Demokra- …. wie?

Auf der Couch mit Raissa
Schüßlburnova

Als ich Jura studierte, lernten wir in der staatsrechtlichen Lektion zuerst dies: Es interessiere nicht „die“ Demokratie schlechthin. Vielmehr sei nur jene von Bedeutung, die in unserem Grundgesetz konkret vorgefunden werde.

Jene grundsätzliche Festlegung zu Beginn hatte einen handfesten tagespolitischen Hintergrund. Frühgrüne Diskussionen über Elemente der direkten Demokratie, Plebiszite und das imperative Mandat beherrschten die öffentliche Diskussion. Warum, hieß es, solle nicht der Wähler jede Detailfrage politisch unmittelbar wählend mitbeantworten dürfen? Und was spreche dagegen, den Mandatsträgern gleich definitive Anweisungen auf den Weg der Legislaturperiode zu geben? Gegenstand unserer Hausarbeiten wurde unter anderem das sogenannte „Rotationsprinzip“, nach dem Bundestagsabgeordnete nicht die volle Wahlperiode einen Parlamentsplatz besetzen, sondern ihn (und folglich auch das damit verbundene Öko-Dienstfahrrad in Bundeseigentum) mit einem weiteren Gewählten in zwei Tranchen teilen sollten.

Die Frage, wie man zu bewerten habe, wenn sich eine Mehrheit – ganz demokratisch – dafür entschiede, die demokratischen Regeln abzuschaffen, wurde allenfalls noch in rechtsphilosophischen Veranstaltungen gestreift. Unter Hinweis auf die fortgeschrittene Unterrichtsstunde ging man dem nicht weiter nach. Man verwies lediglich auf die sogenannte „Ewigkeitsgarantie“ in Artikel 79 Abs. 3 des Grundgesetzes, derzufolge die Schöpfer desselben entschieden hatten, an dieses Thema dürfe – auf ewig – nicht gerührt werden. Nachfragen, ob denn die Ewigkeitsklausel auch rückbezüglich für ihre Anordnung selbst gelte, blieben lächelnd unbeantwortet. Schließlich fragt ein Theologiestudent auch nicht, ob Gott so allmächtig ist, daß er eine Mauer bauen kann, die so hoch ist, daß er selber nicht mehr darüberspringen kann.

Nun wissen wir allerdings aus anderen Disziplinen, daß es immer gerade die Grundlagenkrisen sind, die Fortschritt und Spannung versprechen. Auch jenseits der Wissenschaften erfreut nichts ein neugieriges Herz mehr, als das Erforschen von unbegangenem Terrain. Nur so entwickelt sich Schokolade von Vollmilch-Nuß zu Noisette-Basilikum-Gorgonzola, von gewissen indischen Körperbeherrschungs-Werken ganz zu schweigen.

Die jetzt bald zwanzig Jahre öffentlich nicht weiter geführte Debatte über das beste Verständnis von „Demokratie“ scheint nun jedoch unvermittelt neu aufzubranden. Die fundamentale Strickliesel vom einstmals bunten Sonnenblumenparteitag hat sich mit dem status quo verwoben. Doch nun werfen neue Player mit den rechtsphilosophischen Farbbeuteln der Kritik. Einerseits legt der Gesetzgeber selbst mächtig vor, indem er beispielsweise mit der Version SoundsovielPunktNull des EU-Verfassungsvertrages das Gleichheitsprinzip aus dem Wahlrecht verbannen möchte. Andererseits keimen literarische Stimmen auf, die jene gewachsene Gestalt unseres deutschen (und europäischen) Verständnisses von „richtiger“ Demokratie zu diskutieren beginnen. Und diese Diskussion kommt durchaus noch wuchtiger daher, als beispielsweise die Darstellungen Hans-Herbert von Arnims, auch wenn der in seinem Werk über den „schönen Schein der Demokratie“ schon mit schweren kritischen Geschützen aufgewartet hatte. Welchen Sinn, fragte er, habe eine Wahlkampfschlacht zwischen zwei Spitzenkandidaten, wenn schon von vornherein feststehe, daß zuletzt jedenfalls der eine direkt und die andere über eine Landesliste in das Parlament einziehen werde.

Unter dem Titel „Die letzte Wahl“ meldet sich nun der Berliner Schriftsteller Florian Felix Weyh zu Wort und stellt praktisch alles, was wir bislang über Demokratie wussten, neuerlich unter vollständigen Rechtfertigungszwang. Sein Ansatz ist zunächst noch zurückhaltend. Er spricht nicht selbst zu seinen Lesern. Statt dessen schickt er die fiktive Tochter eines fiktiven (und vorsichtshalber auch schon verstorbenen) Psychiaters in das demokratietheoretische Rennen. Die Therapeutentochter habe entschieden, die Notizen ihres Vaters über die letzte Angsttherapie seines Lebens zu veröffentlichen. In dieser habe sich die ebenso seelisch verwirrte, wie anonyme Mitarbeiterin eines Ministeriums („Wir beschäftigen uns mit Verkehr“) zur Inanspruchnahme professioneller Hilfe entschlossen, da sie ihre Angst vor dem Zusammenbruch unserer Demokratie nicht mehr beherrschen könne: „51 Prozent der Deutschen halten die Demokratie nicht mehr für die beste aller Staatsformen“.

Die eigene Distanzierung von dem, was dann auf knapp 300 Seiten folgt, war ihrem Boten ob der Wucht seiner Fragen jedoch auch mit diesem Kokon der multiplen Rahmenhandlungen noch immer nicht groß genug. Die literarische Tochter läßt er vorsorglich ergänzend klarstellen, sie empfinde immer wieder Unbehagen hinsichtlich der Notizen ihres Vaters, der sicher das ein oder andere nur niedergeschrieben habe, um „den Leser bewusst aus der Fassung bringen zu wollen“.

Dann folgt aus dem Notizbuch des toten Psychiaters eine haute couture der demokratietheoretischen Grundlagenkrise, wie sie wohl kein Jurastudent zuvor je gesehen hat. Die demokratieskeptische Ministeriale scheucht ihren Therapeuten quer durch ihre sämtlichen Zweifel am Mehrheitsprinzip. Und der hält wacker dagegen! Je lauter die Patientin ihre verfassungsrechtlichen Ketten gegen die Gitterstäbe der staatstheoretischen Axiome schlägt, desto kenntnisreicher pariert der Arzt und rettet er die Idee der Demokratie gegen alle ihre Angriffe. Denn zwar gelte, daß der, der die Regeln der Wahl bestimme, die Macht im Staat nach seinem Gusto verteilen könne. Dies aber bedeute nicht zugleich, daß alles Wählen per se in Zweifel gezogen werden müsse. Im Gegenteil! Es komme vielmehr darauf an, die großen Möglichkeiten der guten Wahl zu retten und zu nutzen. Der demokratische Streit müsse also darauf gerichtet werden, das beste Ergebnis in der gemeinsamen Wahl zu finden. Dies sei der Wandel, dessen unser Land zu seiner Gesundung bedürfe: „In jedem biologischen System beschert Anpassungsfähigkeit die größte Überlebensgarantie, Gemeinschaften mit starren Normen gehen langfristig unter. … Ein Land, dessen Grundordnung von parteigebundenen Beamten beschlossen wurde, steht dem politischen Wettbewerb oder dem Wandel naturgemäß misstrauisch gegenüber.“

Warum also nicht die parlamentarische Stimmgewalt eines Abgeordneten daran messen, mit wie vielen Stimmen er selbst dorthin gewählt wurde? Warum nicht die „absolute Mehrheit“ an der wahren Mehrheit aller messen, statt an der Mehrheit nur der abgegebenen Stimmen? Warum nicht die Wiederwahl von Abgeordneten generell verbieten? Warum nicht politisch Desinteressierte von dem Wahlrecht ausschließen? Denn: „Wähler in Deutschland machen sich mehr Gedanken über die Farbe ihres Autos, als über die Funktionsweise ihres Staates“. Warum kein Transfergeldzensus: no representation without taxation? Warum nicht per sms wählen oder via Internet die politische Entscheidungsgewalt auf den Souverän selbst rückverlagern?

So und ähnlich lauten insgesamt 40 „Heilungsversuche“ an einer „leidenden Demokratie“. Und sie sind allesamt mindestens so bedenkenswert, wie das beglückend menschenfreundliche Ziel, dem Parlament die Budgetrechte wieder abzunehmen. Kurz: Eine hervorragende, kenntnisreiche und literarisch tief verwurzelte Arbeit, deren Lektüre jedem Staatsbürger, mindestes aber jedem Juristen mehr intelligente und konstruktive Kritik nahebringt, als wohl jedes traditionelle staatstheoretische Lehrkompendium.

Im Nachhinein wird klar, warum der Autor sich vorsorglich hinter so vielerlei literarischen Hecken geduckt gehalten hat. Seine Kritik ist in der Tat ebenso gewaltig, wie intelligent. Während man im Wilden Westen meist gleich erschossen wurde, wenn man zuviel wusste, fliegt man zwar hierzulande bislang nur bei Kerner raus. Für Mitarbeiter von Verkehrsministerien gilt jedoch anderes. Sie unterliegen neuerdings einer strenger beobachtenden Skepsis, wenn sie zu viele Fragen stellen. Vielleicht weil sie von Berufs wegen ein Rechtsfahrgebot propagieren? Dabei gilt doch für die Treue zur Verfassung sicher nichts anderes, als für die eheliche Treue: Solange Du nur mit den Augen anfasst, bist Du ok. Dennoch mag sinnvoll sein, daß Florian Felix Weyh für seine demokratische Perestroika gleichsam eine feminisierte Variante des Neuerers auf die literarische Therapeuten-Couch legt, auch wenn wenig wahrscheinlich ist, daß die Sachwalter der political correctness sich durch die 800 Seiten von Schüßlburners brennenden Demokratietöpfen gegessen haben. Ich jedenfalls muß einräumen, es noch nicht im Detail vermocht zu haben.

In einem Torweg nahe des Geschäftes „Zaras“ kollidierte ich unterdessen mit einem kleinwüchsigen Mann, der auf der falschen Bürgersteigseite halb rennend um die Ecke gebogen war. Für etwaige Verletzungsfolgen und Schadensersatz übergab er mir, selbst Anwalt, eilfertig seine Visitenkarte. Wir kamen in ein Gespräch und „RA Thust“ fragte mich: „Glauben Sie eigentlich, daß Kerner ein Rechter ist? Welchen Sinn hätte sonst gemacht, Eva Herman diesen Auftritt zu verschaffen?“ Ich wusste nicht, was er meinte. Er stand genau vor mir. „Sehen Sie: Wenn wir beide je nach rechts unter diesem Tor hervortreten, dann verlassen wir es in unterschiedliche Richtungen.“ Nachdenklich wählte ich meine Seite.

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