Der Vorsitzende des Justiz-Berufsverbandes, Geert Mackenroth, äußert sich skeptisch über die Wirkungen des derzeit verbreiteten „Justiz-Fernsehens“ (DER SPIEGEL 42/2002, S. 188f.). Die Begründung seiner Kritik veranlaßt zu einer Gegenrede. Der Autor Carlos A. Gebauer, Rechtsanwalt, handelt derzeit als Verteidiger in der RTL-Serie „Das Strafgericht“
Es wird jedem volljuristischen Teilnehmer an einer Gerichts-Show von vornherein klar sein, sich an einem Grenzgang zu beteiligen. Die beschrittene Grenze verläuft exakt durch die Mitte des Wortes „Infotainment“. Mit anderen Worten: Es will – jedenfalls aus Sicht des Juristen – stets zweierlei genau abgewogen sein. Zum einen fragt sich, wieviel „Entertainment“ das Medium Justiz verträgt. Zum anderen muß klar sein, wieviel rechtliche „Information“ vermittelt werden kann, ohne den gewollten Unterhaltungs-Charakter der Sendung zu zerstören.
Mit Rücksicht darauf, daß es geradezu die Kernkompetenz des Juristen ist, wechselseitige Interessensphären zu bestimmen und gegeneinander abzugrenzen, kann eigentlich nicht verwundern, daß genau der Balanceakt dieser Gratwanderung zum Tummeln reizt. Die Seriosität des Rechtslebens soll mit dem Zeitvertreib des Unterhaltungsfernsehens vermählt werden. Ein spannendes Unterfangen.
Die nach Mackenroth möglichen Auswirkungen dieses Treibens muß man nicht einschränkungslos teilen. Natürlich gibt es wesentliche Unterschiede zwischen einerseits TV und andererseits Justiz. Aber: Glauben wir wirklich, daß auch im wahren Leben der Kommissar stets den Mörder nach 45 Krimi-Minuten überführt? Trotzdem gibt uns das Fernsehen seit jeher und durchgängig unseren täglichen Kriminalfilm. Oder: Glauben wir wirklich, daß in ‚wirklichen‘ Strafprozessen seitens der Angeklagten und Zeugen stets innerhalb der sprachlichen Wohlanständigkeitsgrenzen des gymnasialen Wortschatzes miteinander gestritten werde? Auch der real existierende Richter begegnet vernünftigerweise nicht jedem verbalen Lapsus aus dem Fäkalsprache-Fundus gleich mit den möglichen Maßnahmen seiner Ordnungsgewalt. Selbst die Annahme, es werde ein falsches Bild der Justiz schon dadurch erzeugt, daß die Bücher verkehrt herum auf dem Richtertisch stehen, erscheint überspannt. Ganz im Gegenteil. Würde das Fernsehen der Welt die ausgefransten Blätter der immer schnell und schneller nachsortierten Gesetzessammlungen vom Richterpult entgegenblecken, müßte eher dies das Publikum dazu verleiten, an der Würde der Institution zu zweifeln. Ordnung und Aufgeräumtheit schaffen Würde. Helmut Coing bemerkte bereits vor Jahrzehnten in seiner Rechtsphilosophie: „Das moderne Recht entbehrt der Würde; es ist allzu billig geworden und spricht die Phantasie der Menschen nicht mehr an. Es entspricht nun einmal der menschlichen Natur, … daß feierliche Akte … ihm größeren Eindruck machen. … Darum sollte die Rechtsordnung nicht leichthin auf Äußerlichkeiten verzichten, auf denen ein großer Teil ihrer faktischen Wirkung und Geltung beruht.“
Also: Nehmen wir hin, vor jedem Kameraschwenk nochmals von der Gardrobiere die Schuppen von der Robe gestäubt zu bekommen, ertragen wir, ein im wirklichen Leben niemals akzeptiertes hellblaues Hemd tragen zu sollen und fragen wir uns statt dessen nach den konstruktiven und erbaulichen Dimensionen der eröffneten Kommunikations-Chance!
Denn es gibt durchaus auch eine andere, hoffnungsfrohere Sichtweise auf die Dinge. Nur knapp klingt in der Kritik Mackenroths an, welche belehrende und gleichsam ‚verbraucherfreundliche‘ Potenz dieser Art von TV innewohnt. Die „kleinen Leute“ werden mit ihren Sorgen angehört, sie erhalten richterliche Hinweise und möglicherweise sogar Informationen, die sie andernfalls nie zu Ohren bekommen hätten. Mit anderen Worten: Hier können Berührungsängste abgebaut und Kontaktschwellen überwunden werden. Es will gerade in diesem Punkt scheinen, daß die These Mackenroths über den Bürgerkontakt zur Justiz (wonach die Leute bislang – so wörtlich – „offen zu uns“ kämen) erheblich diskussionswürdig ist. Eher das Gegenteil scheint richtig. Nicht wenige Prozeßparteien („Ich hatte noch nie etwas mit dem Gericht zu tun“) scheuen den Gang zu Gericht aus Unwissenheit, Furcht und Unsicherheit über die dortigen Spielregeln. Zeugen zittern und treiben vor Nervosität Nikotinabusus auf den Gerichtsgängen. Wem tatsächlich Unrecht geschah, der meidet den Gang zu Gericht, weil er nicht weiß, was auf ihn zukommt. Es ist gerade dieser Typus Mitmensch, der in einer Art rechtsstaatlicher Taxipädagogik dort abgeholt werden muß, wo er steht: Fern der möglichen Segnungen einer ihm hilfreichen Justiz. Ist es nicht ein schöner Gedanke, einem unbedarften Nichtjuristen TV-gestützt eine Brücke zum Recht zu bauen? Selbst in ernsthaft tragischen Fällen erscheint eine TV-Sendung nicht ganz sinnlos: Wie, wenn ein Vergewaltigungsopfer jenseits aller eigenen Befürchtungen erfährt, daß seine mögliche Vernehmung vor einem Gericht von den Beteiligten durchaus einfühlsam und behende vollzogen werden kann? Erscheint nicht wünschenswert, hier Unkenntnisse abzubauen? Mehr noch: Kann die im Justiz-TV oftmals dargestellte plötzliche Wendung eines Falles nicht im Publikum die Überzeugung nähren, die Wahrheit komme – notfalls in letzter Minute – doch noch ans Licht? Nicht zuletzt übrigens irrt Mackenroth auch, wenn er erklärt, Strafgerichte hätten nicht moralisch zu urteilen. Das Bundesverfassungsgericht selbst hat die Kriminalstrafe durchaus bewußt und gewollt als „ein ehrenrühriges, autoritatives Unwerturteil über eine Verhaltensweise des Täters“ beschrieben (vgl. BVerfGE Bd. 27, S. 33).
Die weitere Darstellung Mackenroths, der Richter des wahren Lebens kläre seine Zeugen besser über Wahrheitspflichten und Zeugnisverweigerungsrechte auf, als sein TV-Kollege erscheint, gelinde gesagt, ebenfalls idealtypisch verzerrt. Wer die Gerichtssäle kennt, der weiß, welche erheblichen Unterschiede zwischen Richtern bestehen, wenn sie ihre Zeugen belehren. Das Aufklärungsspektrum reicht von einer Art Ein-Satz-Belehrung bis hin zum rechtstheoretischen Vortrag zu innerfamiliären Interessenkonflikten der Neuzeit (Amtsgericht Duisburg-Ruhrort). Deswegen kann nicht wirklich erschrecken, wenn Zeugen nun im wirklichen Leben erklären, sie hätten aus dem Fernsehen schon eine erste Idee von Ihren Rechten und Pflichten.
Solange die fernsehrechtlichen Grenzen des Erträglichen eingehalten werden, von Penisverbiegerfällen und ähnlichem Unfug abgesehen wird und die Mehrheit angemessen unterhalten wird, ohne die Minderheit zu unterfordern, erscheint das Format nicht abwegig, sondern vertretbar. Daß es kein Dauerformat bis zum Ende des demokratischen Rechtsstaates sein wird, versteht sich von selbst. Aber allzu schnell sollte es sich nicht überleben. Dies zu erhoffen, besteht kein Anlaß. Daß es schließlich dem anwaltlichen Lebensgefühl an Drehtagen ganz besonders gefällt, für etwaige Fehler im Zweifel stets nicht sich selbst, sondern den Regisseur verantwortlich machen zu können, ist eine ganz andere Geschichte.