Musikalische Früherziehung – eine autobiographische Skizze

Nach zwei Jahren musikalischer Früherziehung amstädtischen Keyboard glaubte ich das Ende meiner Ausbildungerreicht. Doch die Sicherheit war trügerisch. Nach den Sommerferiensollte ich mir ein eigenes Instrument wählen. Aus Gründen, die mirnoch heute, 37 Jahr später, schleierhaft sind, erkor ich mir dieGeige. Es war der Beginn einer schier endlosen Feindschaft.

Ich habe meine Geige gehaßt.Messerscharfe Stahlsaiten schnitten sich unerbittlich in mein zartes,fünfjähriges Fingerfleisch. Meine Schulter war verdreht, der linkeArm blutleer und schmerzte. Im Stehen vor dem Notenpult schienen dieFüße in meinen Schuhen zu kochen. Aufstaubendes Kolophonium wehteätzend in meine tränenden Augen. Das Notenbild verschwamm und dieerzeugten Töne klangen jämmerlich. Um während des Unterrichtesunauffälliger auf die Uhr schauen zu können, wechselte ich dasArmband-Handgelenk von links nach rechts zur Bogen-Hand; dort istmeine Uhr immer geblieben. Freunde spielten unterdessen Fußball oderTennis. Andere prügelten auf E-Gitarren oder Schlagzeugen herum. Ichhatte Geige zu üben. Nie mehr in meinem Leben waren täglichedreißig Minuten so lang, wie damals.

Noch heute habe ich Zweifel, ob derbildungsbürgerliche Klassiker des Geigelernens nach der Umsetzungder UN-Menschenrechtskonvention in nationales Recht überhaupt vomelterlichen Erziehungsrecht gedeckt ist. Müßte nicht dervorsätzliche Geigenunterricht zum Nachteil von Fünfjährigen ebensowie das Anstiften zu demselben verboten sein?

Weil ich in Demut und Manneszuchtdas volle Früherziehungsprogramm der Musikschule über mich hatteergehen lassen müssen, gehörte ich zu den Privilegierten. Dieprivilegierten Fünfjährigen durften nicht nur einmal wöchentlichdreißig Minuten zum Unterricht erscheinen, sondern (weil sie japrivilegiert waren) zweimal wöchentlich. So also brachte meineMutter mich jeweils dienstags und donnerstags zur Musikschule. Diesezunächst zufällig festgesetzten Unterrichtstage habe ich mir späterjahrelang – statt montags und mittwochs – erhalten. Denn in denSommermonaten fallen weitaus mehr Feiertage auf Donnerstage, als aufMontage!

Trotzdem: Gegen meinen größtenWiderwillen und ungeachtet meines stets und wiederholt förmlicherhobenen Protestes chauffierte meine Mutter mich uhrwerksgleichzweimal wöchentlich zu meinem Unterricht. Noch heute sind – beiklarem Wetter und günstiger Beleuchtung – in denKreuzungsbereichen zwischen Jülicher Straße und Essener Straßesowie im gegenüberliegenden Abzweig der Collenbachstraße diebogenförmigen Kratzspuren meiner Fingernägel im sommerwarmenAsphalt sichtbar, die bei dem steten Versuch entstanden, demUnterricht durch eine gewisse körperliche Verhakung in derFahrbahndecke zu entgehen.

So gingen die Jahre dahin. Ich litt.Meine Eltern litten. Meine Geigenlehrer litten, der erste, der sichacht Jahre meiner linken Hand annahm ebenso wie der zweite, dersieben Jahre meinen rechten Arm erzog. Eines Tages, hieß es, würdeich meinen Eltern dankbar sein. Zeugen wurden aufgeboten. Solche, diedie Qualen ertragen hatten und jetzt voller Glück und Erfüllung einInstrument spielten. Und solche, deren Eltern nachgegeben hatten unddie deswegen nun tagtäglich Höllenqualen wegen ihrer Kapitulationerlebten. Damals ahnte ich noch nicht, dass es aus der Sicht nureiner einzigen Generation später ein grenzenloses Privileg gewesensein würde, noch eine Nurhausfrauvollzeitmutter unter derRückendeckung eines präsenten Vaters mit Kraftressourcen für einenderartigen Kampf gehabt zu haben.

Noch immer spielten aber alleFreunde draußen. Fußball. Tennis. Golf. Andere gingen surfen oderparaglitten durch die Lüfte. Die meisten verbrachten ihre Freizeitbeim Drachenfliegen oder fuhren nachmittags rasch zum Ski nach St.Moritz. Ich stand alleine in meinem kleinen Zimmer zu Hause undgeigte. Immer abwechselnd eine Etude und ein Konzert. Ein Konzert undeine Etude. Eine Etude und ein Konzert.

Dann kam es zu dieserkopernikanischen Wende. Zehn Jahre, nachdem ich erstmals eine Geigeberührt hatte, geschahen zwei geradezu metaphysische Wunder, zweiEreignisse, die meine Welt für alle Zukunft auf das Schwersteerschüttern sollten. Der erste dieser Einschnitte ereilte mich ganzunverhofft und unerwartet an einem Mittwoch, gegen 17.58 Uhr. Ichstand mit meiner Geige am Fenster und bewegte wie stets den Bogenüber die Saiten, als plötzlich das Unfassbare geschah: Ich hörteeinen wohlklingenden Ton. Und er kam aus meinem eigenen Instrument!Ich versuchte es wieder und wieder. Und es wiederholte sich. Da warder erste Keim von Musik. Von Melodie. Von Harmonie. Da war das,wovon mir erzählt worden war: Mit dieser Geige kann man Musikmachen!

An diese Welterschütterung schloßsich das zweite Ereignis an: Die Einladung, in meinem Schulorchesterzu Weihnachten mitzuspielen. Ich sagte zu – und es machte Spaß?!

Nun überschlugen sich dieEreignisse. Meine Eltern gaben erste Signale, dass sie nicht weiterauf der Durchführung von Violinunterricht bestehen würden. Ich seinun, sagten sie, „groß genug, um selber zu entscheiden“.Mit dem Fortfall des Zwanges, zu geigen, entstand sogleich der Wille,zu spielen. Und dann bot sich auch noch die Gelegenheit, in dasDüsseldorfer Jugendsinfonieorchester von Viktor Arnolds einzutreten.Welch’ ein sagenhaftes Glück!

Meine Freunde mussten auf denStraßen noch nach Lederbällen treten oder kleinen Filzkugelnhinterherjagen, ihre Skisachen waren immer wieder zu klein oder zukaputt oder das Gleitschirmsegeln wurde ihnen zu teuer. Mir taten sienur leid. Denn ich hatte meine Geige. Und vor allem: Ich hatte meinJugendsinfonieorchester!

Niemals später in meinem Leben istmir eine Woche wieder so lang vorgekommen, wie die zwischen zweiFreitagen, an denen geprobt wurde. Wer es nicht erlebt hat, kannnicht ermessen, welches Wohlgefühl und welche Wonne es bereitet, mithundert anderen zusammen die Mühen einer Symphonie auf sich zunehmen, sie einzustudieren, die eigenen Grenzen zu erspüren, zuscheitern und wieder neu zu versuchen, zu justieren und zu üben,vorzubereiten und endlich in einer mit Worten nicht zu beschreibendenKlangwolke aufzugehen, die sich mächtig erhebt, davonträgt undallesamt gemeinsam schweben läßt.

Zusammenhalt, Zusammenspiel,Zusammenwirken und Zusammensein. Diese Kombination hat mir unsagbarschöne Jahre in diesem Jugendsinfonieorchester beschert. Und oftsitze ich heute in meinem Büro, die Augen auf streitige Prozessaktengerichtet, das Hirn voller Zank und Ärger und Konflikt. Dann denkeich an die fast grenzenlose Harmonie in diesem Orchester zurück. Unddie Erinnerung macht mich froh. Ich sehe mich mit zwei PalettenWeißblechdosen durch das nächtliche Jerusalem laufen, um die immerdurstigen Blechbläser mit Bier zu versorgen. Vor meinen Augenentsteht die Erinnerung an einen sagenhaft tiefblauen Sternenhimmelüber Lissabon, unter dem wir in einer dachlosen Kirchenruine die„Meistersinger“ schmettern. Ich spüre noch deutlich meineErschütterung im Geigen der Beethoven’schen fünften Symphonieneben den Trümmern der Kathedrale von Coventry. In Gedanken schleppeich wieder Guinness-Dosen durch einen belgischen Überlandzug, aufder Suche nach einem kleinen Frühstück für meine pelzige Zunge. Im4. Stock der Linzer Jugendherberge stehe ich eingeseift unter derDusche, deren morgendlicher Strahl langsam unter den erwachendenMitspielern auf den Etagen 1, 2 und 3 erstirbt; hat jemals einer dieachte Bruckner mit Resten von Shampoo in den Haaren gegeigt? WievieleMenschen mögen weltweit nach einem harten Reise- und Konzerttag ineinem Schlafsack auf einem Münchner Turnhallenboden unterBasketballkörben geschlafen haben und von einem ab-so-lutunzurechnungsfähigen Cellisten morgens um 6.04 Uhr mit einer schräggekratzten Etude geweckt worden sein? Aber es war all dies wert: Dennder Bach-Klang eines Orchesters von 1200 Musikern und 800 Choristenin der Olympiahalle, besonders das Unisono von 70 ersten Geigern, dasgeht nie aus meinem solar plexus. Nie.

Wer immer dieses Orchester geboren,gestillt, gewickelt und erzogen hat; wer immer es groß und größermachte und wer immer es weiterführen wird: Ich danke ihnen allen vonganzem Herzen. Denn ein Jugendsinfonieorchester gehört mitSicherheit zu den sinnreichsten und wertvollsten Dingen, die wirMenschen auf dieser Welt überhaupt ins Werk setzen können. Undneben Viktor Arnolds, der große Teile seines Lebens auf dieseswunderbare Orchester verwandte, gilt der Dank ganz besonders all denEltern, die es auf sich nahmen, ihre Kinder auf diesen mühevollenWeg zu führen. Nur der unermüdliche Fleiß aller einzelnen und ihrfreiwilliges Zusammenwirken, das sich nicht auf die Mühen andererverlässt, lassen solch’ großartige Dinge entstehen. Vor lauterBegeisterung vergaß ich zuletzt sogar meine Feindschaft zu dieserGeige.

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