An den Beginn seiner soeben publizierten juristischen Habilitationsschrift über den „nervösen Staat“ setzt Tristan Barczak eine postum erschienene Erzählung Herman Melvilles aus der Zeit der napoleonischen Kriege: Kapitän Edward Vere lässt den nach seiner Überzeugung grundlos der Meuterei verdächtigten jungen Zwangsrekruten Billy Budd auf hoher See kurzerhand standgerichtlich zum Tode verurteilen, weil er fürchtet, bei jeder Verzögerung des Strafausspruches und selbst seiner Vollstreckung bis zum Zusammentreffen mit anderen Schiffen drohe die zeitgeistkonform revolutionäre Stimmung an Bord möglicherweise zu eskalieren. Später wird Barczak zur verwischten Demarkationslinie zwischen dem Strafrecht des Normalzustandes und den Gefahrabwehrmaßnahmen in Ausnahmelagen feststellen: „Zu berücksichtigen ist, dass Polizeirecht, materielles Strafrecht und Strafverfahrensrecht mittlerweile eng miteinander verzahnt sind und infolge einer zunehmenden Vorfeldpönalisierung ein immer dichteres Präventionsgeflecht bilden. Im Zuge dieser Verzahnung ist die Strafprozessordnung zu einem ‚Operativgesetz der Strafverfolgungsbehörden‘ geworden.“
Die hypernervöse Hinrichtung eines Menschen zur zweckprogrammierten Abwehr eines nur für wahrscheinlich gehaltenen Gefahrenverdachtes bildet den Extremfall derjenigen Grenzübertretung, die Barczak auf insgesamt 828 Seiten systematisch wie historisch detailliert beleuchtet: den Rechtsbruch zur Risikovermeidung. Überzeugend arbeitet er heraus, warum die ehemals simpel geglaubte Zweiheit von entweder Krieg oder Frieden, wie sie 1648 noch denkbar schien, heute nicht mehr existiert. In den Entgrenztheiten der globalisierten Welt mit ihrer Entterritorialisierung herrscht ein gleichsam ununterbrochener Belagerungszustand. Disruptionen sind jederzeit überall möglich. Zugleich jedoch fordert der Bürger – wohlstandsverwöhnt wie staatsgläubig – Stabilität und Schutz vor Veränderung. Beim Staat nachgefragt wird die totale Normalitätsproduktion zur Zähmung der Denormalisierungsangst. Die Sicherheitsgesellschaft mutiert somit konsequent zur hochneurotischen Maschine. Mit ihren Präventionsbedürfnissen schafft sie sich nicht nur eine fiebrige Demokratie, sondern eben auch jenen nervösen Staat, „der aus ständiger Angst, den kritischen Zeitpunkt rechtzeitigen Handelns zu verpassen, schon in der Normallage so handelt, als befinde er sich im Ausnahmezustand, der unentwegt Gefahren bekämpft, statt abzuwarten, der im Frieden Krieg spielt“.
Der Versuch, den Belagerungszustand zu veralltäglichen, und das Bestreben, in einer zerrissenen Gesellschaft durch den Anschein neutraler verwaltungspolizeilicher Routinen eine Entpolitisierung der Risikobeherrschung zu etablieren, müssen jedoch scheitern. Denn die permanente Koexistenz von Normalität und Ausnahme sind auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten. Ein Unsicherheitsdilemma prägt nicht nur die Gefühlslage der Gesellschaft, es schafft auch Unrecht: „Eine klassische Notstandsmaßnahme wie die Verhängung von Ausgangssperren mit weitläufigen Grundrechtsverkürzungen könnte danach auch nicht vorübergehend auf die allgemeine oder eine sonderpolizeiliche (zum Beispiel infektionsschutzrechtliche) Generalklausel gestützt werden.“
Der nervöse Staat handelt nicht mehr in der wirklichen Welt, sondern in einer Welt der Möglichkeiten. Er entwirft Bedrohungsszenarien, die es zu bewältigen gelte, er bringt sich gegen jedwedes Risiko in Stellung und er versinkt dabei in einen Zustand des permanenten Konjunktivs. So ist der Präventionsstaat in eine Falle getappt: Zum Schutz der Rechte seiner Bürger muss er diese Rechte suspendieren. In Zeiten der territorialen Entgrenztheit befinden sich die tatsächlichen Belagerer der Mauern also nicht mehr drüben, sondern die potenziellen Gegner stehen schon hüben. Anders als das mittelalterliche Martial Law in England, das für jedwede ausnahmsweise erteilte Sonderbefugnis der Krone noch eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr voraussetzte und eine nur befürchtete Bedrohung nicht ausreichen ließ, genügt dem so gefangenen Staat bald eine eigene Angstvorstellung als Erlaubnisnorm.
Seine Suche nach einer rechtsstaatlich klaren Trennlinie zwischen staatlichem Regelbetrieb und exzeptionellen Gefahrabwehrmaßnahmen führt Tristan Barczak zu dem Vorschlag, das deutsche Grundgesetz in Analogie zu den bestehenden Regeln über einen verteidigungspolitischen Spannungszustand um einen weiteren Artikel zu ergänzen. Dann, aber auch nur dann, wenn der Bundestag eine Krise prognostiziert habe, sollten in Gestalt einer besonderen „Gesetzesbereitschaft“ solche Ausnahmeregeln in Kraft treten, die unter gewöhnlichen Umständen keine Geltung haben. Diese Regeln wiederum könnten zuvor vorsorglich als „Schubladenregeln“ ohne Gesetzeskraft vorbereitet werden. Die vorübergehende Entsperrung des in Normalzeiten undenkbaren Ausnahmeregimes ende dann, wenn das Parlament den Krisenfall für ausgestanden erkläre. Auf diese Weise lasse sich die nötige Gleichzeitigkeit von Rigidität und Flexibilität des Regelwerkes insgesamt herstellen. Das Modell folge dem Begriff der „Resilienz“ aus der Werkstoffkunde: Ein geschundener Gegenstand finde nach Ende der Ausnahmebelastung wieder bestmöglich in seinen Ausgangsstatus zurück: „Resilienz signalisiert danach das Potential, nach einer Störung den Alltag zu reetablieren, zwar oftmals in veränderter Form, aber ohne einen Regimewechsel zu vollziehen, das heißt unter Aufrechterhaltung der grundlegenden Strukturen und Funktionen des Systems.“
Ob es eine solche juristische (und namentlich verfassungsrechtliche) Resilienz im Sinne einer garantiert unterbleibenden Wesensänderung der Gesamtstruktur geben kann, erscheint bei aller Sympathie für den klug konstruierten Vorschlag zweifelhaft. Die Habilitationsschrift Barczaks ist nämlich schon am 25. März 2020 einfachgesetzlich von der Realität überholt worden, als der Bundestag nicht nur Paragraph 5 des Infektionsschutzgesetzes neu gefasst hat, sondern zeitgleich von der sich dort selbst geschaffenen Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, einen Sonderzustand namens „Epidemische Lage von nationaler Tragweite“ auszurufen. Es mag jeder, der von diesem Ausnahmeregime inzwischen betroffen wurde, für sich selbst beurteilen, wie wahrscheinlich es ist, im pandemischen Nachhinein die alten Strukturen der vertraut gewesenen Normalität wiederzufinden. Und von den außergewöhnlichen, unkontrollierbaren Ereignissen, die Artikel 122 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union beschreibt, ist bei allem noch mit keinem Wort geredet.
Vielleicht liegt die Lösung des Dilemmas genau dort, wo die Verfassungslehre derzeit annimmt, der liberale Rechtsstaat sei „unbestreitbar von einem sozialen Rechtsstaat abgelöst worden“. Vielleicht ist es Zeit, von dieser Unbestreitbarkeit abzurücken. Denn dort, wo sich der Staat selbst zum unentbehrlich allzuständigen Steuermann einer Gesellschaft gemacht hat, die ohne ihn nicht mehr existieren könne und der genau deswegen niemals scheitern dürfe (Barczak zitiert Carl Schmitt: „Hier ist alles auf ungestörtes Funktionieren angelegt“), gerade dort verabsolutiert er sich selbst zum ultimativen Schutzgut seiner selbst. Gilt aber für handlungsleitende Prognosen im Krisenfall die Faustformel, „dass an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist“ und ist dem Vorsorgestaat das Scheitern verboten, so dürfte genau dies der „archimedische Punkt in seiner Funktionslogik“ sein, der „tendenziell totalitäre Züge“ aufweist und das Gesamtkonstrukt zuletzt aus seinen Angeln hebt.
Lebte Herman Melville noch, würde er mit Blick auf Rainer Werner Fassbinder vielleicht sagen: „Angst essen Seele auf. Aber Gefahr darf nicht Grundrechte aufessen!“