Instanzen-Züge

Carlos A. Gebauer

Als der Bernd K. eines Mai-Nachmittages nach Hause kam, ahnte er nicht, welche Veränderungen seinem Leben unmittelbar bevorstanden. Im Briefkasten seiner Eigentumswohnung fand er die Nebenkosten-Abrechnung für das vergangene Jahr. Noch während er die Stufen in den zweiten Stock erklomm, öffnete er den Brief und erkannte sogleich: Die Abrechnung war falsch, zu seinen Ungunsten. Damit aber endeten die Unannehmlichkeiten dieses Tages nicht. Kaum hatte er seine Wohnungstür geöffnet, bemerkte er Veränderungen. Und tatsächlich: Auf dem Küchenboden lag seine Frau. Sie war erstochen worden.

Die von ihm eilends herbeigerufenen Polizeibeamten begannen sofort mit intensiven Ermittlungen und Befragungen im Haus. An deren Ende wurde Bernd K. selbst verhaftet und abgeführt. Die Ermittlungsbehörde sah den dringenden Verdacht, daß Bernd K. selbst seine Frau getötet hatte.

Einige Tage später hatte er Besuch in Untersuchungshaft. Sein Anwalt besprach die sämtlichen Einzelheiten des Tattages mit ihm. Auch auf die Abrechnung der Nebenkosten kam er zu sprechen. Nachdem die Indizien zum Tod seiner Frau im wesentlichen erörtert waren, kam Bernd K. nochmals auf diese unsäglichen Wohnungs-Nebenkosten zu sprechen. Es schien ihm merkwürdig, doch trotz seiner Lage hatte er Neigung, diese unrichtige Abrechnung nicht zu akzeptieren. Bevor der Anwalt ihn verließ, wurden also die Details jener Abrechnung noch besprochen.

In der darauffolgenden Nacht konnte Bernd K. aus einem ganz besonderen Grund nicht schlafen: Sein Anwalt hatte ihn über die gerichtlichen Instanzen-Züge sowohl im Hinblick auf das laufende Strafverfahren, als auch im Hinblick auf die Nebenkostenabrechnung belehrt. Würde ihn das Landgericht wegen Mordes an seiner Frau verurteilen, war lediglich das eine Rechtsmittel der Revision zu dem Bundesgerichtshof eröffnet. Angriffe gegen die Nebenkostenabrechnung seines Wohnungsverwalters hingegen ließen sich durch vier Instanzen treiben. Nach einer Entscheidung des Amtsgerichtes könnte mit sofortiger Beschwerde das Landgericht angerufen werden. Und gegen dessen Entscheidung wäre mit sofortiger weiterer Beschwerde das Oberlandesgericht zu befassen. Zuletzt bestünde in vierter Instanz die Möglichkeit einer Vorlage an den Bundesgerichtshof.

Bernd K. fand keine Ruhe. Denn welche Bedeutung hat schließlich eine Nebenkostenabrechnung im Vergleich zu einem lebenslangen Gefängsnisaufenthalt? Über weitere Beschwerden zu dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte dachte er in jener Nacht gar nicht nach.

Einige Wochen später verließ er den Schwurgerichtssaal des Landgerichtes als freier Mann. Die Staatsanwaltsschaft hatte bereits Rechtsmittelverzicht erklärt. Der Freispruch war rechtskräftig. Die verdächtigen Fingerabdrücke seiner Frau auf dem Brief der Hausverwaltung hatten aufgeklärt werden können. Sie hatte schon morgens, Stunden vor ihrem gewaltsamen Tod geahnt, daß er sich über die Abrechnung ärgern werde. Daher hatte sie den Brief zurück in den Kasten geworfen.

Die Abrechnung hat Bernd K. nicht mehr angegriffen. Da er seine Wohnung nun alleine bewohnte, wurden die Vorauszahlungsbeträge ohnehin herabgesetzt. Außerdem wollte er den Staat nicht mehr mit Geringfügigkeiten belästigen. Denn der wahre Mörder seiner Frau war noch immer nicht gefaßt.

Druckversion
Impressum | Datenschutz