Vortrag zur ärztlichen Direktabrechnung auf dem „Ärztetag der Basis“ Freie Ärzteschaft e.V. IHK
Köln, 4. November 2006
Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren,
ich danke für die freundliche Einladung, heute bei der Freien Ärzteschaft auf Ihrem „Ärztetag der Basis“ sprechen zu dürfen. Entgegen der gelegentlichen Annahme in Ihren Internet-Foren tue ich dies allerdings nicht ganz selbstlos, sondern durchaus in der Hoffnung, nötigenfalls aus Ihrem Kreis fachgerecht reanimiert zu werden, wenn unser Gesundheitssystem mich – erwartungsgemäß – im Stich lassen wird.
Das mir vorgegebene Thema für meine heutigen Ausführungen lautet zwar „Direktabrechnungen“. Ich gestatte mir jedoch, ohne mich in Ihre internen Debatten über den Begriff an sich einmischen zu wollen, die juristische Bezeichnung des Themas zu wählen und also über „Verträge zwischen Ärzten und Patienten“ zu sprechen.
Im Kern nämlich geht es darum, zu ermitteln, welche Bedeutung ein Vertrag im allgemeinen und insbesondere für Ärzte (und Krankenhäuser) hat – bzw. haben kann – und wie es darzustellen sein kann, diesen (im Interesse der Allgemeinheit anstrebenswerten) Zustand herbeizuführen.
Wie ich zeigen möchte, kann nämlich nur (und ausschließlich) der Vertrag ärztliche Selbständigkeit erhalten (bzw. wieder herbeiführen), eine effiziente Versorgung der Patienten mit Gesundheitsdienstleistungen ermöglichen und einen respektvollen Umgang zwischen Arzt und Patient (ohne staatliche Kontrollen und Persönlichkeitsverletzungen, namentlich ohne elektronische Gesundheitskarte etc.) garantieren. Zugleich möchte ich Ihnen die Gewißheit verschaffen, daß Sie mit der Forderung nach dem Recht, mit Ihren Patienten zivilrechtliche Verträge abzuschließen, nichts Skandalöses oder Radikales oder Unsoziales fordern, sondern schlicht und einfach die Rückkehr zu einem natürlichen, menschlichen und ideologiefreien Miteinander zwischen Ärzten und Patienten.
Ich will im nun Folgenden zunächst beschreiben, was eigentlich ein „Vertrag“ ist. Sodann werde ich kurz skizzieren, warum unser deutsches Sozialgesetzbuch etwas so ganz Anderes ist, als ein Vertrag. Anschließend werde ich fragen, warum „man“ nicht wieder von den Abwegen des Sozialgesetzbuches zurückfindet zu den jahrtausende-alten Traditionen des vertraglichen Miteinanders von und zwischen Menschen. Zuletzt werde ich mich dann die Frage befassen, welchen Ausweg wir aus dem Sozialgesetzbuch zurück zu einer menschlichen Gesellschaft finden können; die Frage hier ist folglich die der Überschrift: Wie bauen wir ein Rettungsboot auf der KV-Titanic?
Was also ist eigentlich ein „Vertrag“? Juristisch gesprochen bedeutet ein Vertrag in der kleinstmöglichen Variante, daß zwei Menschen einander ihre jeweiligen Willenserklärungenübermitteln. Beide Parteien haben zunächst die Vorstellung, durch Kooperation mit dem Anderen eine Veränderung in der Welt herbeiführen zu können. Hierüber entwickeln sie zunächst ihre eigenen und dann gemeinschaftliche Vorstellungen.
In der Rechtsvorstellung deutscher Juristen kommt es sodann – durch Abschluß und Vollzug eines Vertrages – dogmatisch zu gleich drei Vereinbarungen. Die erste Vereinbarung bildet das sogenannte „Verpflichtungsgeschäft“.
Jenseits der klassischen juristischen Terminologie läßt sich – für jedermann am besten verständlich – definieren: Beide Parteien vereinbaren einen bestimmten „Soll-Zustand“. Sie erklären sich, wie sie die Welt heute gemeinschaftlich vorfinden und in welchen (anderen) Zustand sie ihn gemeinschaftlich versetzen wollen.
Dies klingt abstrakt, ist im Grunde aber ganz simpel. Wenn Sie in eine Bäckerei gehen und mit der Verkäuferin hinter dem Tresen über einen Brötchenkauf sprechen, dann passiert nichts Anderes, als das, was ich soeben beschrieben habe. Sie vereinbaren mit der Bäckersfrau, daß der jetzige Zustand (Sie sind im Besitze einer Münze und die Bäckerin im Besitze eines Brötchens) durch einen neuen Soll-Zustand ersetzt werden soll. Dieser lautet: Die Münze wird anschließend der Bäckersfrau gehören und das Brötchen Ihnen. In Erfüllung dieses wechselseitigen Verpflichtungsgeschäftes (so soll es sein!) schließen Sie sodann mit der Bäckerin zwei weitere, sogenannte Verfügungsgeschäfte. Sie verfügen über Ihr Geld und werden sich mit der Bäckerin einig, daß Ihre Münze nun der Bäckerin gehört. Anschließend werden Sie sich mit der Bäckerin noch einig, daß das Brötchen jetzt nicht mehr der Bäckerin, sondern Ihnen gehört. Glücklich tragen Sie das Brötchen aus dem Geschäft.
In der europäischen Rechtstradition kommt ein Vertrag stets nur dann wirksam zustande, wenn sich die (mindestens) zwei Parteien eines Vertrages über die wesentlichen Vertragsbestandteile, die sogenannten essentialia negotii, geeinigt haben. Wesentliche Vertragsbestandteile in diesem Sinne sind zum einen eine Verständigung über die an dem Vertrag beteiligten Personen und zum anderen (scharf umrissen und klar definiert) der Inhalt der Leistung sowie der Inhalt der Gegenleistung. Verpassen beide Vertragsparteien, sich über einen dieser wesentlichen Vertragsbestandteilen zu einigen, ist nach juristischer Vorstellung ein Vertrag nicht wirksam abgeschlossen.
Ich bitte um Verständnis, Sie hier zunächst mit dieser etwas langatmigen juristischen Erklärung zu belästigen. Die Darstellung dessen erscheint mir jedoch unabdingbar, um alles Weitere hieraus für unseren heutigen Zweck zu entwickeln. Denn Sie sehen – nicht zuletzt am konkreten Beispiel des Brötchenkaufes –, daß die von beiden Vertragsparteien eingegangenen Verpflichtungen in einem Wechselseitigkeitsverhältnis zueinander stehen. Dies nennen wir Juristen das „Synallagma“. Auch hierbei handelt es sich nicht um eine dogmatische, überflüssige Versponnenheit, sondern schlicht um eine über Jahrhunderte und Jahrtausende gewachsene Weisheit. Wenn nämlich beide vereinbarten Verpflichtungen in diesem Synallagma zu einander und miteinander stehen, dann folgt hieraus zugleich eine Kontrollierbarkeit und Steuerbarkeit des Vertragesvollzuges. Die Bäckersfrau merkt also: Wenn sie kein Geld erhält, gibt sie das Brötchen nicht heraus. Umgekehrt merken Sie, wenn Sie statt des Brötchens ein gesundheitsabträgliches Puddingteilchen über die Theke gereicht erhalten, daß Sie (mangels Vertragserfüllung durch die Gegenseite) keinen Anlaß haben, auch Ihre Verpflichtung zur Übereignung der Münze (des Kaufpreises) zu erfüllen.
Schließlich – um nun den Ausflug in die juristische Dogmatik zu beenden – ersehen Sie aus dem gewählten Beispiel auch: Sie haben gemeinsam mit der Bäckersfrau die Verantwortlichkeitssphären für die beiderseitigen Vertragserfüllungshandlungen festgelegt. Stets und immer waren Sie beim Eingehen des Vertrages, bei seiner Erfüllung, bei der Kontrolle seiner Erfüllung und bei der Steuerung seiner einzelnen Abläufe nur zu zweit. Niemand hat Ihnen hereingeredet. Erst recht: Keine Behörde.
Jenseits dieser nun juristischen Betrachtungen drängen sich dem nüchternen Betrachter bei dem Gesagten zugleich auch elementare ökonomische Erkenntnisse auf. Bedarf und Fähigkeiten der Beteiligten werden jeweils konkret-individuell abgeschätzt. Die Bäckersfrau weiß, welche Brötchen sie verkaufen kann, welche Qualität diese haben und wie viele sie hiervon an diesem Tage zur Verfügung hat. Sie umgekehrt als der Käufer des Brötchens wissen, ob Sie an diesem Tage Geld bei sich führen, das Sie zu diesem Zweck auszugeben geneigt sind. Da niemand sonst Ihnen in diesen Ablauf hineinredet, hat dieser gesamte Vertrag Menschenmaß. Denn Sie können mit Ihren eigenen Augen und Ohren und mit Ihrem eigenen Tastsinn erkennen, ob das, was in der Welt geschieht, mit Ihrem Willen übereinstimmt. Nur der, der selbst weiß, was er braucht und wozu er im Stande ist, kann einen anschließend auch durch ihn selbst erfüllbaren Vertrag abschließen.
Wesentlich ist weiter: Der Preis beim Abschluß eines Vertrages (wir erinnern uns: Er gehört zu den essentialia negotii) wird zu Beginn (!) des Vertragsvollzuges vereinbart. Das Verpflichtungsgeschäft geht den Verfügungsgeschäften zeitlich voran. Auch das ist weise. Denn es minimiert den Streit der Parteien darüber, welches wohl der angemessene Preis (als Gegenleistung für die bereits erhaltene Leistung) ist. Immer dann nämlich, wenn Vertragsparteien sich nicht über den Preis einigen, die Ware jedoch bereits den Besitzer gewechselt hat, kommt es gerne zu Streit. Beispiele hierzu dürften sich an dieser Stelle erübrigen.
Desweiteren liegt es im freien Belieben der Beteiligten, ob sie einen Vertrag überhaupt abschließen (Juristen nennen dies die Abschlußfreiheit) und welchen Inhalt sie ihrem Vertrag geben (wir nennen dies die Gestaltungsfreiheit). Auch das ist weise, denn nur die Vertragsbeteiligten selbst wissen am besten (wer sonst?), wie die vertraglich zu bewältigende Situation am besten zu beschreiben ist.
Mit alledem wird der Ressourcen-Einsatz der Vertragsbeteiligten optimiert, es kommt zu wenig Reibungsverlusten, weil niemand anderer als die Beteiligten ihren möglichen Einsatz und ihre Gewinn-Chancen aus dem Vertrag am besten selbst abschätzen können. Beide Partner haben stets die Freiheit, ihr Verhalten an neue Situationen anzupassen. Das verunmöglicht Über-, Unter- oder Fehlversorgungen, wie sie allen Planwirtschaftern wesenseigen sind.
Im Ergebnis gewinnen an einem (gesunden) Vertrag stets und immer beide Parteien (!!). Anders gewendet: Die 99,99% aller Verträge auf dieser Welt kommen nicht betrügerisch zustande und bereichern durch ihren Vollzug beide Vertragsparteien.
Es gehört zu den klassischen Angriffen der Freunde unserer Planwirtschaft, dem zivilrechtlichen Vertrag diese Dimension abzusprechen oder sie in Abrede zu stellen. Das ist schlicht falsch. Durch einen Vertrag gewinnen immer beide Parteien. Sie sind nach Durchführung des Vertrages beide „reicher“, als sie es zuvor waren. Wäre das nicht so, würde schließlich niemand einen Vertrag schließen! Anders gesagt: Wer würde sich vertraglich verpflichten, anschließend ärmer zu sein, als vorher? Richtig: Nur der, der – aus Nächstenliebe – schenken möchte! Dazu komme ich später nochmals.
Auch diese (zunächst nur abstrakt erscheinende) Erkenntnis läßt sich leicht an einem Beispiel erklären: Ich nenne das Beispiel den „Fischbrötchen-Fall“. Angenommen, ich wäre schwanger und ginge durch die Innenstadt einer deutschen Großstadt. Plötzlich befiele mich ein unkontrollierter (und also von einem Planwirtschaftler nicht vorherzusehender) Heißhunger auf ein Fischbrötchen. Nun habe ich zwei Möglichkeiten, mein konkretes Bedürfnis zu befriedigen. Der eine ist, daß ich in ein Fischgeschäft gehe, und mir (für 3 €) ein Fischbrötchen kaufe. Die andere Möglichkeit ist, daß ich mich spontan auf die Reise an die Küste begebe, mir einen Fischkutter kaufe, eine Mannschaft anheuere und in See steche, um (hoffentlich) einen schmackhaften Fisch zu fangen (und anschließend irgendwo ein Brötchen aufzutreiben). Es bedarf keiner Erläuterung, daß diese zweite Variante für mich persönlich weitaus „teurer“ ist, als der Erwerb eines Fischbrötchens im Fischgeschäft.
Umgekehrt aber verkauft der Fischhändler mir selbstverständlich ein Fischbrötchen nur deswegen für 3 €, weil er es selbst zu einem geringeren Preis (z. B. für 2 €) hergestellt hat. Würde er selbst es zu einem Preis von 4 € hergestellt haben und es mir anschließend für 3 € verkaufen, wäre er kein Händler, sondern dumm. Im Ergebnis also sind beide, der Händler und ich, nach Erfüllung eines Bedürfnisses „reicher“ als zu vor. Der Fischhändler besitzt einen Euro mehr und ich habe meinen Heißhunger gestillt.
Gestatten Sie mir, an dieser Stelle zugleich auch einen weiteren Mythos gegen die Weisheit des Vertrages zu widerlegen. Der lautet: Vertragspartner (namentlich Ärzte und Krankenhäuser) müßten eine Verantwortung dafür übernehmen, von welchem Dritten (einer Versicherung etc.) der eigene Patient seine kostenfreistellenden Versicherungsleistungen hinsichtlich der von mir erteilten Rechnung beziehen könnte. Ich hatte eingangs erklärt, daß Verträge stets Zweier-Beziehungen sind. Der Dritte und sein Verhalten ist nicht mein Problem, sondern die Aufgabe und die Herausforderung meines Vertragspartners (ebenso wie die Auswahl meiner Vertragspartner und deren ordnungsgemäßes Handeln nicht das Problem meines Vertragspartners ist, sondern wiederum meine Aufgabe).
Nehmen Sie an, Ihr Patient hätte – aus Gründen, die Sie nicht kennen und auch nicht kennen müssen – beschlossen, einen Krankenversicherungsvertrag bei einem Versicherer in Somalia, im Gazastreifen, in Neapel oder wo auch immer abzuschließen. In diesem Falle hätten Sie als Ärzte vor Beginn der Behandlung mit einiger Wahrscheinlichkeit hohe Bedenken, ob diese Versicherer auch tatsächlich willens und in der Lage wären, Ihrem Patienten die Kosten für die entstehende und entstandene Behandlung tatsächlich zu erstatten. Da aber nicht Sie diesen Versicherer ausgewählt haben, sondern Ihr Patient, fällt die Frage nach dessen anschließender Bezahlung überhaupt nicht in Ihren Verantwortungskreis. Die Verantwortungssphären eines Vertrages sind abgegrenzt, sie sind überschaubar und nur deswegen haben sie auch Menschenmaß.
Nach diesen juristischen und ökonomischen Vorüberlegungen kann es uns folglich nun nicht mehr erstaunen, daß der zivilrechtliche Vertrag in der gesamten Menschheitsgeschichte historisch ein Erfolgsmodell gewesen ist. Verträge gibt es – welcher Welttourist könnte es bestreiten – kulturübergreifend in allen Ländern dieser Welt. Verträgestehen tatsächlich an der Wiege einer jeden Zivilisation, weil sie erst Arbeitsteilung ermöglichen. Sie sind zivilisations- und kulturschaffend. Denn sie schaffen Frieden (auch über Staatsgrenzen hinaus), weil sie Vertrauen der Vertragsparteien zueinander erfordern und – im vertraglichen Vollzug – dieses Vertrauen immer weiter stärken. Nur und weil Sie mehrfach eine bestimmte Ware unter einer bestimmten Marke erworben haben, haben Sie (learning by doing) die Gewißheit gewonnen, in diesem Vertragspartner einen verläßlichen Mitspieler gefunden zu haben.
Vor diesem historischen Hintergrund kann es auch nicht verwundern, daß zivilrechtliche Verträge über die Jahrhunderte und Jahrtausende – namentlich auch in der von mir zu überblickenden mitteleuropäischen Geschichte – eine fein ausgefeilte Dogmatik entwickelt haben. Sie alle kennen die römisch-rechtlichen Elementarregeln: pacta sunt servanda, manus manus lavat, do ut des, quid pro quo etc.
Zuletzt schließlich schaffen zivilrechtliche Verträge Ausgleich zwischen den Vertragsparteien. Zwischen Leistung und Gegenleistung besteht ein (von den Vertragsparteien individuell und konkret nach ihren eigenen Bedürfnissen austariertes) Gleichgewicht. So werden Handel und Wandel möglich. Maßstäbe für Werte werden geschaffen.
Im Gefolge dieser juristischen, ökonomischen und historischen Überlegungen wird schließlich auch deutlich: Verträge ermöglichen die sachnahe Verbindung von Individuen zueinander. Diese Individuen lösen ihre jeweiligen Probleme örtlich-dezentral (also effektiv und fern einer jeden zentralen Planverwaltung). Der Vertragsvollzug geschieht transparent und überschaubar, er hat – wie ausgeführt – Menschenmaß. Was konkret von den Beteiligten in der jeweiligen Situation benötigt wird, wird von ihnen gesucht, beschafft und verschafft.
Insoweit sind Verträge im ureigensten Sinne des Wortes „sozial“, weil sie den Zusammenhalt zwischen Menschen schaffen, fördern und erhalten. Menschen werden – in einer neueren Terminologie – „vernetzt“.
Die gesamte Gedankenwelt dieses Vertrages in seiner Bedeutung für eine Gesamtgesellschaft (einzelne Atome formen sich zu Molekülen zusammen) wird mindestens derjenige verstehen, der schon einmal ein Modellboot gebastelt hat. Das Modellboot hält nur deswegen zusammen, weil Sie alle Einzelteile jeweils miteinander und an dem je benachbarten Teil verklebt haben. Das Alternativmodell einer zentralen Planwirtschaft wäre, daß Sie – als Ärzte – ein anderes Modellboot basteln. Dieses sähe wahrscheinlich in etwa so aus, daß Sie in die Mitte eine Puppe setzen müßten, die aussähe wie Ulla Schmidt. Diese Puppe müßte dann ein jedes Einzelteil des Schiffes vom Zentrum her festhalten, daß es nicht herabfalle. So ist zentrale Planwirtschaft.
Nach diesen breit geratenen Ausführungen zur zivilrechtlichen Dogmatik und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung kann ich mich zu meiner nächsten Frage sicher in Ihrem Kreise eher knapp halten. Wie nämlich stellt sich gegenüber alledem das Sozialgesetzbuch dar?
Das Fünfte Sozialgesetzbuch verbietet Ihnen den Abschluß zivilrechtlicher Verträge mit Ihren Patienten. Ausgenommen sind nur Randbereiche wie die der sogenannten „individuellen Gesundheitsleistungen“. Ein aus Rußland stammender Arzt schrieb mir neulich, die IGeL-Philosophien erinnerten ihn an das sowjetische Kolchose-Recht. Auch dort war den Bauern nur erlaubt, eine Fläche von 3% ihres Grundes privat zu bewirtschaften. Alles Übrige mußte vergesellschaftet werden.
Der Bezug zum Recht der Sowjetunion und zu deren Geschichte ist im übrigen auch hier wiederum (leider) nicht abwegig. Sie wissen, daß Sie als niedergelassene „Kassenärzte“ in heutiger Terminologie bezeichnet werden als sogenannte „Vertragsärzte“. Nach der eingangs dargestellten Dogmatik ist Ihnen aber spätestens jetzt deutlich bewußt, daß es sich hierbei nicht um einen wahren Rechtsbegriff handelt, sondern um einen Kampfbegriff der politischen Agitation. Denn Sie haben mit der Kassenärztlichen Vereinigung keinen Vertrag geschlossen. Vielmehr sind Sie durch Verwaltungsakt zur kassenärztlichen Versorgung zugelassen worden. Auch mit Ihren Patienten schließen Sie bekanntermaßen keine Verträge. Der Terminus des „Vertragsarztes“ entbehrt also jeder tatsächlichen Grundlage in dieser Welt.
Zurück aber zu unserem Sozialgesetzbuch müssen wir feststellen: Wer den Vertrag verbietet, muß all dessen (vorstehend beschriebenen) Funktionen ersetzen. Der Bedarf der Parteien, ihre Leistungsfähigkeit, die Kontrolle der Vollzüge, die Angemessenheit der Leistungen etc. pp., all dies muß kontrolliert werden. Nach dem Gesagten ist für Sie nun transparent, warum wir unter der Geltung des Sozialgesetzbuches in der Gesundheitsverwaltung einen Exzeß der Bürokratie nach dem anderen erleben. Übernormierung und Überverwaltung sind also kein Wunder, sondern nur folgerichtige, systematisch-zwingende Konsequenz der Beseitigung des Vertrages, einschließlich der – pardon! – schlicht aberwitzigen Tatsache, daß wir hier niemals den Preis am Anfang der Arbeit festlegen – mit allen bitteren Konsequenzen.
Neulich lernte ich einen Herrn kennen, der die Werke von Friedrich August von Hayek gelesen hat. Friedrich August von Hayek ist ein schlauer Mann. Ich kann Ihnen nur mit großer Deutlichkeit an Ihr Herz legen, sich mit Leben und Werk dieses Mannes vertraut zu machen. Die Lektüre von Hayek ist stets ebenso bildend und horizonterweiternd, wie beispielsweise die Lektüre von Karl R. Popper. An anderer Stelle wird hierüber vielleicht noch zu reden sein.
Dieser Mann also hatte Hayek gelesen und fragte mich: Warum macht „man“ es nicht einfach so, wie Hayek beschreibt? Mit anderen Worten: Warum findet unser historisch verirrtes Gesundheitssystem nicht wieder den Weg zurück zum guten alten Vertrag?
Das Problem hieran scheint mir zu sein: Politik mag Macht. Verträge aber entmachten Politiker. Denn wer Verträge schließen kann, der kann seine Probleme alleine lösen und braucht hierzu keine Planwirtschafter. Planwirtschaft umgekehrt jedoch schafft politische Machtpositionen. Für eine gewisse Politik ist dies bequem. Insbesondere erfolgt die Bezahlung aller planwirtschaftlich aktiven Politiker ohne konkrete Gegenleistungen seitens der Politiker an ihre Planunterworfenen.
Allerdings fällt auf, daß jene Politik genau diesen Zusammenhang in der Öffentlichkeit gerade nicht thematisiert. Statt dessen werden von ihr Mythengegen den Vertrag verbreitet, namentlich im Gesundheitswesen. Folglich gilt auch für meinen heutigen Zusammenhang, diese Mythen – wiederum einmal – in gebotener Kürze zu widerlegen:
Zunächst heißt es, Verträge seien „unsozial“, weil der, der kein Geld habe, sie nicht abschließen könne. Ich hoffe, in meinen bisherigen hiesigen Ausführungen dargelegt zu haben, daß es nichts „Sozialeres“ gibt, als Menschen, die miteinander Verträge schließen. Für die in Wahrheit wenigen Fälle, in denen einzelne Menschen Leistungen in Anspruch nehmen müssen, die sie nicht bezahlen können, gibt es – wiederum in guter alter mitteleuropäischer Tradition – außerrechtliche Funktionsmechanismen zur Kompensation. Diese lauten auf Barmherzigkeit, Mitleid, Nächstenliebe und schlicht Menschlichkeit. Und ihr zivilrechtlicher Ausdruck ist – wie bereits angedeutet – nichts Anderes als ein Schenkungsvertrag.
Häufig gehört ist weiter das Argument, namentlich Gesundheit sei – so wörtlich – „keine Ware wie jede andere“. Mit diesem – bei Planwirtschaftlern äußerst beliebten – Argument werden auch andere Phänomene unserer Welt gegen den Vertrag ins Feld geführt. Arbeit heißt es, sei keine Ware wie jede andere, Wasser ebenfalls nicht. Auch Luft sei keine Ware und eine Wohnung ebenfalls nicht. Ich kann nur jedem empfehlen, der sich plötzlich in einer solchen Diskussion wiederfindet, die Gegenfrage zu stellen, was sich der so argumentierende Planwirtschaftler seinerseits denn überhaupt unter einer „Ware“ vorstellt. Möglicherweise hält er für eine „Ware“ den Joghurt im Geschäft. Dann aber lade ich jeden Planwirtschaftler ein, mit mir in einen Supermarkt zu gehen, um festzustellen, daß dieser Joghurt 150-fach in allen Farben und Formen im Regel steht.
Ein weiterer Mythos gegen den Vertrag ist, Verträge erschüfen „kalte Ellenbogen“. Auch dies ist natürlich falsch. Verträge verbinden Menschen miteinander, Menschen reichen einander die Hand, nicht den Ellenbogen. Alle Erfahrung lehrt: Wer miteinander Verträge schließt, der tötet nicht. Demgegenüber haben behördliche Bewilligungsbescheide viel eher Ellenbogen und kalte Dimensionen.
Besonders beliebt im Gesundheitswesen ist die Behauptung, zwischen Arzt und Patient bestünde die sogenannte „Informations-Asymmetrie“. Ärzte seien ihren Patienten an Wissen so weit überlegen, daß der Patient dem Arzt schutzlos ausgeliefert wäre. Um diese Informations-Asymmetrie auszugleichen, müsse dem Patienten eine sozialversicherungsrechtliche Bürokratie beigesellt werden, die diesen Wissensvorsprung des Arztes kompensiere.
Daß auch diese Vorstellung neben der Sache liegt, bedarf in Ihrem Kreise jedenfalls keiner weiteren Erörterung. Über die Informations-Asymmetrien zwischen einem Zwangsversicherten und einer Gesundheitsbürokratie muß ich mich hier nicht verbreiten. Im übrigen ist jedem, der so argumentiert, zu entgegen: Ich persönlich fühle mich im informations-asymmetrischen Nachteil gegenüber jedem Kfz-Mechaniker, gegenüber jedem Elektriker, gegenüber jedem Malermeister, gegenüber jedem Fernsehtechniker und gegenüber jedem Buchdrucker. Warum habe ich hier keine Gesundheitsbürokratie an meiner Seite? Weil es eine Herausforderung an meine menschliche Kompetenz ist, nicht an die bürokratischen Fähigkeiten Fremder.
Zuletzt schließlich heißt es, Verträge „brauchten Regeln“, am besten Kontrahierungszwänge, Inhaltsverbote, Inhaltgebote, Mindestlöhne etc. pp. Auch dem ist entgegenzusetzen: Verträge werden von den Vertragsschließenden gemacht. Niemand selbst, als die an dem Vertrag Beteiligten wissen, was sie brauchen und benötigen. Aufgabe eines Staates ist es, lediglich einen Rahmen zu setzen. Dieser lautet: Es herrscht Vertragsfreiheit! Die Einhaltung der vertraglichen Verpflichtungen wird staatlich überwacht. Eigentum wird geschützt. Wer es verletzt, wird bestraft. Nicht mehr und nicht weniger. Den Rest können die Menschen selbst.
Wird das System also wieder zu dieser guten, natürlichen Ordnung des Vertrages und zu einem solchen menschlichen Miteinander in der Gesellschaft zurückfinden? Wie bauen Sie als Ärzte ein Rettungsboot auf Ihrer KV-Titanic?
Das Bild der Titanic ist bekanntlich häufig strapaziert. Gleichwohl trifft es auch den Fall des deutschen Gesundheitswesens im Kern. Ebenso, wie seinerzeit bei der Titanic, leben Menschen in der Hybris, ein unsinkbares, hochmodernes Werk geschaffen zu haben, das so groß ist, daß es überhaupt nicht untergehen kann. Doch diese Titanic wird ebenso untergehen, wie alle anderen größenwahnsinnigen Megaprojekte, die der menschliche Geist sich im Laufe seiner Geschichte stets scheiternd erdachte.
Auch Sie als Ärzte können zu den Verträgen zurückfinden. Sie müssen nur Verträge schließen! Zu konzedieren ist Ihnen allerdings, daß Sie zunächst gewisse Voraussetzungen erfüllen müssen, um wieder auf dem Boden des deutschen geltenden Gesetzes zu handeln, wenn Sie derartige Verträge schließen. Der Gesetzgeber heute hat normative Mauern um sie errichtet. Und diese gilt es einzureißen. Die massenweise solidarische Rückgabe von Zulassungen erscheint mir als die derzeit einzig gangbare und denkbare Variante, dies zu erreichen. Hierbei müssen Sie als Ärzte der divide-et-impera-Politik entgegentreten. Lassen Sie sich als Ärzte nicht enzymatisch in ihre Kleistgruppen spalten. Nur Einigkeit macht stark. Man darf sich nicht alles vom Plan gefallen lassen. Wenn Sie vertraglich (!) solidarisch sind gegen schlechte Gesetze, dann können Sie auch die gesetzlichen Horrorszenarien vermeiden, mit denen man versucht, Sie wirtschaftlich zu vernichten.
Wenn Sie Verträge schließen, dann muß dies nicht „unsozial“ sein. Ihren Patienten können Sie ohne weiteres Zahlungsfristen setzen. Während dieser Zahlungsfristen wird Ihr Patient in der Lage sein, den benötigten Rechnungsbetrag bei seinem Versicherer zu erlangen. Wenn Sie Sorge haben, daß Ihr Patient den Betrag von seinem Versicherer vereinnahmt und ihn (statt an Sie weiterzuleiten) für eine Urlaubsreise nutzt, dann gibt es auch hier vertraglich Hilfe: Ohne weiteres möglich ist, daß Sie mit Ihrem Patienten eine Zahlungsanweisung vereinbaren. Auf dieser Basis ist es dann seinem Versicherer nur möglich, mit befreiender Wirkung unmittelbar an Sie die Versicherungsleistung zu erbringen. Zivilrechtler wissen: Es gibt praktisch kein Problem unter Menschen, das sich nicht zivilrechtlich lösen ließe.
Wenn Sie einen „armen“ Patienten behandeln, dann steht Ihnen offen, aus Gründen der Barmherzigkeit auf Ihr Honorar zu verzichten. Sollten Sie der Auffassung sein, einen „reichen“ Patienten vor sich zu haben, dann steht Ihnen (jenseits blanker Notfälle) auch offen, das zu tun, was jeder Anwalt jeden Tag überall tut: Sie verlangen Vorkasse!
Gestatten Sie mir, Folgendes zum Abschlußzu bemerken:
Verträge zwischen Ärzten und Patienten sind möglich. Da, wo sie nur die zweitbeste Lösung sein mögen, sind sie immer noch besser, als der unpersönliche Plan des Staates. Wer den Himmel auf Erden mit planwirtschaftlichen Mitteln herbeiführen wollte, hat – wie Karl Popper ausgeführt hat – verläßlich noch immer die Hölle auf Erden geschaffen. Das deutsche Gesundheitswesen steht heute an diesem Scheideweg.
Nur eine schlanke, dezentrale Verwaltung ist effizient und effektiv. Ineffiziente Schiffe gehen unter. Dies gilt sowohl für die Titanic, als auch für die deutschen Krankenkassen und die Kassenärztlichen Vereinigungen.
In einem vertraglich organisierten Gemeinwesen mag ein einzelner scheitern. Die verbleibenden, vielen starken Schultern der anderen werden ihn in Solidarität und Barmherzigkeit wieder dahin bringen, einen neuen Anlauf zu wagen. In Planwirtschaften gibt es dagegen keine individuelle Insolvenz, sondern nur die Gesamtinsolvenz aller. Wenn aber alle verarmt sind, kann niemand dem anderen mehr helfen. Ein barmherziger Samariter, der selbst am Wegesrand sitzt, kann gegen niemanden mehr solidarisch sein.
Wehren Sie sich also gegen die Versuche, Ihre ärztlichen Interessen aufspalten zu lassen. Holen Sie aber auch die heutigen Insider des Systems im vertraglichen Konsens ab. Sie müssen Menschen gewinnen, um anschließend mit Menschen gemeinsam ein neues, gutes System zu errichten. Wenn Sie den Verteidigern des überholten, noch geltenden, alten Systems Ängste machen, werden Sie diese nicht für Ihre Ziele gewinnen. Machen Sie diesen Menschen keine Angst, aber haben auch Sie selber keine Furcht. Sie befinden sich nach aller historischen Erfahrung schlicht auf einem richtigen Weg. Bleiben Sie also beharrlich in Ihrem Protest. Verzagen gilt nicht.
Nehmen Sie Ihre ethische Verantwortung wahr. Sie sind – ebenso wie ich – nicht nur Absolventen einer bestimmten Fakultät, sondern generell als Akademiker gefordert, der Gesellschaft eine innere Haltung zu zeigen. Ohne Selbstachtung werden Sie zu einem toten Rädchen inmitten eines destruktiven Gesamtorganismus, der unausweichlich dem Tode geweiht ist.
Derzeit reicht Ihre Zeit noch aus. Noch können Sie Rettungsboote in ausreichender Zahl bauen. Holen Sie sich aus dem Schiffsrumpf der Titanic das, was Sie für den Rettungsbootbau brauchen. Wie wir alle aus dem Kino wissen, finden sich im Schiffsrumpf die interessantesten Gegenstände. Vergeuden Sie Ihre Zeit nicht und bauen Sie Rettungsboote. Denken Sie an den „kleinen Prinzen“: Wir wußten, daß in der Wüste keine Brunnen sind. Dennoch gingen wir los. Und ganz zum Schluß werden Sie sehen:
Es sind Ihre Hände. Es ist Ihre Arbeit. Es ist Ihr Beruf. Es ist Ihr Land. Es ist Ihr Leben. Lassen Sie sich all das nicht länger von anderen abnehmen!