Vortrag auf der Veranstaltung „Raus aus dem Euro!“ der Partei der Vernunft in Offenburg am 2. Juli 2011.
Verfassungsrechtliche Integrationsgrenzen
In welchem Verhältnis stehen das Grundgesetz und die Verträge der EU zueinander? Und welche Bedeutung hat dies für deutsche Juristen, die bei ihrem Berufsantritt schwören müssen, das Grundgesetz zu achten? Diese und andere Fragen werden in dem Editorial 29/2011 der Neuen Juristischen Wochenschrift (NJW) aufgeworfen.
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Neue Juristische Wochenschrift (externer Link)
Alternativlos hilfreich
„Träum‘ weiter, Deutschland! – Politisch korrekt gegen die Wand“
Günter Ederer, Frankfurt am Main, 2011, Eichborn Verlag
Rezension von Carlos A. Gebauer
Nach Lektüre dieses Buches dürften die meisten Leser nur eines denken: Möge das alles doch, bitte, nicht wahr sein! Doch es steht zu fürchten, dass auch diese Arbeit Günter Ederers – wie stets, wenn er zu Stift oder Kamera greift – die Wirklichkeit verlässlich abbildet. Die hier akribisch und unbestechlich vorgelegte Faktensammlung zur Lage der Nation zeigt: Die große Mehrheit der Bürger unseres Landes lebt ganz augenscheinlich in einem eigenwilligen Zustand der schwersten politischen und gesellschaftlichen Realitätsverweigerung. Die bange Hoffnung der lichten Momente, alles werde so schlimm schon nicht sein oder sich jedenfalls irgendwie schmerzlos wieder fügen, diese Hoffnung muss an den harten Wirklichkeiten brechen. Die verbreitete Illusion von einer – natürlich politisch korrekten – Herstellung allgemeinen Weltenglücks wird an diesen, von Ederer erbarmungslos zusammengetragenen deutschen Realitäten zerschellen.
Von welchen Realitäten also erfährt der Leser hier, diesseits der öffentlich-rechtlichen und linientreu-opportunistischen Hofberichterstattung? Mit bulliger Wucht holt Ederer aus zu einem historischen, systematischen und empirischen Säbelhieb auf die deutsche Gegenwartsbefindlichkeit. Und der vorgetragene Schlag auf diese Gesellschaft, die schon so lange auf den angemahnten „Ruck“ wartet, ist ebenso notwendig, wie er derzeit – leider meist noch alternativlos – seinesgleichen sucht. Wie also kam es zu dieser Flucht aus der Realität in den Traum?
Die erste wesentliche Wurzel dieser deutschen Realitätsverweigerung verortet Ederer bereits in der Kanzlerschaft Ottos von Bismarck. Dieser hatte bekanntlich angesichts der wachsenden staatlichen Legitimationskrise des 19. Jahrhunderts beschlossen, die durch physische Gewalt absehbar nicht mehr beherrschbaren Massen politisch stattdessen dadurch – so wörtlich – „zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzuschauen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte“. Mit diesem agitatorischen Handstreich des eisernen Kanzlers war der Grundstein dafür gelegt, dass den Deutschen seither – faszinierender Weise ungeachtet der jeweils wechselnden Staatsform – immer wieder erfolgreich vorgespiegelt werden konnte, politische Macht werde, ganz selbstlos, stets nur zu ihrem je eigenen Wohl ausgeübt. Seit jener Zeit glaubt der Deutsche aber nicht nur allzu gerne, politische Macht diene seinem sozialen Wohl. Seit jener Zeit erwartet er darüber hinaus von seinen politischen Führern geradezu, genau diese Staatslegitimation immer wieder hergesagt zu hören. Ein solches ideologisches Geben und Nehmen konnte naturgemäß über anderthalb Jahrhunderte nicht ohne Konsequenzen bleiben.
Aus der preußischen Staatsdoktrin, dass der Befehlende für das Wohl seines Untergebenen verantwortlich sei, konnte sich in der Folge demnach ganz nahtlos die Vorstellung entwickeln, jene staatliche Fremdverantwortung müsse umso besser gelingen, je mächtiger der Befehlende sei. Die unter dieser Annahme konsequent zunehmende Übertragung von immer mehr Eigenverantwortung an den Staat musste dann, spiegelbildlich, zum Einfalltor für auch immer größere politische Machtansprüche werden. In die somit vorbereitete bürgerliche Bequemlichkeitserwartung an den Staat fügte sich das ideologische Angebot Ernst Forsthoffs aus dem Jahre 1938 nur zu trefflich, am besten doch gleich die ganze menschliche „Daseinsvorsorge“ einem allzuständigen Staat zu überantworten.
So nahm das Drama seinen weiteren Lauf. Goebbels Propaganda wusste die sozialen „Errungenschaften“ des nationalsozialistischen Staates für diese Erwartungshaltung trefflich zu verkaufen: Die Einführung des Kindergeldes, die Steuerfreiheit von Nacht- und Wochenendarbeit, die Abschaffung der Studiengebühren und die progressiven Steuern für höhere Einkommen; alles fügte sich in jenen Plan, den Hitlers Finanzstaatssekretär Fritz Reinhard auf den Begriff von der „unbedingten sozialen Gerechtigkeit“ für alle brachte.
Pikant an dieser historischen Herleitung des „sozialen Staates“ ist nicht nur, wenn Ederer die ideologischen Identitäten der nationalsozialistischen Vorgehensweise mit denen der sich „antifaschistisch“ nennenden DDR beschreibt; denn gerade die wollte bekanntlich ebenso mit „Volkseigentum in Volkeshand“ alle elementaren menschlichen Grundbedürfnisse staatlicherseits befriedigt wissen. Pikant sind umso mehr die Parallelen zwischen jenen (bezeichnenderweise auch in Staatsbankrotten geendeten) historischen deutschen Politikstrategien und denen des heute aktuell agierenden bundesrepublikanischen Staatswesens. Zu den wenigen, die Ederer derzeit als wahre Vertreter der Interessen des Volkes an einer stabilen Währung noch ausmachen kann, zählt der ebenso liberale wie mutige Bundestagabgeordnete Frank Schäffler; dass er beispielsweise offen ausspricht, wie gut Banken von Staatseingriffen leben, wird ihm – mit Recht – hoch angerechnet.
Denn nicht nur Hitlers Reichsfinanzminister Johann Ludwig Graf Schwerin von Krosigk war de facto ebenso pleite wie Honeckers Finanzexperten Ernst Höner, Alexander Schalck-Golodkowski oder Gerhard Schürer. Auch die verantwortlichen Finanzmanager der Bundesrepublik Deutschland lebten und leben bekanntermaßen konsequent über die Verhältnisse der eigenen Bevölkerung: Kopfschüttelnd bemerkt Ederer, dass ausgerechnet politisch in Amt und Würden gehievte Experten wie die Vorstandsprecherin Ingrid Matthäus-Maier der Kreditanstalt für Wiederaufbau oder Peer Steinbrücks Staatssekretär Jörg Asmussen mit ihren Entscheidungen anlässlich der letzten sogenannten Finanzkrise konsequent Unsummen von Steuergeldern ihrer Bürger im Nichts versenkten – ohne jede persönliche nachteilige Konsequenz. Die seit Bismarck eingeübte bürgerliche Faktenverdrängung wiegt auch den Gegenwartsdeutschen im irrigen Gefühl, in sozialen Fragen durch Politikerhand bestens versorgt und abgesichert zu sein. Wie schlecht dieser Schlaf tatsächlich ist, zeigt Ederers Blick auf die personelle Besetzung des Verwaltungsrates der staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau; wohl kaum sonst ein Banker hat in der letzten Krise mehr finanzielle Fehlentscheidungen getroffen, als die dort als Bankenmanagement versammelte ‚creme de la creme‘ der deutschen Politeliten. Nur ein Altmeister der politischen Aufklärung wie Günter Ederer kann sich die Unabhängigkeit leisten, hier die Grenzen der Wahrhaftigkeit auszuloten. Denn welcher Hauptstadtjournalist mit Karriereambitionen oder Hypothekenschulden würde sich zu sagen wagen, dass es seit rund 150 Jahren in Deutschland praktisch unmöglich ist, nicht von einem Mitglied beispielsweise der Familie de Maizière oder von Weizsäcker regiert zu werden – in welcher Staatsgestalt gerade auch immer?
Trotz alledem ist der Traum von der staatlichen Lösung aller Probleme in Deutschland noch immer nicht ausgeträumt. Im Gegenteil. Die politische Propaganda bedient unverdrossen und erwartungsgerecht den Glauben der Massen an ein „Marktversagen“. Und die Bevölkerung lässt sich von den zentralstaatlichen Glücksverheißungen nur allzu gerne in immer neuen Diskussionsrunden betören. Von einer solchen Diskussion mit Peer Steinbrück in Passau berichtet Ederer gleich an mehreren Stellen. Und es macht mehr als nachdenklich, seinen Bericht über die dortige Rhetorik des gewesenen Bundesfinanzministers lesen zu müssen. Denn wenn schon ein welterfahrener Journalist den Unverfrorenheiten dieses Gegenübers fassungslos gegenübersitzt; welcher Wille zur Macht und welche schier grenzenlose Illusionistenbereitschaft mögen hinter diesem Vorgehen des Staatsvolkswirtes noch lauern?
Den perfiden Mechanismus, durch die notorisch politische Verfolgung der „guten Zwecke“ geradewegs in die Staatspleite zu zielen, skizziert Ederer ebenso knapp wie zutreffend. Nur wenn und weil ein Staat sich ständig für politisch motivierte Subventions- und Förderungsprogramme immer weiter überschuldet, können auf der anderen Seite nämlich erst jene gigantischen Guthaben entstehen, deren Existenz dann von denselben – Scheins wieder nur gutmeinenden – Politikern populistisch als Supergewinn der marktexzessiv geldgebenden Großbanken verteufelt wird: „Damit schließt sich der unheilvolle Kreis. Weil die Bevölkerung erst mit falschen Lösungen und irreführenden Parolen berieselt wird, ergeben Umfragen, dass der Staat als Retter angesehen wird. Weil der Staat als Retter gesehen wird, verlangen Politiker mehr Einfluss des Staates auf die Wirtschaft. Erhält der Staat mehr Einfluss, verschlechtern sich die wirtschaftlichen Daten, verschärfen sich die sozialen Konflikte.“
Je komplizierter die Verhältnisse durch den somit allüberall (hier besteuernd und dort subventionierend) intervenierenden Staat gestaltet werden, desto hilfloser und überforderter steht der einzelne Bürger der Lage gegenüber. Statt aber endlich Abhilfe zu fordern, fällt er wieder und wieder reflexhaft zurück in den bequemen und blind-unkritischen Glauben, der Staat werde ja zuletzt schon alles für ihn richten. Und die politisch korrekten Meinungsmacher wissen, diesen Glauben durch notorisches Propagieren der beharrlich eingeübten Staatsziele zu stützen: Nach dem sich langsam verbrauchenden Bismarck’schen Staatszweck vom immer mehr „Sozialen“ stehen nun zunehmend die Umwelt und ihr Schutz in allen denkbaren Erscheinungsformen zur Legitimation von allfälligem Staatshandeln bereit. Während hier der kanzlerinberatende Klimaprotagonist Joachim Schnellnhuber erklärt, alle Völker der Welt seien unfähig, das Erdklima zu schützen (nur er könne es?), verkauft Frank H. Asbeck äußerst lukrativ mit Steuerzahlers Unterstützung Solartechnik und erfreuen die Grünpolitiker ihr ohnehin schon gut verdienendes Klientel mit weiteren klimafreundlichen Staatssubventionen aus einem Gesetz, das Energie für erneuerbar halten will.
Egal, wie sich der gläubig träumende Bürger dreht und wendet: Bezahlt wird alles stets mit seinem Geld. Die Chancen, das eigene Leben selbst zu gestalten und die überschaubare Welt vor der eigenen Tür besser und lebenswerter zu gestalten, schwinden unter diesen Verhältnissen immer mehr. Dass in dieser Welt, die von Berlin aus das Weltklima, nicht aber die Familie schützen will, dann auch immer weniger eigene Kinder geboren werden, verschärft auch nach Ansicht Günter Ederers die soziale Lage Deutschlands erheblich. Nachdem die Bundeskanzlerin kürzlich schon Thilo Sarrazins kleine Wahrheiten über Integrationspolitik „nicht hilfreich“ fand, bleibt abzuwarten, was sie über jene vielfachen Wahrheiten Günter Ederers verlauten lässt, sobald sie auch sein Buch nicht gelesen haben wird.
Mit diesen tragischen Verstrickungen und Verwicklungen aus Realität und Illusion sind die kritischen Beobachtungen Günter Ederers indes noch lange nicht an ihrem Endpunkt angelangt. Staatsbanken und Staatsunternehmen schicken sich auch in der Bundesrepublik nach wie vor an, die „Daseinsvorsorge“ der gutgläubigen Bürger zu gewährleisten. Doch in dem Treiben, das Milliarden um Milliarden Steuergelder (also: im Schweiße ihres Angesichtes produziertes Bürgereinkommen) verschiebt, haben alle Beteiligten längst rettungslos den Überblick verloren. Während auf der einen, beschenkten Seite schon der Beruf des „Förderrichtlinienberaters“ entstanden ist, um dort das Einheimsen von Subventionen zu optimieren, werden auf der anderen, einsammelnden Seite von einer – ebenso überforderten – Steuerverwaltung beim Mitteleintreiben unbedachtsam Existenzen vernichtet. Rechtsschutz? Vorläufig Fehlanzeige, pardon; die zuständige Richterin weilt wiederholt im Mutterschaftsurlaub! Die detaillierte Schilderung der Einzelfälle macht hilflos und zornig; sie zeigt jedoch auch das bittere Paradox für den staatsgläubigen Bürger: „Wir begeben uns freiwillig in die Hände von Vater Staat, sind dann aber zu Tode erschrocken, wenn wir feststellen, dass dieser Vater sich als Amtmann zu erkennen gibt“.
Die Dramen des verbeamteten Staates sind zuletzt nicht nur seine faktische Unbezahlbarkeit und die längst eingetretene, aber träumend verleugnete Überschuldung. Es ist die Tatsache, dass interessierte und einflussreiche Eliten sich den staatlichen Machtapparat vielerorts zunutze machen, um ihre eigenen ideologischen und/oder wirtschaftlichen Partikularinteressen rücksichtslos gegen die ahnungslose Mehrheit durchzusetzen, was ihnen (Ludwig Erhard hatte es gewusst) in einer wahrhaften Marktwirtschaft nie gelingen könnte. Den einzigen Ausweg aus diesen Dilemmata – und mithin die einzige Chance zu einem Erwachen aus dem kollektiven Staatsbeglückungstraum – sieht Ederer in einer Wiederentdeckung einer ernsthaften individuellen Freiheit und Verantwortung.
Einen unerwarteten Hoffnungsschimmer mag man darin erblicken, dass inzwischen immer mehr Bürger den Großplanungen der Behörden nicht mehr blind Glauben schenken mögen. Denn auch wenn beispielsweise der spät inszenierte Protest gegen „Stuttgart 21“ personell von eher merkwürdigen Protagonisten angeführt wurde, so zeigt er doch jedenfalls dies: „Auf der einen Seite wird der Staat als Garant für das Allgemeinwohl gesehen und gestärkt, auf der anderen laufen die Bürger Sturm gegen die Entscheidungen, die ihnen die Bürokratie im Auftrag des Staates oktroyiert.“
Damit das gegenwärtige Staatskonstrukt Deutschlands nicht wieder (wie seine Vorgänger) krachend gegen die Wand fährt, bedarf es nach Auffassung Ederers einer Art gesellschaftlicher Vollbremsung mit einem – nun neudeutsch „operation rebound“ genannten –, geradezu biblischen Erlassjahr und anschließendem Bekenntnis zu weniger Staat, zu mehr Wettbewerb, zu mehr Eigenverantwortung, zu weniger Gleichheit und zu mehr Freiheit. Denn unseren gegenwärtigen Staat kennzeichnen nach Ederers überzeugender historisch-empirischer Analyse vier tragische konstruktive Fehler: (1.) Eine Überheblichkeit und angemaßte Autorität der Eliten wie zu Kaisers Zeiten; (2.) eine wirtschaftspolitische Unsicherheit im Umgang mit wirtschaftlichen Schieflagen wie in der Weimarer Republik; (3.) eine Umverteilungsbereitschaft des Staates wie zu Zeiten des nationalen Sozialismus und (4.) die utopische Denkweise von Gleichmacherei wie in der DDR.
Wer die weitere politische und gesellschaftliche Entwicklung Deutschlands kritisch verfolgen und begleiten will, der kommt an Günter Ederers kenntnisreicher und profunder Analyse unseres Landes schlechterdings nicht vorbei. Sein Buch ist insofern alternativlos hilfreich.
Die Machtergreifung via Frankenstein-Währung
Wie deutsche Appeasement-Politik den Euro schwach machte
Eine Zusammenfassung des Buches
„Rettet unser Geld!“ von Hans-Olaf Henkel
von
Carlos A. Gebauer
Um es gleich vorweg zu sagen: Dieses Buch von Hans-Olaf Henkel ist ohne jeden Zweifel eine Pflichtlektüre. Mitnichten nur für Abgeordnete im Speziellen oder Politiker im Allgemeinen. Vielmehr muß jeder, der „Euros“ in der Tasche trägt, die Geschichte und die Hintergründe dieser politisch eigenartigen Kunstwährung kennen. Denn ohne Kenntnis von ihrer Entstehung und ihren machtpolitischen Zusammenhängen sind zwei Dinge definitiv unmöglich: Zum einen jedes halbwegs relevante Mitreden über die Sache, zum anderen aber auch alle persönlichen finanziellen Dispositionen im Hinblick darauf, was noch kommen wird. Man lege also jeden noch so spannenden, jeden noch so fesselnden und jeden noch so unglaublich erscheinenden Krimi beiseite und widme sich der Lektüre jener 200 Seiten jüngster europäischer Währungsgeschichte! Denn hier geht es um unsere nackte und bittere finanzpolitische Realität, um unsere äußerst konkrete Lebenswirklichkeit und um unsere Zukunft im gerne so genannten geeinten Europa. Der Nervenkitzel dieses Krimis ist nach allem faktisch nicht zu überbieten.
Henkel beschreibt das Phänomen des Euro gleichsam als eine gruppendynamische Wahnsinnstat dreier Großakteure. Auf der einen Seite stehen jene, die mit einer an kriminelle Energie heranreichenden Ruchlosigkeit – ohne Rücksicht auf Verluste und koste es, was es wolle – den Währungseinheitsbrei kochen mögen, um ihn anschließend nach ideologischer Herzenslust umrühren und umverteilen zu können. Auf der zweiten Seite stehen jene, die gleichermaßen aus begriffsstutziger Naivität und mangelndem Durchsetzungswillen, wohl auch aus fehlendem Selbstbewusstsein und schüchterner Kleinmütigkeit, dem aufwachsenden Irrsinn nicht entschlossen entgegentreten. Und auf dritter Seite kämpfen solche, die nicht nur erst ganz zuletzt am unausweichlichen Kollaps der Kunstwährung verdienen wollen, sondern schon die Zeit bis dahin freudig nutzen, um von verzweifelten finanzpolitischen Rettungspaketen und Abwehrschlachten zu profitieren. Aber, eins nach dem anderen.
Ihren ursprünglichen Keim hat die derzeit aus den Leichenteilen nationaler Währungen konstruierte Frankensteinwährung namens „Euro“ bekanntlich in einem zunächst unzweifelhaft hehren und ehrenhaften Gedanken: Nach den Schrecken mehrerer Kriege sollte eine europäische Einigung für die Zukunft Konflikte vermeiden helfen. Namentlich aus den einstmals zentralen „Erbfeinden“ Frankreich und Deutschland sollten, de Gaulle und Adenauer sei Dank, ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundertes endlich dauerhaft Freunde und Partner werden. In der Freude über diese Annäherung übersah man aber bald, dass aus zu viel solcher Annäherung durchaus Überforderung und Bedrängnis erwachsen können.
Henkel zeichnet nach, wie diese europäische Wirtschafts- und Währungsunion seit 1969 ihren tragischen Lauf nahm. Und er schreibt bei dieser Gelegenheit geradezu am Rande noch eine Fortsetzung des Werkes von Murray Rothbard über das Schein-Geld-System. In ihrer Begeisterung über die friedlich möglich gewordenen Horizonte nahmen Valéry Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt schon 1970 genau die Arbeiten auf, die gezielt zum Tod der Deutschen Mark führen sollten. Was aber zu dieser Zeit noch in weiter Ferne geglaubt wurde und – beispielsweise von dem damaligen Bundesbankpräsidenten Karl Otto Pöhl – frühestens in rund 100 Jahren in die Nähe einer Realität hätte rücken sollen, wurde im Kontext des deutsch-deutschen Mauerfalls 1989/1990 urplötzlich brennend relevant. Denn geradezu traditionell war es den Franzosen ein Ärgernis gewesen, infolge ihrer eigenen Inflationspolitik konsequent und regelmäßig wirtschaftspolitisch Deutschland gegenüber in das Hintertreffen zu geraten. Auch Philipp Plickert hat Dimensionen dieses Kampfes in seiner Dissertation bei Joachim Starbatty beschrieben: Die notorisch stabile und gerade dadurch erfolgreiche harte DM verletzte immer wieder auch das Selbstbewusstsein der Grande Nation.
So ergriff Francois Mitterand die sich ihm 1990 bietende, günstige Gelegenheit und forderte von Deutschland die Aufgabe genau dieser von ihm ungeliebten DM als Preis für seine Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung. Andernfalls, drohte er durchsetzungsmächtig und willensstark, werde Deutschland in Europa so isoliert dastehen wie am Vorabend des ersten Weltkrieges, zitiert Henkel aus zwischenzeitlich öffentlich gewordenen Geheimdokumenten des Auswärtigen Amtes.
Diese überraschend vorgezogene Geburtsstunde einer einheitlichen europäischen Währung, die bis dahin von allen immer erst nach dem Abschluss eines gesamthaften politischen Einigungsprozesses in Europa gedacht worden war, wies dem Euro also plötzlich eine faktische Vorreiterrolle im europäischen Einigungsprozess zu. Die „Versöhnung“ der Völker musste nun der Versöhnung ihrer Währungen hinterher traben. Zugleich sah sich namentlich die Bundesrepublik Deutschland dem beispiellosen Projekt gegenüber, die gesamte zusammengebrochene DDR weitgehend im Umtauschverhältnis 1:1 übernehmen zu müssen. Dass dies einen weiteren, von Henkel als „ökonomische Geisterfahrt“ bezeichneten, hellen Wahnsinn bedeutete, umschrieb Karl Otto Pöhl mit dem Wort von einer „sehr phantastischen Idee“. Danach trat er ebenso kopfschüttelnd wie umgehend zurück.
Inmitten dieser turbulenten Zeiten, die zudem geprägt waren von einer massiv weiter ausufernden Staatsverschuldung, musste nun also jene Frankensteinwährung flugs Gestalt gewinnen, von der Valéry Giscard d’Estaing wiederum recht selbstbewusst glaubte, sie auf den französischen Namen „ECU“ taufen zu dürfen. In genau diese Phase fielen nun zwei maßgebliche Weichenstellungen für die sich unmittelbar anschließenden Ereignisse.
Zu einen wollte 1992 scheinen, als wäre dem deutschen Finanzminister Theo Waigel gelungen, der neuen europäischen Einheitswährung einen Prägestempel nach Muster der bewährten DM aufzudrücken. Es sollte nach dem Vertrag von Maastricht eine unabhängige Europäische Zentralbank nach deutschem Vorbild in Frankfurt am Main entstehen, die Währung sollte Euro (und nicht ECU) heißen und den notorisch instabilen Inflationsgriechen blieb der Zutritt zum Euro verwehrt. Das gerade noch überforsche Vorpreschen der Franzosen schien somit aus deutscher Perspektive in gedeihliche, seriöse und vernünftige Bahnen gelenkt. Der Euro würde so stabil werden können wie die DM. Auch Hans-Olaf Henkel glaubte an die Verlässlichkeit dieser Rahmenbedingungen, freute sich über die nun auch für Deutschland maßgeblichen Regeln zur Haushaltsdisziplin und wurde ein Verfechter des Euro.
Die zweite dieser beiden Weichenstellungen sollte sich indes als wenigstens ebenso abirrend erweisen wie die erste: Indem die Versöhnung der europäischen Währungen nämlich jetzt den Vorrang vor der politischen Einigung insgesamt hatte, konnte jeder Einwand gegen den Fortschritt der Währung – und war er ökonomisch noch so rational – zwangsläufig als Affront gegen die Versöhnung der Völker missverstanden werden, notfalls bewusst und gewollt. Namentlich in Deutschland entwickelte sich nun auf dem Boden der bestens bekannten besonderen dortigen Befindlichkeiten das Gefühl, währungspolitische Rationalität sei europapolitisch unkorrekt. Im diskursiven Umgang miteinander griffen zunehmend ein „Das-sagt-man-nicht“ und ein „Das-gehört-sich-nicht“ um sich. In einer beeindruckenden Kasuistik zeichnet Henkel nach, wem das jeweils agierende politische Establishment mit jeweils knappem Meinungsvernichtungs-Vokabular den Maulkorb gegen politische Unkorrektheit umhing: Die Kategorie der „Unthemen“ entstand; sie wurden zum „Unsinn“ deklariert, der Lächerlichkeit preisgegeben, als „unerträglich“ oder „nicht hilfreich“ abqualifiziert und – oft nach kunstvoller Verdrehung des Gesagten – mit der Moralkeule niedergeknüppelt. Das Land begab sich auf den diskursiven Weg in die intellektuelle Untertanenrepublik. Hatte nicht George Orwell darauf hingewiesen, dass Meinungsfreiheit wesentlich gerade darin besteht, Leuten etwas sagen zu können, was sie nicht hören wollen? Und: Würde unsere aktuelle finanzpolitische Lage sich nicht maßgeblich besser darstellen, hätten die bislang tonangebenden Medien die nun von Henkel flüssig dargestellten Zusammenhänge gleich offen – „rerum cognoscere causas“ – thematisiert, statt sie in furchtsamer Korrektheit eifrig zu verschweigen?
Dass das Bundesverfassungsgericht noch 1993 das sogenannte „Bail-out-Verbot“ als konstitutive Voraussetzung für einen möglichen Beitritt der Bundesrepublik zur Gemeinschaftswährung bezeichnet hatte und widrigenfalls sogar eine Loslösung für geboten erachtete – wer würde es heute, nach fast zwanzig Jahren Diskussionsunterdrückung, noch für möglich halten?
Akribischere Naturen, wie beispielsweise Hans Tietmeyer, hatten indes schon 1992 bemerkt, dass das Herauskaufenmüssen anderer aus deren selbstverschuldeten Zahlungskrisen – schamvoll versteckt hinter dem Wort vom „Bail-out“ – dereinst durchaus Probleme bereiten könne. Tietmeyer jedenfalls war es, der darauf hinwies, dass für Sanktionsverfahren nach den Europäischen Verträgen stets Mehrheiten nötig sein würden. Woher diese Mehrheiten aber künftig kommen sollten, wenn tendenziell eben diese Mehrheiten selbst zum Schuldenmachen neigten, erschloss sich ihm schon damals nicht.
Zu seiner eigenen heutigen Einschätzung, dass die Befürwortung (und anschließende Propagierung) des Euro die größte professionelle Fehleinschätzung seines Lebens war, kam Hans-Olaf Henkel in mehreren Schritten. Im Jahr 2002 hatte Deutschland – ohne ernste Not – gegen die europäischen Schuldengrenzen verstoßen und sich im Anschluss daran in Brüssel schlicht eine Aussetzung des gebotenen Sanktionsverfahrens beschafft. Henkel schreibt: „Die Europäische Union war plötzlich zur Komplizenschaft geworden, die sich gegenseitig den Bruch von Regeln gestattete, die man zuvor unter Mühen aufgestellt hatte.“
Während er nun beobachten konnte, dass alle nüchternen Experten den Niedergang des vermeintlich stabil geglaubten Euro durch heraufziehendes Bailing-out vorhersahen, reagierten die politisch Korrekten aus dem Establishment wiederum – milde gesprochen – bewertungsflexibel. Der inzwischen etablierte französische EZB-Präsident Jean-Claude Trichet gab vor, das Problem nicht zu verstehen, wenn Staaten einander freiwillig hülfen, ohne dazu vertraglich haftend gezwungen zu sein. In blindwütiger Europagläubigkeit wurde schließlich die Hilfe für Griechenland als „alternativlos“ dargestellt, obwohl ein umgehender Staatsbankrott den zuvor unwahrhaftig vertretenen Griechen bei weitem weniger ökonomischen Schmerz hätte zufügen müssen als ein grenzenloses Verschleppen der Wahrheit durch immer neues, fremdes Geld.
Längst nämlich war die dritte der eingangs genannten drei Großgruppen aktiv geworden und hatte eifrig die ökonomisch unsinnigen Mechanismen des Euroraumes zum eigenen Gewinn genutzt. Mit den Ängsten vor Staatsbankrotten ließ sich pfiffig ebenso viel Geld verdienen wie mit der Hoffnung darauf, dass schon niemand einen Staat europapolitisch unkorrekt und unsolidarisch in die Pleite gehen lassen werde. Das historisch sensible, politisch korrekte und auf Wahrung der internationalen Erwartungshaltungen gegen Deutschland bedachte Berliner Polit-Personal war inmitten von securities, credit default swaps und wahrlich grenzenlosen Solidaritätserwartungen längst in alle Fallen getappt, die ihm amerikanische Banken hier und europäische Partner dort gestellt hatten. Egal, was von nun an passieren würde: Deutschland werde es – spätestens in the long run – bezahlen!
In Deutschland war man ja inzwischen geübt im Verschweigen und Verdrängen. Man hatte nicht gefragt, ob die Deutschen den Euro wollten, man hatte stattdessen diskutiert, wer denn an der Gemeinschaftswährung teilnehmen sollte. Man hatte die Deutschen (ebenso wie im Ergebnis die Franzosen, übrigens) nicht gefragt, ob sie den Vertrag von Lissabon wollten, man hatte es ihnen als alternativlos verkauft. So war nur folgerichtig, nun – nach dem Platzen der amerikanischen Immobilienblase – auch nicht die Frage nach deutschen Mitverantwortlichen zu diskutieren. Auch Peer Steinbrücks Staatssekretär Jörg Asmussen beispielsweise hatte sich als Mann im Aufsichtsrat der IKB von amerikanischen Banken grandios beschwindeln lassen. Hat er bislang Konsequenzen getragen? Nein. Im Gegenteil: „Die Mitverantwortlichen aus dem von Peer Steinbrück geführten Finanzministerium konnten sich als Feuerwehrleute in Szene setzen. Kaum jemand kam auf die Idee, einmal nachzuforschen, inwieweit sie am Ausbruch des Brandes eine gehörige Portion Mitverantwortung tragen“, formuliert Henkel. Und man wird weiter fragen müssen: Wenn Männer wie Asmussen den Schuss aus amerikanischen Banken nicht gehört haben, wie wahrscheinlich ist es dann, dass sie die Schüsse aus der französischen Regierung je hören werden?
Die nun, nach all diesen Weichenstellungen, einsetzenden weiteren Mechanismen sind von geradezu tragischer Dimension. Denn die konsequente währungspolitische Appeasementpolitik Deutschlands hat den Euro nicht nur just in die Schwäche getrieben, an der er dereinst scheitern muß. Sie hat insbesondere auch wieder denjenigen robusten Stimmen Frankreichs Gehör verschafft, die ganz uncharmant und offen eine gesamteuropäische Wirtschaftspolitik – am besten unter französischer Regie und direkt von Paris aus – für anstrebenswert halten.
Wie wenig sinn- und kraftvoll deutsche Interessen in und um Europa vertreten wurden (und werden), macht Henkel unmissverständlich deutlich: Die wahren Schlüsselpositionen allerorten waren und sind deutlich mit Franzosen besetzt, heißen sie Jacques Delors, Jean-Claude Trichet oder Dominique Strauss-Kahn. Wenn es wahrhaft brannte in Europa während der letzten Monate, waren keine einflussreichen Deutschen zugegen. Entweder reiste Frau Merkel nach Moskau, statt Nicolas Sarkozy und seiner Ministerin Christine Lagarde entgegenzutreten; oder Wolfgang Schäuble lag in einem Brüsseler Krankenhaus, ohne dass an seiner Stelle für Deutschland ein hellsichtiger Vertreter hätte verhandeln können; oder – wie sich Hans-Olaf Henkel sicher ist – in der Person von Horst Köhler wurde ausgerechnet einer der wenigen Politiker, die noch einen Durchblick haben, von Prüfung abgehalten und, als Bundespräsident, aus Staatraison zur Unterschrift unter ein Ruck-Zuck-Rettungs-Gesetz gezwungen.
Durch den Euro und die mit ihm (vermeintlich) geschaffenen Sachzwänge wird die gesamte Europäische Union in die französische Vorstellung einer zentral geplanten und detailgesteuerten Wirtschaftsregierung gedrängt. Von der einstmals in Europa einvernehmlich gewollten Subsidiarität redet erstaunlicherweise niemand mehr. Und Henkel zitiert Jörg Guido Hülsmann mit der bitteren Erkenntnis, dass wir uns in all diesen Kontexten faktisch längst finanzpolitischen Ermächtigungsgesetzen ausgesetzt sehen. Dahin also haben es die Naivität der deutschen Politik und die Verwirrungen um vermeintlich notwendige Abwehrschlachten gegen amerikanische „Angriffskriege“ per Spekulation (wie BaFin-Chef und SPD-Mann Jochen Sanio zu formulieren beliebte) gebracht: Während ungezählte Fliehkräfte den Euro aus allen Ecken und Enden zu sprengen drohen, träumen unsere französischen Freunde weiter von mehr Macht, mehr Steuerung, mehr Einfluss und mehr Kontrolle. Neben die Nord-Süd-Spaltung zwischen ärmeren und reicheren Ländern tritt zudem zunehmend eine West-Ost-Spaltung, bei der die einstmaligen Satelliten des Moskauer Zentralismus einen neuen Brüsseler Zentralismus fürchten. Sollte man in Brüssel das Paradoxe an der Zielvorstellung, zugleich Erweiterung und Vertiefung anzustreben, tatsächlich nicht gesehen haben? Oder läuft es am Ende darauf hinaus, wie Tito Tettamanti soeben in den Schweizer Monatsheften umreißt, dass der finanz- und währungspolitische Wahnsinn am Ende gezielt inszeniert wird, um anschließend durch vermeintlich alternativlose Rettungs-Exzesse die politische Einheit herbeizudiktieren?
Wer, möchte man hinzufügen, den derzeit real existierenden Euro heute als eine „Friedenswährung“ bezeichnet, der hat die Sprengkräfte, die in dieser erzwungenen Union liegen, nicht ansatzweise erfasst. Zwar meint Hans-Olaf Henkel, infolge seines Vorschlages, den Euro zweizuteilen, werde keine Konfliktlage heraufbeschworen, weil die Befürchtung, aus Hader könnte nochmals Krieg in Europa entstehen, absurd sei. Gleichwohl muss die offenbar gewordene Massivität namentlich der französischen Willensdurchsetzungen im Kontext des Euro binnen zwanzig Jahren doch erheblich irritieren. Henkel zitiert nicht ohne Grund Jagdish Bhagwati mit den Worten „Die Franzosen geben gern deutsches Geld aus“. Und das immer lauter werdende Drängen sogar gegen die Schweiz, nun „endlich“ der EU beizutreten, lässt ersichtlich auch auf keinen rein herrschaftsfreien Diskurs unter den europäischen Ländern hoffen.
Die Geschichte lehrt, dass es schon aus nichtigeren Gründen massiveren Streit zwischen Ländern gegeben hat. Und die namentlich uns Deutschen bestens bekannte Geschichte lehrt auch, dass Appeasement gegenüber allzu forschen Ansinnen die exakt falsche Reaktion ist. „Wir müssen einfach den Mut aufbringen, Nein zum bisherigen Euro zu sagen“ schreibt Henkel. In diesem Müssen liegt eine Bedeutsamkeit, die man schlechterdings nicht überbewerten kann. Denn jenes Nein, so schnell, so vernehmlich und so klar wie nur irgend möglich vorgetragen, dürfte die einzige Chance sein, die schon vollzogenen europäischen Machtergreifungen mittels jener Frankensteinwährung noch einmal rückgängig zu machen. Im Interesse eines andauernden Friedens in Europa.
Europäischer Tanz in den Mai 2010
Eine Meditation über mediterran-marxistische Meerengen eigener Art
Die Europäische Union ist bekanntlich mehr als nur ein loser Staatenbund. Aber sie ist zugleich auch noch immer weniger als ein einheitlicher Bundesstaat. Sie schwebt quasi völkerrechtlich zwischen allen bislang staatsrechtlich bekannt gewesenen Kategorien. Sie ist, formulieren Juristen, ein eigenartiges Gebilde besonderer Art, ein Rechtssubjekt sui generis. Einfacher gesagt: Die Staaten der Union sind deutlich mehr als nur Lebensabschnittsgefährten, doch sie sind zugleich definitiv weniger als fest verbundene Eheleute.
In einem der vielen Partnerschaftsverträge dieser Liebenden heißt es deutlich: Wirtschaften sich ein Land allein oder die Zentrale des Ganzen in Grund und Boden, dann haben die anderen Teilnehmer für diese Schulden nicht einzustehen. Experten liefern die sperrige Rechtsquelle dieser Regel gerne mit: Artikel 125 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union.
Das Charakteristische an solchen eigenartigen Gebilden besonderer Art ist nun, dass man – stets definitorisch zwischen Baum und Borke – an jedem Punkt der Reise entweder das eine oder das andere sein kann. Als Antragsteller für Sozialhilfe lebt man in getrennten Haushalten, bildet man also keine Bedarfsgemeinschaft und beansprucht man daher doppelte Zahlung des Amtes; steuerlich hingegen geriert man sich als Quasi-Ehepaar und pocht auf die Privilegien der Zusammenveranlagung. Immer so, wie es gerade am besten passt.
In diesen Wochen nun materialisieren sich die ursprünglichen Bedenken der Mahner gegen die ebenso unbedachtsam wie willkürlich herbei regierte europäische Gemeinschaftswährung tragisch und die Währungstäter blicken in den Abgrund ihrer eigenen Tat: Helfen wir Griechenland nicht und zerstören den Euro sofort oder helfen wir und zerstören ihn dadurch mittelfristig? Augenscheinlich ein währungspolitischer Segeltörn zwischen Skylla und Charybdis, literarisch pikant angereichert um die gar nicht lustige Dimension, dass diese beiden griechischen Seeungeheuer ausgerechnet auf dem kartographischen Territorium des heutigen Italien wüteten. Hier also schlürft die Drachme das Meer leer und dort toben sechs wütende Lira-Hunde (mit allenfalls nördlich attraktiven Körpern).
Doch dieses (schon wieder ein griechisches Wort…) Dilemma ist nicht das einzige. Ein weiteres lauert perfide: Verknüpft man das Schicksal von Hilfe für die Pleitiers mit engen, strengen Auflagen, dann steht das bisherige Dogma der nationalen Haushaltshoheit zur Disposition. Wollen Deutschland und die Brüsseler Zentrale künftig in Athen, Lissabon, Madrid, Rom und Dublin haushaltspolitisch mitreden, dann werden die dortigen Experten vice versa ihre eigenen künftigen Mitsprachen auch über das derzeit noch nationale deutsche Haushaltsrecht reklamieren. Unterwürfe man dieses dann dem aus dem Vertrag von Lissabon herzuleitende Bestimmungsrecht der Mehrheit über die Minderheit, so würde dies absehbar bedeuten: Ab 2011 stimmen alle EU-Pleitiers mit Mehrheit gegen den deutschen Haushalt; so lange, bis endlich wirklich gleiche Verhältnisse überall in der EU herrschen. Aus festlichem Gläserklirren zum ersten Maifeiertag würde dann bald Gläserscheppern im Berlin-Athener Gleichklang. Europa wächst zusammen – haben wir es uns so vorgestellt? Molotow-Cocktails statt Champagner?
Zwei frühe Internationalisten haben ihre Visionen bekanntlich schon 1848 formuliert. Karl Marx und Friedrich Engels schwärmten in ihrem Kommunistischen Manifest bereits von der kommunistischen Revolution als dem radikalsten Brechen mit bestehenden Eigentumsverhältnissen. Der erste Schritt war ihnen hierfür die „Erkämpfung der Demokratie“. Das Kapital in den Händen der organisierten Proletarier zu zentralisieren galt ihnen als edelstes Ziel. Und: „Die politische Gewalt im eigentlichen Sinn ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer andern.“ Als ihre ersten zehn Maßregeln für den „despotischen Eingriff in das Eigentum“ der anderen formulierten sie daher:
„(1) Expropriation des Grundeigentums und Verwendung der Grundrente zu Staatsausgaben, (2) Starke Progressiv-Steuer, (3) Abschaffung des Erbrechts, (4) Konfiskation des Eigentums aller Emigranten und Rebellen, (5) Zentralisation des Kredits in den Händen des Staats durch eine Nationalbank mit Staatskapital und ausschließlichem Monopol, (6) Zentralisation alles Transportwesens in den Händen des Staats, (7) Vermehrung der Nationalfabriken, Produktions-Instrumente, Urbarmachung und Verbesserung der Ländereien nach einem gemeinschaftlichen Plan, (8) Gleicher Arbeitszwang für Alle, Errichtung industrieller Armeen besonders für den Ackerbau, (9) Vereinigung des Betriebs von Ackerbau und Industrie, Hinwirken auf die allmähliche Beseitigung des Gegensatzes von Stadt und Land, (10) Öffentliche und unentgeltliche Erziehung aller Kinder, Beseitigung der Fabrikarbeit der Kinder in ihrer heutigen Form, Vereinigung der Erziehung mit der materiellen Produktion.“
Wie weit ist es bislang gekommen? Unsere Rentner hängen überwiegend an den überschuldeten Staatsnadeln; Facharbeiter zahlen bereits den Steuerhöchstsatz; wer ein Haus erbt, muss es in der Regel verkaufen, um die Erbschaftssteuer darzustellen; privat auswandernden Unternehmern wird steuerlich ein fiktiver Unternehmensverkauf zugerechnet; alles Geld wird von staatlichen Zentralbanken ausgegeben; die staatlichen Eisenbahnen und Fluglinien darben dahin; Landwirte leben von staatlichen Subventionen; Hartz IV gilt für alle gleich; Autobahnen zerschneiden das Land und öffentliche Grünflächen die Städte; Mutti geht sozialversicherungspflichtig arbeiten und ihre rund 1,3 Kinder sind staatlich verkrippelt. Eine beachtliche Bilanz, mag man meinen, für Skylla-Engels und Charybdis-Marx in der real existierenden EU.
Die beflissen-emsigen Bemühungen zur Rettung der ehelichen Währung aller nichtehelichen Staatsabschnittsgefährten erinnert derzeit – ganz ungriechisch – an einen alten deutschen Witz. Treffen sich zwei Ostfriesen. Sagt der eine: „Guck‘ mal, da ist eine tote Taube!“ Blickt der andere in die Wolken und sagt: „Wo?“.