Einer werfe des anderen Stein?

von Carlos A. Gebauer

Unser Grundgesetz garantiert das Demonstrationsrecht. Die Demonstrationsfreiheit ist – genau wie die Meinungsfreiheit – eine der tragenden Säulen unseres Staates. Wie sollte ein Volk sich auch selbst regieren können, wenn ihm verboten wäre, seine Ansichten auszutauschen?

Fraglich ist aber, ob das bloße Meinen und Demonstrieren ausreicht, um ein Gemeinwesen zu organisieren. Denn so viele Parolen man auch ruft, so viele Plakate man schwenkt und so viele Leserbriefe man verfaßt: Ein Feld ist damit noch nicht geerntet, ein Brot nicht gebacken, ein Teller nicht gespült und die Wunde eines kranken Mannes nicht gepflegt.

Es wollte mir scheinen, als habe auch Stefan K. aus Gelsenkirchen in diese Richtung gedacht, als ich am 20. August 2004 seinen Leserbrief zu den aktuellen „Montagsdemonstrationen“ in der Westdeutschen Allgemeinen las: Wenn man heute etwas erreichen wolle, schrieb er, „muß man es selbst in die Hand nehmen“. Also, dachte ich, will er sich nicht länger auf andere verlassen, sondern höchstpersönlich anpacken, um seinen und den Wohlstand seines Volkes zu mehren. Weiter aber schrieb er: „Also, Leute, geht endlich auf die Straße und kämpft für Eure Interessen und Rechte“.

Gegen wen und was genau aber, fragte ich mich, will er „kämpfen“? An wen richtet sich sein Protest? Wie meint er, müßten die Dinge gestaltet sein? Genau an dieser Stelle geben bislang weder Stefan K., noch auch die Spruchbänder der Demonstranten eine tragfähige Antwort – von Ohrfeigen, Mittelfingern, Trillerpfeifen, Eiern oder gar Steinen ganz zu schweigen. Und exakt liegt eine Grundschwierigkeit des Protestes in Massengesellschaften: Kein Plakat ist groß und keine Megaphon-Durchsage lang genug, um den vorhandenen, abertausenden, ineinander verhedderten Regeln ein schlüssiges Alternativmodell entgegenhalten zu können.

Je regulierter eine Welt wird, desto weniger Menschen verstehen sie. Und je weniger die Menschen sie verstehen, desto weniger sind sie bereit, in ihr zu leben. Wer die Loyalität von Bürgern will, der muß ihnen Regeln geben, die ihnen nachvollziehbar sind. Was immer die Sorgen und Ängste der einzelnen Demonstranten seien, eines eint ihren Protest jedenfalls: Das Gefühl, ohnmächtig einer Verwaltungsmaschinerie ausgeliefert zu sein, deren Funktionsweise nicht mehr nachvollziehbar ist. Ihr gemeinsames Kopfschütteln ist die Wurzel ihrer demonstrierenden Solidarität. Welcher „normale“ Mensch weiß noch, was er wann und wie für wen tun darf, ohne gegen irgendwelche Vorschriften zu verstoßen, wenn nicht einmal „Experten“ sicher sind? Wer weiß, an wen er sich verläßlich und vertrauensvoll wenden kann, wenn er existentielle Probleme hat?

In der Verworrenheit dieser Verhältnisse und der Undurchschaubarkeit ihrer Regeln liegt jedoch auch die Kernbotschaft für Stefan K. und die seinen: Jeder, der für sich ein Recht fordert, der fordert ganz zwangsläufig für einen anderen eine entsprechende Pflicht. Paradoxerweise also demonstrieren die Stefan K.s damit auch maßgeblich gegen sich selbst. Denn je mehr Rechte wir schaffen, desto mehr Pflichten entstehen. Und Menschen, die all dies verwalten. Genau das aber war der Ursprung unserer heutigen, bedrückenden Unübersichtlichkeit.

Deswegen sollten wir schlicht für Regeln demonstrieren, die Menschenmaß haben. Denn es wird der mächtigsten Sozialverwaltungsbehörde nie gelingen, mein Leben so gut zu ordnen, wie ich es mit meinen Händen und denen meines Nachbarn kann. Man muß uns nur lassen.

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