Uhren sind Wolken sind Hoffnung

Carlos A. Gebauer

Anfang August passieren oft schlimme Dinge. Der Erste Weltkrieg brach aus, Enola Gay verlor little boy, Marilyn Monroe schied aus dem Leben. Und in diesem Jahr tauchte „Die Zeit“ die ganze bundesrepublikanische Landkarte auf ihrem Titelblatt in satte, triefende, blutrote Farbe: „Deutschland rückt nach links“.

Die zum Titel gelieferten Ergebnisse einer aktuellen Umfrage zeichnen in der Tat ein bemerkenswertes Bild. Satte Mehrheiten unseres Volkes wünschten demnach einen „Mindestlohn“, Bahn, Post und Gaswerke sollen lieber in Staatsunternehmen geführt werden und sogar die Machtpositionen der Gewerkschaften dürften demnach eher noch größer werden, als sich endlich gesund zu schrumpfen.

Was ist nur los in Deutschland? Thomas E. Schmidt liefert in derselben „Zeit“ eine beachtenswerte Analyse. Denn Schmidt beschreibt das Erfolgsrezept der nun für Gesamtdeutschland wiedererwachten SED. Der weggefegte Eiserne Vorhang hat dem homo bundesrepublikanus seine heimelige, nestwarme Illusion der ewigen Wohlstandsbehaglichkeit hinfortgespült. Die Rundumglücklichpakete der Vollkaskogesellschaft mit ihren risikolos planbaren Existenzen und Karrieren lassen sich nicht mehr schnüren. Dennoch – oder besser: gerade deswegen – wünschen die Sozialstaatsjunkies auf Entzug eine Politik, die den Affen wieder vertreibt. Den gewesenen Schröders & Fischers, die alternativlos den ersten leisen Systemumbau wagen mußten, unterstellen die Neuen Hohepriester des Gesamtpräkariats daher nun eine Reparatur ohne Not. Und also beschreiben sie den Weg der infantilen Sozialuntertanen zurück in den Mutterschoß als mögliche Option. Mit dieser regredierenden Abkapselungsverheißung back to the uterus fangen sie in einer ungemütlich empfundenen globalen Welt die Sympathien des Statistikdeutschen. Daß diese Präkambriumpolitik mit ihrer Voodoo-Ökonomik wirkliche Lösungen nicht bringt, sondern sich in metaphysischen Traumzeichnungen verliert, steht dem Erfolg ihrer Sirenenrufe nicht entgegen. Im Gegenteil. Auf den Punkt trifft Schmidt: „An diesen vorvernünftigen Sehnsüchten politisch anzusetzen ist wahrhaft raffiniert, denn sie beziehen ihre Energie ja aus ihrer Unerfüllbarkeit. Sie mit realen Globalisierungsängsten kurzzuschließen ist höhere politische Kunstfertigkeit“.

Ist es um Deutschland also wieder einmal geschehen? Nicht unbedingt. Denn Uhren sind Wolken sind Hoffnung. Oder, anders gesagt: Unser Land muß nicht in jedem Falle das Schicksal des brasilianischen Ausflugdampfers teilen, der seine Gäste zum sight-seeing an den Traumküsten des Landes von einer Sehenswürdigkeit zur anderen schiffte. Als der Kapitän unbedachtsam nah einen Nacktbadestrand passierte, hatten die Schicksalsgötter entschieden. Von evolutionsgenetischer Magie geführt, stürmten alle Bordgäste nach backbord, unbeeindruckt von den warnenden, um Einsicht bettelnden Lautsprecherdurchsagen der verzweifelten Crew. Schlagseite, Kentern und Ende des Ausfluges waren eins.

Was also haben Uhren und Wolken und Hoffnung mit der drohenden Seenot unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung gemein? Nun, zum einen nichts, zum anderen alles. Aber langsam. Betrachten wir zuerst noch den sozialwissenschaftlich tomographierten homo semi-erectus, wie er uns zwischen Berchtesgaden und Westerland, zwischen Görlitz und Nettetal begegnet. Eingezäunt im Stabilitätenquadrat wähnt er sich gewappnet gegen jedwede Krise. Die fiktionsgleiche Ferne und Abstraktheit seines Zentralbanksystems beispielsweise wiegt ihn, politisch kunstfertig, kinderbettgleich durch alle Krisen. Die „Rheinische Post“ brauchte demnach passgenau kundenorietiert der spontanen Werdung von € 95.000.000.000 Scheingeld am 10. August nur sechs Zeilen zu widmen – immerhin halb so viel wie einer Wohltätigkeitsrallye von mit Pommes-Frites-Fett betriebenen Autos. Mehr noch, der Leitartikler schwärmte: „Gestern sorgte erst einmal die europäische Notenbank für Beruhigung. Die gigantische Geldspritze von fast 100 Milliarden Euro schaffte sofort klare Verhältnisse, der Geldmarkt war wieder im Lot“. Interessant an dieser Aussage ist weniger ihr Gehalt, als vielmehr ihr Zeitpunkt. Denn zeitgleich mit dem Andruck der Zeitung wälzte der währungspolitische Ausflugsdampfer EZB gleich die nächsten € 61.000.000.000 fiat money in das monetäre Wolkenkuckucksheim. Ob es eine höhere Macht so eingerichtet hat, daß ein semi-erectus im Krisenfall gleich katastrophengünstig den Kopf eingezogen hat, um gegen herabstürzende Träume gefeit zu sein?

Warum sollte er sich auch gerade halten? Erstens hat er – wenn es die Politik nur endlich gegen die obwaltenden fiesen Widerstände durchprügelt! – mindestlohngeschützt sowieso mit Bankenkrisen nichts am Hut. Zweitens bringt ihn die Staatsbahn zu immer stabilen Preisen steuersubventioniert auch an seinen noch so abseits gewählten Wohnort im strukturschwachen aber grundstückspreisegünstigen Zonenrandgebiet. Drittens kann ihn eine Staatspost zur Not sicher auch als Paket zur Arbeit befördern, wenn die Lokführergewerkschaft politstimmungskonform alle Gleise leerstehen läßt. Und schalkenullviertens kann ein privater Gashändler die Russen kaum so nachdrücklich zum Liefern veranlassen, wie Angela M. Wo genügend politischer Wille aufgebracht wird, da gilt bekanntlich: Primat der Politik schlägt Primat der Faktizität, schlägt Primat der Logik, schlägt Primat der Humanität. Beistandspakte brauchen feste politische Willensbildungen, nicht nur 1914. Wenn es dem Bürger zuviel wird, kann er sich ja beruhigen. Wie weiland Marilyn, vielleicht sogar auf Rezept. Hiroshima war schließlich im wesentlichen auch nur aus Gründen der Experimentalphysik besonders für gewisse Sprengversuche geeignet, Anfang August 1945. Die wiederum hatten gute politische Gründe für sich. Nur Spinner, heißt es, seien zimperlich.

Aber noch bleibt uns dies: Uhren sind Wolken sind Hoffnung. Bekanntlich wurde das intellektuelle Präkariat unseres Kulturkreises nicht seit jeher nur von habilitierten Bildungskatastrophen in die Irre geleitet. Unter den Berühmten waren auch Weise und Kluge. Einer der Größten hörte auf den Namen Karl Popper. Und aus seiner Feder erwächst uns Hoffnung. Nicht nur die sprachphilosophische Erotik des inhaltslosen Begriffes vom „Linkssein“ konnte er messerscharf entzaubern. Vor allem gegen den metaphysischen Gesamtdeterminismus des sozialistischen Historizismus setzte Popper auf das unvorhersagbare Individuum mit seiner ganzen Einzigartigkeit und Kreativität. Ließen sich nämlich restlos sämtliche Ereignisse unserer Welt – nach Kenntnis aller Regeln – vorhersagen, dann wären, sagte er, auch Wolken letztlich nichts anderes als Uhren. Doch Wolken seien Paradebeispiele für physikalischen Indeterminismus. Mehr noch: Auch Uhren selbst sind umgekehrt nur Zusammenballungen von Elementarteilchen, die bei genauester Betrachtung gerade nicht letztverbindlich voraussagbar funktionieren. Daher sind Wolken keine Uhren, sondern Uhren sind Wolken. Daher läßt sich der Lauf unserer kleinen Bundesrepublik auch nicht sozialempirisch determinieren. Jeder Tag ist also eine neue Chance für jeden Menschen, dem parareligiösen Glauben an das linksstaatlich gesteuerte Gesamtglück entgegenzutreten. Wann also sammeln sich die kreativen Individualisten an Bord beim Steuer, um dem Kentern zu begegnen?

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