Gibt es unsoziale Gerechtigkeit?

von Carlos A. Gebauer

Die Welt diskutiert, was „soziale Gerechtigkeit“ sei. Unser Grundgesetz will den „sozialen Staat“. Schlaue Menschen schreiben dicke Bücher. Politiker definieren lautstark, engagiert, mit hochrotem Kopf. Aber wir einfachen Menschen? Wissen wir eigentlich noch, worum es geht? Wenn alle herkömmlichen Erklärungsversuche zu einer Frage gescheitert sind, dann ist es manchmal legitim, unorthodoxe Wege einzuschlagen.

Blicken wir also zunächst nach Nordamerika und betrachten die kanadische Zuckmücke. Während des Paarungsaktes dieser Spezies sticht die Zuckmücken-Frau dem Zuckmücken-Mann ihren Rüssel in den Kopf. Das ist nicht nett. Aber das ist auch noch nicht alles. Durch diesen Rüssel presst sie nämlich zudem eine Art Speichel in ihren Gatten, dessen Innereien sich hierdurch sogleich in Brei verwandeln. Noch bevor der Beischlaf beendet ist, hat sie ihren Liebsten leergeschlürft. Dann trennt sie sich von dessen – im wahrsten Sinne des Wortes – sterblicher Hülle.

Wir wollen hier nicht diskutieren, ob es für Scheidungsanwälte oder Steuerberater interessant sein könnte, mit Bildern von Zuckmücken zu werben. Hier interessiert allein die Frage: Halten wir dieses Verhalten gegenüber dem Mücken-Mann für „gerecht“?

Vor jeder Antwort auf diese Frage erscheint zunächst noch ein vergleichender Blick auf den Plattwurm diplozoon gracile angebracht. Der lebt bekanntlich parasitär in Fischkiemen und wenn sich eine Wurm-Frau mit ihrem Wurm-Mann einmal inniglich gefunden haben, dann bleiben sie für immer, lebenslang, in dieser besonderen körperlichen Verbindung vereint. Auch hier läßt sich im Vergleich fragen: Sind die Schicksale einerseits des Zuckmücken-Mannes und andererseits des Plattwurm-Mannes von unserer göttlichen – oder: natürlichen – Schöpfung „gerecht“ geregelt?

Beim Nachdenken über diese Schicksale wird zügig klar: Die Frage nach „Gerechtigkeit“ oder „Ungerechtigkeit“ stellt sich hier erst gar nicht. Denn hier geht es um Abläufe der von Gott – oder einer irgend sonst höher legitimierten Instanz – geregelten Natur. Der unorthodoxe Gedanke führt also zu dem ersten Ergebnis: Gerechtigkeitsfragen sind nur und ausschließlich für menschliches Leben und menschliches Handeln von Bedeutung. Nur das, was unsere menschliche Gemeinschaft betrifft, unterliegt einer Wertung als entweder gut und „gerecht“ oder schlecht und „ungerecht“.

Für ein solch‘ gutes menschliches Zusammenleben in einer Gemeinschaft gibt es jedoch auch noch ein ganz anderes Wort. Das heißt: „sozial“. Anders ausgedrückt: Wer innerhalb einer Gemeinschaft von Menschen anderen Menschen Ungerechtigkeiten widerfahren läßt, der handelt „unsozial“. Dies führt zu dem zweiten Ergebnis der gedanklichen Reise durch Kanada und eine Fischkieme: Was gerecht ist, ist immer auch sozial. Und was ungerecht ist, muß immer auch unsozial sein. Folglich ist eine „unsoziale Gerechtigkeit“ ebenso undenkbar, wie eine „soziale Ungerechtigkeit“.

Man sieht, wie verwirrend es ist, alleine schon zwei Begriffe und ihre Verneinungen auseinanderhalten zu wollen. Obwohl der Gedanke ganz einfach ist, kann man sich in aller Breite darüber erklären. Manchmal allerdings hat man den Eindruck, daß diese Verwirrungen ganz bewußt gestiftet werden. Nämlich dann, wenn einer schlauer erscheinen will, als er in Wahrheit ist. Dann redet er nicht einfach von „Gerechtigkeit“, sondern von „sozialer Gerechtigkeit“, obwohl es das gleiche ist. Das ist länger, klingt kompetenter und erweckt den Eindruck, er hätte wirklich Ahnung von dem, was er sagt. In Wahrheit erzählt er aber nur von seinen unermüdlichen Versuchen, einen Zuckmücken-Mann mit einer Plattwurm-Frau zu vermählen.

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