Die Schild-Bürgerversicherung

Diese Geschichte kennt jeder: Die Bürger von Schilda hatten ein Haus gebaut. Aber sie hatten die Fenster vergessen. Nachdem sie sich in den finsteren Räumen beraten hatten, beschlossen und begannen sie, das Sonnenlicht mit Säcken in das Haus zu tragen.Eine andere Geschichte ist weniger bekannt: Auch bei dem Bau der Gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland wurden die Fenster vergessen. Denn wer medizinische Hilfe in Anspruch nimmt, der bezahlt nicht mit Geld. Statt dessen legt er zur Gegenleistung mit seiner Versichertenkarte eine Art Bezugsschein vor. Die Werte von Leistung und Gegenleistung sind in diesem primär geldlosen System nie ausgewogen. Sie stehen in keinerlei Relation zueinander. Die Preisfindung ist ebenso ein betriebswirtschaftlicher Blindflug, wie die tatsächliche Bezahlung durch die Kasse zum Schluß. Im Ergebnis werden auf Basis stets neu justierter Gerechtigkeits- und Verteilungserwägungen nur Verrechnungspreise verglichen. Der Patient als Verbraucher zahlt mit einem bestimmten Pro-Rata-Anteil seines Arbeitsverdienstes. Wer weniger verdient, macht ein gutes, wer mehr verdient, ein schlechtes Geschäft. Alle Beteiligten tasten sich also nur blind durch einen fensterlosen Raum. Mit buchstäblich tausenden Gesetzesänderungen hat die Legislative über Jahrzehnte immer wieder versucht, Licht mit Säcken in das System zu tragen. Budgets wurden eingeführt, das Gesetz reformiert, strukturiert und modernisiert, Beiträge wurden erhöht, gesenkt, der Kreis der Versicherten immer weiter vergrößert, wettbewerbsähnliche Elemente wurden eingeführt, ein Finanzausgleich unter den Kassen etabliert. Doch: Alles umsonst. Immer wieder besteht „Reformbedarf „. Ursprünglich waren rund 10% der Bevölkerung Kassenmitglieder. Heute sind es über 90%. Also hebt jetzt der – ideologiegeschichtlich nur konsequente – Kampf um die Totalerfassung aller Bürger in das System an. Zur Debatte steht eine „Bürgerversicherung“. Fortan sollen nicht mehr nur Arbeitnehmer innerhalb der Bemessungsgrenzen, deren Familien und sonst in das System fallende Personen zu Einzahlern werden, sondern auch Beamte, Richter, Selbständige und Freiberufler, mithin also: Auch wir Anwälte. Mit bemerkenswert titulierten Gesetzen, wie etwa dem „zur Stärkung der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung“ waren schon in der Vergangenheit die Freiräume für eigenverantwortliche Versicherung verschmälert worden. Jetzt aber wollen die Gesetzesentwerfer niemanden mehr entkommen lassen. Auch wir Anwälte werden als schutzbedürftig definiert und sollen der Einheitsversicherung angeschlossen werden. Unser Geschick, das eigene Leben vertraglich abzusichern, soll unbeachtlich werden. Bestehender privatrechtlicher Versicherungsschutz wird durch die faktische Beseitigung dieses Versicherungszweiges ausgehöhlt. Künftig soll nur noch standardisierter medizinischer Schutz von der Stange nach generell-abstrakt festgelegten Notwendigkeitskriterien gewährt werden. Mit einer solchen Gleichschaltung allen Krankenversicherungsschutzes stürbe jedes Zivilrecht in diesem Bereich. Und alle – uns Anwälte eingeschlossen – müßten nach denjenigen Regeln der primären Geldlosigkeit leben, die sich nachgewiesenermaßen – „synallagma-frei “ – als nicht überlebensfähig erwiesen haben, ohne daß es auch nur einem wirklich Bedürftigen hilft. Können wir Anwälte aber dulden, unser medizinisches Schicksal dergestalt mit Säcken in die Finsternis tragen zu lassen? Können wir als Juristen zum Tod des Synallagmas schweigen? Und können wir als Staatsbürger hinnehmen, wenn unsere Verfassungsfreiheit, einer Vereinigung nicht beitreten zu müssen, in diesem elementaren Bereich beseitigt wird? Wir Anwälte haben wahrscheinlich schon zum bestehenden System viel zu lange geschwiegen. Jetzt sind wir aufgerufen, einer endgültigen Schildbürgerversicherung entgegenzutreten.
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