Vortrag auf Schloß Krickenbeck am 20. Oktober 2006 von Carlos A. Gebauer 1
Zunächst danke ich herzlich für die Einladung, heute bei Ihnen zu „der Gesundheitsreform“ sprechen zu dürfen. In Anbetracht der Ehre, vor einem so kompetenten Publikum an einem so herausgehobenen Ort über einen so großen Gegenstand ausführen zu können, nähere ich mich meiner Aufgabe mit nicht geringem Respekt.
Augenscheinlich gibt es Themen, die sich nicht erschöpfen. Und „die Gesundheitsreform“ gehört dazu. Mein Anliegen ist daher weniger, die hinlänglich bekannten Sachfragen (sowie die unzulänglich bekannten Antwortversuche) zum Thema zu beschreiben. Was mich treibt, ist vielmehr der Reiz, auf einer Meta-Ebene – also gleichsam aus der Vogelperspektive – einige Gedanken zum Phänomen „Gesundheitsreform“ darzulegen. Denn aus diesem Blickwinkel (der sozusagen die Bäume außer Betracht läßt, um den Wald zu sehen) lassen sich – wie ich zeigen möchte – rational und folgerichtig ganz handfeste juristische und betriebswirtschaftliche Erkenntnisse für die unternehmerische Gestaltung des künftigen Krankenhausalltages gewinnen.
Meine Überlegungen trage ich – weil es sich seit alters her so bewährt hat – in drei Schritten vor. Sie heißen: Einleitung, Hauptteil und Schluß.
A. Einleitung Was ist überhaupt eine „Gesundheitsreform“?
Wer einen Gegenstand erörtert, der ist gut beraten, zunächst zu beschreiben, wovon genau er überhaupt spricht
2.
In der öffentlichen Diskussion (ebenso wie im inneren Kreis der scientific community ‚Krankenhauswesen‘) reden die Beteiligten üblicherweise von „der Gesundheitsreform“. Was aber ist „die Gesundheitsreform“? Die gängigen Suchmaschinen des Internet bieten dem Interessierten derzeit rund acht bis neun Millionen [am 16. Oktober 2006 bei ‚Google‘ genau: 8.830.000] deutschsprachige Fundstellen zur weiteren Erforschung des Phänomens. Die Lage nötigt also nolens volens zum Selberdenken.
Unter dem Gesichtspunkt der Sprachlogik lassen sich gegen den Begriff „der Gesundheitsreform“ wenigstens drei Einwendungen erheben:
Es gibt – erstens – augenscheinlich nicht „die“ Gesundheitsreform, sondern seit rund dreißig Jahren (nämlich spätestens seit den Zeiten der beginnenden „Kostendämpfung im Gesundheitswesen“) einen andauernden Prozeß immer neuer Reformen und Reformen von Reformen in Deutschland. Die Bezeichnung des Phänomens „Gesundheitsreform“ im Singular ist daher greifbar unzutreffend.
Richtig kann alleine nur sein, von Gesundheitsreformen stets nur im Plural zu reden.
Die zweite Einwendung ist, daß jene Reformierungsaktivitäten sich – trotz ihrer Benennung – überhaupt nicht auf das beziehen, was wir sonst gemeinhin unter „Gesundheit“ verstehen. Denn wenn es irgendetwas auf der Welt gibt, was (im Konsens aller billig und gerecht Denkenden) einer Reform gerade nicht bedarf, dann ist es doch gerade und exakt die individuelle menschliche Gesundheit. Anders gesagt: Wer den vielleicht erstrebenswertesten aller denkbaren Zustände, die Gesundheit, reformieren wollte, der könnte denknotwendig nur einen schlechteren als diesen guten Gesundheitszustand anstreben; denn eine Kugel kann man nicht runder schleifen.
Richtig kann also alleine nur sein, (im Plural) von Maßnahmen an einem Regierungs- und Verwaltungssystem zu sprechen, das sich darauf bezieht, ein medizinisch-technisch-ökonomisches Giga-System irgendwie über die Zeit im Gleichgewicht zu halten.
Drittens schließlich muß sich aber auch der Begriffsbestandteil „-reform“ eine linguistische Computertomographie gefallen lassen. Wenn ich etwas „reformiere“, also einer Sache im strengen Sinne des Wortes (wieder) eine andere Form gebe, dann verabschiede ich mich von ihren vorherigen wesentlichen Erscheinungsprinzipien und gebe ihr eine nach anderen Maßstäben geformte, neue Gestalt. Reformen betreffen daher nicht nur gewisse Marginalien oder bloße Designmerkmale einer im übrigen gleichbleibenden Sache. Eine wirkliche „Reform“ ist vielmehr stets die grundlegende Veränderung eines Gegenstandes oder Sachzusammenhanges (wie etwa die Unbeachtlicherklärung des Papstes zu Beginn des 16. Jahrhunderts durch den seinerzeitigen Urreformator).
Richtig kann nach allem – zusammengefaßt – für unseren Kontext nur sein, anstelle von „der Gesundheitsreform“ sprachlich exakt von einem andauernden und fortlaufenden politischen Prozeß zu reden, der an äußeren Erscheinungsmerkmalen des bestehenden Systems kontinuierlich Überarbeitungen Modifikationen vornimmt, ohne aber die im Innersten dieses Systems gegebene, sakrosankte Architektur auch nur anzutasten.
Kurz: Wenn wir sagen „die Gesundheitsreform“, dann meinen wir – gegen den Anschein des Begriffes – nicht den einmaligen Neuaufbau eines Verwaltungssystems, dessen bisherige, alte Struktur sich als mangelhaft erwiesen hat. Sondern wir beschreiben sprachlich verknappt einen Prozeß der kontinuierlichen Änderung von Regeln und Handlungsrahmen, in dessen Mitte wir uns befinden.
Aus Klarstellungs- und Vereinfachungsgründen erlaube ich mir, hier im weiteren – gleichsam als Halbkompromiß zwischen inhaltlicher Richtigkeit und praktikabler Aussprechbarkeit – von „den Gesundheitsreformreformen“ als meinem Thema zu reden.
B. Hauptteil Die unendliche Geschichte der Gesundheitsreformreformen: Ursachen, Nebenwirkungen und Therapien
Nachdem damit der terminologische Boden bereitet ist, komme ich nun zu meinem Hauptteil, nämlich zu der scheinbar zwangsläufig unendlichen Geschichte dieser Gesundheitsreformreformen. Auch hier möchte ich zunächst die beiden Fragen vorstellen, auf die ich anschließend antworten will.
B.I. Fragen an die Gesundheitsreformreform
Die Tatsache, daß an einer bestimmten Stelle unserer Welt ein Entwicklungsprozeß vonstatten geht, ist – für sich gesehen – noch kein Anlaß, diesen Aspekt des Fortschreitens der Welt besonders zu thematisieren oder gar zu problematisieren. Stillstand herrscht – wer könnte es bestreiten? – nirgendwo.
Was die fortwährenden Überarbeitungen und Reformreformierungen des deutschen Gesundheitswesens jedoch so besonders und so erörterungswürdig macht, ist ein anderer Gesichtspunkt. Diesen läßt sich ich (zu Verdeutlichungszwecken) am ehesten noch in eine Art Vorfrage kleiden:
Angenommen, bei Ihnen zu Hause hätte im Jahre 1975 ein Wasserhahn das Tropfen begonnen; wie lange (und wie oft) hätten Sie wohl die – nach mehrfach scheiternden Reparaturversuchen – augenscheinlich abdichtungsunfähigen Klempner immer ein und derselben Firma wieder bestellt (und bezahlt)? Einen Monat? Ein Jahr? Fünf Jahre? Zehn, zwanzig, dreißig Jahre? Zur Tropfendämpfung im Wasserhahnwesen? Und: Wenn derselbe Wasserhahn auch heute, im Jahre 2006, noch immer undicht wäre; würden Sie sich und Ihre Armatur auch weiterhin denselben Fachleuten zur Rohrreform anvertrauen wollen?
Der naheliegende Protest gegen die mit dieser Frage aufgenötigte Analogie zwischen einem Wasserhahn und unserem deutschen Gesundheitswesen lautet natürlich: Ein Wasserhahn ist ein simples Rohr, ein Gesundheitswesen hingegen ist eine komplizierte Sache.
Ich werde daher nun im wesentlichen zwei Fragen erörtern; zum einen: Was genau macht unser Gesundheitswesen so kompliziert, daß es im Rahmen der Gesundheitsreformreformen augenscheinlich einer kontinuierlichen Dauerbeklempnerung bedarf? Und zum anderen: Ist die unendliche Geschichte der Gesundheitsreformreformen überhaupt jenseits bloßer Lästigkeit etwas Gefährliches; oder könnte man sie nicht auch als einen zwar bisweilen anstrengenden, gleichwohl aber unausweichlichen, natürlichen Prozeß menschlichen Handelns akzeptieren und hinnehmen?
B.II. Die Komplexitätsursachen
Das deutsche Gesundheitswesen ist kompliziert. Niemand, der es in breiteren Teilen kennengelernt hat, könnte dies bestreiten. Was aber genau macht es überhaupt so kompliziert?
Ich behaupte, daß seine Komplexität in überragendem Umfange eine – ohne Not! – hausgemachte und deshalb durchaus vermeidbare Dimension darstellt. Ich behaupte weiter, daß diese Komplexität (einen entsprechenden, ernsthaften politischen Willen hinzugedacht) reduzierbar und damit zuletzt auch wieder praktisch handzuhaben sein könnte. Warum glaube ich, daß die Dinge so liegen?
Jeder weiß: Wenn die Fundamente eines Hauses nicht fest sind, wenn es „auf Sand gebaut ist“, dann kann dieses Haus auf Dauer nicht stehen. Nichts anders gilt aber auch für jedwede geistigen Konstruktionen und Verwaltungssysteme: Wenn die Prämissen schief und unsicher in der Landschaft stehen, dann dringt auch dort Wasser ein, setzt Schimmel an, und kippt ein kräftiger Sturm zuletzt die gesamte Statik um. Wir müssen also zunächst fragen: Welches sind die wesentlichen, tragenden Prämissen unseres Gesundheitssystems?
Unser Gesundheitswesen arbeitet bekanntlich – bis heute seit Bismarcks Zeiten praktisch unverändert – mit der gesetzlich und verwaltungstechnisch dogmatisierten Zentralarchitektur des sogenannten „Solidaritätsprinzips“ und mit dem Dogma vom „Sachleistungsprinzip“
4. Keine der Gesundheitsreformreformen seit 1975
5 hat an diesen Dogmata auch nur einmal ernsthaft gekratzt. Im Gegenteil: Zum täglichen Mantra eines jeden deutschen Gesundheitspolitikers gehört seit Jahrzehnten das formelhafte Bekenntnis, die „solidarische Finanzierung des Gesundheitssystems nicht in Frage zu stellen“; kein Deutscher, der diesen Satz nicht schon ungezählte Male gehört hätte.
Bisweilen wurden zwar in Randbereichen (also dort, wo Details des Systemdesigns behutsam gewissen Modeströmungen angepaßt werden sollten) Elemente der Kostenerstattung eingeführt. Solcherlei ging aber stets und sogleich einher mit der Zusatzregelung, daß beide Wege – Kostenerstattung und Sachleistung – jedenfalls systematisch-wirtschaftlich wieder zum sichergestellt gleichen und einheitlichen Ziel führen mußten
6.
Desgleichen wurde politisch wohl tatsächlich geglaubt (jedenfalls aber verkündet), nur ein Umlageverfahren stelle ein „solidarisches“ Versicherungssystem dar. Auf diese Weise verquickte das System – in Verkennung oder gar Verneinung elementarer versicherungsmathematischer Grundlagen – über Jahrzehnte hinweg medizinische Fragestellungen mit gesellschaftspolitischen und makroökonomischen Steuerungsambitionen. Hieran hielt man auch unverrückbar fest, bis zuletzt die hinlänglich sichtbaren, nicht mehr beherrschbaren Überkomplexitäten bei gleichzeitiger Systemüberschuldung eingetreten waren
7.
Konsequent wurden damit aber schon im Ausgangspunkt der Systemgestaltung zwei zwischenmenschliche Funktionsmechanismen in ihrer Bedeutung und Tragweite verkannt und außer Kraft gesetzt. Zwei Mechanismen, die von Menschen – seit alters her, über Jahrhunderte und Jahrtausende – als gesellschaftsdienlich und sozialförderlich erkannt, geformt und für sich fruchtbar gemacht worden waren.
Diese beiden elementaren Funktionsmechanismen menschlichen Zusammenlebens sind: Der Tausch und die Barmherzigkeit:
Den Tausch kennzeichnet, daß Gegenstände oder Leistungen Zug um Zug für eine unmittelbare Gegenleistung hergegeben werden. Für die Barmherzigkeit ist kennzeichnend, daß sie gibt, ohne sofort etwas anderes zurückerhalten zu wollen. (Interessanterweise ist übrigens – ohne dies hier weiter vertiefen zu wollen – selbst die Barmherzigkeit nur ein besonderer Unterfall des Tausches. Denn der barmherzig Gebende „opfert“ zwar zunächst etwas ohne konkrete Gegenleistung; er tut dies jedoch vor den Augen der Gesellschaft nicht zuletzt auch, weil er sich im Gegenzug deren (und bisweilen auch Gottes) Wohlwollen hierfür verspricht
8.)
Die Wirkungsweisen dieser Mechanismen wurden und werden durch die beiden genannten Dogmata des SGB V im deutschen Gesundheitswesen schlichtweg außer Funktion gesetzt. Das bleibt nicht ohne Folgen für die Statik sowohl des Gesundheitswesens selbst, als auch für die Architektur des gesamtgesellschaftlichen Rahmens insgesamt.
Warum ist das so? Ich möchte zur Verdeutlichung dieses Gedankens noch ein anderes plastisches Bild bemühen: Seit Menschen Häuser errichten, bauen sie als „Deckel“ auf diese Gewerke – von alters her – Satteldächer. Die frühen Pfahlbauten der Jungsteinzeit im Bodensee zeigen: Satteldächer. Anders gesagt: Schon der Zimmermannslehrling Jesus von Nazareth konnte diesbezüglich auf eine jahrtausendealte bauhandwerkliche Erfahrung und Tradition zurückblicken. Immer wieder Satteldächer.
Warum? Nicht, weil sich ein einzelner Mensch dies ausgedacht hätte. Nicht, weil es schön oder modisch war. Sondern aus dem einzigen tragenden und weisen (!) Grund, daß diese Dachkonstruktion sinnvoll und funktionsfähig ist. Ein Haus unter diesem Dach blieb in aller Regel und erfahrungsgemäß trocken.
Dann traten vor rund hundert Jahren auf diese bauhandwerkliche Bühne Akteure, die sagten, Satteldächer etc. seien im Lichte des Fortschritts und im Geiste der Neuen Zeiten überholtes Papperlapapp. Sie forderten Neue Dächer für eine Neue Ära. Und sie bauten – Flachdächer! Nur die seien jetzt noch als zeitgemäß akzeptabel.
Wir heute wissen allerdings: „Flachdach“ ist nur ein anderes Wort für „undichtes Dach“. Für „teures Dach“. Für „reparaturanfälliges Dach“. Indem also die neuen Architekten des heraufgezogenen Fortschritts das jahrtausendealte menschliche Weltwissen von funktionsfähigen, vor Regen schützenden Satteldächern ignorierten oder für unbeachtlich hielten, setzten sie statt einer weiteren, denkbar möglichen Dachvariante nichts anderes, als einen notorischen und weitreichenden Baumangel auf die Häuser ihrer Kunden.
Was ich mit alledem sagen möchte, ist: Bevor man einen anerkannt und erkennbar nützlichen Funktionszusammenhang beseitigt, sollte (oder: muß) man sich zuerst darüber vergewissern, ob das neue Modell nicht bald mehr (und andere) Probleme bereitet, als alle bereits vorgefundenen, traditionellen Lösungsansätze. Hierin liegt übrigens keinerlei Fortschrittsfeindlichkeit, sondern nur ein gleichsam leises Plädoyer für eine gewisse Art von Demut; für die Demut nämlich gegenüber all denjenigen Gedanken, die andere sich schon vor mir in Ansehung derselben Fragestellungen gemacht haben. Konkret: Glaube ich wirklich, daß eine verklebte Bitumenbahn auf dem waagerechten Dach auf Dauer all den Naturkräften wird trotzen können, die – unter anderem – den ganzen Grand Canyon zerklüftet haben?
Worauf es also wahrscheinlich bei der Gestaltung jedweder menschlicher Artefakte (Dächern ebenso wie Verwaltungsregeln für das gesellschaftliche Zusammenleben) entscheidend ankommt, ist, daß sich diese menschlichen Konstruktionen sinnvoll in die Gegebenheiten der bereits vorgefundenen Welt einfügen.
Aus rhetorischen Gründen entleihe ich mir für die weitere hiesige Bezeichnung dieses Gedankens der Einfachheit halber einen theologischen Begriff. Und um nicht in den Verdacht zu geraten, diese Bezeichnung aus einem Esoterik-Workshop der örtlichen Volkshochschule mitgebracht zu haben, berufe ich mich vorsichtshalber – ganz seriös – auf eine Formulierung Papst Benedikts des XVI
9. Als er noch Joseph Kardinal Ratzinger war, schrieb er – im Jahre 2002 – in einer religionsvergleichenden Betrachtung:
„Die Ordnung des Himmels .. ist das Tao, das Gesetz des Seins und der Wirklichkeit, das die Menschen erkennen und in ihr Handeln aufnehmen müssen. … Unordnung, Störung des Friedens, Chaos entsteht, wo der Mensch sich gegen das Tao wendet, an ihm vorbei oder gegen es lebt. Dann muß gegen solche Strömungen und Zerstörungen des gemeinschaftlichen Lebens wieder das Tao aufgerichtet und so die Welt wieder lebbar gemacht werden.“
(Das Christentum und andere Religionen kennen praktisch denselben Gedanken; als „Tao“ ist er aber schön kurz, mutmaßlich bei Ihnen nicht mit anderweitigen Störassoziationen verunreinigt und daher für unseren Kontext besonders gut verwendbar.)
Eine „Störung des Friedens“ im Sinne dieses beschriebenen Tao liegt erkennbar nicht nur in einem feuchten Wohnzimmer unter dem Flachdach. Sie findet sich – für unseren Zusammenhang im Gesundheitswesen – auch in den Erscheinungen protestierender Ärzte, streikenden Pflegepersonals, unzufriedener und ängstlicher Patienten sowie natürlich in Krankenhäusern am Rande der Zahlungsunfähigkeit. Also besteht greifbar legitimer Anlaß zu der Frage, warum unser Gesundheitssystem gegen dieses Tao verstößt.
Wir wissen: Krankenhäuser dürfen nach dem Fünften Sozialgesetzbuch an einer Krankenkasse vorbei mit ihren Patienten unmittelbar keine Behandlungsverträge schließen. Der Funktionsmechanismus des althergebrachten vertraglichen Tausches („Ich gebe Dir Geld oder Naturalien, Du gibst mir dafür Behandlung“) darf also an dieser Stelle des menschlichen Lebens nicht Platz greifen. Das Gesetz verbietet es, selbst wenn die Beteiligten es oftmals selber gerne wollten.
Damit wird also eine – über Jahrtausende elaborierte und eingeübte – Ausdrucksform des Menschseins aus diesem Lebensbereich schlicht eliminiert. Roman Herzog beschreibt anschaulich, daß gerade diese Kulturtechnik des Tausches seit dem fünften vorchristlichen Jahrtausend die maßgeblichsten zivilisationsschaffenden Institutionen überhaupt erst ermöglichte
11. Indem die Reichsversicherungsordnung und das Sozialgesetzbuch den konkreten Tausch also eliminieren
12, brechen sie mit einer jahrtausendealten menschlichen Tradition.
Darüber hinaus wissen wir, daß Krankenhäuser inzwischen oftmals auch nicht (mehr) in dem Maße barmherzig Hilfe leisten können, wie sie das „eigentlich“ wollten. Wo kein Speck mehr ist, da kann man ihn auch nicht wegschenken. Auch der zweite althergebrachte Funktionsmechanismus menschlichen Miteinanders, die Barmherzigkeit, wird folglich durch die sozialversicherungsrechtliche Mittelknappheit im Kostendämpfungsvollzug behindert (bzw. ganz verhindert). Die Dialysepflicht eines abgelehnten Asylbewerbers vor dem Tor des Krankenhauses kann den urmenschlichen Impetus des freigiebigen Helfenwollens dort also nicht mehr ungehemmt auslösen. Die jedem Krankenhaus in solchen Fällen bestens und schmerzlich bekannte Kostenträgerunsicherheit einerseits und (straf-)rechtliche Handlungspflichten andererseits kollidieren im bestehenden System folglich – ganz unbarmherzig – miteinander.
Eine Lösung für diese Probleme hat ersichtlich keine der jahrzehntelangen Gesundheitsreformreformen gebracht. Statt dessen ist über die Jahrzehnte – nicht zuletzt auch schon durch die permanente Ausweitung des Kreises der Pflichtversicherten lange vor dem Jahr 1975 – ein gigantisches medizinisch-ökonomisch-exekutiv-politisches Artefakt „Gesundheitssystem“ weiter und weiter gewachsen, gewuchert und – wenn wir, die wird die Situation kennen, ehrlich sind – in den Bereich der längst unbeherrschbaren Komplexitäten entglitten
13.
Besteht aber Hoffnung, diese Übernormierung und Überkomplexität durch weitere Gesundheitsreformreformen in den Griff zu bekommen? Wird es eine nächtliche Krisensitzung in Berlin (oder zuletzt gar noch in Brüssel) geben, die mit dem abschließend ultimativ richtigen Sachverständigengutachten endlich auf Dauer bezahlbar – und „sozial gerecht“, was immer das sei
14 – medizinische Versorgung auf hohem Qualitätsniveau für alle Menschen sicherstellt?
Nach mehr als 40jähriger Forschungs- und Lehrtätigkeit in Harvard formulierte Edward O. Wilson zu dem Anliegen, wirtschaftliche Großaufgaben in industrialisierten Massengesellschaften makro- und mikroökonomisch lösen zu wollen:
„Gewappnet mit mathematischen Modellen, alljährlich mit einem Nobelpreis bedacht und reichlich mit wirtschaftlicher und politischer Macht ausgestattet, verdient die Ökonomie durchaus den Titel, der ihr so oft verliehen wird: Königin der Sozialwissenschaften. Allerdings hat sie oft nur oberflächlich Ähnlichkeit mit einer ‚wirklichen‘ Wissenschaft und selbst die wurde zu einem hohen intellektuellen Preis erkauft. … [Das ist] am besten vor historischem Hintergrund zu verstehen. … Die Gleichgewichtsmodelle der neoklassischen Theorie gelten noch heute als Knackpunkt der ökonomischen Theorie. Die Betonung liegt immer auf Exaktheit. … Genausowenig wie die Grundgesetze der Physik ausreichen, um ein Flugzeug zu bauen, reichen die allgemeinen Bauteile der Gleichgewichtstheorie aus, um sich ein optimales oder gar stabiles Wirtschaftssystem vorstellen zu können. Außerdem … [stellen diese Modelle] die Komplexitäten des menschlichen Verhaltens und der umweltbedingten Zwänge nicht in Rechnung … Auf die meisten makroökonomischen Fragen, die die Gesellschaft beschäftigen, haben die Theoretiker keine definitiven Antworten. … Das Ansehen der Ökonomen entstand weniger durch ihre nachweislichen Erfolge, als durch die Tatsache, daß sich Business und Staat an niemanden anderen wenden können.“
Die Tatsache, daß es im 20. Jahrhundert weltweit insgesamt 25 sogenannte „Hyperinflationen“ (mit Inflationsraten von jeweils mehr als 50% im Monat [sic!]) gegeben hat
17, stellt der Ökonomie des 20. Jahrhunderts wahrlich kein gutes Zeugnis aus. Und der weitere Umstand, daß derzeit in Deutschland obergerichtlich
18 bis hin zum Bundesverfassungsgericht
19 Rechtsprechungsstandards zu Fragen des Staatsbankrotts (und ich rede hier nicht von dem gestern gescheiterten, bemerkenswerten Versuch Berlins, seine Schulden auf andere Länder abzuwälzen!) erarbeitet werden, stimmt ebenfalls nicht hoffnungsfroh. Man wird sicher nicht fehlgehen in der Annahme, daß Inflationen und Insolvenzen Unordnung und Zerstörung in das gemeinschaftliche Leben bringen, und mithin das Tao verletzen
20.
Sind also vielleicht die politischen Steuerungseingriffe auch im Rahmen unserer Gesundheitsreformreformen eher das Problem, als die Lösung? Schafft jede Reform einer je vorherigen Reform in Wahrheit immer nur die Basis und das Material für die dann nächste Reform, und so weiter?
Dietrich Dörner, der das Phänomen der scheiternden Problemlösungsstrategien aus Sicht der Psychologie untersucht hat, schreibt:
„Menschen kümmern sich um die Probleme, die sie haben, nicht um die, die sie (noch) nicht haben. Folglich neigen sie dazu, nicht zu bedenken, daß eine Problemlösung im Bereich A eine Problemerzeugung im Bereich B darstellen kann.“
Je größer (um nicht zu sagen: gigantomanischer) die Problemlösungsansätze also werden, desto umfänglicher gerät das Risiko, eine Problemerzeugung von mindestens gleicher Größe zu betreiben. Behutsames Vorgehen, bedächtige Schritte und die Orientierung an überschaubaren Zwischenzielen
22 ist bekanntlich nicht das Geschäft der (politisch immer gerne vollmundigen) Gesundheitsreformreformen. Statt dessen dürften sich Kenner des DRG-Systems von Dörner verstanden fühlen, wenn er weiter formuliert:
„[Ein] Versuch, der Unbestimmtheit einer komplexen Situation zu entgehen, kann … darin bestehen, daß man sich in die ‚heile Welt‘ einer minutiösen Detailplanung begibt, möglichst verbunden mit einem hohen Aufwand an formalen Mitteln, denn was beim Rechnen herauskommt, ist sicher! … [Zwar] soll man die Mathematik nicht für ihren Gebrauch verantwortlich machen; … Bedenklich wird es aber, wenn man Sachverhalte so lange reduziert und vereinfacht, bis sie schließlich in ein bestimmtes formales Gerüst passen. Denn dann paßt der so veränderte Gedanke nicht mehr zum ursprünglichen Sachverhalt.“
Wir also auf den Gängen eines Krankenhauses könnten sagen: Wenn es uns gelungen ist, die Komorbiditäten so zu beschreiben, daß sie zwar zum gewünschten Operationsschlüssel passen, nicht aber zu dem Patienten, der im Bett liegt, dann sind das Gesetz des Seins und folglich das Tao verletzt
24.
Wer in den letzten Jahren mit Krankenhausmitarbeitern Kontakt gepflegt hat, den wird mithin auch dies nicht erstaunen: Als die britische Wirtschaft sich im Jahre 1974 in einer dem heutigen deutschen Gesundheitssystem vergleichbaren Lage befand, diskutierte der amtierende Premierminister James Callaghan mit seinem Kabinett neben dem Weg der minutiösen Detailplanung zwei weitere – sozusagen „tao-feindliche“ – Problemlösungskonzepte. Das eine Konzept war ein eher verzweifelt-experimenteller Versuch, bei der Suche nach Rettung „auf alle Knöpfe zu drücken, die zu finden seien“
25; das andere war ein eher verzagt-fluchtbetontes Modell: „Wenn er ein junger Mann wäre, würde er auswandern“
26.
Die beiden letztgenannten Ideen des blinden Versuchens oder verzweifelte Flüchtens führen mich nun zur zweiten Frage meines hiesigen „Hauptteiles“; zu der Frage nach den Gefahren aus der beschriebenen Überkomplexität unseres Gesundheitswesens.
In diesem Zusammenhang bedarf es aus naheliegenden Gründen keiner weiteren Erörterung, warum sich jedes derart hemmungs- und ziellose Versuchen im medizinischen Bereich ebenso verbietet, wie bloßes (ärztliches) Weglaufen vor den Problemen. Immerhin reden wir von Leib und Leben der Patienten.
Was mich statt dessen aus meiner ureigensten juristischen Sicht beschäftigt, ist die Frage, welche rechtlichen Risiken daraus resultieren, daß, wie beschrieben, die überkommenen Sozialtechniken des Tausches und der Barmherzigkeit (also die Chancen zur individuellen Verfolgung übersichtlicher Zwischenziele) durch den sozialversicherungsrechtlichen Großapparat der solidarischen Sachleistung (in der Globaläquivalenz
27 der Massengesellschaft unter einander unbekannten Millionenscharen) dogmatisch eliminiert wurden.
Oder anders gesagt: Welche Gefahren für uns Bürger dringen durch das Flachdach namens „Fünftes Sozialgesetzbuch“, vor dem uns ein Satteldach aus zivilisiertem Tausch und kulturell abgesicherter Barmherzigkeit schützen könnte?
Ich komme also zu den juristischen und (wenn Sie so wollen) gesellschaftspolitischen Gefahren aus der Komplexität unserer Gesundheitsreformreformen.
B.III.Die rechtlichen Gefahren aus dieser Komplexität
Was, mag manch‘ einer fragen, kann falsch sein an dem Versuch, der Barmherzigkeit Verläßlichkeit beizugesellen, auch wenn das organisatorisch vielleicht etwas anspruchsvoller ist? Ist nicht legitim, individuelle Tauschverhältnisse zu entpersönlichen und sie in Abstraktion zu vergesellschaften, wenn dadurch medizinische Hilfe für jedermann – ohne Ansehung seiner Person – rechtlich verbindlich gemacht werden kann?
Bedeutet diese abweichende, neue Organisationsform ein und desselben Lebensverhältnisses nicht nur, daß man sich den immer gleichen Aufgaben und Herausforderungen eines solchen Systems statt von der einen nun von der anderen Seite nähert? Was macht denn den Unterschied, ob man die Gesundheitsversorgung einer Bevölkerung statt vom Individuum her von der Allgemeinheit her denkt und strukturiert?
Der Unterschied ist, daß das Allgemeinwohl Vorrang genießt vor dem Individualwohl. Mit anderen Worten: Individuelles Wohlergehen ist nun immer nur noch dort möglich, wo zuvor allgemeines Wohl erreicht war. Die Vorstellung, daß allgemeines Wohl gleichsam automatisch dann und dort erwächst, wo es den Individuen wohlergeht, ist damit obsolet. Damit wäre individuelles Wohl zwar noch nicht per se verunmöglicht.
Eine Schwierigkeit bleibt aber dennoch. Und genau dieser Schwierigkeit läßt sich nicht ausweichen: Jeder einzelne kann zwar für sich selbst noch – halbwegs verläßlich – erkennen, was für ihn gut ist. Er weiß aber nie, was für die Allgemeinheit gut ist
28. Er kann die Allgemeinheit zwangsläufig auch nicht danach fragen. Denn – wie sollte sie es ihm sagen?
Bei meinen Versuchen, die rechtlichen Gefahren aus dieser Lage auch für diejenigen anschaulich und plastisch zu machen, die weder mit den Komplexitäten des Gesundheitswesens und Krankenhausgeschäftes, noch auch mit rechtlichen Feinheiten des Sozialversicherungsrechtes und seinen ökonomischen Besonderheiten intim vertraut sind, habe ich in jüngster Zeit zunehmend auf eine Art vereinfachter Parabel zurückgegriffen, nämlich auf das Edeka-Gleichnis. Mit dieser Geschichte läßt sich – glaube ich – der geradezu tragische Mechanismus erklären, der immer dann zwangsläufig einsetzt, wenn die Weichen eines Systems im Anfang (bewußt oder unbewußt) in eine bestimmte Richtung gestellt werden. Das Gleichnis lautet in etwa so:
Der fiktive Herr Karl-Ulrich Geiger aus Elberfeld hatte einen Edeka-Markt gepachtet. Die Geschäfte liefen leidlich, die Kunden waren zufrieden. Nur seine Kassiererinnen stöhnten bisweilen über den nichtendenwollenden Warenstrom auf ihren Fließbändern.
Eines Nachts hatte Herr Geiger eine Idee. Er weckte seine Frau und sagte: Alle Waren müssen bislang erst von uns in die Regale sortiert, dann von den Kunden aus diesen herausgenommen, dann in ihren Korb gelegt, dann wieder aus diesem herausgenommen, dann über das Band gefahren und schließlich in Plastiktüten gepackt werden. Das ist ineffizient und ineffektiv.
Ökonomischer und effektiver wäre doch, wenn die Waren sofort aus dem Regal in die Tüten der Kunden gepackt und anschließend gleich aus dem Laden herausgetragen werden könnten. Dann müßten die Kassiererinnen insbesondere auch nicht jedes und alles nochmals Stück um Stück mühevoll in ihre Hände nehmen.
Auf den Einwand seiner Frau, wie er sich den diesenfalls die Preisermittlung, Berechnung und Bezahlung des gekauften Gutes vorstelle, entgegnete er: Dieses hocheffektiv ökonomisierte System wird angereichert um eine soziale Komponente! Ab sofort bezahlt jeder Kunde nur noch so viel, wie er tatsächlich angemessen selbst und persönlich zahlen kann. An die Stelle von einzelnen Preisen für einzelne Waren tritt eine Pauschale, die jeder Kunde nach dem Maßstab seiner eigenen persönlichen Leistungsfähigkeit erbringt.
Noch in derselben Nacht des Neuen Einfalles ersonnen Herr Geiger und seine Frau aus Elberfeld eine geradezu genial einfache, praktische Methode zur Umsetzung ihres Planes: In den frühen Morgenstunden des nächsten Tages vertauschten sie die Eingangs- und Ausgangsschilder ihres Edeka-Marktes. Die Kunden betraten also nun das Geschäft durch den Kassenbereich, bezahlten zu Beginn ihres Besuches – bei den dadurch erheblich entlasteten Kassiererinnen – den geschuldeten Betrag, luden sodann ihren Einkauf in die Taschen und verließen anschließend unmittelbar durch das Drehkreuz den Laden zum Parkplatz.
Da Herr Geiger belastbare Zahlen über den Umsatz und Durchsatz seines Geschäftes besaß, konnte er den zur üblichen betriebsinternen Globaläquivalenz zwischen Einkauf und Absatz erforderlichen Geldbetrag recht genau beziffern. Seinen Kunden erklärte er, sie müßten fortan nur noch ihren letzten Einkommensteuerbescheid an der Kasse zeigen; sodann würde der Zahlbetrag von der Kassiererin – ganz unbürokratisch – ermittelt und vereinnahmt.
Nach anfänglichen Irritationen in der Kundschaft über die Notwendigkeit, einen Einkommensteuerbescheid zum Einkauf mitzubringen, stellte sich indes recht zügig eine entsprechende Übung an den Kassen ein. Das System faßte gleichsam Tritt und gewann an Fahrt.
Nach einiger Zeit allerdings sprachen Kassiererinnen bei Herrn Geiger vor und äußerten einen Verdacht. Nicht immer, erklärten sie, würde ihnen der wohl richtige Einkommensteuerbescheid vorgelegt. Ihre Mutmaßung war, einige Kunden liehen sich Einkommensteuerbescheide von weniger gut verdienenden Freunden, um hierdurch zu günstigeren Konditionen – nämlich mit geringerer Pauschale – einkaufen zu können.
Frau Geiger sah hierin keine wirkliche Schwierigkeit: Sie wies das Personal einfach an, künftig durch Vorlage eines Personalausweises gemeinsam mit dem Einkommensteuerbescheid die Identitätsfrage an der Kasse zweifelsfrei zu klären. So geschah es. Aber auch die verwaltungsverschlankende Befugnis, ersatzweise andere Lichtbildausweise als Legitimationspapier akzeptieren zu dürfen, beseitigte nicht alle Probleme der Kassiererinnen.
Bohrend blieb zum Beispiel der Zweifel, ob die zunehmend in Begleitung der Kunden erscheinenden Kinder allesamt tatsächlich auch die Kinder der in den Einkommensteuerbescheiden genannten Personen waren. Der festzustellende Süßigkeiten- und Kaugummiabsatz erhärtete diese Verdachtsmomente (bei entsprechenden evidenzbasierten Gegenprüfungen).
Zudem wurde kurz darauf ein ganz anderer Fall des geradezu ruchlosen Systemmißbrauches durch einen benachbarten Bäckermeister bekannt. Der nämlich hatte – unter korrekter Vorlage zwar seines Ausweises und Einkommensteuerbescheides und nach hinlänglicher Zahlung – ganze dreißig Weißbrote in seine Tüten gepackt und diese dann im eigenen Laden gegenüber zu marktüblichen Preisen verkauft!
Um solchen (nicht erforderlichen und nicht notwendigen) Versorgungsmißbrauchs-Einkäufen zu begegnen, sah Herr Geiger jetzt keine andere Möglichkeit mehr, als an jedem Regal einen Kontrolleur aufzustellen, der das konkrete Entnahmeverhalten aller Kunden überprüfte. Wegen der hierdurch erfolgten Einstellung von gleich 40 neuen Mitarbeitern wurde er daher vom Bürgermeister der Stadt in einer kurzfristig einberufenen, öffentlichen Feierstunde ausgezeichnet und gelobt; er hatte neue Arbeitsplätze geschaffen.
Ein Kontrolleur aus der Waschmittelabteilung („Warum nehmen Sie da drei Pakete Weichspüler? Nehmen Sie eins. Wenn Sie es verbraucht haben, können Sie ja wiederkommen!“) machte Herrn Geiger auf einen bis zu diesem Zeitpunkt unbeachtet gebliebenen Umstand aufmerksam: Die Kundschaft aus dem Villenviertel der Stadt blieb plötzlich aus. Statt dessen erschienen mehr und mehr Kunden aus dem sozialen Brennpunkt der Gemeinde!
Aufgrund seines inzwischen freundschaftlichen Kontaktes zu dem Herrn Bürgermeister bat Herr Geiger ihn um einen Gefallen. Der Rat der Stadt sollte beschließen, daß auch die gutsituierten Bürger der Kommune nun bitte gesetzlich verbindlich verpflichtet würden, bei ihm einzukaufen, um sich der Solidarität aller in der Gemeinde nicht böswillig zu entziehen. Alle anderen Lebensmittelgeschäfte des Ortes waren ja ohnehin bereits in Insolvenz gefallen
30.
So geschah es. Die „Gemeindesatzung zur Stärkung der Solidarität im Einkaufswesen und zur Förderung des Lebensmittelstandortes Geiger“ trat in Kraft. Einwohner, die andernorts kauften, wurden mit empfindlichen Geldbußen belegt.
Wenige Wochen später schlugen das Einwohnermelde- und Stadtsteueramt der Gemeinde allerdings schon wieder neuen Alarm. Die fünf wohlhabendsten Bürger der Gemeinde waren in den Nachbarort verzogen. Der Bürgermeister reagierte sofort. Nachdem er dem Stadtanzeiger bei einer Pressekonferenz versichert hatte, niemand habe die Absicht, eine Mauer zu errichten, begannen die Mitarbeiter des Bauhofes eilends, um die Gemeinde einen Stacheldrahtzaun zu bauen, versehen mit Videoanlage, Hundestaffel, und – notfalls – Schießbefehl für die Angehörigen des Ordnungsamtes.
Ich weiß nicht, wie es um die Lebensmittelversorgung des nun solidarisch hermetischen Ortes auf Dauer ausgesehen hat. Aber wir können diese Gemeinde und Herrn Geiger jedenfalls hier gedanklich verlassen, denn für unseren Zusammenhang interessiert nur noch dies: Gibt es bei dieser Edeka-Parabel irgendeinen Gesichtspunkt in der Entwicklung, der nicht folgerichtig wäre? Haben sich Herr Geiger und der Bürgermeister aus Elberfeld nicht konsequent und angepaßt auf jede neue Herausforderung eingestellt? Und: Muß man nach allem noch auf die hinlänglich bekannten Parallelen zu unserem deutschen Gesundheitssystem und seiner Entwicklung eingehen oder wird deutlich, welche Gefahren sich aus der „tao-feindlichen“ Grundstruktur unseres Gesundheitssystems ganz zwangsläufig ergeben?
Herrn Geiger ebenso, wie allen unseren Gesundheitsreformreformern ist abschließend zu wünschen, daß sie eines Tages die Times vom 7. April 1862 in den Händen halten werden, in der sie einen Bericht finden können über den Tod eines
„ … Herrn Hart aus Wallace River [Halifax/Nova Scotia], der über 90 Jahre alt war und sein ganzes Leben am Problem des Perpetuum Mobile gearbeitet hatte; doch um es zu lösen, hatten 90 Jahre nicht gereicht. Einen Tag vor seinem Tod mußte er nur noch ‚ein paar weitere Räder‘ herstellen, um seine Arbeit zu vollenden.“
C. SchlußAuswege aus der Gesundheitsreformreform
Ich komme also zu meinen 5 abschließenden Bemerkungen:
- Unser bestehendes deutsches
Gesundheitssystem hat mit den (althergebrachten und weltweit
kulturübergreifend von der Menschheit entwickelten) sozialen
Funktionstechniken des Tausches und der Barmherzigkeit gebrochen. An
ihre Stelle hat es eine alternative Struktur der Finanzierung und
Leistungszuteilung gesetzt, die ersichtlich nicht dauerhaft
funktionsfähig ist. Die empirisch unbestreitbare Tatsache des
ununterbrochenen Reparaturbedarfes an jedweder bisheriger
Gesundheitsreformreform spricht insoweit eine eindeutige Sprache. - Die Wahrscheinlichkeit, daß
eine Lösung der bestehenden Probleme – insbesondere der für
Ärzte und Krankenhäuser – aus dem Bereich der Politik
kommen wird, taxiere ich mit dem Wert Null. Solange sich die
Architekten eines Geschäftes nicht einigen können, ob
dessen Kunden (um noch einmal an das Edeka-Gleichnis anzuknüpfen)
wie traditionell gegen den Uhrzeigersinn, oder – aus ideologischen
Gründen – mit dem Uhrzeigersinn durch den Laden geführt
werden, kommt eine Lösung nicht in die Welt; Kompromisse aus
beidem können offensichtlich nur zu Kollisionen und mithin
weiteren Komplikationen führen. Interessanterweise scheint die
Bevölkerung dies inzwischen erkannt zu haben: Wenn nämlich
– wie es aktuelle Umfragen erweisen – 72% der bundesdeutschen
Bevölkerung überzeugt sind, daß die Politik unfähig
ist, die wichtigsten Probleme dieses Landes zu lösen32, dann erfaßt diese Stimmungslage auch die sogenannte Gesundheitspolitik.
- Das rechtsphilosophische
Experiment des 20. Jahrhunderts, daß Zivilrecht nur „ein
vorläufig ausgesparter und sich immer verkleinernder Spielraum
für die Privatinitiative innerhalb des allumfassenden
Öffentlichen Rechts“ sei33, ist gescheitert. Probleme müssen dort und von denen gelöst werden, die tagtäglich mit ihnen konfrontiert sind und mit ihnen zu handeln haben. Dies sind im Krankenhaus die Krankenhausmitarbeiter und nicht makroökonomische Fernsteuerer in einem irgendwie diffus und tagesaktuell konstituierten politisch-exekutiven Bereich.
- Für all diejenigen, die
heute und künftig Krankenhäuser führen und
bewirtschaften, kann das nur heißen, Hilfe fortan nicht mehr
von der Politik zu erwarten, sondern selbst „die Ärmel
aufzukrempeln“. Denn dieselbe Politik, die bislang Freiräume
für das Krankenhauswesen verschaffte, wendet sich nun gegen den
Bestand vieler Häuser selbst. Den hieraus resultierenden
Gefahren kann sich nur derjenige mit Aussicht auf Erfolg stellen, der
sich auf seine ureigensten Stärken besinnt. Diese sind:
Eroberung lokaler Versorgungsfelder dort, wo die örtlichen
Verhältnisse bestens bekannt sind; Ersinnen weiterer
Leistungsspektren jenseits alles Budgetierungen; Arbeiten gegen
Bezahlung in Geld durch Patienten; Denken des Undenkbaren (warum
sollte für elektive Eingriffe kein Vorschuß gefordert
werden?); Ernstnehmen des Bundeskartellamtes34, das in Krankenhäusern freie Wirtschaftsbetriebe sieht und Abschließen bislang ungedachter Bündnisse. Nur wer den Spagat zwischen dem noch bestehenden planwirtschaftlichen System und dem (geradezu naturgesetzlich zwangsläufig
35) heraufziehenden marktwirtschaftlichen System bewältigt, wird mit seinem Haus die kommende (und intensiver werdende) Krise überstehen. Glauben Sie mir, man kann an den unglaublichsten Stellen arbeiten und Geld verdienen (ich weiß, wovon ich rede).
- Die Rückbesinnung auf
erwiesenermaßen funktionsfähige Mechanismen – also auf
Satteldächer, statt Flachdächer – wird nicht nur den
Ausstieg aus den ressourcenverschwendenden Gesundheitsreformreformen
ermöglichen. Sie wird zugleich die Versorgungsqualität
verbessern und sämtliche vor Ort tätigen Akteure
wirtschaftlich besser stellen. Verlierer dieser Neuausrichtung werden
– gleichsam als Kollateralschaden des besonderen Art – alleine die
heute politisch Verantwortlichen sein; sie verlieren an gesetzlich
selbstzugewiesener Kompetenz, an Einfluß (und sicher auch
schlicht an Macht). Aber wir im Krankenhaus können sicher sein:
Die jahrtausendealten, althergebrachten Mechanismen von vertraglichem
Tausch und überzeugungsgeleiteter, wertgebundener Barmherzigkeit
werden auf dieser Welt noch kraftvoll existieren, wenn schon niemand
mehr weiß, was eine DRG war, was ein RSA war, wie MVZs sich zur
IV verhielten, was einen MDK bewegte und wo SGB und KHG miteinander
kolliderten36.
Damit aber ende ich für hier und jetzt. Denn auch wenn der Ort noch so schön, die Menschen noch so freundlich und das Thema noch so spannend ist: Alle meine Geschäftsgeheimnisse verrate ich Ihnen heute nicht!
der Jahrestagung 2006 des Krankenhauszweckverbandes Köln, Bonn
und Umgebung e.V. in der WestLB Akademie auf Schloß
Krickenbeck, Nettetal
Jahren, daß genau dort Gefahr droht, wo die Begriffe in
Unordnung kommen. In diese Vorstellung fügt sich – nebenbei
bemerkt – die jüngste juristische Begriffsverwirrung, daß
nun selbst freiberufliche Ärzte „Amtsträger“ im
strafrechtlichen Sinne sein können sollen; so jedenfalls:
Michael Neupert, Risiken und Nebenwirkungen – Sind niedergelassene
Vertragsärzte Amtsträger im strafrechtlichen Sinne? In NJW
2006, 2811 ff.
einem Zitat. Die Zeitschrift „Der Arzt im Krankenhaus“
berichtete wörtlich: „Der Minister sagte im Morgenmagazin
des Westdeutschen Rundfunks am 27. Juli dieses Jahres der
Moderatorin auf die Frage, warum unsere Krankenhäuser so teuer
seien, unter anderem, die Krankenhäuser seien so teuer, weil
sie jeweils einen großen Organisationsapparat darstellten, der
vielschichtige Leistungen zu erbringen habe. Man müsse aber
feststellen, daß die Kostensteigerungsraten inzwischen so
stark zurückgegangen seien, wie niemand von uns sich das vor
ein oder zwei Jahren hätte träumen lassen.“ Das
Zitat stammt aus der Ausgabe 2/1979 dieser Zeitschrift (dort S. 68)
und der dort zitierte Landesgesundheitsminister hieß Prof.
Friedhelm Farthmann.
anmutende gesetzliche Regelung, im Gesundheitswesen nun zwar
Medizinische Versorgungszentren in der Rechtsform einer GmbH
zuzulassen, deren wesentlichen Sinn aber – nämlich die
Beschränkung der persönlichen Haftung – durch das
Erfordernis der Abgabe von Bürgschaftsverpflichtungen der
Gesellschafter gegenüber den Kassenärztlichen
Vereinigungen gleich wieder zu kassieren; vgl. Alexander Denzer: Das
Vertragsarztänderungsgesetz, in: Arzt und Krankenhaus Heft
9/2006, S. 261 [262]. Während also die ratio legis des § 839
Abs. 2 BGB (privilegierte Haftungsregelungen für Beamte) war,
die Entscheidungsfreude der Beamten zu befördern, wird der
teilweise schon zum Amtsträger mutierte Vertragsarzt in die
Haftung genommen; wer könnte noch ernsthaft bezweifeln, daß
die Begriffe massiv in Unordnung geraten sind?
ansammeln, § 220 Abs. 2 und 3 SGB V; es sei denn der
Gesetzgeber gestattet Ausnahmen vom Verbot der Finanzierung durch
Darlehen, § 222 SGB V.
Friedrich Stentzler in seinem eigenwilligen ‚Versuch über den
Tausch‘, Berlin 1979, S. 15; der Tausch ist ein „lebensnotwendiges
Prinzip der Natur“ (a.a.O. S. 124). Und Jochen Hörisch
formuliert: „Im Tausch nämlich begegnen sich nicht bloß,
durch Geld vermittelt, zwei Waren, sondern auch
thematisierungsfähiges Sein und intersubjektiv verbindliches
Denken.“ (Die Denkform des Tausches, F.A.Z. 22.07.1987, S.23)
Gründen – angezeigt, nachdem der Begriff der „Reform“
hier eingangs schon ein wenig auf Kosten des Papstes definiert
worden war.
Politik, in: ders., Werte in Zeiten des Umbruchs, Freiburg, 2005, S.
10 ff. [12]
Rüttgers wurde also nur zu folgerichtig am 2. Oktober 2006 von
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit den bezeichnenden Worten
zitiert: „Noch weiß da keiner, wo es hinlaufen soll“
(a.a.O. S. 1)
Gerechtigkeit als bloße, einfache Gerechtigkeit, es braucht
„soziale Gerechtigkeit“, oder?
Gesundheitsversorgung, die alle Wünsche sowohl des Patienten
als auch der Leistungsträger und dabei insbesondere der Ärzte
erfüllt. Ein solches System ist unfinanzierbar.“ sagt
Fritz Beske, Zwei-Klassen-Medizin: Eine unbewiesene Behauptung, in
Nordlicht aktuell Heft 07/2006, S. 26
S. 261-264
5
staatlicher Zahlungsunfähigkeit in NJW 2006, 2907f. und BVerfG
Beschl. v. 4. Mai 2006 zur Frage, ob Verfassungsbeschwerden gegen
Akte des Internationalen Währungsfonds erhoben werden können
in NJW 2006, 2908 f.
abgesicherten Lebenslüge der Bundesrepublik Deutschland und
anderer Industriestaaten, daß Staaten und
Gebietskörperschaften nicht in die Insolvenz geraten können.“
NJW 2006, 2891 [2892]; aus sozialversicherungsrechtlicher Sicht mag
man hinzufügen: die §§ 155 IV, 164 I SGB V und
die auf sie verweisenden weiteren Normen erweisen eloquent, daß
diese Lebenslüge nicht nur auf Gebietskörperschaften
beschränkt ist, sondern sich auch auf gebietsunabhängige
öffentlich-rechtliche Körperschaften erstreckt: § 4
I SGB V.
S. 79
möglichen Ausweg aus der Komplexitätsfalle vor!
übrigens auf das Ersterscheinungsjahr seines Buches (1992)
zurück und kann daher nicht auf empirischen Erfahrungen mit den
DRG beruhen; das Problem liegt also tiefer. Reinhard K. Sprenger
schreibt: „Man tut das Unwichtige, um dem Wichtigen nicht ins
Auge sehen zu müssen.“ (Der dressierte Bürger,
Frankfurt/M 2005, S. 78)
übrigens niemand geringeres, als das Bundeskartellamt: Um
herbeizuargumentieren, daß die planungs-, budget- und
insgesamt sozialrechtlich strangulierten Krankenhäuser durchaus
noch freie Unternehmen mit (daher natürlich durch das
Kartellamt kontrollwürdigen! – wehe dem, der böses dabei
denkt) Wettbewerbsspielräumen seien, wird erklärt, es
bestünden wettbewerbsrechtlich relevante Verhaltensspielräume;
„denn die Krankenhausplanung habe planungsrechtlich nur
nachzuvollziehen, was sich im Markt bereits entwickelt habe“
(so die zusammenfassend berichtende Formulierung von Stefan
Bretthauer, NJW 2006, 2884 [2885]). Ist es häretisch,
angesichts dieser Argumentation zu fragen: Wenn Planung sowieso nur
Marktentwicklungen nachvollzieht – warum brauchen wir dann überhaupt
noch Planung?! Merke: „In den Politikwissenschaften ist das
kein Geheimnis: Der Staat beschäftigt sich zu 90% mit
Problemen, die er selbst erzeugt hat.“ berichtet Reinhard K.
Sprenger a.a.O. S. 78
2002, S. 177
Premierminister sei, erklärte Callaghan seinen Ministern bei
anderer Gelegenheit, desto weniger wisse er, was richtig und was
falsch sei“. Diese historischen Zitate aus dem britischen
Kabinett decken sich wiederum bemerkenswert mit der Feststellung
Dietrich Dörners: „Je mehr man weiß, desto mehr weiß
man auch, was man nicht weiß. Es ist wohl nicht von ungefähr,
daß sich unter den Politikern so weniger Wissenschaftler
finden.“ (a.a.O., S. 146).
individuellen Parteien eines Vertrages, sondern nur zwischen dem input aller Einzahler und dem output an alle
Leistungserbringer (§ 220 SGB V); gerade das hat aber –
wie wir sehen – noch nie funktioniert, sonst bräuchten wir
keine notorische „Kostendämpfung“.
„kategorischem Imperativ“: Wie soll der Einzelne wissen,
was für alle gut ist?
Vorstandsvorsitzender für ein Pfund Butter genausoviel bezahlt,
wie seine Sekretärin, meinte Herr Geiger. Im übrigen sei
das neue System auch insbesondere deswegen gerecht, weil es viele
Menschen gebe, die zu alt oder zu schwach seien, die Waren so oft
von einem Behältnis in das andere umzufüllen; auch deren
Probleme würden durch den neuen Modus sozial freundlich
beseitigt.
Zeitpunkt überhaupt noch Lieferungen bekam, obwohl er sie
längst nicht mehr bezahlen konnte (wovon auch?), weiß ich
nicht; Edeka ist schließlich kein Bundesland. Das ganze ist ja
aber auch nur ein Gleichnis.
Buch der Erfindungen, Düsseldorf 2004, S. 119
40; hier zit. nach Hans-Hermann Hoppe, Demokratie, Waltrop 2003, S.
92. Gleichwohl lehren auch heute noch (!) Sozialrechtler, wie z.B.
Eberhard Eichenhofer, Sozialrecht,
Tübingen, 5. Aufl. 2004, Rn 142, daß man traditionelle
Rechtsbegriffe wie Eigentum, Schuld und Vertrag beim Umbau des
Staates zu einem „aktivierenden Sozialstaat“ zu – so
wörtlich – zu „Sozialrechtskonstrukten“ umgestalten
müsse (was immer nun dies wieder sei?).
Schwarzmarkt.
erhalte die Ausführungen des KGNW-Geschäftsberichtes 2005
zur Änderung des Datenrahmens für die Erarbeitung
regionaler Planungskonzepte unter Berücksichtigung der
Krankenhausstatistikverordnung. Was versteht er?