Der Arzt und die Mehrheit

„Umverteilung ist die Belohnung,
die Gewinnerkoalitionen für die
Ermächtigung einer bestimmten
Regierung erhalten.“

Anthony de Jasay

Demokratie heißt: Die Mehrheit entscheidet. Das ist schön – solange man zur Mehrheit gehört. Was aber geschieht, wenn die eigene Zugehörigkeit zu einer Minderheit zu einem Dauerzustand wird? Was, wenn man ständig überstimmt wird?

Demokratietheoretiker haben dieses Problem selbstverständlich gesehen. Und sie haben Instrumente entwickelt, um den einzelnen vor dieser Gefahr zu schützen. Eines dieser Instrumente heißt: Grundrechte. Grundrechte sind nichts anderes als Inseln für den einzelnen inmitten eines Ozeans aus anderen, abweichenden gesellschaftlichen Mehrheiten. Auf diese sicheren Inseln soll sich jedermann zurückziehen können, ohne daß ihn die Mehrheit dorthin verfolgt, my home is my castle. Auf dem Papier schien die Sache damit geklärt. Das Individuum ist durch Menschen- und Bürgerrechte vor Eingriffen der Mehrheit in seine grundrechtlichen Sphären geschützt. Wer aber schützt das Papier vor der Mehrheit?

Hans-Hermann Hoppe stellte kürzlich eine spannende Frage: Angenommen, am nächsten Sonntag wären Weltwahlen – was wäre deren Ergebnis? Wir bekämen eine chinesisch-indische Koalitionsregierung! Denn „die“ sind einfach die meisten. Was wäre das weitere absehbare Ergebnis dieser Regierungsbildung? Um wiedergewählt zu werden, würde diese Regierung – wie man zwanglos annehmen darf – bestrebt sein, ‚soziale Gerechtigkeit durch Umverteilung vorhandener Güter‘ zu erreichen. Die erste Analyse dieser Regierung erwiese: Der Westen hat viele, andere Regionen der Erde haben weniger Güter in ihrem Besitz – China beispielsweise oder Indien. Also würde die Minderheit des Westens im Wege staatlicher Solidaritätszuschläge absehbar zur Herausgabe ihrer Reichtümer an die weniger begüterten östlichen Wählermehrheiten veranlaßt.

Was bei dieser Fiktion einer Weltwahl unmittelbar einleuchtet, läßt sich – wiederum nach Hans-Hermann Hoppe – auf ein einfaches Muster reduzieren: Wenn A und B etwas besitzen möchten, was nur C innehat, dann können sie sich entweder anstrengen und dieses etwas selber erwerben, oder sie stimmen demokratisch über das Recht zum Besitz am begehrten Gut ab. Kaum aber haben sie C überstimmt, schon sind sie die neuen Besitzer. Ganz demokratisch.

Nach diesem Muster funktionieren demokratische Staaten in ihrem Inneren seit langem. Immer konstituieren sich gewisse Mehrheiten und überstimmen zu ihren eigenen Gunsten Minderheiten. Das erklärt die Arbeitnehmerpolitik zu Lasten der Minderheit von Arbeitgebern ebenso, wie die Verbraucherschutzpolitik zu Lasten der Minderheit von Unternehmern. Es erklärt auch – auf der demokratischen Suche nach der möglichst absolutesten aller Mehrheiten – die aktuelle Herausbildung von Klimaschutzpolitiken (wer kann schon für Umweltverschmutzung sein?), von Kriegen gegen den Terror (wer würde für Terror das Wort ergreifen?) und von Kriegen gegen den Hunger (wer möchte für Hunger in der Welt eintreten?). Es erklärt schließlich, den stets umgehend lautstarken Protest aller Sozialisten gegen jedes irgendwie positiv aufkeimende patriotische Gefühl, weil die bloße Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen patria regelmäßig die Gefahr birgt, eine Wählergruppe zu konstituieren, die noch größer ist, als die Masse der Elenden, Benachteiligten, Zukurzgekommenen und aller, die ihr Herabsinken in diese Kaste potentiell befürchten. Es mag schließlich hierzulande auch die Ursache dafür sein, daß sich im gleichheitsverliebten Deutschland mit seiner immer willigen Bereitschaft, irgendwelche herausgehobenen Kleingruppen aus sozialen Gerechtigkeitsgründen niederzustimmen, das Skatspiel von A, B und C einer so eminenten Beliebtheit erfreut: Wer es wagt, die anderen auf Grundlage seines glücklichen Blattes risikolustig zu „reizen“, der wird sodann von den beiden anderen gemeinsam bekämpft.

Was hat nun all dies mit Ärzten und Patienten zu tun? Ganz einfach: Ärzte sind gegenüber der übrigen Bevölkerung in der Unterzahl. Wer also die Mehrheit der Nichtärzte gegen die Minderheit der Mediziner zu einer Einheit verbindet, der erwirkt für sich politisch einen strategischen Vorteil. Damit nicht genug. Wenn es ihm zusätzlich – beispielsweise – gelingt, die „gesetzlich Versicherten“ gegenüber den privat Versicherten in die Mehrheitsposition zu bringen, der hat einen doppelten strategischen Vorteil. Er kann gesundheitspolitisch schalten und walten, wie es ihm beliebt.

Bieten aber nicht unsere Grundrechte Schutz gegen solche Eingriffe? Auf dem Papier ja, in der Wirklichkeit – leider – nein. Denn die Definitionshoheit darüber, was der Schutzbereich eines Grundrechtes sei, liegt im Ergebnis bei niemandem anderen, als bei der Mehrheit. Das aber ist schlecht. Für Ärzte ebenso, wie für privat Versicherte. Daß bei solcher Politik nämlich zuletzt kein Arzt mehr übrig bleibt, der noch betriebswirtschaftlich sinnvoll handeln kann und daß die letzte Chance der Mediziner, über Privatliquidationen ihren monatlich-persönlichen break even point zu erreichen, das wird der selbstverliebten Mehrheit von ihren zuständigen Gesundheitspolitikern nicht erklärt. Schade.

Sind die genannten Minderheiten und jeder Restbestand an gesundheitspolitischer Rationalität unter der Geltung der Mehrheitsregel also gänzlich schutz- und wehrlos? Nein! Und: Die Rettung läßt sich sogar formulieren: Es gibt mehr Patienten und Ärzte, als Gesundheitspolitiker. Brechen wir also auf und überstimmen wir diese Leute einfach! Ganz demokratisch.

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