Einige Grundrechte gegen Staatsmedizin

Welche Grundrechte schützen den einzelnen vor der Zwangsmitgliedschaft in einer Krankenkasse als öffentlich-rechtlicher Körperschaft? Ist es nur das Auffanggrundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG? Oder sind auch andere Grundrechte und Verfassungsprinzipien betroffen? Ist der Rechtfertigungsgedanke von der Funktionsfähigkeit des Systems für den Teilnahmezwang tatsächlich tragfähig? Und: Sind Grundrechte vielleicht analogiefähig?

I. Einleitung

Bei schönem Wetter braucht man keinen Schirm. Ob er funktioniert, erweist sich erst bei Regen und – mehr noch – im Sturm. Mit Schirmen steht es also nicht anders, als mit Grundrechten. Wo keine Eingriffe drohen, da muß ihr Schutzbereich nicht aufgespannt werden. Die Widerstandskraft der Grundrechte gegen exekutiven Wind und judikatives Wetter zeigt sich erst, wenn legislative Wolken aufziehen.

Das einstmals warme Licht staatsbürgerlicher Freiheiten in Deutschland wird derzeit von einer Vielzahl gesetzgeberischer Kaltfronten verdunkelt. Eines dieser Tiefs, die stürmisch nahen, hört auf den harmlosen Namen „Bürgerversicherung“. Es bringt nicht weniger, als die Gefahr einer totalen Zwangsmitgliedschaft aller Menschen in einem einzigen medizinpolitischen Sozialkonstrukt. Mithin besteht Anlaß, zu fragen, welche unserer Grundrechte die Menschen vor dieser Zwangsvereinigung noch abschirmen können.

II. Orthodoxe Grundrechtssystematik

In der Literatur sind die herkömmlichen verfassungsrechtlichen Argumente gegen diese Form einer „Bürgerversicherung“ bereits erörtert. Insbesondere Sodan kommt das Verdienst zu, die klassischen Einwendungen gegen die drohende Grundrechtsbeschränkung umfassend und handwerklich überzeugend dargestellt zu haben [1] . Auf diese Ausführungen kann – mit einigen Ergänzungen – zunächst verwiesen werden.

1.) Den durch die gesetzlich angeordnete Zwangsmitgliedschaft [2] in öffentlich-rechtlichen Körperschaften betroffenen Schutzbereich entnimmt Sodan – im Einklang mit der gängigen Rechtsauffassung – aus dem Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG. Folge dieser Einordnung ist notwendigerweise die Herleitung auch der Schrankenregelungen aus eben diesem Grundrechtsartikel.

In folgerichtiger Begriffssystematik verdeutlicht Sodan, daß Zweifel sowohl am Charakter der „Bürgerversicherung“ als einer Sozialversicherung im Sinne des Art. 74 Nr. 12 GG bestehen, als auch daran, ob die gegebene Konstruktion der „gesetzlichen Krankenversicherung“ überhaupt materiell-rechtlich ein Gemeinwohlbelang von solcher Bedeutung ist, daß er Grundrechts-Eingriffe rechtfertigen könnte.

So sehr diese Argumentationen in rechtsanwendungstechnischer Hinsicht korrekt sind und so sehr die Verweisungen auf verfassungsgerichtliche Rechtsprechung und Lehre zutreffen, so muß doch umgekehrt jedem fachkundigen Betrachter ebenso ein anderes klar sein: Wenn es im Ernstfalle dem Verfassungsgericht gefällt, dann genügt eine einzige richterliche Standardformulierung, um all die akribisch aufgeführten Einwendungen aus der verfassungsrechtlichen Judikatur mit einem Streich null und nichtig zu machen. Das Gericht könnte sich „in Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung“ schlichtweg eines anderen besinnen und – vielleicht arrondierend noch „in der Fortbildung“ eines anderen Rechtsgedankens – alle Menschen in Deutschland dem gesundheitssystematischen Einheitszwang unterwerfen.

2.) Immerhin fällt – um zunächst noch bei einer orthodoxen, intrasystematischen Betrachtung der bisherigen Verfassungsdebatte zu verbleiben – auf, daß das Bundesverfassungsgericht den Eingriff in die Grundrechtssphären des Art. 2 Abs. 1 GG hierbei bislang traditionell mit der (so wörtlich) „Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung“ legitimiert [3] . Daß diese Formel jedoch von dem Bundesverfassungsgericht bislang niemals selbst inhaltlich auf ihre tatsächliche Stichhaltigkeit geprüft und begründet wurde, ist nur eine der hier mehreren möglichen Feststellungen. Eine andere ist, daß jene Formel einer genaueren Betrachtung aus diesen tatsächlichen Gründen faktisch nicht standhalten könnte. Denn die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland war niemals – zu keinem Zeitpunkt – je „funktionsfähig“ im herkömmlichen Sinne dieses Begriffes.

a.) Funktionsfähig im eigentlichen Wortsinne nämlich kann nur etwas sein, was überhaupt irgendwann einmal funktioniert hat, d.h. was zu einem bestimmten Zeitpunkt einmal seiner Funktion – im Sinne einer Zweckbestimmung – genügt hat. Die Historie dieses Gesundheitssystems seit 1883 hat jedoch das exakte Gegenteil einer solchen möglichen Zweckerfüllung erwiesen. Die permanente personelle Ausdehnung des Kreises der Zwangsbeteiligten hatte ihren Grund regelmäßig alleine darin, durch Eröffnung stets weiterer finanzieller Ressourcen aus dem Einkommen neuer Mitglieder den andernfalls drohenden Finanzierungskollaps zu verhindern. Entweder, dieses Ziel wurde durch eine Erhöhung der Beitragssätze, oder durch eine Ausdehnung des Versichertenkreises erzielt [4] .

Wenn aber die dauerhafte Funktionsfähigkeit eines Systems nicht schon alleine aus sich heraus sichergestellt ist, sondern der stets wiederkehrenden Neuzufühung von weiteren Mitgliedern – und demgemäß: weiterem Geld – bedarf, dann läßt sich intellektuell redlich weder von einem wahrhaft „funktionsfähigen“ System sprechen, noch gar ein Zustand der „Stabilität“ dieses Systems annehmen.

Gerade letzteres ist aber in der Argumentation auch des Bundesverfassungsgerichtes ein tragender Gesichtspunkt der grundrechtlichen Eingriffslegitimierung. Die Beschränkung des Grundrechtsschutzes rechtfertigt sich hiernach allenfalls dann, wenn durch den Eingriff eine finanzielle „Stabilität“ gesichert wird. Wo aber innerhalb eines Verwaltungskonstruktes schon a priori keinerlei wirkliche Stabilität herrscht, da kann diese Stabilität begriffsnotwendig auch nicht gesichert werden. Allenfalls könnte sie – erstmals oder wieder –  hergestellt werden.

b.) Daß allerdings eine solche Stabilität dieses in nun über 120 Jahren empirisch erwiesen instabilen Systems nun ausgerechnet – und erstmals – durch seine letzte Ausdehnung auf alle in Deutschland lebenden Menschen hergestellt werden würde, ist weder ersichtlich, noch ließe sich hierfür ein – zumal verfassungsrechtlich – ansatzweise tragfähiges Argument finden.

aa.) Die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland konnte in ihrer axiomatischen Konstruktion (als gleichzeitig medizinischem und umverteilendem Apparat) nur und ausschließlich deshalb bis heute Bestand haben, weil sie ihre Einnahmequellen – vorzugsweise durch stets erweiterte Mitgliedschaften – durchgängig vergrößert hat. Das bedeutet: Nur dann, wenn man diesem gesundheitspolitischen Sicherungssystem neben dem medizinischen Schutz seiner Mitglieder zugleich auch den Funktionszweck zuweisen wollte, sich kontinuierlich auf weitere Bevölkerungskreis ausdehnen zu sollen, nur dann ließe sich eine „Funktionsfähigkeit“ des Systems begriffslogisch begründen.

bb.) Gegen diesen weiteren Funktionszweck aber steht das wiederholte verfassungsgerichtliche Diktum von der „Stabilität“ der Finanzierung. Würde ein Anwachsen des Systems im Sinne seiner mitgliedschaftlichen Vergrößerung das wahrhaft gewollte und verfassungsrechtlich gemeinte „Gemeinwohlbelang von hohem Gewicht“ sein, das den Eingriff in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG rechtfertigt [5] , dann hätte das Bundesverfassungsgericht folgerichtig in seiner bisherigen Judikatur nicht von einer „Stabilität“ der Finanzierung sprechen müssen, sondern – nach den Maßstäben klarer und zutreffender Diktion – richtigerweise von einer „Dynamik der Finanzierungsgrundlagen“. Hieran fehlt es aber erkennbar [6] . Und selbst wenn es eine solche legitime „Dynamik“ – retrospektiv – gegeben hätte, so bliebe fraglich, was aus ihr würde, wenn es wegen erreichter Totalerfassung aller potentiellen Mitglieder zuletzt nichts mehr zu wachsen und weiter zu erfassen gäbe.

Damit aber noch immer nicht genug: Berücksichtigt man, daß die Finanzierung des Systems aus Arbeitseinkommen dargestellt wird, läßt sich anstelle einer „Stabilität“ der Finanzierungsgrundlagen richtigerweise sogar eher noch von einem Selbstzerstörungsmechanismus der Finanzierung sprechen. Denn je höher die Beitragsanteile für die Sozialversicherung den Arbeitspreis treiben, desto weniger wird diese – teure – Arbeit abgefragt. Der Finanzierungsmechanismus setzt sich auf der Einnahmeseite selbst schachmatt. Auch ein Ausweichen auf weitere Einnahmequellen als die klassischen Einkommen aus abhängiger Arbeit rettet das System nicht. Denn mit jedem zwangsweise neu einbezogenen Beitragszahler entsteht – jetzt auf der Ausgabenseite – zwangsläufig ein neuer Versicherter als Kostenfaktor für das System. Auch hier entsteht statt „Stabilität“ also nur eine weitere Erosion der gesamten Finanzierung.

c.) Insgesamt ist daher eine „Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung“ oder eine irgendwie geartete „Rechtsfortbildung“ durch das Bundesverfassungsgericht zur drohenden Legitimierung einer Bürger(zwangs)versicherung zwar mit dem gängigen juristischen Rüstzeug eines Verfassungsgerichtes argumentativ immer noch irgendwie darstellbar. Die Begründungsräume für entsprechende Formulierungen ohne eine dezidiert eingeräumte – wörtliche oder nur logische – Umkehr gegenüber der bisherigen Rechtsprechung sind jedoch, vorsichtig gesprochen, außerordentlich eng.

3.) Diese argumentativen Begründungsräume dürften sich weiter minimieren, wenn man die Funktionalitäts-Analyse spezifiziert. Hat sich nämlich erst einmal die Erkenntnis Bahn gebrochen, daß das bislang – unreflektiert – postulierte Dogma von der grundsätzlichen Funktionsfähigkeit des bestehenden Systems nicht unantastbar ist, dann ergeben sich hieraus außerordentlich weitreichende Folgen.

a.) Jenseits der vorstehend bereits behandelten Frage nach der Finanzierungsstabilität existieren nämlich durchaus weitere klassische Kriterien, anhand derer sich die Frage nach der generellen Funktionsfähigkeit eines Systems prüfen läßt:

aa.) So wird man regelmäßig finden, daß ein System genau dann nicht aus sich selbst heraus funktionsfähig – und also nicht überlebensfähig – ist, wenn es zu seinem Betrieb funktionaler Ergänzungen oder wiederholter Restrukturierungen bedarf. Bildhaft gesprochen: Den Körper eines Patienten, der ohne Herzschrittmacher und Bypass sofort einen Herzstillstand erlitte, würden wir nicht als selbständig überlebensfähig bezeichnen. Systeme, die solcher funktionaler Hilfen oder Umorganisationen bedürfen, nennen wir daher gemeinhin ‚krank‘.

Genau dies aber trifft auf das System der Gesetzlichen Krankenversicherung selbst zu. Ihre Regelungszusammenhänge wurden und werden permanent neu geordnet [7] und immer neue Funktionsträger treten hinzu, wie etwa der Beauftragte für die Belange der Patienten [8] oder die Einrichtungen für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen des mächtigen Gemeinsamen Bundesausschusses nach § 91 SGB V [9] . Solche immer neuen Systemerweiterungen indizieren daher die grundsätzliche Funktionsunfähigkeit des Systems.

bb.) Dieser fortlaufenden Neuorganisation und Systemerweiterung verwandt ist die beständige Ausweitung der Kompetenzbereiche bestehender Institutionen. Nicht nur die Befugnisse der Krankenkassen sind in der Vergangenheit immer mehr erweitert worden. Auch die Einrichtung insbesondere des Gemeinsamen Bundesausschusses erhielt und erhält konsequent neue Befugnisse [10] . Wäre das System an dieser Stelle nicht ebenfalls „krank“ im vorgenannten Sinne, bedürfte es all dieser Modifikationen nicht.

cc.) Nächstens gilt für Systeme, die nicht bloß mechanische Abläufe, sondern spezifisch menschliches Handeln regeln wollen, eine weitere Besonderheit. Weil Menschen grundsätzlich frei sind in ihrer Entscheidung, sich entweder systemkonform oder aber systemwidrig zu verhalten, bedürfen alle handlungsleitenden Hauptnormen selbst auch einer Art sie begleitender Sanktionsnormen: Die Hauptnorm regelt das erwartete Handeln selbst, die Sanktionsnorm regelt die Folgen, die eintreten, wenn gegen diese Hauptnormen verstoßen wird. Ist nun eine Hauptnorm ohne weiteres nach Sinn und Zweck verständlich und liegt sie im erkennbaren Interesse der Normadressaten, bedarf es keiner – oder nur untergeordneter – Sanktionsnormen zu ihrer Durchsetzung. Umgekehrt muß der Normgeber dort, wo er Verstöße gegen seine Hauptnorm bereits erwartet, zu deren Schutz und für deren Geltung möglichst effektive Sanktionsnormen erlassen.

Aus diesem Zusammenwirken von Haupt- und Sanktionsnorm läßt sich also die Regel ableiten: Je mehr der Normgeber erwartet, daß gegen seine Hauptnorm mutmaßlich verstoßen werden wird, desto rigider muß er in der Formulierung seiner die Hauptnorm schützenden Sanktionsnormen zu deren Durchsetzung sein. Umgekehrt aber heißt dies zugleich: Je drastischer der Normgeber die Rechtsfolgen seiner Sanktionsnormen gestaltet, desto größer sind sein Bewußtsein und seine Erwartung, daß es zu Verstößen gegen seine Hauptregel kommen wird. Kurz: An der Rigidität der Sanktionsnorm läßt sich die Qualität der Hauptnorm erkennen.

Bei den Regelungen zu der gesetzlichen Krankenversicherung fällt in diesem Kontext auf, daß die Rechtsfolgen der Sanktionsnormen für nicht regelkonformes Verhalten konsequent erheblich verschärft wurden. An dieser Stelle mögen die Hinweise auf Berufsverbote und Berufserschwernisse für Ärzte [11] , die jüngste Ausweitung des strafrechtlichen Tatbestandes bei Nichtabführen von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen auch auf Arbeitgeberbeiträge [12] oder Pikanterien wie das Zurückbehaltungsrecht von Krankenkassen an Vergütungszahlungen gegenüber Kassenzahnärztlichen Vereinigungen, wenn diese der Krankenkasse bestimmte Mitglieder nicht namhaft machen [13] , genügen.

Dem Gesetzgeber ist also nach dem vorstehend Gesagten der mutmaßlich fehlende Wille der Normadressaten zur tatsächlich freiwilligen Regelbefolgung bewußt gewesen. Je mehr aber ein System des Sanktionsdruckes bedarf, damit seine Hauptregeln noch befolgt werden, desto weniger läßt sich von ihm noch ohne weiteres als von einem „funktionsfähigen“ System sprechen.

dd.) Ein für den hiesigen Zusammenhang noch letztes, gleichwohl um so gewichtigeres Indiz für die Funktionsunfähigkeit eines handlungsleitenden Systems ist das Phänomen der Regelwidersprüchlichkeit oder – anders gewendet – der Befolgungsunmöglichkeit.

Je mehr handlungsleitende Normen ein Regelwerk umfaßt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß seine Normadressaten in eine Situation geraten, in der sie mehrere Normen des Systems zugleich erfüllen müssen. Überschneiden sich aber die Tatbestände mehrerer Normen, dann können die zugleich betroffenen mehreren Rechtsfolgeanordnungen auch in unterschiedliche Richtungen weisen. Die eine Regel befolgen heißt dann, die andere Regel verletzen. Das Normengefüge insbesondere der gesetzlichen Krankenversicherung ist jedoch mittlerweile in einem Maße ausgeweitet und angewachsen, daß sich die  Chancen derartiger Regelwidersprüche häufen. Der Normadressat befindet sich dann im Zustand der faktischen Befolgungsunmöglichkeit. Er kann nur noch wählen zwischen verschiedenen Regelverletzungen.

Exemplarisch mag der Sozialversicherungsfachangestellte bei der Prüfung einer Krankenhausrechnung beschrieben sein, der zum ersten den Sachverhalt vor Bezahlung von Amts wegen zu ermitteln hat, der zum zweiten bei seinen Ermittlungen diverse Datenschutzbeschränkungen zu beachten hat, der zum dritten nicht unbedachtsam und übermäßig über (vielleicht nicht einmal mehr vorhandenes) Geld seiner Kasse verfügen darf und der viertens bei der Nichtzahlung bzw. vorgängigen Korrespondenz zur Sachverhaltsklärung mit dem Krankenhaus unter den Strafandrohungen des § 240 StGB und des § 253 StGB steht [14] .

Je höher aber somit die Wahrscheinlichkeiten innerhalb eines Normsystems sind, daß dem einzelnen die Regelbefolgung insgesamt unmöglich ist, desto weniger läßt sich begründet von einem funktionsfähigen System sprechen.

b.) Ein gerechtfertigter Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit des Grundrechtsträgers ist nach alledem wohl nicht mehr begründbar.

III. terra incognita

Die Begründungsräume für einen verfassungsrechtlich legitimen Einheitszwang in Gestalt einer „Bürger(zwangs)versicherung“ erscheinen jedoch noch erheblich weiter begrenzt. Denn auch jenseits der bekannten Gegenden unserer Grundrechtsdogmatik – also in terra incognita, die nachfolgend beschritten wird – werden verfassungsrechtliche Hürden für diese Art der Ausdehnung staatlicher Handlungsspielräume erkennbar.

1.) Gesteht man nämlich zu, daß das bisherige System der gesetzlichen Krankenversicherung gerade nicht „grundsätzlich funktionsfähig“ ist, dann bewendet es nicht bei der fehlenden Eingriffsrechtfertigung in bezug nur auf die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG. Vielmehr wird mit dem gesetzlichen Zwang zur Teilnahme an einem dergestalt funktionsunfähigen Gesundheitssystem notwendigerweise zugleich auch in den grundrechtlichen Schutzbereich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG eingegriffen. Ein Staat nämlich, der die Aufgabe hat, Leben und körperliche Unversehrtheit seiner Bürger zu schützen, erfüllt diese Aufgabe erkennbar dann nicht (mehr), wenn er diese Bürger zur Teilnahme an einem ineffektiven Gesundheitssystem zwingt. Die Nichterfüllung des Auftrages stellt dann aber auch einen Eingriff in den grundrechtlichen Schutzbereich dar:

a.) Die hier beschriebene Funktionsunfähigkeit des bestehenden Systems beschränkt sich nämlich nicht nur auf bloße Fragen der Finanzierung, der Mitgliedschaftspflichten oder ganz allgemein der Verwaltungstechnik. Sie hat vielmehr unausweichlich auch eine medizinische Dimension. Denn das „gesetzliche Gesundheitssystem“ besteht nicht lediglich aus einem juristischen und/oder verwaltungstechnischen Teil. Es handelt sich im Gegenteil um ein Gesamtsystem aus vielen einzelnen, miteinander verbundenen Subsystemen [15] . Die Funktionsunfähigkeit einzelner dieser Subsysteme wirkt sich folglich zwangsläufig auch auf die Funktionsweisen anderer Subsysteme innerhalb des einen Gesamtsystems aus. Mit anderen Worten: Eine funktionierende Versorgung innerhalb des medizinischen Subsystems kann es dann und dort nicht geben, wo die mit ihm verbundenen Verwaltungs- und Finanzierungssysteme ihrerseits nicht funktionsfähig sind. Der verwaltungstechnische Organisationsmangel infiziert also gleichsam den medizinischen Bereich des Gesamtsystems. Zum Schluß wird im einfachsten Sinne des Wortes keine medizinische Hilfe mehr erbracht, weil die hierzu verpflichteten Teilnehmer des Systems rein faktisch dazu nicht mehr in der Lage sind [16] .

b.) Spätestens dann, wenn dem per gesetzlichem Zwang „gesetzlich Krankenversicherten“ dann weder innerhalb des staatlichen Gesundheitssystems die erforderliche medizinische Hilfe angedeihen kann, noch auch er selbst aus verbliebenen eigenen Ressourcen fähig ist, sich diese Hilfe anderweitig ‚einzukaufen‘, versagt der Staat in der Erfüllung seines grundgesetzlichen Schutzauftrages. Denn die Fremdbestimmung des Einzelnen durch – auf der einen Seite – Zwangsmitgliedschaft und Beitragszahlungspflicht bei – auf der anderen Seite – nicht effektiv erbrachtem Gesundheitsschutz bedeutet eine inakzeptable Leistungs-Disparität auch innerhalb des öffentlich-rechtlich angeordneten Rechtsverhältnisses „Krankenkassenmitgliedschaft[17] . Ein jeder Schmerz, eine jede körperliche Beeinträchtigung und zuletzt ein jeder vermeidbarer Tod der schutzlosen Patienten stellen sich in diesem Falle zwangsläufig auch als ungerechtfertigte Eingriffe des Staates in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG dar. Mithin ist die gesetzliche Aufrechterhaltung eines absehbar insgesamt funktionsunfähigen Gesundheitssystems auch unter dem Maßstab dieses Grundrechtes verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen.

2.) Zuletzt erscheint noch ein weiteres, gewichtiges Verfassungsprinzip sowohl durch das derzeit bestehende System der „Gesetzlichen Krankenversicherung“, als auch – erst recht – durch eine Bürger(zwangs)versicherung verletzt. Konkret: Die verfassungsrechtliche Bedeutung des  Prinzips der in Art 38 Abs. 2 GG beschriebenen Wahlfreiheit dürfte sehr viel weitreichender sein, als dies bislang in der gesundheitspolitischen Debatte gesehen wird [18] . Es darf in der verfassungsrechtlichen Diskussion längst als unbestritten angesehen werden, daß die einzelnen Grundrechte auch objektive Wertentscheidungen verkörpern, aus denen sich objektive Wertmaßstäbe und Wertesysteme erkennen und herleiten lassen.

a.) Der unmittelbare Schutzbereich des Art. 38 Abs. 2 GG ist durch eine gesetzlich angeordnete Zwangsteilnahme an öffentlich-rechtlichen Versorgungs- und Sicherungssystemen zwar selbst natürlich nicht ansatzweise berührt. Wenn aber – nach allgemeiner Ansicht – aus einzelnen Grundrechten auch jenseits ihres unmittelbaren subjektiv-rechtlichen Gehaltes objektiv-rechtliche Wertentscheidungen zu destillieren sind, dann stellt sich unausweichlich die Frage, welche Maßstäbe das grundsätzliche Recht eines Bürgers, die Wahl zu haben, für die Gestaltung staatlicher Institutionen insgesamt setzt.

b.) In seinem unmittelbaren Anwendungsbereich schützt Art. 38 Abs. 2 GG zunächst nur das Recht, zwischen politischen Alternativen wählen zu dürfen. Für die Wahlfreiheit als objektiviertem Verfassungsprinzip kann dies aber heißen, daß die Rechtsordnung – in einem bislang unterschätzten Maße – verpflichtet ist, dem einzelnen insgesamt, über die nur politische Wahlmöglichkeit hinaus, Entscheidungsspielräume zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu belassen. Mit anderen Worten: Wo immer es der verfassungsmäßigen Ordnung möglich ist, muß sie dem einzelnen die rechtliche Chance einräumen, nicht nur einen einzigen, sondern mehrere  Wege – mindestens zwei – zu beschreiten. Diese müssen sich nicht nur marginal-graduell [19] , sondern substantiell unterscheiden. Damit muß also jede andere Möglichkeit der persönlichen Versicherung gegen Krankheitsrisiken, auch die staatsferne, ohne Beschränkung gestattet sein. Kurz: Teilnahmezwänge ohne Wahlchance sind unzulässig.

c.) Unter dieser Prämisse muß befremden, wenn eine Rechtsordnung ihren sämtlichen erwachsenen Bürgern einerseits verfassungsrechtlich ausnahmslos das Recht der vollen politischen Wahlfreiheit zugesteht, wenn sie aber andererseits – gestützt zudem auf nur unterverfassungsrechtliche Normen – anordnet, daß dieselben erwachsenen Bürger nicht hinreichend entscheidungsmächtig seien, über einen von ihnen frei gewollten und gewählten Schutz vor Krankheit  eigenverantwortlich zu befinden. Die zu 100% in ihrer politischen Wahlentscheidung freie Bevölkerung ist heute – wie dargelegt – zu gut 90% im gesetzlichen Sicherungssystem zwangsversichert und insoweit in überwiegender Zahl gesundheitswahl-rechtlich und -technisch ohne eigenes Entscheidungsrecht. Damit aber noch immer nicht genug. Die Bevölkerung soll nach gewissen Plänen sogar in einer „Bürger(zwangs)versicherung“ noch weiter, nämlich insgesamt gesundheitspolitisch ohne jede derartige Wahlmöglichkeit gestellt werden.

d.) Eine solche gesetzliche Konstruktion würde sich aus gleich zwei Perspektiven als wertungswidersprüchlich darstellen:

Zum einen wird derjenige, der gesamtpolitisch Wahlfreiheit genießt, auf dem Teilgebiet der Gesundheitspolitik jeder Wahlmöglichkeit beraubt. Dies aber ermangelt – a maiore ad minus – der Logik. Denn wenn der Bürger einerseits im Ganzen zu entscheiden befugt ist, dann ist nicht begründbar, warum ihm andererseits über einen Teil dieses Ganzen die Entscheidungsmacht rechtswirksam versagt werden könnte.

Zum anderen muß – a forteriori – die Wahlfreiheit als objektiviertes Verfassungsprinzip dann, wenn sie auf der abstrakten Ebene der Konstituierung von Verfassungsorganen gilt, erst recht auf der sehr viel konkreteren Ebene der Entscheidungsmacht über den eigenen Körper – und mithin über die eigene Gesundheit und über das eigene Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) als den existentiellen Grundvoraussetzungen jeder Entscheidung schlechthin – gelten. Denn wem von der Verfassung die Befugnis gegeben ist, über das Allgemeinwohl mitzubefinden, dem darf schwerlich die Befugnis entzogen werden, über sein ureigenes körperliches Wohl zu entscheiden.

e.) Der damit beschrittene Weg zu einer analogen Anwendung des zunächst objektivierten und dann von dort aus in einem anderen, als dem unmittelbaren Regelungskontext angewendeten Wahlgrundrechtes als allgemeinem rechtsstaatlichen Rechtsgrundsatz stellt sich auch nicht als eine Verfassungsrechtsanwendung contra legem dar.

Denn wenn ein konstitutionelles Recht schon im Rahmen der sogenannten Drittwirkung von Grundrechten außerhalb des Verhältnisses von Bürger und Staat anerkannt anwendbar ist, dann muß dies erst recht auch für die Anwendung in einem Kontext innerhalb des unmittelbar geregelten Verhältnisses zwischen Bürger und Staat gelten.

IV. Zusammenfassung

Es herrscht zunehmend unwirtlicher Sturm gegen die bürgerlichen Freiheiten in Deutschland. Aber unsere Grundrechte und Verfassungsprinzipien sind grundsätzlich noch immer geeignet, dem einzelnen Schutz vor legislativen Übergriffen zu bieten. Voraussetzung allerdings ist die Bereitschaft zu einer exakten Analyse der bearbeiteten Sachverhalte auch in tatsächlicher Hinsicht. Denn wer den Sturm nicht rechtzeitig bemerkt, der verkennt, daß er den Regenschirm aufspannen muß und er sieht nicht, in welche Richtung er ihn halten sollte.


[1] vgl. Sodan ZRP 2004, 217ff. und ders. NJW 2003, 1781ff. sowie 2581ff.
[2] Die Versicherten werden bekanntlich nicht gefragt, ob sie Mitglied einer Krankenkasse werden möchten, sie werden es explizit „ohne Rücksicht auf ihren Willen“: Peters-Sommer, Handbuch der Krankenversicherung (SGB V), 19. Aufl., 41. Lfg., § 5 SGB V Rn 21
[3] BVerfG NJW 2001, 1779 (1780)
[4] Der Beitragssatz zur Gesetzlichen Krankenversicherung stieg von durchschnittlich 6% im Jahre 1950 auf bis zu 14,9% im Jahre 1986; trotzdem sank das Vermögen der Krankenkassen kontinuierlich (Peters, Handbuch der Krankenversicherung (SGB V) 19. Aufl., Einleitung Rn 69f.); zur historischen Ausweitung des Versichertenkreises auch: Sodan NJW 2003, 1761 [1764].
[5] … und sollte dies zugleich die richtige Auslegung des Begriffes der „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Nr. 12 GG sein (!) …
[6] Nachdem in der ersten Hälfte der 1970er Jahre der Leistungsumfang der Gesetzlichen Krankenversicherung erheblich ausgedehnt wurde, begann ab dem Jahre 1977 – mit dem ersten „Kostendämpfungsgesetz“ – ein seither andauernder Kampf der Staatsgewalten gegen die – schon damals so genannte – „Kostenexplosion im Gesundheitswesen“, vgl. Peters, Handbuch der Krankenversicherung (SGB V) 19. Aufl., Einl. Rn 55 – 62
[7] Sodan spricht schon bis zum Jahre 2003 von immerhin rund 7000 geänderten Einzelbestimmungen, NJW 2003, 1761
[8] vgl. § 140h SGB V
[9] vgl. Schimmelpfeng-Schütte ZRP 2004, 253 (255f.)
[10] Schimmelpfeng-Schütte ZRP 2004, 253 (255)
[11] Sechs Jahre gemäß § 95b Abs. 2 SGB V
[12] § 266a StGB, dazu: Laitenberger NJW 2004, 2703
[13] § 85 Abs. 4f S. 1 SGB V i.V.m. § 85 Abs. 4d S. 1 SGB V
[14] vgl. Gebauer NJW 2003, 777 (780)
[15] Das Ziel der gesamten Veranstaltung ist letztlich nur die „Gesundheitsversorgung der Bevölkerung“; genau diese nämlich soll – wie das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung NJW 2001, 1979 [1780] darstellt – erst „mit Hilfe eines Sozialversicherungssystems erreicht werden“. Kann also die Bevölkerung mit „Gesundheit“ (soll heißen: mit Medizin) nicht mehr versorgt werden, entfällt auch die Notwendigkeit für das Finanzierungssystem als gleichsam mittelbarem Gemeinwohlbelang – es sei denn, man begriffe das Verwaltungssystem als Selbstzweck.
[16] Von einem bestimmten Punkt an können medizinische Leistungen deswegen nicht mehr erbracht werden, weil schlicht die betriebswirtschaftliche Möglichkeit hierzu nicht mehr besteht, wie die Berliner Morgenpost am 23. März 2005 am Beispiel Berliner Radiologen anschaulich berichtete (ebenda S. 21).
[17] Denn eines läßt sich erkennbar nicht widerspruchslos begründen: Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes ist „Fremdbestimmung“ eines Vertragspartners durch den anderen für den Bereich des Privatrechtes stets dort gegeben, wo dieser „ein so starkes Übergewicht [hat], daß er den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen kann“ (BVerfGE 89, 214 [232]). Sobald sich dieses Ungleichgewicht zwischen den Vertragspartnern in einer „offensichtlichen Fehlentwicklung“ befinde, dürfe der Gesetzgeber „nicht tatenlos zusehen“ (BVerfGE 81, 242 [255]). Warum dieser Auftrag an den Gesetzgeber nur bei einseitig diktierter Leistungs-Disparität im Privatrecht, nicht aber auch innerhalb des – insoweit erst recht sensiblen – öffentlichen Rechtes bestehen sollte, ist schwerlich nachzuvollziehen. Denn daß der Leistungsinhalt innerhalb der Gesetzlichen Krankenversicherung irgendwie (auch) von dem Patienten mitbestimmt würde, scheidet ersichtlich aus; das Maß der „erforderlichen“ (§ 39 Abs. 1 S. 2 SGB V) oder „ausreichenden“ (§ 28 Abs. 1 S. 1 SGB V) Medizin wird von dem System selbst einseitig dekretiert.
[18] Das damit hier gehaltene Plädoyer für eine ausweitende Grundrechtsanalogie zu dem Wahlfreiheitsgedanken aus Art. 38 Abs. 2 GG kann sich in seinem Keim auch auf einen gewichtigen Gewährsmann stützen: Niemand geringeres als das Bundesverfassungsgericht selbst hatte begonnen, die Wahlrechtsgrundsätze extensiv (geradezu „gesamtanalog“ im Sinne von Karl Larenz, Methodenlehre, 6. Aufl., S. 383f.) auf andere Lebenssachverhalte auszudehnen (BVerfGE 30, 227 [246]). Auch der Gesetzgeber hat nun bereits mit den §§ 173 ff. SGB V begonnen, diese Wahlfreiheit in ihrer Bedeutung zu erkennen und umzusetzen; aber diese ersten Anfänge sind bislang noch ganz unzureichend. Nicht zuletzt stellt ja auch die Theorie von der „Drittwirkung“ unserer Grundrechte im Ansatz nichts anderes dar, als eine solche Analogie.
[19] Wie bei den nur sehr engen Wahlmöglichkeiten nach § 173 SGB V
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