Die Krise im Niemandsland zwischen Tradition und Fortschritt

Über Jahrtausende haben Menschen ihr Überleben mit Blicken in die Vergangenheit sichergestellt. Sie verhielten sich so, wie ihre Väter gehandelt hatten. Denn alte Bräuche und Sitten waren als taugliche Schlüssel zur Bewältigung der Wirklichkeit erwiesen. Wer lebte, wie er es von den Alten gelernt hatte, der musste nichts befürchten. Lebenstechniken, Regelgehorsam und innere Einstellung gaben Halt und Sicherheit. Nicht zuletzt religiöse und rechtliche Regeln waren gleichsam zu einer Einheit verbacken, selbst wenn sich der ursprüngliche Sinn bestimmter Traditionen nicht mehr aus sich selbst erschloss. Über die fast zwanghafte Regelgläubigkeit im alten Rom schreibt Heinrich Honsell: „Aufgrund der Vorstellung, dass das Recht eine von den Göttern gesetzte Ordnung sei, spielten auf einer frühen Kulturstufe die Priester im Recht eine besondere Rolle. Das Recht stand im Zeichen des Ritus und der symbolhaften Formen. Es herrschte ein extremer Formalismus. Unterlief bei den mündlich zu sprechenden Formeln nur der geringste Fehler, so war der gesamte Akt nichtig. Der kleinste Fehler machte eine Wiederholung des ganzen Rituals notwendig. Die Gebetsformeln mussten mit skrupelhafter Genauigkeit gesprochen werden. Dies galt selbst dann, wenn man ihren Sinn nicht mehr verstand.“ Unter keinen Umständen durfte auch nur ein einziger Gesichtspunkt übersehen werden, der das Funktionieren in der Vergangenheit bewirkt haben konnte: „Stil und Sprache dieser Gesetze sind ausgesprochen schwerfällig. Der Text sollte lückenlos und vollständig sein. Unverkennbar ist die Parallele zum Wortreichtum und zur Weitschweifigkeit der pontifikalen Gebetsformeln. Hier wie dort stand das skrupulöse Bestreben im Vordergrund, keinen denkbaren Fall, keinen möglicherweise relevant werdenden Umstand auszulassen.“

Dieser traditionell-konservative Zugang zur Wirklichkeit erfuhr mit den technischen Fortschritten und Erfolgen der Menschheit eine einschneidende Änderung. An die sicherheitsspendende Stelle der Vergangenheit traten Fortschritt und die Neuerung. Die Ewiggestrigen wurden verlacht. War der Blitzableiter einmal erfunden, musste kein Herr Florian mehr in komplizierten alten Formeln um göttliche Gnade für sein Haus beten, sondern er brauchte nur das moderne Gerät zu erwerben und zu installieren. Dann konnte er ganz komfortabel beobachten, wie das Haus seines traditionell agierenden Nachbarn im nächsten Gewitter ein Raub der Flammen wurde. Die alten Zöpfe konnten abgeschnitten und das überholte Weltwissen vergessen werden. Im Glauben an ein besseres Morgen und im Vertrauen auf eine goldene Zukunft lag nun das Heil. Friedrich August von Hayek sieht den Wechsel dieser Betrachtungsperspektive zeitlich bei der Französischen Revolution: „Wahrscheinlich war Stolz in die neuen Errungenschaften der Naturwissenschaften und Vertrauen in die Allmacht ihrer Methoden nie verständlicher als an der Wende des achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert“. Doch die Revolution der Mechanik brachte nicht nur technische Errungenschaften, sondern insbesondere auch die – von Hayek so genannte – szientistische Hybris hervor. Die technische Steuerbarkeit sollte nun auf gesellschaftliche Zusammenhänge übertragen werden. Der Sozialingenieur trat auf den Plan und forderte eine fortschrittlich-rationale Konstruktion des Staates. Zur gleichen Zeit, als die neuen Wissenschaftler minutiös begründeten, warum der Mensch aus zwingenden Gründen der Mechanik niemals werde fliegen können, keimten also die Sehnsüchte nach gesamtökonomischen Planungen auf. Der Physiker Thomas Görnitz schreibt: „Ich denke, dass zum Beispiel auch das ökonomische Modell einer gesamtstaatlichen Planwirtschaft, wie es der Marxismus propagiert hat, sehr stark von dem Denkmodell der Newton’schen Mechanik beeinflusst worden ist. So erinnert die Idee der Planbarkeit der Wirtschaft sehr an die Berechenbarkeit eines astronomischen Zwei-Körper-Problems. Natürlich klingt die Idee verlockend, durch eine gute Planung Verluste zu vermeiden. Das Problem in der Mechanik ist nur, dass es ein reines Zwei-Körper-System in unserer astronomischen Umgebung nicht gibt und dass bereits drei Körper in ihrem Verhalten nicht mehr beliebig gut berechenbar sind.“ 

Die Großfinanzexperten der Staaten, die Schutzschirmspanner und Liquiditätsinterventionisten unserer Zeit scheinen diese wissenschaftstheoretischen Einsichten jedoch nicht zu kennen. Hat sich die Blickrichtung von den Sicherheiten der Vergangenheit zu den Fortschrittsverheißungen der Zukunft nämlich einmal geändert, scheint ausgeschlossen, den blinden Vorwärtsglauben wieder zu bändigen. Denn das Vergangenheitswissen ist inzwischen schon weitgehend verloren. Manfred Osten beschreibt eine Zweiteilung der menschlichen Reaktion: „Die (noch) Memorierenden begleiten die Bewegung mit Pessimismus, Skepsis, Resignation oder Furcht. Die nicht (mehr) Memorierenden begleiten sie mit Optimismus und euphorischen Erwartungen“. Wir aber, zitiert Manfred Osten dann Ernst Jünger, „treiben Dinge, die durch keine Erfahrung begründet sind.“ 

Dies also ist unsere Situation: Wir machen, für was es kein Erfahrungswissen aus der Vergangenheit gibt, und was in seiner Komplexität zugleich so unbeherrschbar ist, dass sich die Entwicklung nicht ansatzweise seriös abschätzen lässt. Wer derart hilflos im dunklen Keller sitzt, hat Anlass, Gefühle der Angst zu entwickeln. Doch weil Furcht unsere charismatischen Weltführer nicht schmückt, stürzen sie sich in blinden empirischen Aktivismus, um zu sehen, was der Fall sei. Der Soziologe Northcote Parkinson schrieb 1970: „Wenn in Los Angeles Schwarze demonstrieren, dann ist es unsere erste Reaktion, die beteiligten Schwarzen zu zählen. Unsere zweite ist es, zu entscheiden, ob sie wirklich so schwarz sind, wie man sie hinstellt. Dass die Ermittlung von Fakten also ein Ersatz für das Treffen von Entscheidungen ist, weiß man ziemlich allgemein. Wir erkennen aber nicht, dass die Ermittlung von Tatsachen auch ein Ersatz für das Denken ist.“

Hier nun schließt sich ein bemerkenswerter Kreis: Während die alten Römer im Gebet aus Furcht und Orientierungslosigkeit minutiös bemüht waren, vollständig sein zu wollen (ohne selber genau zu wissen, warum), flüchten sich auch derzeit die politischen Krisen-Toreros in ein empirisches Klein-in-Klein, um zur Aufrechterhaltung eines schlechterdings nicht mehr aufrechtzuerhaltenden Finanzsystems gezielt dasjenige zu retten, was gerettet werden müsse (ohne selber genau zu wissen, warum). Die Bereitschaft und die Fähigkeit zum lernenden Blick in die Vergangenheit beschränkt sich auf die bloße Kenntnis schon bislang gescheiterter Investitionsprogramme, deren Misserfolg der aktive Nichtdenker im Zuwenig des Einsatzes wähnt. Wer mehr als drei Körper berechnen will, muss schon mindestens mit Milliarden jonglieren?

Zuletzt sehen wir eine gleichermaßen geschichtsvergessene wie konstruktiv überforderte globale Wirtschaftspolitik, die sich in aufwändigster, ritueller Finanzmechanik erschöpft, ohne denkend zum eigentlichen Kern der Krise vorzudringen: Wer den gesunden, freien und fairen Handel zwischen individuell rational agierenden Wirtschaftssubjekten durch politische Subventionen und Interventionen aller Art, durch Papiergelder, Teilreservesysteme oder sonstige Falschmünzereien stört,  der produziert ein Chaos, das er nicht mehr beherrschen und einen Kollaps, den er nicht mehr verhindern kann. Es war noch immer so.

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