Wer schützt uns vor der Sicherheit?

Ein Fremder, der nach Deutschland kommt, wird glauben, hier lebe es sich sehr gefährlich. An kaum einem Fahrrad fehlt der linksseits montierte Abstandhalter zur Mahnung des überholenden Verkehrs. Rote Großflächenrückstrahler ergänzen gelbe Pedalrückstrahler. Ein Blick in verkehrsberuhigte Spielstraßen zeigt, wie unwahrscheinlich es war, die eigene Kindheit zu überleben: Fahrräder mit roten Signalflägglein deuten auf sturzhelmtragende Kinder, deren Eltern mit ABS-gebremsten, seitenaufprallschutzbewehrten Autos über geschwindigkeitshemmende Bodenwellen gleiten. Stolz verkündet die Heckscheibe: „Ich habe Blutplasma an Bord.“ Wenn man dem Fremden dann sagt, daß manche Gemeinden hierzulande lebenslange Renten an Mitbürger zahlen, die sich im Sturz über einen hervorstehenden Pflasterstein verletzten, so wird er vielleicht einen Verdacht haben. Vielleicht, wird er denken, geht es hier schon nicht mehr nur um die Gewährleistung von Sicherheit, sondern schon um Bequemlichkeit.

Wenn dem Fremden dann noch gesagt wird, daß in diesem Land praktisch nur noch Zahncremes mit Kariesprophylaxe, Rasierapparate mit Sicherheitsscherkopf, Sonnenbrillen mit UV-Protektion und strahlungsabsorbierende Bildschirme gehandelt werden, dann wird er nicht nur die öffentlichen Kampagnen für Kondome verstehen; er wird auch denken: Sicherheit und Bequemlichkeit sind die Fetische dieser Gesellschaft.

Es wird ihn daher nicht wundern, wenn diese Gesellschaft, die schon in den Windeln Seitenauslaufschutz genießt, glaubt, auch intensivsten Schutzes durch Gesetze zu bedürfen. Mit Sorge allerdings dürfte er schon die eskalierende Freistellung des Individuums von der alltäglichen Sorge um sich selbst betrachten. Wenn etwa Arbeitnehmer von der persönlichen Pflicht zur Abführung von Steuern und Sozialbeiträgen entbunden sind, so ist diese Pflichtenabwälzung auf den Arbeitgeber nicht nur ein verwaltungstechnischer Vorgang. Er wirkt auch bewußtseinsbildend. Was auch immer geschieht: Ein anderer kümmert sich, ermittelt nötigenfalls von Amts wegen und veranlaßt das Erforderliche.

Daß wir uns mit dieser Schutzumschlagsphilosophie in eine entsetzliche Verantwortungslosigkeit stürzen, ist die bittere Konsequenz. Unter Berufung auf ein Sozialstaatsgebot wuchert die ursprüngliche Hilfsgarantie bei individuellen Krisen zu einer Behaglichkeitsgarantie für die Allgemeinheit. Am Ende steht der Wunsch nach einem lauschigen Plätzchen in der staatlich subventionieren Großindustrie, Arbeits-, Mutter- und Kündigungsschutz inklusive.

So wird der einzelne kontinuierlich von der Last eines eigenen Gedankens befreit. Zuletzt definiert die Rechtsprechung, welche Überlegungen man seinem Mitbürger noch zutrauen darf. Der Wettbewerber muß dem Verbraucher alles haarklein erklären; wer ausrutscht, ärgert sich nicht, sondern sucht nach dem Streupflichtigen.

Erst wenn das letzte Auto mit Mobilitätsgarantie ausgestattet und der letzte Ast Gegenstand eines eigenen Verkehrswarnhinweises geworden ist, werdet Ihr begreifen, daß man die Sorge um sich selbst nicht delegieren kann. So etwa könnte der Fremde sprechen, der die subtile gesellschaftliche Ächtung desjenigen beobachtet, der sich dem allgemeinen Sicherheitkonsens verschließt: Wer es je autofahrend gewagt hat, an einer Fahrbahnverengung die wegfallende Spur bis zur Engstelle zu nutzen, der kennt die lückenlose Solidarität der sicherheitshalber frühzeitig Eingescherten. Warum sollten sie diesem das Schicksal ersparen, zu dessen Vermeidung sie selbst bereits seit 700 Metern im Stau stehen? Erschreckend ist dabei, daß die vorsorglich Stauenden ihre Sicherheit über das den Reißschluß gebietende Gesetz stellen. Was geschieht mit einem Gemeinwesen, das beginnt, im Namen der Sicherheit Gesetze zu Gunsten der Behaglichkeit zu ignorieren? Wer schützt uns vor der Sicherheit?

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