FAS, MOS, IUS und LEX – Eine Einführung nicht nur in die Rechtstheorie

Oft hören wir im Alltag Sätze wie: «Er handelte rechtmäßig» oder «Er hat gegen das Gesetz verstoßen». Und die Aussage «Man hat sich an Recht und Gesetz zu halten» geht vielen schnell über die Lippen. Wie ich immer wieder erstaunt feststelle, machen sich selbst professionelle Juristen in der Regel nur selten Gedanken darüber, wie alle diese Sätze zusammenhängen. Dabei ist es doch kein Problem, die Verknüpfungen schnell zu erkennen.

Viele Ursprünge unserer europäischen Rechtstraditionen liegen in der römischen Geschichte: Bevor die Römer auch nur annäherungsweise so etwas kannten wie ein geschriebenes Gesetz, hielten sie sich an Traditionen. Denn das, was die Vorfahren schon immer in einer bestimmten Weise gemacht hatten, konnte nicht falsch sein. Immerhin hatten sie ja offenkundig überlebt. Wer sich also an die Bräuche und Sitten einer Gemeinschaft hielt, der handelte richtig. Man konnte ihm keine Vorwürfe machen. Das lateinische Wort für Brauch und Sitte ist «mos».

Allerdings hatten die Römer früh verstanden, dass sich Bräuche und Sitten nicht beliebig nach menschlichen Tageslaunen ändern ließen. Die bloße Tatsache, dass sich alle in einer bestimmten Weise verhielten, bedeutete nicht schon für sich gesehen, dass auch richtig war, so zu handeln. Auch Massen von Menschen können schließlich irren. Der «mos» musste sich also offenbar auch seinerseits in einen größeren Funktionszusammenhang fügen. Und den nannten die Römer die «fas»: Die göttliche, heilige Regel.

In heutiger Terminologie könnte man in etwa sagen, jene heiligen Regeln namens «fas» entsprechen den Funktionsweisen der Naturgewalt. Wenn ein menschliches Verhalten den Göttern nicht gefällt, dann senden sie – oft zeitlich verzögert – ihre Sanktion. Und weil die Grenzen der heiligen Regeln meist nicht so gut und evident sichtbar sind wie die der Bräuche und Sitten, erhoben die Römer sie in die Sphären des Metaphysischen. Was sich der Verfügungskraft der Menschen entzieht, was nicht steuer- oder beherrschbar ist, das sind die Launen der Natur.

In diesem Kontext dürften auch die Tabus entstanden sein, gegen die niemand verstoßen soll, d.h. auch ohne zu wissen, warum eigentlich nicht: Man mag beispielsweise über Generationen keine Berichte gehört haben, dass auf einer bestimmten Wiese je Wasser stand. Dennoch baute man dort aus Furcht vor (priesterlich tradierten) Tabus keine Häuser. War dennoch einer so vorwitzig, sein Heim dort zu errichten, dann riss die nächste Jahrhundertflut seine Habseligkeiten hinfort. Die Götter hatten sich gerächt. Der Verstoß gegen das Tabu wurde bestraft. Die scheinbar unbegründbare Sitte, jene Senke nicht zu besiedeln, hatte plötzlich eine Erklärung. Sie blieb dann wieder so lange brauchbares allgemeines Wissen, bis alle, die das Drama gesehen oder gehört hatten, verstorben waren. Dass Menschen immer wieder vergessen, derartige heilige Regeln zu beachten, kann man nirgendwo besser als in Rom selbst sehen: Wer sein Haus wieder und wieder mitten in die Überflutungsgebiete des Tiber baute, schuf ungewollt die Grundlagen für spätere Ausgrabungen.

Hat man einmal verstanden, dass sich alle Sitten (mos) in den Grenzen der heiligen Regeln (fas) bewegen müssen, um das gemeinsame Überleben von Menschen auf der Welt sinnvoll organisieren zu können, stellt sich die nächste Frage: Welche der Bräuche sind von sehr großer Bedeutung und welche sind es nicht? Es mag heutzutage beispielsweise ein eingeschliffener Brauch sein, Karneval zu feiern oder sich an Halloween zu verkleiden und andere zu erschrecken. Wird aber einmal nicht Karneval gefeiert oder werden keine Süßigkeiten am Reformationstag verteilt, dann berührt dies nicht die vitalen Grundlagen der menschlichen Gemeinschaft. Ganz anders ist das, wenn man an die Regel denkt, andere nicht körperlich verletzen oder gar töten zu dürfen. Wurde gegen diese elementaren Sittenregeln für das Zusammenleben verstoßen, dann bedurfte es einer Sanktion, um die richtige Ordnung wieder herzustellen. Dies in die richtigen Wenn-Dann-Regeln zu fassen, wurde die Aufgabe der Juristen: Das «ius» war also geboren, das Recht.

Man kann festhalten: Diejenigen Regeln des sittengemäßen Zusammenlebens, die für die Ordnung der Gesellschaft von besonderem Gewicht waren, galten fortan nicht mehr nur als «mos», sondern als «ius». Das Recht ist also gleichsam eine Teilmenge der hergebrachten Bräuche. Ein Recht gegen die traditionellen Sitten kann es daher nicht geben. Zugleich kann das Recht aber auch nicht gegen göttliche Regeln verstoßen. Rechtsregeln, die den Naturgewalten widersprächen, können keine Wirksamkeit entfalten. Gegen ein solches «ius» kann man sich mit guten Gründen auf die «fas» berufen.

Damit sind die Verhältnisse zwischen fas, mos und ius geklärt. Was aber ist mit der «lex»? Wie verhält es sich um das geschriebene Gesetz? Die vielleicht eingängigste Erklärung für den Unterschied zwischen ius und lex liegt im Vergleich zwischen einer Uhr und der Zeit. Zeit ist immer gegenwärtig und Zeit verstreicht mit kontinuierlicher Konsequenz. Um die Zeit aber besser sichtbar zu machen, nutzen wir Uhren. Ebenso verhält es sich um Recht und Gesetz: Nicht immer ist ohne weiteres klar, wie die Rechtslage ist. Im besten Falle hat sie jemand als Gesetz aufgeschrieben und die Rechtslage kann durch Lektüre des Gesetzestextes erkannt werden. Um für alle ein gleichermaßen verbindliches und klares Bild zu zeichnen, haben sich die Menschen in Gemeinschaften darauf verständigt, wer in welchem Verfahren ihre Gesetze aufschreibt und wie er sie verkündet. Auf diese Weise können alle in das Gesetz schauen wie sie auf eine Uhr blicken, um ihr Verhalten verlässlich aufeinander abzustimmen.

Macht derjenige, der ein Gesetz aufschreibt, bei seiner Arbeit Fehler, dann können rechtswidrige Gesetze in die Welt kommen. Die juristische Uhr zeigt dann eine falsche Zeit an. Sie muß neu gestellt werden und das Gesetz also geändert. Hat man diese Umstände einmal gedanklich durchdrungen, dann versteht man auch, warum es so unzutreffend ist, von einem «Gesetzgeber» zu sprechen. Denn Gesetze kann man in Wahrheit nicht geben. Gesetze müssen – ebenso wie das Recht selbst – «erkannt» werden. Gerichtliche Urteile in Deutschland beginnen daher ausnahmslos mit dem Satz, dass das Gericht einen bestimmten Urteilsspruch «für Recht erkannt» hat. Was Recht ist und was Unrecht, muss man also erst einmal erforschen. Nur ein Gesetz zu lesen, reicht hierfür nicht, will man sorgfältig sein. Schließlich glaubt man einer Uhr auch nicht, wenn sie tagsüber Mitternacht anzeigt. Plausibilitätsüberlegungen wollen also hier wie dort stets angestellt sein.

Was nun geschieht, wenn ein niedergeschriebenes Gesetz durch Zeitablauf mit der tatsächlichen Überzeugung der Menschen nicht mehr übereinstimmt, soll uns an anderer Stelle beschäftigen. Nur so viel mag hier schon verraten sein: Ein Gesetz, das mit den Regeln der Natur und mit den Regeln der Sitte nicht übereinstimmt, verliert bald seine Geltungskraft. Wenn eine Gesellschaft begreift, dass sie mit falschen Gesetzen in die Irre geführt wird, verweigert sie diesen Gesetzen die Gefolgschaft. Das sieht dann auf den ersten Blick kurz gesetzeswidrig aus. Es ist aber vollkommen rechtmäßig.

[Der Text wurde erstveröffentlicht auf dem Blog der Liechtenstein Academy (www.liechtenstein-academy.com)]

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