von Carlos A. Gebauer
Hätte ich in der Nacht des Unglückes von Tschernobyl ein Kind gezeugt, dann sähe ich jetzt langsam dessen Volljährigkeit entgegen. Was würde ich wohl rückblickend zu berichten haben von den ersten Wochen seiner Existenz in Mutters Bauch?
Während die radioaktive Giftwolke sich erhob, saß ich mit Freunden 2000 Kilometer entfernt von Tod und Verderben in einem Ferienhaus an der holländischen Küste. Auf dem winzigen Monitor eines Reisefernsehers verfolgten wir die Berichte über Wolke und Wind. Daß meine Sprachkenntnisse die lokalen Sendungen in etwa so informativ machten, wie ein Mobiltelefonat im Funkloch, wirkte sich mitnichten beruhigend aus. Aber ich glaubte, kurz darauf zu Hause mehr Informationen erhalten zu können.
Dort überboten sich Politiker, ihr jeweiliges Weltbild an der strahlenden Wolke zu schärfen. Kuhmilch wurde in einer Weise giftig geredet, daß ich beschloß, vorübergehend nur noch Soja-Milch zu trinken. Ein nervenstärkerer Freund blickte mir deswegen sorgenvoll in beide Ohren, dann in die Nase und erklärte schließlich frozzelnd, er habe nach auswachsenden Soja-Sprossen gesucht. Die einen Politiker aßen vor laufenden Kameras beherzt Blattsalat, um dessen Ungefährlichkeit zu dokumentieren, die anderen skizzierten den auch in Deutschland bevorstehenden Weltuntergang.
Lauerten Siechtum und Tod nun tatsächlich nicht nur am Ort des Geschehens, sondern unbemerkt auch im Staub auf meiner Fensterbank? War der schönste Salat in Wahrheit Gift? Galt es, alles aufkeimende Leben unter den Herzen unserer Schwangeren vorsorglich abzutreiben, um den unerträglichsten Mißbildungen menschlicher Körper auch hierzulande von vornherein entgegenzuwirken? Niemand wußte wirklich Erhellendes zu erklären. Alle blieben mit ihren Gedanken allein.
Langsam nur gelang mir, in dem Streit Konturen zu erkennen. Und erst mit dem Abstand vieler Monate wurde mir mancher Irrsinn der spontanen Debatte greifbar. Hatten nicht die einen Politiker öffentlich Salat gegessen und Milch getrunken, um die Ungefährlichkeit der Situation zu dokumentieren? Und hatten nicht die anderen die geringste Belastung eines Gemüses mit Bruchteilen einer Milliardstel-Strahlung zum Morgengrauen des jüngsten Gerichtes erklärt?
Wenn aber doch die fernste Gefahr für das menschliche Leben auf einem Blattsalat einerseits mit aller Energie bekämpft werden mußte: Warum argumentierten dieselben Politiker zugleich für die sanktionslose Freigabe des Schwangerschaftsabbruches? Und wenn andererseits jene salatessenden Politiker die tödlichsten Risiken atomarer Energieerzeugung für das menschliche Leben als tolerierbar erklärten: Warum meinten sie dann, die Abtreibung einer brutal vergewaltigten Frau nicht ohne ohne geringstes Zögern rechtfertigen zu können?
Nicht ein Politiker erkannte einen Zusammenhang zwischen den strafrechtlichen Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch und dem Atomgesetz. Gilt der Schutzanspruch für das menschliche Leben absolut? Oder gibt es Einschränkungen dieses Schutzes? Und wie sehen sie aus?
Hätte ich in der Nacht des Unglückes von Tschernobyl ein Kind gezeugt, dann wäre ich mit diesen Fragen sehr alleine gewesen. Und ich weiß nicht, ob die 12 Wochen, während derer eine Abtreibung meines Kindes vielleicht möglich gewesen wäre, zu Antworten gereicht hätten. Meinem Kind könnte ich nur sagen: Erwarte Dir nicht zu viele Antworten von Politikern. Gerade dann, wenn sie besonders wortreich reden.