Das ESGEBE bei EDEKA

von Carlos A. Gebauer

Herr Karl-Ulrich Geiger aus Elberfeld hatte einen Edeka-Markt gepachtet. Die Geschäfte liefen leidlich, die Kunden waren zufrieden. Seine Kassiererinnen stöhnten allerdings bisweilen über den nichtendenwollenden Warenstrom auf ihren Fließbändern. Und ein Kunde vertraute ihm an, alles werde teurer, nur sein Gehalt steige nicht. Da wurde Herr Geiger nachdenklich.

Eines Nachts dann hatte Herr Geiger eine Idee. Er weckte seine Frau und sagte: Alle Waren müssen bislang erst von uns in die Regale sortiert, dann von den Kunden aus diesen herausgenommen, dann in ihren Korb gelegt, dann wieder aus diesem herausgenommen, dann über das Band gefahren und schließlich in Plastiktüten gepackt werden. Das ist ineffizient,ineffektiv und wenig arbeitnehmerfreundlich.

Ökonomischer wäre doch, wenn die Waren sofort aus dem Regal in die Tüten der Kunden gepackt und anschließend gleich aus dem Laden herausgetragen werden könnten. Dann müßten die Kassiererinnen insbesondere auch nicht jedes und alles nochmals Stück um Stück mühevoll in ihre Hände nehmen.

Auf den Einwand seiner Frau, wie er sich denn diesenfalls die Preisermittlung, Berechnung und Bezahlung des gekauften Gutes vorstelle, entgegnete er: Dieses rationalisierte System wird zugleich angereichert um eine soziale Komponente, angelehnt an die berühmten Regelungen des deutschen Sozialgesetzbuches, des ESGEBE! Ab sofort bezahlt jeder Kunde nur noch so viel, wie er tatsächlich angemessen selbst und persönlich zahlen kann. An die Stelle von einzelnen Preisen für einzelne Waren tritt eine Pauschale, die jeder Kunde nach dem Maßstab seiner je eigenen persönlichen Leistungsfähigkeit erbringt. Denn es könne ja schließlich nicht sein, daß ein Vorstandsvorsitzender für ein Pfund Butter genausoviel bezahlt, wie seine Sekretärin, meinte Herr Geiger. Schließlich gebe es viele Menschen, die zu alt oder zu schwach seien, um die Waren so oft von einem Behältnis in das andere umzufüllen; auch deren Probleme würden durch den neuen Modus erkennbar sozialverträglich beseitigt.

Noch in derselben Nacht des Neuen Einfalles ersonnen Herr Geiger und seine Frau aus Elberfeld eine geradezu genial einfache, praktische Methode zur Umsetzung ihres Planes: In den frühen Morgenstunden des nächsten Tages vertauschten sie die Eingangs- und Ausgangsschilder ihres Edeka-Marktes. Die Kunden betraten also nun das Geschäft durch den Kassenbereich, bezahlten zu Beginn ihres Besuches – bei den dadurch erheblich entlasteten Kassiererinnen – den geschuldeten Betrag, luden sodann ihren Einkauf in die Taschen und verließen anschließend unmittelbar durch das Drehkreuz den Laden zum Parkplatz.

Da Herr Geiger belastbare Zahlen über den Umsatz und Durchsatz seines Geschäftes besaß, konnte er den zur üblichen betriebsinternen Globaläquivalenz zwischen Einkauf und Absatz erforderlichen Geldbetrag recht genau beziffern. Seinen Kunden erklärte er, sie müßten fortan nur noch ihren letzten Einkommensteuerbescheid an der Kasse zeigen; sodann würde der Zahlbetrag von der Kassiererin – ganz unbürokratisch – ermittelt und vereinnahmt.

Nach anfänglichen Irritationen in der Kundschaft über die Notwendigkeit, einen Einkommensteuerbescheid zum Einkauf mitzubringen, stellte sich indes recht zügig eine entsprechende Übung an den Kassen ein. Das System faßte gleichsam Tritt und gewann an Fahrt.

Nach einiger Zeit allerdings sprachen Kassiererinnen bei Herrn Geiger vor und äußerten einen Verdacht. Nicht immer, erklärten sie, würde ihnen der wohl richtige Einkommensteuerbescheid vorgelegt. Ihre Mutmaßung war, einige Kunden liehen sich Einkommensteuerbescheide von weniger gut verdienenden Freunden, um hierdurch zu günstigeren Konditionen – nämlich mit geringerer Pauschale – einkaufen zu können.

Frau Geiger sah hierin keine wirkliche Schwierigkeit: Sie wies das Personal einfach an, künftig durch Vorlage eines Personalausweises gemeinsam mit dem Einkommensteuerbescheid die Identitätsfrage an der Kasse zweifelsfrei zu klären. So geschah es. Aber auch die verwaltungsverschlankende Befugnis, ersatzweise andere Lichtbildausweise als Legitimationspapier akzeptieren zu dürfen, beseitigte nicht alle Probleme der Kassiererinnen.

Bohrend blieb zum Beispiel der Zweifel, ob die zunehmend in Begleitung der Kunden erscheinenden Kinder allesamt tatsächlich auch die Kinder der in den Einkommensteuerbescheiden genannten Personen waren. Der festzustellende Süßigkeiten- und Kaugummiabsatz erhärtete diese Verdachtsmomente (bei entsprechenden evidenzbasierten Gegenprüfungen).

Zudem wurde kurz darauf ein ganz anderer Fall des geradezu ruchlosen Systemmißbrauches durch einen benachbarten Bäckermeister bekannt. Der nämlich hatte – unter korrekter Vorlage zwar seines Ausweises und Einkommensteuerbescheides und nach hinlänglicher Zahlung – ganze dreißig Weißbrote in seine Tüten gepackt und diese dann im eigenen Laden gegenüber zu marktüblichen Preisen verkauft!

Um solchen (nicht erforderlichen und nicht notwendigen) Versorgungsmißbrauchs-Einkäufen zu begegnen, sah Herr Geiger jetzt keine andere Möglichkeit mehr, als an jedem Regal einen Kontrolleur aufzustellen, der das konkrete Entnahmeverhalten aller Kunden überprüfte. Wegen der hierdurch erfolgten Einstellung von gleich 40 neuen Mitarbeitern wurde er daher vom Bürgermeister der Stadt in einer kurzfristig einberufenen, öffentlichen Feierstunde ausgezeichnet und gelobt; er hatte neue Arbeitsplätze geschaffen.

Ein Kontrolleur aus der Waschmittelabteilung („Warum nehmen Sie da drei Pakete Weichspüler? Nehmen Sie eins! Wenn Sie das verbraucht haben, können Sie ja wiederkommen.“) machte Herrn Geiger auf einen bis zu diesem Zeitpunkt unbeachtet gebliebenen Umstand aufmerksam: Die Kundschaft aus dem Villenviertel der Stadt blieb plötzlich aus. Statt dessen erschienen mehr und mehr Kunden aus dem sozialen Brennpunkt der Gemeinde!

Aufgrund seines inzwischen freundschaftlichen Kontaktes zu dem Herrn Bürgermeister bat Herr Geiger ihn um einen Gefallen. Der Rat der Stadt sollte beschließen, daß auch die gutsituierten Bürger der Kommune nun bitte gesetzlich verbindlich verpflichtet würden, bei ihm einzukaufen, um sich der Solidarität aller in der Gemeinde nicht böswillig zu entziehen. Alle anderen Lebensmittelgeschäfte des Ortes waren ja ohnehin bereits in Insolvenz gefallen und das eigene Warenangebot hatte sich erheblich verschlankt.

So geschah es. Die „Gemeindesatzung zur Stärkung der Solidarität im Einkaufswesen und zur Förderung des Lebensmittelstandortes Geiger“ trat in Kraft. Einwohner, die andernorts kauften, wurden mit empfindlichen Geldbußen belegt.

Wenige Wochen später schlugen das Einwohnermelde- und Stadtsteueramt der Gemeinde allerdings schon wieder neuen Alarm. Die fünf wohlhabendsten Bürger der Gemeinde waren in den Nachbarort verzogen. Der Bürgermeister reagierte sofort. Nachdem er derLokalzeitung bei einer Pressekonferenz versichert hatte, niemand habe die Absicht, eine Mauer zu errichten, begannen die Mitarbeiter des Bauhofes eilends, um die Gemeinde einen Stacheldrahtzaun zu bauen, versehen mit Videoanlage, Hundestaffel, und – notfalls – Schießbefehl für die Angehörigen des Ordnungsamtes. Es ist doch so einfach, alle Menschen von ihren materiellen Sorgen zu befreien, sagte Herr Geiger. Man muß nur die unsolidarischen Saboteure in den Griff bekommen.

Druckversion
Impressum | Datenschutz