Politische Kohärenz als knappes Gut

Bei staatstheoretischen Debatten aller Art hatte ich schon seit einiger Zeit zwei wesentliche Grundüberzeugungen vertreten. Erstens: Ich habe nichts gegen Sozialismus, solange nur die Teilnahme daran freiwillig bleibt. Und zweitens: Ich habe nichts gegen staatliche Planung, solange nur der Planende allwissend ist. Eines Tages allerdings bemerkte ich, daß meine Ansprüche an die Formulierung politischer Positionen gewachsen waren. So rückte ein drittes Kriterium in den Vordergrund. Es ist das Kriterium der Kohärenz. Philosophen, Psychologen und Linguisten bezeichnen mit „Kohärenz“ im Grunde eine Art Zusammenhangsanspruch. Das Denken und Reden und Handeln soll nicht nur in einzelnen fahrigen Bruchstücken daherkommen, sondern die vertretenen Positionen sollen auch insgesamt irgendetwas miteinander zu tun haben. Die Teile des Ganzen dürfen also nicht untereinander widersprüchlich sein, nicht übereinander herfallen oder sich gar bekämpfen. Alle einzelnen Elemente einer größeren Gesamtheit müssen vielmehr harmonisch zueinander passen. Nur so kann politische Phil-Harmonie und gesellschaftliche Sym-Phonie entstehen. Die an immer mehr Orten geführten – und merklich schärfer werdenden – politischen Diskussionen unserer Zeit zeugen demgegenüber von einem allgegenwärtigen Fehlen genau dieser Kohärenz. Wenn beispielsweise unser Bundesumweltminister erklärt, das von ihm derzeit beobachtete Artensterben gefährde den Bestand der Welt, weil diese zum Überleben notwendig auf Buntheit und Vielfalt angewiesen ist, dann fragt sich doch, warum diese Einsicht für sozialversicherungsrechtliche Systeme keine Bedeutung haben soll. Ist nicht umgekehrt auch hier die Vielfalt der Gattungen, Arten und Unterarten Garant für das Überleben aller? Wer aber redet davon, daß in der Bundesrepublik schon heute rund 80% aller Krankenkassen (aus-)gestorben und der privaten Krankenversicherung ab dem 1. Januar 2009 die terminalen gesetzlichen Todesfesseln angelegt sind? Nicht nur einzelne Staaten oder Länder sind von dieser Kohärenz- und Konsequenzschwäche befallen: Auch international wird beispielsweise einerseits mit Macht und viel Aufwand dem Doping der Kampf angesagt, andererseits gilt das staatliche Subventionieren von spurtschwachen Wirtschaftsteilnehmern noch immer als hoffähig. Der horizontal, vertikal, diagonal – und wie böse Spötter sagen: bisweilen auch cerebral – zuständigkeitshalber polysegmentierte Leviathan spricht also mit gespaltener Zunge? So, in der Tat, hat es allen Anschein. Wie sonst könnten gutherzige Allgemeinwohlverwalter von einem Arbeitgeber verlangen, aus seinem Arbeitnehmerinnenstamm die verprügelten Gattinnen herauszufiltern, um ihnen Hilfe und Schutz gegen den häuslich gewalttätigen Mann angedeihen zu lassen, zugleich aber die Speicherung privater Daten eben dieser Mitarbeiter als Angriff auf deren Datenintimität kritisieren? Welcher Chef könnte von solcher Inkohärenz nicht ein Liedl singen? Politische Inkohärenz allüberall: Dieselben biologisch-dynamischen Protagonisten, die sich streuobstfroh für unberührte Naturen und gegen jede noch so behutsam brückenschlagende architektonisch-kulturelle Gestaltung unserer Täler wehren, fordern andernorts vereinheitlichte staatliche Bildungsanstalten. Der Anspruch auf Kohärenz im Politischen wächst sich bei dieser Sicht bald zu einem Fluch aus: Soll der Bürger nun Rauchen für die Tabaksteuer oder Nichtrauchen für die Gesundheit? Soll er Autofahren für die Staatskasse (möglichst mit Tagesfahrlicht, um auch dieses bisschen Mehrenergie noch zu verbrauchen) oder Fußgänger sein für das Weltklima? Soll er Bahn fahren gegen den Feinstaub oder Nichtbahnfahrer bleiben wegen des dort zwischen Schienensträngen fies interregio-niedergefetzten Haar- und Rotwilds? Soll er souverän als Souverän entscheiden können oder soll er ganz unsouverän mit einem behördlichen Einschreiben zur Staatsraison gebracht werden? Soll er die internationale Vereinigung gutheißen oder doch lieber die nationalistische Globalisierungsgegnerschaft? Unter Beachtung der Helmpflicht oder unter Einhaltung des Vermummungsverbots? Doch nicht nur wir einfachen Bürger sind in die Perplexität der Regelungen verheddert und verschraubt. Auch für unsere Staatsbediensteten in den weitverstreuten Behörden wird die Welt zunehmend unübersichtlich. Darf man öffentlich-rechtlich gegen populäres Privatfernsehen spotten, wenn man gleichzeitig stolz ist auf eigene Quotenführerschaft? Darf man den Geschmack der Masse geringschätzen und doch gleichzeitig die Stimmenmehrheit (aus möglichst hoher Wahlbeteiligung) erstreben? Wenn man einerseits nicht einmal an einer Stammzelle in der Nährlösung experimentieren darf, warum dann aber andererseits im Welternährungsprogramm gleich an der ganzen globalen Wirtschaft? Wenn es denn politisch tatsächlich unerträglich wäre, daß der eine mehr Geld besitzt als der andere, warum drucken wir dann immer mehr davon? Und: Wenn besonders „die Armen“ unter hohen Preisen leiden, warum machen wir dann gerade durch Steuern und Abgaben alles und jedes zum unerschwinglichen Luxusgut? Wenn einer nichts besitzt, als die Kraft seiner Hände, welcher unerträgliche Angriff auf sein Leben ist es dann, genau diese Nutzung seiner Hände durch den nationalökonomischen Erdrosselungs-Dreiklang aus Steuern, Subventionen und Mindestlohn zu übertönen? Fast möchte man sagen: Staatliche Abgabepflichten sind doch keine Ware! Was nicht kohärent daherkommt, ist inkohärent und also Un-Sinn. Was nicht widerspruchslos zusammenpaßt, das fügt sich nicht ineinander. Was nicht folgerichtig ist, das ist nicht nachvollziehbar. Kohärenz kommt von Zusammenhängen. Und nicht nur Lateiner wissen: aliquid semper haeret, irgendetwas bleibt immer hängen. Aber eben nur Irgendwas. Und das sollte uns nicht mehr reichen. Darf’s also ein bisschen mehr sein? Ja! Am besten – ganz kohärent – einfach weniger. Denn nur weniger ist wirklich mehr.
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