elternwille müsse wie Kindesmisshandlung gewertet werden. Der Staat habe „jedes seiner Kinder“ wie einen Rohstoff zu behandeln, den es gegen die Gefahren der Globalisierung einzusetzen gelte. Ziel sei, den späterhin mit dem Rentensystem vollendeten „Zyklus der vererbten Chancenlosigkeit“ zu durchbrechen. „Gastarbeiter haben Deutschland meist verehrt“, nun aber gewinne der Haß gegen den Sozialstaat die Überhand.
Zur Finanzierung eines solchen bildungspolitischen Großprojektes hält Lauterbach die Erhöhung von Erbschafts- und Einkommensteuer für unumgänglich, obwohl er zugesteht, daß höhere Abgaben „Gift für den Arbeitsmarkt“ sind. Der Widerspruch bleibt indes ebenso ungelöst wie der, daß noch mehr Staat im Bildungswesen zwangsläufig weitere beamtete Systemprofiteure schaffen muß.
Von denselben Widersprüchen und Halbheiten sind die Darlegungen zum Gesundheitssystem geprägt. Die Erwartungen an seine hier vermutete Kompetenz werden deutlich untertroffen. Wer gesetzlich krankenversichert sei, bleibe häufig „auf der Strecke“, nur der Privatversicherte können medizinisch „shoppen gehen“, der Kassenpatient werde also diskriminiert. Statt aber dem gesetzlich Versicherten den Aufstieg in die Klasse der privatversicherten Privilegierten zu ermöglichen, empfiehlt Lauterbach das exakte Gegenteil: Die Privilegien der Gewinner müssten abgebaut werden. Hier schlägt wohl die im Vorwort angekündigte „Stunde der Politik“. Denn Konsens sei nicht möglich.
Mit seiner variierend formulierten Behauptung, privat Versicherte trügen „nicht einen einzigen Euro“ zur medizinischen Versorgung aller bei, übersieht Lauterbach die eigentlich unbestreitbare Tatsache der Steuerfinanzierung von Krankenhausbauten in der dualen Finanzierung. Gleiches gilt für die aus Steuern gespeisten Zuschüsse in die gesetzliche Krankenversicherung. Von einem Gesundheitsökonomen, der persönlich an jüngeren Gesetzesreformen beteiligt war, wäre zu erwarten, daß er diese Geldflüsse kennt. Auch hätte man erwartet, daß ihm die legislativ in Gang gesetzte Aufweichung der Sektorengrenze zwischen ambulantem und stationärem Bereich bekannt ist. Er beleuchtet aber weder sie, noch die Therapierestriktionen durch den Gemeinsamen Bundesausschuß, die er pauschal – anders übrigens als das Bundesverfassungsgericht – für „sehr vernünftig“ hält.
Sein gesamter Therapievorschlag zur Gesundung des maroden Systems beschränkt sich nach allem auf erstaunlich knappe zehn Denkanstöße, deren Kerngehalt ist: Gleicher Lohn für gleiche medizinische Arbeit an gleichen bürgerversicherten Patienten unter stärkerer behördlicher Kontrolle von möglichst nur noch 30 bis 50 „Kassen“. Ein auch nur näherungsweise schlüssiges Konzept für die propagierte allgemeine Zwangsverwaltung im Gesundheitswesen läßt sich darin erkennbar nicht ausmachen. Auch der Laie wird angesichts solcher „Reformvorschläge für Qualität und Wirtschaftlichkeit“ die fachliche Exzellenz des Verfassers sicher neu überdenken.
Lauterbach formuliert bei alledem mitnichten akademisch. Er redet statt dessen von parasitären Verhältnissen, Melkkühen und habilitierten Mietmäulern, von Pharmamülleimern und balkanisierten Strukturen und über Politiker, die sich von einer unsauberen Industrie einseifen ließen. Dies läßt durchaus Schlüsse auf den adressierten Leserkreis zu. Denn es ist eher auszuschließen, daß es sich hierbei um Entgleisungen handelt. Genau dort nämlich, wo er gesteht, selbst Privatpatient zu sein, verbirgt sich der mehrfache Ich-Erzähler Lauterbach gezielt hinter der Formulierung von „diesem Autor“. Ersichtlich lotet Lauterbach die Grenzen des terminologisch Machbaren meist sorgfältig aus, wobei er allerdings nach Auffassung des Landgerichtes Hamburg vom 12. Juni 2007 gegenüber dem Internet-Forum „facharzt.de“ teilweise rechtswidrig überzogen habe.
Weniger sorgfältig ist sein Blick auf das deutsche Rentensystem. Hier glaubt er, es genieße „hohes Ansehen in der Bevölkerung“. Gleichwohl sei es ungerecht, weil früh ablebende Geringverdiener langlebende Wohlhabende subventionierten. Dem vermeinten Prinzip „Wer hat, dem wird gegeben“, müsse also auch hier staatlich entgegnet werden. Am besten gelinge dies durch eine Grundrente für alle aus Kapitalstöcken bei Rentenbehörden, gebildet durch höhere Steueranteile. Faszinierend an seinem nur kurzen Kapitel über die Rente bleibt neben einer „Pflicht zur Riester-Rente für alle“ insgesamt dies: Während er selbst altmarxistische Klassenausbeutungsphilosophien reanimiert, „Herkunftseliten“ bekämpfen möchte und sich ausdrücklich von der „sanften Gangart“ verabschiedet, bezeichnet er das Aussprechen von Interessengegensätzen zwischen Generationen als beschämendes Aufhetzen gegeneinander.
Nach allem ist nur konsequent, wenn Lauterbach auch in der Pflege eine Vielzahl von Ungerechtigkeiten ortet. Seine Klage aber, Ungebildete litten mangels geistiger Herausforderungen eher unter Demenz und erführen dann – weil lebenslang arm geblieben – die staatsüblich mangelhafte Pflege, rutscht zuletzt vollends ab in ein diffuses Hadern mit allerlei Unzulänglichkeiten des Lebens. Die dann einerseits pauschalen Vorwürfe gegen „den Staat“ und der andererseits gleichzeitige Schrei nach Herbeiführung von Gerechtigkeit durch eben diesen reduzieren den bisherigen Gesundheitsexperten auf ein durchaus schlichtes Maß.
Das Buch ist jedoch nicht nur Selbstdemontage. Es hat auch eine durchaus amüsante Komponente, an der sich zu erfreuen leider den Lesern der Erstausgabe vorbehalten bleiben wird. In einer Zwischenüberschrift zur Schulreform schenkt Lauterbach uns noch diese wahre Einsicht aus der Tiefe seiner Seele: „Die Bildungsreform ist teuer, aber unbezahlbar“.