Detailanalyse eines Wortes
von Carlos A. Gebauer
Von den vielen Worten, die unsere gesellschaftlichen Diskurse prägen und beherrschen, ist das von der „Verantwortung“ eines der meistverwendeten. Auch die jüngste Weltgeschichte erscheint geradezu als ein Iron-Man-Contest der allseitigen „Verantwortungen“. Viele Gemeinschaften wollen sich aus Verantwortungsbewusstsein füreinander konstituieren. Und manch einer, der für einen anderen „Verantwortung“ übernehmen möchte, tut diesem in Wahrheit nichts Gutes, sondern reduziert im Ergebnis nur dessen eigene Handlungsspielräume. All dies gibt genug Anlass, das Wort „Verantwortung“ einer semantischen Detailanalyse zu unterziehen.
Von den vielen Worten, die unsere gesellschaftlichen Diskurse prägen und beherrschen, ist das von der „Verantwortung“ eines der meistverwendeten. Auch die jüngste Weltgeschichte erscheint geradezu als ein Iron-Man-Contest der allseitigen „Verantwortungen“. Viele Gemeinschaften wollen sich aus Verantwortungsbewusstsein füreinander konstituieren. Und manch einer, der für einen anderen „Verantwortung“ übernehmen möchte, tut diesem in Wahrheit nichts Gutes, sondern reduziert im Ergebnis nur dessen eigene Handlungsspielräume. All dies gibt genug Anlass, das Wort „Verantwortung“ einer semantischen Detailanalyse zu unterziehen.
Als Medizinrechtler hat mich immer schon Paragraph 1 des Fünften Sozialgesetzbuches der Bundesrepublik Deutschland fasziniert. In diesem heißt es (in der aktuellen Formulierung): „Die Krankenversicherung als Solidargemeinschaft hat die Aufgabe, die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu bessern.“ Und dann sagt die Norm: „Die Versicherten sind für ihre Gesundheit mitverantwortlich.“ Mit dieser Formulierung des deutschen Sozialgesetzgebers wird eine jahrhundertelange Tradition der Organisation von Gesellschaften in Subsidiarität erkennbar auf den Kopf gestellt. In der katholischen Soziallehre ist seit jeher anerkannt: Die Gemeinschaft ist nur für das zuständig, was nicht zuvorderst der Einzelne für sich selbst erledigen kann. Dreht man dieses Prinzip von Regel und Ausnahme in sein Gegenteil um (wie dies das zitierte Sozialgesetzbuch tut), droht sehr schnell Chaos. Sinnbildhaft ist dies in jedem Flugzeug zu erkennen. Dort wird man vor dem Start darauf hingewiesen, bei Druckverlusten in der Kabine nach herabfallenden Sauerstoffmasken zu greifen und diese schnellstmöglich auf die eigene Nase und auf den eigenen Mund zu pressen: „Erst dann helfen Sie anderen Mitreisenden!“ Es bedarf wenig Phantasie, um zu erkennen, was es bedeuten würde, diese aus sich selbst heraus evident vernünftige Regel in ihr Gegenteil zu verkehren. In anderen gesellschaftlichen Kontexten, die komplexer daherkommen, versteht das nicht jeder.
In einer zunächst semantischen Betrachtung des Begriffes von der „Verantwortung“ fällt auf, dass wir das Wort in zwei Richtungen verwenden. Zum einen beschreibt „Verantwortung“ die Verpflichtung, dafür Sorge zu tragen, dass ein bestimmter Lebensbereich wohlorganisiert und funktionsfähig zu unserer Verfügung steht. In einer zweiten Dimension bezeichnet „Verantwortung“ den Fall, dass ein Verantwortlicher seinen Aufgaben nicht gewachsen war und Schaden entstanden ist. Ersetzt er den entstandenen Schaden, übernimmt er für ihn die Verantwortung.
Eine weitere Annäherung an das, was „Verantwortung“ ausmacht, wird erleichtert durch einen Blick auf die Etymologie des Wortes. Jedes „Ant-Worten“ in diesem Sinne ist erkennbar zunächst geprägt durch die Vorsilbe „Ant“ und erst dann durch das anschließende „Wort“. Die Antwort ist daher im Kern ein Widersprechen. Der Gefragte wird mit einer Herausforderung oder einem Problem konfrontiert und er hat sich in Gegenrichtung zur Vorhaltung für einen Zustand zu rechtfertigen. Auf einen entsprechenden Vorwurf gibt er also sein Gegenwort. Er rechtfertigt sich somit und er steht für etwas ein.
Die Sprachgemeinschaft derer, die Deutsch miteinander sprechen, hat sich an dieser Stelle für die Verwendung des Wortes „Wort“ entschieden. Wir finden den Gedanken auch noch in dem Satz „Ein Mann, ein Wort.“ In der englischen Sprache ist zwar noch das „an-“ erhalten geblieben, um die gegenläufige Richtung der Darstellung auszudrücken. Das „Wort“ ist jedoch zum Schwur erstarkt. Wer Englisch spricht, gibt nicht eine Antwort, sondern eine „answer“. Im „-swer“ steckt das Schwören für die Verbindlichkeit des Erklärten.
Aus diesem Kontext wird immer deutlicher, worum es bei der „Verantwortung“ geht. Die Vorsilbe „ver-“ deutet im Deutschen in vielen Kontexten darauf hin, dass etwas, was zunächst in der Welt war, beseitigt wurde oder von Beginn an weggeschafft ist. Ein Gegenstand ist verschwunden, verbraucht, verwischt, vertrieben, verzehrt oder verrückt, Flüssigkeiten verschwinden oder verdunsten, Geräusche verklingen, Essen wird vertilgt oder ein reicher Mann verarmt. Arme und reiche Menschen versterben.
Damit wird deutlich, dass die „Verantwortung“ eines Menschen für einen Zustand oder einen Ablauf in ihrem Kern eines bedeutet: Der Verantwortliche beseitigt von vornherein ein ohne sein Handeln bestehendes oder drohendes Problem. Oder er schafft es fort, wenn es bereits entstanden ist. Der Verantwortliche steht daher mit seinem Wort und mit seinen Taten dafür ein, dass eine bestimmte Schwierigkeit für andere gar nicht erst entsteht oder aber beseitigt wird. Der Verantwortliche macht etwas gut oder er macht es wieder gut.
Wer aus schmerzvoll Geschehenem daher Verantwortung für die Zukunft übernimmt, der hat etwas aus der Geschichte gelernt. Und besonders schwierig ist es im gesellschaftlichen Diskurs, wenn einer sich anmaßt, Verantwortung für „künftige Generationen“ zu übernehmen. Denn er wird sich die Frage gefallen lassen müssen: Woher will er wissen, welche Probleme künftigen Generationen entstehen werden und wie sie sich mit welchen Mitteln dieser Probleme entledigen sollen?
Das Subjekt des Verantwortens – derjenige, der Verantwortung übernimmt – kann auch bei genauer Betrachtung niemals eine Gruppe von Menschen sein. Es kann niemals „die Gesellschaft insgesamt“ oder „wir alle“ sein, die Verantwortung übernehmen. Denn jeweils nur ein Einzelner kann für sich entscheiden, anderen sein Wort dafür zu geben, für die Beseitigung einer Schwierigkeit einstehen zu wollen. Selbst wenn mehrere Menschen dies in einer Gemeinschaft tun, bleibt ihre jeweils individuelle Verantwortung dafür, mit anderen zweckdienlich gemeinschaftlich zusammenzuwirken.
Auch die Frage nach der Zielperson oder dem Zielobjekt der Verantwortung macht deutlich, worum es geht: Man kann Verantwortung dafür übernehmen, dass andere Menschen keine Schwierigkeiten bekommen oder ihnen Probleme aus dem Weg geräumt werden. Die Verantwortung für ein Objekt ist jedoch in der Regel immer nur mittelbar wieder die Verantwortung für denjenigen, der aus diesem Objekt einen eigenen Vorteil ziehen will. Eine zu Boden gefallene Ming-Vase wird dem unachtsamen Bewacher nie den Vorwurf machen können, sich verantworten zu müssen. Wohl aber kann der Eigentümer der Ming-Vase den Verantwortlichen zu dieser Erklärung und zu diesem Einstehenwollen bewegen. Der typische Fall der Verantwortungsübernahme für einen anderen ist der eines Erwachsenen für ein Kind. Die innere Rechtfertigung dieser Verantwortungsbeziehung folgt aus dem besseren Wissen des Erwachsenen und seinem besseren Können. Dort, wo es kein besseres Wissen und kein besseres Können gibt, ist Verantwortung für andere praktisch undenkbar: Unfähigkeit und Unkenntnis können nie Legitimationsgrundlage für die Bevormundung eines anderen sein.
Wer also kann für einen Zustand „verantwortlich“ gemacht werden? Wer ist fähig, diese Verantwortung zu übernehmen? In Paragraph 827 BGB erläutert das Gesetz: „Wer im Zustand der Bewusstlosigkeit oder in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit einem anderen Schaden zufügt, ist für den Schaden nicht verantwortlich.“ Und in der entsprechenden Vorschrift des Strafrechtes, Paragraph 20 StGB heißt es: „Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.“
Im Umkehrschluss aus diesen beiden gesetzlichen Vorschriften erweist sich: Verantwortung setzt voraus, dass der Verantwortliche sich seiner Verantwortung bewusst ist, dass er im freien Willen zur Verantwortung handelt, dass er eine ungestörte Geistestätigkeit hierzu zur Verfügung hat, dass er aus einem gewissen Seelenfrieden heraus handelt und vor allem, dass er mit der hinreichenden Intelligenz ausgestattet ist, sein Tun abschätzen zu können.
Ein verantwortliches Mitglied einer Gemeinschaft muss folglich sein Tun bewusst erleben, mit eigenem freien Willen seelisch ausgeglichen handeln und über einen wachen Geist sowie über das für sein Handeln nötige intellektuelle Rüstzeug verfügen. Der Verantwortliche muss sein Handwerk beherrschen. Er muss sein Handeln zielgerichtet in einen zutreffend erkannten Kontext der Welt einfügen können. Er muss jederzeit erläutern können, welches Ziel er genau anstrebt und mit welchen Zwischenzielen er das erreichen möchte. Und er muss sein Handeln so ausrichten, dass er es jederzeit beenden kann, sofern sich die Bedingungen seines Handlungsplanes ändern.
Ebenso wie sich der Gedanke der „Subsidiarität“ am besten mit der Sauerstoffmaske in einem Flugzeug erklären lässt, gibt es auch eine Möglichkeit, den Horizont des eigenen Handelns und seiner Konsequenzen mit einem sehr eindrücklichen Bild zu beschreiben. Das Bild stammt aus Paragraph 3 Absatz 1 Sätze 3 und 4 der deutschen Straßenverkehrsordnung. Dort lesen wir: „Es darf nur so schnell gefahren werden, dass innerhalb der übersehbaren Strecke gehalten werden kann. Auf Fahrbahnen, die so schmal sind, dass dort entgegenkommende Fahrzeuge gefährdet werden könnten, muss jedoch so langsam gefahren werden, dass mindestens innerhalb der Hälfte der übersehbaren Strecke gehalten werden kann.“ Ähnlich wie bei den Sauerstoffmasken im Flugzeug ist auch bei dieser Norm aus sich selbst heraus verständlich, worum es geht. Würde die Norm dem Verkehrsteilnehmer gestatten, auf engen Straßen so schnell zu fahren, dass nötigenfalls mehr als die Hälfe der übersehbaren Strecke benötigt wird, um anzuhalten, wäre sie keine Anleitung zu vernünftigem Verhalten. Der Verkehrsteilnehmer würde sich also auch nicht verantwortlich verhalten.
Der Bamberger Psychologe Dietrich Dörner hat in seinem legendären Buch „Die Logik des Misslingens“ am Beispiel des Unfalles von Tschernobyl eindrücklich beschrieben, wie man sich in einem Umfeld bewegen muss, dessen Bedingungen einem unbekannt sind oder die sich ständig unvorhersehbar ändern. Man muss – will man hier „verantwortlich“ handeln – die Folgen seines eigenen Handelns ununterbrochen nach Kräften revidierbar halten. In meiner Sprache möchte ich formulieren: tastendes Handeln nach Maßgabe tastenden Denkens. Auch diese Maximen sollten im Grunde selbstevident sein. In der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland ist immer wieder klar gemacht worden, dass einem Gesetzgeber in einer Krise eine gewisse Einschätzungsprärogative zusteht, um unbekannte Sachverhalte für sich verstehend zu ordnen. Diese Einschätzungsprärogative – in der Sache: ein Privileg – ist jedoch mit der Verpflichtung verbunden, nicht nur die Lage, sondern auch den Einfluss des eigenen Handelns auf deren Entwicklung permanent neu zu evaluieren. Wer nur blind in eine ihm unbekannte Realität hineinarbeitet, der kann für sich nicht reklamieren, verantwortlich und also rechtlich einwandfrei gehandelt zu haben. Ein Arzt, der mit verbundenen Augen operiert, handelt nicht verantwortlich.
Da sich alles gesellschaftliche Handeln der Menschen in zeitlichen Kontexten ereignet, kann nicht erstaunen, dass gewisse Fragen die Menschheit immer wieder neu beschäftigt haben. Es kann aber insbesondere auch nicht erstaunen, dass die Menschen zu allen Zeiten einander ähnliche Antworten auf diese Herausforderungen gegeben haben. Erfahrungsgemäß lieben Menschen – als anthropologische Konstante – Stabilität und Sicherheit ihrer Lebensverhältnisse, im besten Falle im Guten. Wenn es uns gefällt, wie sich die Lage darstellt, sagen wir mit Goethe: „Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön!“ Und mit den Worten von Nietzsche hören wir: „Alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit!“ Wo es uns gefällt, da möchten wir bleiben. Wo die Umstände gut geordnet sind, da wünschen wir uns, dass sie es bleiben.
Unruhe hingegen und Änderungen sind nicht gern gesehen. Der internationale Code der Krankheitsdiagnosen (ICD-10) beschreibt in seinen Ziffern R45 ff. Nervosität, nervöse Spannungszustände, Ruhelosigkeit und Erregung, Unglücklichsein, Sorgen, Demoralisierung und Apathie, Reizbarkeit und Wut, Feindseligkeit und körperliche Gewalt, emotionale Schocks und Stress bis hin zu Suizidalität und Suizidgedanken als Symptome, die das Erkennungs- und Wahrnehmungsvermögen des Menschen betreffen und seine Stimmung negativ beeinflussen. Um diesen seelisch negativ erlebten Dispositionen zu entgehen, neigen wir Menschen seit jeher dazu, unsere Verhältnisse zu stabilisieren. Menschen streben nach unkündbaren Arbeitsverhältnissen, sie heiraten, um einander nicht zu verlieren, und selbst Verfassungsgeber schreiben in ihre Gesetzestexte, dass bestimmte Regularien mit einer „Ewigkeitsklausel“ versehen seien. Schwierig daran allerdings ist: Die Erde dreht sich weiter, das Leben schreitet fort, und nichts bleibt, wie es ist. Giuseppe Tomasi di Lampedusa hat in seinem Roman „Der Leopard“ den legendären Satz festgehalten: „Alles muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist.“ Wollen wir Stabilitäten, dann müssen wir uns also anpassen, so paradox dies auf den ersten Blick erscheinen mag.
Denn überall dort, wo derartige Anpassungsleistungen nicht stattfinden und gelingen, wo also die innere Struktur einer Vergangenheit sich an die fortschreitenden Änderungen der Umgebung nicht anpasst, da entstehen tektonische Spannungszustände, Materialüberlastungen und schließlich Ermüdungsbrüche. Im Vorlesungsskript „Materialermüdung“ des Siegener Werkstofftechnikers Prof. Dr.-Ing. habil. H.-J. Christ heißt es auf Seite 28 (ausdrücklich eingeschränkt auf die Behandlung von Einzeleffekten bei überschaubaren Bedingungen): „Bei planarer Gleitung bleiben die Stufenversetzungen in ihren Gleitebenen. Die Schraubenversetzungen löschen sich gegenseitig aus, da sie querleitfähig sind. Man beobachtet parallele Versetzungen in der Gleitebene, die senkrecht zum Vektor ausgerichtet sind.“ Schon dies macht klar, über welche komplexen und perplexen Abläufe wir reden. Kommt es einmal zu einer Kompressions- und Luxationsfraktur, ist auch jedem Arzt klar: Die Heilung wird kompliziert. Die Welt besteht erkennbar nicht aus Einzeleffekten und überschaubaren Bedingungen, sondern die Umweltbedingungen sind stets verwogener, als es sich die munterste Phantasie eines Menschen im Vorhinein erdenken könnte.
Doch nicht nur Materialermüdung oder komplizierte Knochenbrüche führen zu erheblichen Schwierigkeiten. Auch gesellschaftliche Kontinuitätsdisruptionen führen in Turbulenzen. Aufgestaute Anpassungsdefizite eruptieren dort dann unkontrolliert, bisweilen zeitgleich mit Synergie- und anschließenden Ketteneffekten. Interventionsmaßnahmen von außen wirken dabei meist perplexitätssteigernd. Der ehemalige britische Premierminister James Callaghan notierte im Jahre 1978 in seine Kabinettprotokolle, als er die desolate wirtschaftliche Entwicklung des Vereinigten Königreiches betrachtete: „Wir können nur alle Knöpfe gleichzeitig drücken und hoffen, dass etwas Wünschenswertes dabei entsteht.“ Und mehr noch: „Wenn ich ein junger Mann wäre, würde ich auswandern.“
Kippt eine endende alte Ordnung in einen solchen chaotischen Zustand, dann verlieren alle Gesellschaftsmitglieder ihre vormals stabil gehaltene Gewissheit, sich noch in sicheren, planbaren und beherrschbaren Umgebungen zu bewegen. Die Verunsicherung der Beteiligten entwickelt sich zu individueller Nervosität, Ruhelosigkeit, Unglück, Demoralisierung, Reizbarkeit und Feindseligkeiten bis hin zu körperlicher Gewalt. Die mimetische Theorie von René Girard (1923 bis 2015) besagt, dass menschliche Gesellschaften nur überleben, wenn es ihnen gelingt, Gewaltexzessen innerhalb ihrer Reihen auf Dauer zu begegnen. Konfliktursache zwischen ihnen ist regelhaft ein Nachahmungsverhalten. Schlägt die Friedlichkeit miteinander einmal in Gewalt gegeneinander um, wirkt dieses Verhalten der anderen ansteckend und führt zuletzt über sich aufschaukelnde „Ärgernisse“ zu Gewalteskalationen. Zu diesem Zeitpunkt ist der ursprüngliche Grund des Konfliktes längst vergessen und spielt keine Rolle mehr. Die Gewaltexzesse werden nur noch durch das Imitieren des jeweils anderen in Gang gehalten. In der neutestamentarischen Tradition wird der Versuch unternommen, diese Gewalteskalation dadurch zu unterbrechen, dass der Geschlagene dem anderen friedlich auch noch die andere Wange darbiete. Selten aber gelingt eine solche Deeskalation.
Die Geschichte der Menschheit zeigt, dass hier durchaus ein anthropologisches Muster erkennbar ist, das analog an den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik erinnert. Kollektive Verunsicherung führt zu erhitzten Bewältigungsversuchen, die sich durch alle Epochen immer neu wiederholen. Verunsicherte Massen neigen dann dazu, sich aus ihrer Mitte geeignet erscheinende „Sündenböcke“ auszuwählen, an denen sich die Verzweiflung und Orientierungslosigkeit gewaltsam austobt. Die historische Disruption der Reformation führte so aus der Renaissance hinein in die Bartholomäusnacht und in den Dreißigjährigen Krieg, die Französische Revolution mündete in ihren Wohlfahrtsausschuss und seine metzgernden Guillotinen. Die Weimarer Republik ist retrospektiv bereits der Auftakt zu den nationalsozialistisch induzierten Massengräbern. Der große Sprung nach vorne in China leitete eine Hungerkatastrophe ein, und Pol Pots Revolution führte schnurgerade in die entsetzlichen Killing Fields. Egal, auf welchem Kontinent man sich bewegt, überall zeigt sich das gleiche Bild: Auch die Verunsicherungen aus der Dekolonialisierung Ruandas waren der Urgrund für die Massenmorde an Hutus und Tutsis.
Angesichts der multiplen Weltkrisen, in denen sich unser Planet derzeit befindet, haben wir allen Anlass, darüber nachzudenken, wie die Menschheit – und hier: ein jeder Mensch mit einem jeden anderen Menschen im Einzelnen – demnächst damit umgehen möchte, um sich selbst zu erhalten. Derzeit wird die Welt wesentlich angeleitet von Menschen, die sagen, es werde demnächst nichts mehr so sein, wie es früher war. Sie reden von einer „Neuen Normalität“, von einer „Zeitenwende“, von einem „Reset“, sie verfolgen unterschiedliche „Agenden“, sie träumen von einer „Transformation“ der Welt und einer „Industriellen Revolution 4.0“. Die ganze Lebenswirklichkeit der Menschen soll durch Digitalisierung geändert werden. Aus dieser Perspektive betrachtet, kann nicht erstaunen, dass inzwischen verunsicherte Menschen in großer Anzahl psychologische Hilfe in Anspruch nehmen. Was also tun angesichts der Existenz in einem Epochenbruch? Was tun, wenn es George Bernard Shaw und Sidney Webb gelungen ist, den legendären Erdball auf dem fabianischen Bleiglasfenster in der Realität tatsächlich zum Glühen zu bringen?
Ich schlage vor, für ein individuell verantwortliches Handeln auch in gesellschaftlich unsicheren Umfeldern sieben Leitlinien des Handelns in den Blick zu nehmen:
Erstens: Sorgen Sie zuerst dafür, dass Ihre eigenen notwendigsten Bedürfnisse erfüllt sind, damit Sie anderen mit deren altruistischer Bereitstellung für Sie keine Kraft abziehen.
Zweitens: Seien Sie anderen dienlich, indem Sie für diese all das tun, was Sie selbst überblicken und beherrschen.
Drittens: Handeln Sie nicht in Situationen, die Sie nicht verstanden haben; Sie laufen sonst nur Gefahr, weitere Unsicherheit und Schäden zu fremdem und eigenem Nachteil zu verursachen.
Viertens: Ergreifen Sie lediglich Maßnahmen, deren Folgen Sie verlässlich überblicken, die Sie jederzeit umkehren können und deren Schäden Sie – sollten diese eintreten – im Ernstfall aus eigener Kraft ersetzen können und wollen.
Fünftens: Reflektieren Sie, dass es (auch) anderen schlecht geht, dass diese anderen Menschen eigene Ängste haben, und sorgen Sie dafür, dass diese Menschen durch Ihr Verhalten keine neuen Ängste und Sorgen entwickeln.
Sechstens: Verschweigen und bestreiten Sie es nicht, wenn Sie Fehler begangenen haben; Unwahrhaftigkeit zerrüttet Gemeinschaften.
Siebtens: Seien Sie standhaft, konsequent und verlässlich für andere und zwingen Sie niemanden Ihren Willen auf, insbesondere da nicht, wo Sie die Lage selber nicht verstehen.
Eine neue Ordnung kann und wird erst dann entstehen können, wenn und wo die wechselseitigen negativen Emotionen besiegt sind, Ängste überwunden werden und ein Vertrauen in gedeihliches Zusammenwirken wieder vorgelebt wird.
Hinweis: Dieser Artikel erschien am 2. Juni 2023 zuerst auf freiheitsfunken.info.