Salzstock und Schuldturm

von Carlos A. Gebauer

In der nächsten Eiszeit werden die Nachfahren der Menschheit – oder ein paar Außerirdische – unter der geschlossenen Eisdecke des vormaligen Europas Kernbohrungen vornehmen. Bei einer dieser Bohrungen auf dem Gebiet der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland dürften unter anderem Video-Bänder mit zugehörigen Abspielgeräten gefunden werden. Nach dem Auftauen und Ingangsetzen der Fundstücke wird sich den Forschern ein intellektuelles Spektakel der besonderen Art darbieten.

Auf einigen Bändern werden sie Aufnahmen von protestierenden Kernenergie-Gegnern entdecken, die sich verzweifelt militärisch bewachten Atommüll-Transportern entgegenwerfen. Die Filme weisen naturgemäß auch auf einen Salzstock in Gorleben hin, in dem noch immer – wie die Forscher mit ihren hochsensiblen Meßgeräten bereits feststellen konnten – hermetisch verschlossene Container unangetastet ruhen. Schriftkundige werden die Spruchbänder der einstmals Protestierenden auswerten und berichten, mit welchem Nachdruck auf die möglicherweise drohenden Gefahren dieser Atompolitik hingewiesen worden war.

Nach Auswertung weiterer Bänder werden die Forscher dann entdecken, daß es in etwa zur gleichen Zeit in Deutschland auch politische Debatten über etwas gab, was die Menschen nannten: „Staatsverschuldung“. Die Mehrzahl der Forscher wird dann mutmaßen, daß es weitere Videobänder unter dem Eis geben muß, die vergleichbar wilden und wütenden Bürgerprotest auch gegen diese Schuldenpolitik darstellen.

Es wird dann viele weitere Bohrungen geben. Und es dürften detaillierteste Erkenntnisse über den seinerzeitigen Finanzkollaps des überschuldeten deutschen Staates zutage gefördert werden. Aber: Nachrichten über deutlichen und vernehmbaren Protest gegen die explodierende Staatsverschuldung oder die sogenannte „Nettoneuverschuldung“ werden sich nicht finden lassen. Denn: Es gab sie nicht!

Fernab der kalten Bohrstätten – und im Schutz vor radioaktiven Strahlen, die vielleicht doch noch hervortreten könnten – wird dann ein Kongreß der Forscher abgehalten werden. Sie werden sich dort unterhalten über das Gefahrbewußtsein der Menschen und namentlich über die Fähigkeit der Bürger, unterschiedliche drohende Risiken für sich und ihr Leben verläßlich abzuschätzen.

In seinem Abschlußbericht wird der federführende Völkerkundler formulieren: Die deutsche Bevölkerung war insgesamt gut ausgebildet. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts beendete eine erkleckliche Zahl von Schülern ihre Schulkarriere mit einem sogenannten Abitur. Dies eröffnete ihnen die – häufig genutzte – Möglichkeit, weiteres Wissen im Rahmen eines anschließenden Hochschulstudiums zu erwerben. Diejenigen, die keine derartige Hochschulausbildung durchliefen, waren gleichwohl durch eine Unzahl an Informationsangeboten durch Zeitungen, Fernsehen und Internet befähigt, Fragen und Belange des Allgemeinwohls zur Kenntnis zu nehmen. Da – nur von gewissen Einschränkungen durch sogenannte „politische Korrektheit“ abgesehen – weitgehend Meinungsfreiheit herrschte, war jedermann prinzipiell befähigt, die einerseits eher fernliegende Gefahr aus Atommüll und die andererseits sehr naheliegende Gefahr aus der Staatsverschuldung für sein persönliches Leben ohne weiteres zu erkennen. Warum das eine über alle Maßen dramatisiert, das andere aber gänzlich banalisiert wurde, bleibt weiterer Forschung vorbehalten.

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