Rettungsbootbau auf der KV-Titanic

Vortrag zur ärztlichen Direktabrechnung auf dem „Ärztetag der Basis“ Freie Ärzteschaft e.V. IHK
Köln, 4. November 2006

von Carlos A. Gebauer

Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren,

ich danke für die freundliche Einladung, heute bei der Freien Ärzteschaft auf Ihrem „Ärztetag der Basis“ sprechen zu dürfen. Entgegen der gelegentlichen Annahme in Ihren Internet-Foren tue ich dies allerdings nicht ganz selbstlos, sondern durchaus in der Hoffnung, nötigenfalls aus Ihrem Kreis fachgerecht reanimiert zu werden, wenn unser Gesundheitssystem mich – erwartungsgemäß – im Stich lassen wird.

Das mir vorgegebene Thema für meine heutigen Ausführungen lautet zwar „Direktabrechnungen“. Ich gestatte mir jedoch, ohne mich in Ihre internen Debatten über den Begriff an sich einmischen zu wollen, die juristische Bezeichnung des Themas zu wählen und also über „Verträge zwischen Ärzten und Patienten“ zu sprechen.

Im Kern nämlich geht es darum, zu ermitteln, welche Bedeutung ein Vertrag im allgemeinen und insbesondere für Ärzte (und Krankenhäuser) hat – bzw. haben kann – und wie es darzustellen sein kann, diesen (im Interesse der Allgemeinheit anstrebenswerten) Zustand herbeizuführen.

Wie ich zeigen möchte, kann nämlich nur (und ausschließlich) der Vertrag ärztliche Selbständigkeit erhalten (bzw. wieder herbeiführen), eine effiziente Versorgung der Patienten mit Gesundheitsdienstleistungen ermöglichen und einen respektvollen Umgang zwischen Arzt und Patient (ohne staatliche Kontrollen und Persönlichkeitsverletzungen, namentlich ohne elektronische Gesundheitskarte etc.) garantieren. Zugleich möchte ich Ihnen die Gewißheit verschaffen, daß Sie mit der Forderung nach dem Recht, mit Ihren Patienten zivilrechtliche Verträge abzuschließen, nichts Skandalöses oder Radikales oder Unsoziales fordern, sondern schlicht und einfach die Rückkehr zu einem natürlichen, menschlichen und ideologiefreien Miteinander zwischen Ärzten und Patienten.

Ich will im nun Folgenden zunächst beschreiben, was eigentlich ein „Vertrag“ ist. Sodann werde ich kurz skizzieren, warum unser deutsches Sozialgesetzbuch etwas so ganz Anderes ist, als ein Vertrag. Anschließend werde ich fragen, warum „man“ nicht wieder von den Abwegen des Sozialgesetzbuches zurückfindet zu den jahrtausende-alten Traditionen des vertraglichen Miteinanders von und zwischen Menschen. Zuletzt werde ich mich dann die Frage befassen, welchen Ausweg wir aus dem Sozialgesetzbuch zurück zu einer menschlichen Gesellschaft finden können; die Frage hier ist folglich die der Überschrift: Wie bauen wir ein Rettungsboot auf der KV-Titanic?

Was also ist eigentlich ein „Vertrag“? Juristisch gesprochen bedeutet ein Vertrag in der kleinstmöglichen Variante, daß zwei Menschen einander ihre jeweiligen Willenserklärungenübermitteln. Beide Parteien haben zunächst die Vorstellung, durch Kooperation mit dem Anderen eine Veränderung in der Welt herbeiführen zu können. Hierüber entwickeln sie zunächst ihre eigenen und dann gemeinschaftliche Vorstellungen.

In der Rechtsvorstellung deutscher Juristen kommt es sodann – durch Abschluß und Vollzug eines Vertrages – dogmatisch zu gleich drei Vereinbarungen. Die erste Vereinbarung bildet das sogenannte „Verpflichtungsgeschäft“.

Jenseits der klassischen juristischen Terminologie läßt sich – für jedermann am besten verständlich – definieren: Beide Parteien vereinbaren einen bestimmten „Soll-Zustand“. Sie erklären sich, wie sie die Welt heute gemeinschaftlich vorfinden und in welchen (anderen) Zustand sie ihn gemeinschaftlich versetzen wollen.

Dies klingt abstrakt, ist im Grunde aber ganz simpel. Wenn Sie in eine Bäckerei gehen und mit der Verkäuferin hinter dem Tresen über einen Brötchenkauf sprechen, dann passiert nichts Anderes, als das, was ich soeben beschrieben habe. Sie vereinbaren mit der Bäckersfrau, daß der jetzige Zustand (Sie sind im Besitze einer Münze und die Bäckerin im Besitze eines Brötchens) durch einen neuen Soll-Zustand ersetzt werden soll. Dieser lautet: Die Münze wird anschließend der Bäckersfrau gehören und das Brötchen Ihnen. In Erfüllung dieses wechselseitigen Verpflichtungsgeschäftes (so soll es sein!) schließen Sie sodann mit der Bäckerin zwei weitere, sogenannte Verfügungsgeschäfte. Sie verfügen über Ihr Geld und werden sich mit der Bäckerin einig, daß Ihre Münze nun der Bäckerin gehört. Anschließend werden Sie sich mit der Bäckerin noch einig, daß das Brötchen jetzt nicht mehr der Bäckerin, sondern Ihnen gehört. Glücklich tragen Sie das Brötchen aus dem Geschäft.

In der europäischen Rechtstradition kommt ein Vertrag stets nur dann wirksam zustande, wenn sich die (mindestens) zwei Parteien eines Vertrages über die wesentlichen Vertragsbestandteile, die sogenannten essentialia negotii, geeinigt haben. Wesentliche Vertragsbestandteile in diesem Sinne sind zum einen eine Verständigung über die an dem Vertrag beteiligten Personen und zum anderen (scharf umrissen und klar definiert) der Inhalt der Leistung sowie der Inhalt der Gegenleistung. Verpassen beide Vertragsparteien, sich über einen dieser wesentlichen Vertragsbestandteilen zu einigen, ist nach juristischer Vorstellung ein Vertrag nicht wirksam abgeschlossen.

Ich bitte um Verständnis, Sie hier zunächst mit dieser etwas langatmigen juristischen Erklärung zu belästigen. Die Darstellung dessen erscheint mir jedoch unabdingbar, um alles Weitere hieraus für unseren heutigen Zweck zu entwickeln. Denn Sie sehen – nicht zuletzt am konkreten Beispiel des Brötchenkaufes –, daß die von beiden Vertragsparteien eingegangenen Verpflichtungen in einem Wechselseitigkeitsverhältnis zueinander stehen. Dies nennen wir Juristen das „Synallagma“. Auch hierbei handelt es sich nicht um eine dogmatische, überflüssige Versponnenheit, sondern schlicht um eine über Jahrhunderte und Jahrtausende gewachsene Weisheit. Wenn nämlich beide vereinbarten Verpflichtungen in diesem Synallagma zu einander und miteinander stehen, dann folgt hieraus zugleich eine Kontrollierbarkeit und Steuerbarkeit des Vertragesvollzuges. Die Bäckersfrau merkt also: Wenn sie kein Geld erhält, gibt sie das Brötchen nicht heraus. Umgekehrt merken Sie, wenn Sie statt des Brötchens ein gesundheitsabträgliches Puddingteilchen über die Theke gereicht erhalten, daß Sie (mangels Vertragserfüllung durch die Gegenseite) keinen Anlaß haben, auch Ihre Verpflichtung zur Übereignung der Münze (des Kaufpreises) zu erfüllen.

Schließlich – um nun den Ausflug in die juristische Dogmatik zu beenden – ersehen Sie aus dem gewählten Beispiel auch: Sie haben gemeinsam mit der Bäckersfrau die Verantwortlichkeitssphären für die beiderseitigen Vertragserfüllungshandlungen festgelegt. Stets und immer waren Sie beim Eingehen des Vertrages, bei seiner Erfüllung, bei der Kontrolle seiner Erfüllung und bei der Steuerung seiner einzelnen Abläufe nur zu zweit. Niemand hat Ihnen hereingeredet. Erst recht: Keine Behörde.

Jenseits dieser nun juristischen Betrachtungen drängen sich dem nüchternen Betrachter bei dem Gesagten zugleich auch elementare ökonomische Erkenntnisse auf. Bedarf und Fähigkeiten der Beteiligten werden jeweils konkret-individuell abgeschätzt. Die Bäckersfrau weiß, welche Brötchen sie verkaufen kann, welche Qualität diese haben und wie viele sie hiervon an diesem Tage zur Verfügung hat. Sie umgekehrt als der Käufer des Brötchens wissen, ob Sie an diesem Tage Geld bei sich führen, das Sie zu diesem Zweck auszugeben geneigt sind. Da niemand sonst Ihnen in diesen Ablauf hineinredet, hat dieser gesamte Vertrag Menschenmaß. Denn Sie können mit Ihren eigenen Augen und Ohren und mit Ihrem eigenen Tastsinn erkennen, ob das, was in der Welt geschieht, mit Ihrem Willen übereinstimmt. Nur der, der selbst weiß, was er braucht und wozu er im Stande ist, kann einen anschließend auch durch ihn selbst erfüllbaren Vertrag abschließen.

Wesentlich ist weiter: Der Preis beim Abschluß eines Vertrages (wir erinnern uns: Er gehört zu den essentialia negotii) wird zu Beginn (!) des Vertragsvollzuges vereinbart. Das Verpflichtungsgeschäft geht den Verfügungsgeschäften zeitlich voran. Auch das ist weise. Denn es minimiert den Streit der Parteien darüber, welches wohl der angemessene Preis (als Gegenleistung für die bereits erhaltene Leistung) ist. Immer dann nämlich, wenn Vertragsparteien sich nicht über den Preis einigen, die Ware jedoch bereits den Besitzer gewechselt hat, kommt es gerne zu Streit. Beispiele hierzu dürften sich an dieser Stelle erübrigen.

Desweiteren liegt es im freien Belieben der Beteiligten, ob sie einen Vertrag überhaupt abschließen (Juristen nennen dies die Abschlußfreiheit) und welchen Inhalt sie ihrem Vertrag geben (wir nennen dies die Gestaltungsfreiheit). Auch das ist weise, denn nur die Vertragsbeteiligten selbst wissen am besten (wer sonst?), wie die vertraglich zu bewältigende Situation am besten zu beschreiben ist.

Mit alledem wird der Ressourcen-Einsatz der Vertragsbeteiligten optimiert, es kommt zu wenig Reibungsverlusten, weil niemand anderer als die Beteiligten ihren möglichen Einsatz und ihre Gewinn-Chancen aus dem Vertrag am besten selbst abschätzen können. Beide Partner haben stets die Freiheit, ihr Verhalten an neue Situationen anzupassen. Das verunmöglicht Über-, Unter- oder Fehlversorgungen, wie sie allen Planwirtschaftern wesenseigen sind.

Im Ergebnis gewinnen an einem (gesunden) Vertrag stets und immer beide Parteien (!!). Anders gewendet: Die 99,99% aller Verträge auf dieser Welt kommen nicht betrügerisch zustande und bereichern durch ihren Vollzug beide Vertragsparteien.

Es gehört zu den klassischen Angriffen der Freunde unserer Planwirtschaft, dem zivilrechtlichen Vertrag diese Dimension abzusprechen oder sie in Abrede zu stellen. Das ist schlicht falsch. Durch einen Vertrag gewinnen immer beide Parteien. Sie sind nach Durchführung des Vertrages beide „reicher“, als sie es zuvor waren. Wäre das nicht so, würde schließlich niemand einen Vertrag schließen! Anders gesagt: Wer würde sich vertraglich verpflichten, anschließend ärmer zu sein, als vorher? Richtig: Nur der, der – aus Nächstenliebe – schenken möchte! Dazu komme ich später nochmals.

Auch diese (zunächst nur abstrakt erscheinende) Erkenntnis läßt sich leicht an einem Beispiel erklären: Ich nenne das Beispiel den „Fischbrötchen-Fall“. Angenommen, ich wäre schwanger und ginge durch die Innenstadt einer deutschen Großstadt. Plötzlich befiele mich ein unkontrollierter (und also von einem Planwirtschaftler nicht vorherzusehender) Heißhunger auf ein Fischbrötchen. Nun habe ich zwei Möglichkeiten, mein konkretes Bedürfnis zu befriedigen. Der eine ist, daß ich in ein Fischgeschäft gehe, und mir (für 3 €) ein Fischbrötchen kaufe. Die andere Möglichkeit ist, daß ich mich spontan auf die Reise an die Küste begebe, mir einen Fischkutter kaufe, eine Mannschaft anheuere und in See steche, um (hoffentlich) einen schmackhaften Fisch zu fangen (und anschließend irgendwo ein Brötchen aufzutreiben). Es bedarf keiner Erläuterung, daß diese zweite Variante für mich persönlich weitaus „teurer“ ist, als der Erwerb eines Fischbrötchens im Fischgeschäft.

Umgekehrt aber verkauft der Fischhändler mir selbstverständlich ein Fischbrötchen nur deswegen für 3 €, weil er es selbst zu einem geringeren Preis (z. B. für 2 €) hergestellt hat. Würde er selbst es zu einem Preis von 4 € hergestellt haben und es mir anschließend für 3 € verkaufen, wäre er kein Händler, sondern dumm. Im Ergebnis also sind beide, der Händler und ich, nach Erfüllung eines Bedürfnisses „reicher“ als zu vor. Der Fischhändler besitzt einen Euro mehr und ich habe meinen Heißhunger gestillt.

Gestatten Sie mir, an dieser Stelle zugleich auch einen weiteren Mythos gegen die Weisheit des Vertrages zu widerlegen. Der lautet: Vertragspartner (namentlich Ärzte und Krankenhäuser) müßten eine Verantwortung dafür übernehmen, von welchem Dritten (einer Versicherung etc.) der eigene Patient seine kostenfreistellenden Versicherungsleistungen hinsichtlich der von mir erteilten Rechnung beziehen könnte. Ich hatte eingangs erklärt, daß Verträge stets Zweier-Beziehungen sind. Der Dritte und sein Verhalten ist nicht mein Problem, sondern die Aufgabe und die Herausforderung meines Vertragspartners (ebenso wie die Auswahl meiner Vertragspartner und deren ordnungsgemäßes Handeln nicht das Problem meines Vertragspartners ist, sondern wiederum meine Aufgabe).

Nehmen Sie an, Ihr Patient hätte – aus Gründen, die Sie nicht kennen und auch nicht kennen müssen – beschlossen, einen Krankenversicherungsvertrag bei einem Versicherer in Somalia, im Gazastreifen, in Neapel oder wo auch immer abzuschließen. In diesem Falle hätten Sie als Ärzte vor Beginn der Behandlung mit einiger Wahrscheinlichkeit hohe Bedenken, ob diese Versicherer auch tatsächlich willens und in der Lage wären, Ihrem Patienten die Kosten für die entstehende und entstandene Behandlung tatsächlich zu erstatten. Da aber nicht Sie diesen Versicherer ausgewählt haben, sondern Ihr Patient, fällt die Frage nach dessen anschließender Bezahlung überhaupt nicht in Ihren Verantwortungskreis. Die Verantwortungssphären eines Vertrages sind abgegrenzt, sie sind überschaubar und nur deswegen haben sie auch Menschenmaß.

Nach diesen juristischen und ökonomischen Vorüberlegungen kann es uns folglich nun nicht mehr erstaunen, daß der zivilrechtliche Vertrag in der gesamten Menschheitsgeschichte historisch ein Erfolgsmodell gewesen ist. Verträge gibt es – welcher Welttourist könnte es bestreiten – kulturübergreifend in allen Ländern dieser Welt. Verträgestehen tatsächlich an der Wiege einer jeden Zivilisation, weil sie erst Arbeitsteilung ermöglichen. Sie sind zivilisations- und kulturschaffend. Denn sie schaffen Frieden (auch über Staatsgrenzen hinaus), weil sie Vertrauen der Vertragsparteien zueinander erfordern und – im vertraglichen Vollzug – dieses Vertrauen immer weiter stärken. Nur und weil Sie mehrfach eine bestimmte Ware unter einer bestimmten Marke erworben haben, haben Sie (learning by doing) die Gewißheit gewonnen, in diesem Vertragspartner einen verläßlichen Mitspieler gefunden zu haben.

Vor diesem historischen Hintergrund kann es auch nicht verwundern, daß zivilrechtliche Verträge über die Jahrhunderte und Jahrtausende – namentlich auch in der von mir zu überblickenden mitteleuropäischen Geschichte – eine fein ausgefeilte Dogmatik entwickelt haben. Sie alle kennen die römisch-rechtlichen Elementarregeln: pacta sunt servanda, manus manus lavat, do ut des, quid pro quo etc.

Zuletzt schließlich schaffen zivilrechtliche Verträge Ausgleich zwischen den Vertragsparteien. Zwischen Leistung und Gegenleistung besteht ein (von den Vertragsparteien individuell und konkret nach ihren eigenen Bedürfnissen austariertes) Gleichgewicht. So werden Handel und Wandel möglich. Maßstäbe für Werte werden geschaffen.

Im Gefolge dieser juristischen, ökonomischen und historischen Überlegungen wird schließlich auch deutlich: Verträge ermöglichen die sachnahe Verbindung von Individuen zueinander. Diese Individuen lösen ihre jeweiligen Probleme örtlich-dezentral (also effektiv und fern einer jeden zentralen Planverwaltung). Der Vertragsvollzug geschieht transparent und überschaubar, er hat – wie ausgeführt – Menschenmaß. Was konkret von den Beteiligten in der jeweiligen Situation benötigt wird, wird von ihnen gesucht, beschafft und verschafft.

Insoweit sind Verträge im ureigensten Sinne des Wortes „sozial“, weil sie den Zusammenhalt zwischen Menschen schaffen, fördern und erhalten. Menschen werden – in einer neueren Terminologie – „vernetzt“.

Die gesamte Gedankenwelt dieses Vertrages in seiner Bedeutung für eine Gesamtgesellschaft (einzelne Atome formen sich zu Molekülen zusammen) wird mindestens derjenige verstehen, der schon einmal ein Modellboot gebastelt hat. Das Modellboot hält nur deswegen zusammen, weil Sie alle Einzelteile jeweils miteinander und an dem je benachbarten Teil verklebt haben. Das Alternativmodell einer zentralen Planwirtschaft wäre, daß Sie – als Ärzte – ein anderes Modellboot basteln. Dieses sähe wahrscheinlich in etwa so aus, daß Sie in die Mitte eine Puppe setzen müßten, die aussähe wie Ulla Schmidt. Diese Puppe müßte dann ein jedes Einzelteil des Schiffes vom Zentrum her festhalten, daß es nicht herabfalle. So ist zentrale Planwirtschaft.

Nach diesen breit geratenen Ausführungen zur zivilrechtlichen Dogmatik und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung kann ich mich zu meiner nächsten Frage sicher in Ihrem Kreise eher knapp halten. Wie nämlich stellt sich gegenüber alledem das Sozialgesetzbuch dar?

Das Fünfte Sozialgesetzbuch verbietet Ihnen den Abschluß zivilrechtlicher Verträge mit Ihren Patienten. Ausgenommen sind nur Randbereiche wie die der sogenannten „individuellen Gesundheitsleistungen“. Ein aus Rußland stammender Arzt schrieb mir neulich, die IGeL-Philosophien erinnerten ihn an das sowjetische Kolchose-Recht. Auch dort war den Bauern nur erlaubt, eine Fläche von 3% ihres Grundes privat zu bewirtschaften. Alles Übrige mußte vergesellschaftet werden.

Der Bezug zum Recht der Sowjetunion und zu deren Geschichte ist im übrigen auch hier wiederum (leider) nicht abwegig. Sie wissen, daß Sie als niedergelassene „Kassenärzte“ in heutiger Terminologie bezeichnet werden als sogenannte „Vertragsärzte“. Nach der eingangs dargestellten Dogmatik ist Ihnen aber spätestens jetzt deutlich bewußt, daß es sich hierbei nicht um einen wahren Rechtsbegriff handelt, sondern um einen Kampfbegriff der politischen Agitation. Denn Sie haben mit der Kassenärztlichen Vereinigung keinen Vertrag geschlossen. Vielmehr sind Sie durch Verwaltungsakt zur kassenärztlichen Versorgung zugelassen worden. Auch mit Ihren Patienten schließen Sie bekanntermaßen keine Verträge. Der Terminus des „Vertragsarztes“ entbehrt also jeder tatsächlichen Grundlage in dieser Welt.

Zurück aber zu unserem Sozialgesetzbuch müssen wir feststellen: Wer den Vertrag verbietet, muß all dessen (vorstehend beschriebenen) Funktionen ersetzen. Der Bedarf der Parteien, ihre Leistungsfähigkeit, die Kontrolle der Vollzüge, die Angemessenheit der Leistungen etc. pp., all dies muß kontrolliert werden. Nach dem Gesagten ist für Sie nun transparent, warum wir unter der Geltung des Sozialgesetzbuches in der Gesundheitsverwaltung einen Exzeß der Bürokratie nach dem anderen erleben. Übernormierung und Überverwaltung sind also kein Wunder, sondern nur folgerichtige, systematisch-zwingende Konsequenz der Beseitigung des Vertrages, einschließlich der – pardon! – schlicht aberwitzigen Tatsache, daß wir hier niemals den Preis am Anfang der Arbeit festlegen – mit allen bitteren Konsequenzen.

Neulich lernte ich einen Herrn kennen, der die Werke von Friedrich August von Hayek gelesen hat. Friedrich August von Hayek ist ein schlauer Mann. Ich kann Ihnen nur mit großer Deutlichkeit an Ihr Herz legen, sich mit Leben und Werk dieses Mannes vertraut zu machen. Die Lektüre von Hayek ist stets ebenso bildend und horizonterweiternd, wie beispielsweise die Lektüre von Karl R. Popper. An anderer Stelle wird hierüber vielleicht noch zu reden sein.

Dieser Mann also hatte Hayek gelesen und fragte mich: Warum macht „man“ es nicht einfach so, wie Hayek beschreibt? Mit anderen Worten: Warum findet unser historisch verirrtes Gesundheitssystem nicht wieder den Weg zurück zum guten alten Vertrag?

Das Problem hieran scheint mir zu sein: Politik mag Macht. Verträge aber entmachten Politiker. Denn wer Verträge schließen kann, der kann seine Probleme alleine lösen und braucht hierzu keine Planwirtschafter. Planwirtschaft umgekehrt jedoch schafft politische Machtpositionen. Für eine gewisse Politik ist dies bequem. Insbesondere erfolgt die Bezahlung aller planwirtschaftlich aktiven Politiker ohne konkrete Gegenleistungen seitens der Politiker an ihre Planunterworfenen.

Allerdings fällt auf, daß jene Politik genau diesen Zusammenhang in der Öffentlichkeit gerade nicht thematisiert. Statt dessen werden von ihr Mythengegen den Vertrag verbreitet, namentlich im Gesundheitswesen. Folglich gilt auch für meinen heutigen Zusammenhang, diese Mythen – wiederum einmal – in gebotener Kürze zu widerlegen:

Zunächst heißt es, Verträge seien „unsozial“, weil der, der kein Geld habe, sie nicht abschließen könne. Ich hoffe, in meinen bisherigen hiesigen Ausführungen dargelegt zu haben, daß es nichts „Sozialeres“ gibt, als Menschen, die miteinander Verträge schließen. Für die in Wahrheit wenigen Fälle, in denen einzelne Menschen Leistungen in Anspruch nehmen müssen, die sie nicht bezahlen können, gibt es – wiederum in guter alter mitteleuropäischer Tradition – außerrechtliche Funktionsmechanismen zur Kompensation. Diese lauten auf Barmherzigkeit, Mitleid, Nächstenliebe und schlicht Menschlichkeit. Und ihr zivilrechtlicher Ausdruck ist – wie bereits angedeutet – nichts Anderes als ein Schenkungsvertrag.

Häufig gehört ist weiter das Argument, namentlich Gesundheit sei – so wörtlich – „keine Ware wie jede andere“. Mit diesem – bei Planwirtschaftlern äußerst beliebten – Argument werden auch andere Phänomene unserer Welt gegen den Vertrag ins Feld geführt. Arbeit heißt es, sei keine Ware wie jede andere, Wasser ebenfalls nicht. Auch Luft sei keine Ware und eine Wohnung ebenfalls nicht. Ich kann nur jedem empfehlen, der sich plötzlich in einer solchen Diskussion wiederfindet, die Gegenfrage zu stellen, was sich der so argumentierende Planwirtschaftler seinerseits denn überhaupt unter einer „Ware“ vorstellt. Möglicherweise hält er für eine „Ware“ den Joghurt im Geschäft. Dann aber lade ich jeden Planwirtschaftler ein, mit mir in einen Supermarkt zu gehen, um festzustellen, daß dieser Joghurt 150-fach in allen Farben und Formen im Regel steht.

Ein weiterer Mythos gegen den Vertrag ist, Verträge erschüfen „kalte Ellenbogen“. Auch dies ist natürlich falsch. Verträge verbinden Menschen miteinander, Menschen reichen einander die Hand, nicht den Ellenbogen. Alle Erfahrung lehrt: Wer miteinander Verträge schließt, der tötet nicht. Demgegenüber haben behördliche Bewilligungsbescheide viel eher Ellenbogen und kalte Dimensionen.

Besonders beliebt im Gesundheitswesen ist die Behauptung, zwischen Arzt und Patient bestünde die sogenannte „Informations-Asymmetrie“. Ärzte seien ihren Patienten an Wissen so weit überlegen, daß der Patient dem Arzt schutzlos ausgeliefert wäre. Um diese Informations-Asymmetrie auszugleichen, müsse dem Patienten eine sozialversicherungsrechtliche Bürokratie beigesellt werden, die diesen Wissensvorsprung des Arztes kompensiere.

Daß auch diese Vorstellung neben der Sache liegt, bedarf in Ihrem Kreise jedenfalls keiner weiteren Erörterung. Über die Informations-Asymmetrien zwischen einem Zwangsversicherten und einer Gesundheitsbürokratie muß ich mich hier nicht verbreiten. Im übrigen ist jedem, der so argumentiert, zu entgegen: Ich persönlich fühle mich im informations-asymmetrischen Nachteil gegenüber jedem Kfz-Mechaniker, gegenüber jedem Elektriker, gegenüber jedem Malermeister, gegenüber jedem Fernsehtechniker und gegenüber jedem Buchdrucker. Warum habe ich hier keine Gesundheitsbürokratie an meiner Seite? Weil es eine Herausforderung an meine menschliche Kompetenz ist, nicht an die bürokratischen Fähigkeiten Fremder.

Zuletzt schließlich heißt es, Verträge „brauchten Regeln“, am besten Kontrahierungszwänge, Inhaltsverbote, Inhaltgebote, Mindestlöhne etc. pp. Auch dem ist entgegenzusetzen: Verträge werden von den Vertragsschließenden gemacht. Niemand selbst, als die an dem Vertrag Beteiligten wissen, was sie brauchen und benötigen. Aufgabe eines Staates ist es, lediglich einen Rahmen zu setzen. Dieser lautet: Es herrscht Vertragsfreiheit! Die Einhaltung der vertraglichen Verpflichtungen wird staatlich überwacht. Eigentum wird geschützt. Wer es verletzt, wird bestraft. Nicht mehr und nicht weniger. Den Rest können die Menschen selbst.

Wird das System also wieder zu dieser guten, natürlichen Ordnung des Vertrages und zu einem solchen menschlichen Miteinander in der Gesellschaft zurückfinden? Wie bauen Sie als Ärzte ein Rettungsboot auf Ihrer KV-Titanic?

Das Bild der Titanic ist bekanntlich häufig strapaziert. Gleichwohl trifft es auch den Fall des deutschen Gesundheitswesens im Kern. Ebenso, wie seinerzeit bei der Titanic, leben Menschen in der Hybris, ein unsinkbares, hochmodernes Werk geschaffen zu haben, das so groß ist, daß es überhaupt nicht untergehen kann. Doch diese Titanic wird ebenso untergehen, wie alle anderen größenwahnsinnigen Megaprojekte, die der menschliche Geist sich im Laufe seiner Geschichte stets scheiternd erdachte.

Auch Sie als Ärzte können zu den Verträgen zurückfinden. Sie müssen nur Verträge schließen! Zu konzedieren ist Ihnen allerdings, daß Sie zunächst gewisse Voraussetzungen erfüllen müssen, um wieder auf dem Boden des deutschen geltenden Gesetzes zu handeln, wenn Sie derartige Verträge schließen. Der Gesetzgeber heute hat normative Mauern um sie errichtet. Und diese gilt es einzureißen. Die massenweise solidarische Rückgabe von Zulassungen erscheint mir als die derzeit einzig gangbare und denkbare Variante, dies zu erreichen. Hierbei müssen Sie als Ärzte der divide-et-impera-Politik entgegentreten. Lassen Sie sich als Ärzte nicht enzymatisch in ihre Kleistgruppen spalten. Nur Einigkeit macht stark. Man darf sich nicht alles vom Plan gefallen lassen. Wenn Sie vertraglich (!) solidarisch sind gegen schlechte Gesetze, dann können Sie auch die gesetzlichen Horrorszenarien vermeiden, mit denen man versucht, Sie wirtschaftlich zu vernichten.

Wenn Sie Verträge schließen, dann muß dies nicht „unsozial“ sein. Ihren Patienten können Sie ohne weiteres Zahlungsfristen setzen. Während dieser Zahlungsfristen wird Ihr Patient in der Lage sein, den benötigten Rechnungsbetrag bei seinem Versicherer zu erlangen. Wenn Sie Sorge haben, daß Ihr Patient den Betrag von seinem Versicherer vereinnahmt und ihn (statt an Sie weiterzuleiten) für eine Urlaubsreise nutzt, dann gibt es auch hier vertraglich Hilfe: Ohne weiteres möglich ist, daß Sie mit Ihrem Patienten eine Zahlungsanweisung vereinbaren. Auf dieser Basis ist es dann seinem Versicherer nur möglich, mit befreiender Wirkung unmittelbar an Sie die Versicherungsleistung zu erbringen. Zivilrechtler wissen: Es gibt praktisch kein Problem unter Menschen, das sich nicht zivilrechtlich lösen ließe.

Wenn Sie einen „armen“ Patienten behandeln, dann steht Ihnen offen, aus Gründen der Barmherzigkeit auf Ihr Honorar zu verzichten. Sollten Sie der Auffassung sein, einen „reichen“ Patienten vor sich zu haben, dann steht Ihnen (jenseits blanker Notfälle) auch offen, das zu tun, was jeder Anwalt jeden Tag überall tut: Sie verlangen Vorkasse!

Gestatten Sie mir, Folgendes zum Abschlußzu bemerken:

Verträge zwischen Ärzten und Patienten sind möglich. Da, wo sie nur die zweitbeste Lösung sein mögen, sind sie immer noch besser, als der unpersönliche Plan des Staates. Wer den Himmel auf Erden mit planwirtschaftlichen Mitteln herbeiführen wollte, hat – wie Karl Popper ausgeführt hat – verläßlich noch immer die Hölle auf Erden geschaffen. Das deutsche Gesundheitswesen steht heute an diesem Scheideweg.

Nur eine schlanke, dezentrale Verwaltung ist effizient und effektiv. Ineffiziente Schiffe gehen unter. Dies gilt sowohl für die Titanic, als auch für die deutschen Krankenkassen und die Kassenärztlichen Vereinigungen.

In einem vertraglich organisierten Gemeinwesen mag ein einzelner scheitern. Die verbleibenden, vielen starken Schultern der anderen werden ihn in Solidarität und Barmherzigkeit wieder dahin bringen, einen neuen Anlauf zu wagen. In Planwirtschaften gibt es dagegen keine individuelle Insolvenz, sondern nur die Gesamtinsolvenz aller. Wenn aber alle verarmt sind, kann niemand dem anderen mehr helfen. Ein barmherziger Samariter, der selbst am Wegesrand sitzt, kann gegen niemanden mehr solidarisch sein.

Wehren Sie sich also gegen die Versuche, Ihre ärztlichen Interessen aufspalten zu lassen. Holen Sie aber auch die heutigen Insider des Systems im vertraglichen Konsens ab. Sie müssen Menschen gewinnen, um anschließend mit Menschen gemeinsam ein neues, gutes System zu errichten. Wenn Sie den Verteidigern des überholten, noch geltenden, alten Systems Ängste machen, werden Sie diese nicht für Ihre Ziele gewinnen. Machen Sie diesen Menschen keine Angst, aber haben auch Sie selber keine Furcht. Sie befinden sich nach aller historischen Erfahrung schlicht auf einem richtigen Weg. Bleiben Sie also beharrlich in Ihrem Protest. Verzagen gilt nicht.

Nehmen Sie Ihre ethische Verantwortung wahr. Sie sind – ebenso wie ich – nicht nur Absolventen einer bestimmten Fakultät, sondern generell als Akademiker gefordert, der Gesellschaft eine innere Haltung zu zeigen. Ohne Selbstachtung werden Sie zu einem toten Rädchen inmitten eines destruktiven Gesamtorganismus, der unausweichlich dem Tode geweiht ist.

Derzeit reicht Ihre Zeit noch aus. Noch können Sie Rettungsboote in ausreichender Zahl bauen. Holen Sie sich aus dem Schiffsrumpf der Titanic das, was Sie für den Rettungsbootbau brauchen. Wie wir alle aus dem Kino wissen, finden sich im Schiffsrumpf die interessantesten Gegenstände. Vergeuden Sie Ihre Zeit nicht und bauen Sie Rettungsboote. Denken Sie an den „kleinen Prinzen“: Wir wußten, daß in der Wüste keine Brunnen sind. Dennoch gingen wir los. Und ganz zum Schluß werden Sie sehen:

Es sind Ihre Hände. Es ist Ihre Arbeit. Es ist Ihr Beruf. Es ist Ihr Land. Es ist Ihr Leben. Lassen Sie sich all das nicht länger von anderen abnehmen!

Die unendliche Geschichte der Gesundheitsreformreformen: Ursachen, Nebenwirkungen und Therapien

Vortrag auf Schloß Krickenbeck am 20. Oktober 2006 von Carlos A. Gebauer 1

Vorbemerkung

Zunächst danke ich herzlich für die Einladung, heute bei Ihnen zu „der Gesundheitsreform“ sprechen zu dürfen. In Anbetracht der Ehre, vor einem so kompetenten Publikum an einem so herausgehobenen Ort über einen so großen Gegenstand ausführen zu können, nähere ich mich meiner Aufgabe mit nicht geringem Respekt.

Augenscheinlich gibt es Themen, die sich nicht erschöpfen. Und „die Gesundheitsreform“ gehört dazu. Mein Anliegen ist daher weniger, die hinlänglich bekannten Sachfragen (sowie die unzulänglich bekannten Antwortversuche) zum Thema zu beschreiben. Was mich treibt, ist vielmehr der Reiz, auf einer Meta-Ebene – also gleichsam aus der Vogelperspektive – einige Gedanken zum Phänomen „Gesundheitsreform“ darzulegen. Denn aus diesem Blickwinkel (der sozusagen die Bäume außer Betracht läßt, um den Wald zu sehen) lassen sich – wie ich zeigen möchte – rational und folgerichtig ganz handfeste juristische und betriebswirtschaftliche Erkenntnisse für die unternehmerische Gestaltung des künftigen Krankenhausalltages gewinnen.

Meine Überlegungen trage ich – weil es sich seit alters her so bewährt hat – in drei Schritten vor. Sie heißen: Einleitung, Hauptteil und Schluß.

A. Einleitung Was ist überhaupt eine „Gesundheitsreform“?

Wer einen Gegenstand erörtert, der ist gut beraten, zunächst zu beschreiben, wovon genau er überhaupt spricht

2.

In der öffentlichen Diskussion (ebenso wie im inneren Kreis der scientific community ‚Krankenhauswesen‘) reden die Beteiligten üblicherweise von „der Gesundheitsreform“. Was aber ist „die Gesundheitsreform“? Die gängigen Suchmaschinen des Internet bieten dem Interessierten derzeit rund acht bis neun Millionen [am 16. Oktober 2006 bei ‚Google‘ genau: 8.830.000] deutschsprachige Fundstellen zur weiteren Erforschung des Phänomens. Die Lage nötigt also nolens volens zum Selberdenken.

Unter dem Gesichtspunkt der Sprachlogik lassen sich gegen den Begriff „der Gesundheitsreform“ wenigstens drei Einwendungen erheben:

Es gibt – erstens – augenscheinlich nicht „die“ Gesundheitsreform, sondern seit rund dreißig Jahren (nämlich spätestens seit den Zeiten der beginnenden „Kostendämpfung im Gesundheitswesen“) einen andauernden Prozeß immer neuer Reformen und Reformen von Reformen in Deutschland. Die Bezeichnung des Phänomens „Gesundheitsreform“ im Singular ist daher greifbar unzutreffend.

Richtig kann alleine nur sein, von Gesundheitsreformen stets nur im Plural zu reden.

Die zweite Einwendung ist, daß jene Reformierungsaktivitäten sich – trotz ihrer Benennung – überhaupt nicht auf das beziehen, was wir sonst gemeinhin unter „Gesundheit“ verstehen. Denn wenn es irgendetwas auf der Welt gibt, was (im Konsens aller billig und gerecht Denkenden) einer Reform gerade nicht bedarf, dann ist es doch gerade und exakt die individuelle menschliche Gesundheit. Anders gesagt: Wer den vielleicht erstrebenswertesten aller denkbaren Zustände, die Gesundheit, reformieren wollte, der könnte denknotwendig nur einen schlechteren als diesen guten Gesundheitszustand anstreben; denn eine Kugel kann man nicht runder schleifen.

Richtig kann also alleine nur sein, (im Plural) von Maßnahmen an einem Regierungs- und Verwaltungssystem zu sprechen, das sich darauf bezieht, ein medizinisch-technisch-ökonomisches Giga-System irgendwie über die Zeit im Gleichgewicht zu halten.

Drittens schließlich muß sich aber auch der Begriffsbestandteil „-reform“ eine linguistische Computertomographie gefallen lassen. Wenn ich etwas „reformiere“, also einer Sache im strengen Sinne des Wortes (wieder) eine andere Form gebe, dann verabschiede ich mich von ihren vorherigen wesentlichen Erscheinungsprinzipien und gebe ihr eine nach anderen Maßstäben geformte, neue Gestalt. Reformen betreffen daher nicht nur gewisse Marginalien oder bloße Designmerkmale einer im übrigen gleichbleibenden Sache. Eine wirkliche „Reform“ ist vielmehr stets die grundlegende Veränderung eines Gegenstandes oder Sachzusammenhanges (wie etwa die Unbeachtlicherklärung des Papstes zu Beginn des 16. Jahrhunderts durch den seinerzeitigen Urreformator).

Richtig kann nach allem – zusammengefaßt – für unseren Kontext nur sein, anstelle von „der Gesundheitsreform“ sprachlich exakt von einem andauernden und fortlaufenden politischen Prozeß zu reden, der an äußeren Erscheinungsmerkmalen des bestehenden Systems kontinuierlich Überarbeitungen Modifikationen vornimmt, ohne aber die im Innersten dieses Systems gegebene, sakrosankte Architektur auch nur anzutasten.

Kurz: Wenn wir sagen „die Gesundheitsreform“, dann meinen wir – gegen den Anschein des Begriffes – nicht den einmaligen Neuaufbau eines Verwaltungssystems, dessen bisherige, alte Struktur sich als mangelhaft erwiesen hat. Sondern wir beschreiben sprachlich verknappt einen Prozeß der kontinuierlichen Änderung von Regeln und Handlungsrahmen, in dessen Mitte wir uns befinden.

Aus Klarstellungs- und Vereinfachungsgründen erlaube ich mir, hier im weiteren – gleichsam als Halbkompromiß zwischen inhaltlicher Richtigkeit und praktikabler Aussprechbarkeit – von „den Gesundheitsreformreformen“ als meinem Thema zu reden.

B. Hauptteil Die unendliche Geschichte der Gesundheitsreformreformen: Ursachen, Nebenwirkungen und Therapien

Nachdem damit der terminologische Boden bereitet ist, komme ich nun zu meinem Hauptteil, nämlich zu der scheinbar zwangsläufig unendlichen Geschichte dieser Gesundheitsreformreformen. Auch hier möchte ich zunächst die beiden Fragen vorstellen, auf die ich anschließend antworten will.

B.I. Fragen an die Gesundheitsreformreform

Die Tatsache, daß an einer bestimmten Stelle unserer Welt ein Entwicklungsprozeß vonstatten geht, ist – für sich gesehen – noch kein Anlaß, diesen Aspekt des Fortschreitens der Welt besonders zu thematisieren oder gar zu problematisieren. Stillstand herrscht – wer könnte es bestreiten? – nirgendwo.

Was die fortwährenden Überarbeitungen und Reformreformierungen des deutschen Gesundheitswesens jedoch so besonders und so erörterungswürdig macht, ist ein anderer Gesichtspunkt. Diesen läßt sich ich (zu Verdeutlichungszwecken) am ehesten noch in eine Art Vorfrage kleiden:

Angenommen, bei Ihnen zu Hause hätte im Jahre 1975 ein Wasserhahn das Tropfen begonnen; wie lange (und wie oft) hätten Sie wohl die – nach mehrfach scheiternden Reparaturversuchen – augenscheinlich abdichtungsunfähigen Klempner immer ein und derselben Firma wieder bestellt (und bezahlt)? Einen Monat? Ein Jahr? Fünf Jahre? Zehn, zwanzig, dreißig Jahre? Zur Tropfendämpfung im Wasserhahnwesen? Und: Wenn derselbe Wasserhahn auch heute, im Jahre 2006, noch immer undicht wäre; würden Sie sich und Ihre Armatur auch weiterhin denselben Fachleuten zur Rohrreform anvertrauen wollen?

Der naheliegende Protest gegen die mit dieser Frage aufgenötigte Analogie zwischen einem Wasserhahn und unserem deutschen Gesundheitswesen lautet natürlich: Ein Wasserhahn ist ein simples Rohr, ein Gesundheitswesen hingegen ist eine komplizierte Sache.

Ich werde daher nun im wesentlichen zwei Fragen erörtern; zum einen: Was genau macht unser Gesundheitswesen so kompliziert, daß es im Rahmen der Gesundheitsreformreformen augenscheinlich einer kontinuierlichen Dauerbeklempnerung bedarf? Und zum anderen: Ist die unendliche Geschichte der Gesundheitsreformreformen überhaupt jenseits bloßer Lästigkeit etwas Gefährliches; oder könnte man sie nicht auch als einen zwar bisweilen anstrengenden, gleichwohl aber unausweichlichen, natürlichen Prozeß menschlichen Handelns akzeptieren und hinnehmen?

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B.II. Die Komplexitätsursachen

Das deutsche Gesundheitswesen ist kompliziert. Niemand, der es in breiteren Teilen kennengelernt hat, könnte dies bestreiten. Was aber genau macht es überhaupt so kompliziert?

Ich behaupte, daß seine Komplexität in überragendem Umfange eine – ohne Not! – hausgemachte und deshalb durchaus vermeidbare Dimension darstellt. Ich behaupte weiter, daß diese Komplexität (einen entsprechenden, ernsthaften politischen Willen hinzugedacht) reduzierbar und damit zuletzt auch wieder praktisch handzuhaben sein könnte. Warum glaube ich, daß die Dinge so liegen?

Jeder weiß: Wenn die Fundamente eines Hauses nicht fest sind, wenn es „auf Sand gebaut ist“, dann kann dieses Haus auf Dauer nicht stehen. Nichts anders gilt aber auch für jedwede geistigen Konstruktionen und Verwaltungssysteme: Wenn die Prämissen schief und unsicher in der Landschaft stehen, dann dringt auch dort Wasser ein, setzt Schimmel an, und kippt ein kräftiger Sturm zuletzt die gesamte Statik um. Wir müssen also zunächst fragen: Welches sind die wesentlichen, tragenden Prämissen unseres Gesundheitssystems?

Unser Gesundheitswesen arbeitet bekanntlich – bis heute seit Bismarcks Zeiten praktisch unverändert – mit der gesetzlich und verwaltungstechnisch dogmatisierten Zentralarchitektur des sogenannten „Solidaritätsprinzips“ und mit dem Dogma vom „Sachleistungsprinzip

4. Keine der Gesundheitsreformreformen seit 1975

5 hat an diesen Dogmata auch nur einmal ernsthaft gekratzt. Im Gegenteil: Zum täglichen Mantra eines jeden deutschen Gesundheitspolitikers gehört seit Jahrzehnten das formelhafte Bekenntnis, die „solidarische Finanzierung des Gesundheitssystems nicht in Frage zu stellen“; kein Deutscher, der diesen Satz nicht schon ungezählte Male gehört hätte.

Bisweilen wurden zwar in Randbereichen (also dort, wo Details des Systemdesigns behutsam gewissen Modeströmungen angepaßt werden sollten) Elemente der Kostenerstattung eingeführt. Solcherlei ging aber stets und sogleich einher mit der Zusatzregelung, daß beide Wege – Kostenerstattung und Sachleistung – jedenfalls systematisch-wirtschaftlich wieder zum sichergestellt gleichen und einheitlichen Ziel führen mußten

6.

Desgleichen wurde politisch wohl tatsächlich geglaubt (jedenfalls aber verkündet), nur ein Umlageverfahren stelle ein „solidarisches“ Versicherungssystem dar. Auf diese Weise verquickte das System – in Verkennung oder gar Verneinung elementarer versicherungsmathematischer Grundlagen – über Jahrzehnte hinweg medizinische Fragestellungen mit gesellschaftspolitischen und makroökonomischen Steuerungsambitionen. Hieran hielt man auch unverrückbar fest, bis zuletzt die hinlänglich sichtbaren, nicht mehr beherrschbaren Überkomplexitäten bei gleichzeitiger Systemüberschuldung eingetreten waren

7.

Konsequent wurden damit aber schon im Ausgangspunkt der Systemgestaltung zwei zwischenmenschliche Funktionsmechanismen in ihrer Bedeutung und Tragweite verkannt und außer Kraft gesetzt. Zwei Mechanismen, die von Menschen – seit alters her, über Jahrhunderte und Jahrtausende – als gesellschaftsdienlich und sozialförderlich erkannt, geformt und für sich fruchtbar gemacht worden waren.

Diese beiden elementaren Funktionsmechanismen menschlichen Zusammenlebens sind: Der Tausch und die Barmherzigkeit:

Den Tausch kennzeichnet, daß Gegenstände oder Leistungen Zug um Zug für eine unmittelbare Gegenleistung hergegeben werden. Für die Barmherzigkeit ist kennzeichnend, daß sie gibt, ohne sofort etwas anderes zurückerhalten zu wollen. (Interessanterweise ist übrigens – ohne dies hier weiter vertiefen zu wollen – selbst die Barmherzigkeit nur ein besonderer Unterfall des Tausches. Denn der barmherzig Gebende „opfert“ zwar zunächst etwas ohne konkrete Gegenleistung; er tut dies jedoch vor den Augen der Gesellschaft nicht zuletzt auch, weil er sich im Gegenzug deren (und bisweilen auch Gottes) Wohlwollen hierfür verspricht

8.)

Die Wirkungsweisen dieser Mechanismen wurden und werden durch die beiden genannten Dogmata des SGB V im deutschen Gesundheitswesen schlichtweg außer Funktion gesetzt. Das bleibt nicht ohne Folgen für die Statik sowohl des Gesundheitswesens selbst, als auch für die Architektur des gesamtgesellschaftlichen Rahmens insgesamt.

Warum ist das so? Ich möchte zur Verdeutlichung dieses Gedankens noch ein anderes plastisches Bild bemühen: Seit Menschen Häuser errichten, bauen sie als „Deckel“ auf diese Gewerke – von alters her – Satteldächer. Die frühen Pfahlbauten der Jungsteinzeit im Bodensee zeigen: Satteldächer. Anders gesagt: Schon der Zimmermannslehrling Jesus von Nazareth konnte diesbezüglich auf eine jahrtausendealte bauhandwerkliche Erfahrung und Tradition zurückblicken. Immer wieder Satteldächer.

Warum? Nicht, weil sich ein einzelner Mensch dies ausgedacht hätte. Nicht, weil es schön oder modisch war. Sondern aus dem einzigen tragenden und weisen (!) Grund, daß diese Dachkonstruktion sinnvoll und funktionsfähig ist. Ein Haus unter diesem Dach blieb in aller Regel und erfahrungsgemäß trocken.

Dann traten vor rund hundert Jahren auf diese bauhandwerkliche Bühne Akteure, die sagten, Satteldächer etc. seien im Lichte des Fortschritts und im Geiste der Neuen Zeiten überholtes Papperlapapp. Sie forderten Neue Dächer für eine Neue Ära. Und sie bauten – Flachdächer! Nur die seien jetzt noch als zeitgemäß akzeptabel.

Wir heute wissen allerdings: „Flachdach“ ist nur ein anderes Wort für „undichtes Dach“. Für „teures Dach“. Für „reparaturanfälliges Dach“. Indem also die neuen Architekten des heraufgezogenen Fortschritts das jahrtausendealte menschliche Weltwissen von funktionsfähigen, vor Regen schützenden Satteldächern ignorierten oder für unbeachtlich hielten, setzten sie statt einer weiteren, denkbar möglichen Dachvariante nichts anderes, als einen notorischen und weitreichenden Baumangel auf die Häuser ihrer Kunden.

Was ich mit alledem sagen möchte, ist: Bevor man einen anerkannt und erkennbar nützlichen Funktionszusammenhang beseitigt, sollte (oder: muß) man sich zuerst darüber vergewissern, ob das neue Modell nicht bald mehr (und andere) Probleme bereitet, als alle bereits vorgefundenen, traditionellen Lösungsansätze. Hierin liegt übrigens keinerlei Fortschrittsfeindlichkeit, sondern nur ein gleichsam leises Plädoyer für eine gewisse Art von Demut; für die Demut nämlich gegenüber all denjenigen Gedanken, die andere sich schon vor mir in Ansehung derselben Fragestellungen gemacht haben. Konkret: Glaube ich wirklich, daß eine verklebte Bitumenbahn auf dem waagerechten Dach auf Dauer all den Naturkräften wird trotzen können, die – unter anderem – den ganzen Grand Canyon zerklüftet haben?

Worauf es also wahrscheinlich bei der Gestaltung jedweder menschlicher Artefakte (Dächern ebenso wie Verwaltungsregeln für das gesellschaftliche Zusammenleben) entscheidend ankommt, ist, daß sich diese menschlichen Konstruktionen sinnvoll in die Gegebenheiten der bereits vorgefundenen Welt einfügen.

Aus rhetorischen Gründen entleihe ich mir für die weitere hiesige Bezeichnung dieses Gedankens der Einfachheit halber einen theologischen Begriff. Und um nicht in den Verdacht zu geraten, diese Bezeichnung aus einem Esoterik-Workshop der örtlichen Volkshochschule mitgebracht zu haben, berufe ich mich vorsichtshalber – ganz seriös – auf eine Formulierung Papst Benedikts des XVI

9. Als er noch Joseph Kardinal Ratzinger war, schrieb er – im Jahre 2002 – in einer religionsvergleichenden Betrachtung:

Die Ordnung des Himmels .. ist das Tao, das Gesetz des Seins und der Wirklichkeit, das die Menschen erkennen und in ihr Handeln aufnehmen müssen. … Unordnung, Störung des Friedens, Chaos entsteht, wo der Mensch sich gegen das Tao wendet, an ihm vorbei oder gegen es lebt. Dann muß gegen solche Strömungen und Zerstörungen des gemeinschaftlichen Lebens wieder das Tao aufgerichtet und so die Welt wieder lebbar gemacht werden.“

10

(Das Christentum und andere Religionen kennen praktisch denselben Gedanken; als „Tao“ ist er aber schön kurz, mutmaßlich bei Ihnen nicht mit anderweitigen Störassoziationen verunreinigt und daher für unseren Kontext besonders gut verwendbar.)

Eine „Störung des Friedens“ im Sinne dieses beschriebenen Tao liegt erkennbar nicht nur in einem feuchten Wohnzimmer unter dem Flachdach. Sie findet sich – für unseren Zusammenhang im Gesundheitswesen – auch in den Erscheinungen protestierender Ärzte, streikenden Pflegepersonals, unzufriedener und ängstlicher Patienten sowie natürlich in Krankenhäusern am Rande der Zahlungsunfähigkeit. Also besteht greifbar legitimer Anlaß zu der Frage, warum unser Gesundheitssystem gegen dieses Tao verstößt.

Wir wissen: Krankenhäuser dürfen nach dem Fünften Sozialgesetzbuch an einer Krankenkasse vorbei mit ihren Patienten unmittelbar keine Behandlungsverträge schließen. Der Funktionsmechanismus des althergebrachten vertraglichen Tausches („Ich gebe Dir Geld oder Naturalien, Du gibst mir dafür Behandlung“) darf also an dieser Stelle des menschlichen Lebens nicht Platz greifen. Das Gesetz verbietet es, selbst wenn die Beteiligten es oftmals selber gerne wollten.

Damit wird also eine – über Jahrtausende elaborierte und eingeübte – Ausdrucksform des Menschseins aus diesem Lebensbereich schlicht eliminiert. Roman Herzog beschreibt anschaulich, daß gerade diese Kulturtechnik des Tausches seit dem fünften vorchristlichen Jahrtausend die maßgeblichsten zivilisationsschaffenden Institutionen überhaupt erst ermöglichte

11. Indem die Reichsversicherungsordnung und das Sozialgesetzbuch den konkreten Tausch also eliminieren

12, brechen sie mit einer jahrtausendealten menschlichen Tradition.

Darüber hinaus wissen wir, daß Krankenhäuser inzwischen oftmals auch nicht (mehr) in dem Maße barmherzig Hilfe leisten können, wie sie das „eigentlich“ wollten. Wo kein Speck mehr ist, da kann man ihn auch nicht wegschenken. Auch der zweite althergebrachte Funktionsmechanismus menschlichen Miteinanders, die Barmherzigkeit, wird folglich durch die sozialversicherungsrechtliche Mittelknappheit im Kostendämpfungsvollzug behindert (bzw. ganz verhindert). Die Dialysepflicht eines abgelehnten Asylbewerbers vor dem Tor des Krankenhauses kann den urmenschlichen Impetus des freigiebigen Helfenwollens dort also nicht mehr ungehemmt auslösen. Die jedem Krankenhaus in solchen Fällen bestens und schmerzlich bekannte Kostenträgerunsicherheit einerseits und (straf-)rechtliche Handlungspflichten andererseits kollidieren im bestehenden System folglich – ganz unbarmherzig – miteinander.

Eine Lösung für diese Probleme hat ersichtlich keine der jahrzehntelangen Gesundheitsreformreformen gebracht. Statt dessen ist über die Jahrzehnte – nicht zuletzt auch schon durch die permanente Ausweitung des Kreises der Pflichtversicherten lange vor dem Jahr 1975 – ein gigantisches medizinisch-ökonomisch-exekutiv-politisches Artefakt „Gesundheitssystem“ weiter und weiter gewachsen, gewuchert und – wenn wir, die wird die Situation kennen, ehrlich sind – in den Bereich der längst unbeherrschbaren Komplexitäten entglitten

13.

Besteht aber Hoffnung, diese Übernormierung und Überkomplexität durch weitere Gesundheitsreformreformen in den Griff zu bekommen? Wird es eine nächtliche Krisensitzung in Berlin (oder zuletzt gar noch in Brüssel) geben, die mit dem abschließend ultimativ richtigen Sachverständigengutachten endlich auf Dauer bezahlbar – und „sozial gerecht“, was immer das sei

14 – medizinische Versorgung auf hohem Qualitätsniveau für alle Menschen sicherstellt?

15

Nach mehr als 40jähriger Forschungs- und Lehrtätigkeit in Harvard formulierte Edward O. Wilson zu dem Anliegen, wirtschaftliche Großaufgaben in industrialisierten Massengesellschaften makro- und mikroökonomisch lösen zu wollen:

„Gewappnet mit mathematischen Modellen, alljährlich mit einem Nobelpreis bedacht und reichlich mit wirtschaftlicher und politischer Macht ausgestattet, verdient die Ökonomie durchaus den Titel, der ihr so oft verliehen wird: Königin der Sozialwissenschaften. Allerdings hat sie oft nur oberflächlich Ähnlichkeit mit einer ‚wirklichen‘ Wissenschaft und selbst die wurde zu einem hohen intellektuellen Preis erkauft. … [Das ist] am besten vor historischem Hintergrund zu verstehen. … Die Gleichgewichtsmodelle der neoklassischen Theorie gelten noch heute als Knackpunkt der ökonomischen Theorie. Die Betonung liegt immer auf Exaktheit. … Genausowenig wie die Grundgesetze der Physik ausreichen, um ein Flugzeug zu bauen, reichen die allgemeinen Bauteile der Gleichgewichtstheorie aus, um sich ein optimales oder gar stabiles Wirtschaftssystem vorstellen zu können. Außerdem … [stellen diese Modelle] die Komplexitäten des menschlichen Verhaltens und der umweltbedingten Zwänge nicht in Rechnung … Auf die meisten makroökonomischen Fragen, die die Gesellschaft beschäftigen, haben die Theoretiker keine definitiven Antworten. … Das Ansehen der Ökonomen entstand weniger durch ihre nachweislichen Erfolge, als durch die Tatsache, daß sich Business und Staat an niemanden anderen wenden können.“

16

Die Tatsache, daß es im 20. Jahrhundert weltweit insgesamt 25 sogenannte „Hyperinflationen“ (mit Inflationsraten von jeweils mehr als 50% im Monat [sic!]) gegeben hat

17, stellt der Ökonomie des 20. Jahrhunderts wahrlich kein gutes Zeugnis aus. Und der weitere Umstand, daß derzeit in Deutschland obergerichtlich

18 bis hin zum Bundesverfassungsgericht

19 Rechtsprechungsstandards zu Fragen des Staatsbankrotts (und ich rede hier nicht von dem gestern gescheiterten, bemerkenswerten Versuch Berlins, seine Schulden auf andere Länder abzuwälzen!) erarbeitet werden, stimmt ebenfalls nicht hoffnungsfroh. Man wird sicher nicht fehlgehen in der Annahme, daß Inflationen und Insolvenzen Unordnung und Zerstörung in das gemeinschaftliche Leben bringen, und mithin das Tao verletzen

20.

Sind also vielleicht die politischen Steuerungseingriffe auch im Rahmen unserer Gesundheitsreformreformen eher das Problem, als die Lösung? Schafft jede Reform einer je vorherigen Reform in Wahrheit immer nur die Basis und das Material für die dann nächste Reform, und so weiter?

Dietrich Dörner, der das Phänomen der scheiternden Problemlösungsstrategien aus Sicht der Psychologie untersucht hat, schreibt:

„Menschen kümmern sich um die Probleme, die sie haben, nicht um die, die sie (noch) nicht haben. Folglich neigen sie dazu, nicht zu bedenken, daß eine Problemlösung im Bereich A eine Problemerzeugung im Bereich B darstellen kann.“

21

Je größer (um nicht zu sagen: gigantomanischer) die Problemlösungsansätze also werden, desto umfänglicher gerät das Risiko, eine Problemerzeugung von mindestens gleicher Größe zu betreiben. Behutsames Vorgehen, bedächtige Schritte und die Orientierung an überschaubaren Zwischenzielen

22 ist bekanntlich nicht das Geschäft der (politisch immer gerne vollmundigen) Gesundheitsreformreformen. Statt dessen dürften sich Kenner des DRG-Systems von Dörner verstanden fühlen, wenn er weiter formuliert:

„[Ein] Versuch, der Unbestimmtheit einer komplexen Situation zu entgehen, kann … darin bestehen, daß man sich in die ‚heile Welt‘ einer minutiösen Detailplanung begibt, möglichst verbunden mit einem hohen Aufwand an formalen Mitteln, denn was beim Rechnen herauskommt, ist sicher! … [Zwar] soll man die Mathematik nicht für ihren Gebrauch verantwortlich machen; … Bedenklich wird es aber, wenn man Sachverhalte so lange reduziert und vereinfacht, bis sie schließlich in ein bestimmtes formales Gerüst passen. Denn dann paßt der so veränderte Gedanke nicht mehr zum ursprünglichen Sachverhalt.“

23

Wir also auf den Gängen eines Krankenhauses könnten sagen: Wenn es uns gelungen ist, die Komorbiditäten so zu beschreiben, daß sie zwar zum gewünschten Operationsschlüssel passen, nicht aber zu dem Patienten, der im Bett liegt, dann sind das Gesetz des Seins und folglich das Tao verletzt

24.

Wer in den letzten Jahren mit Krankenhausmitarbeitern Kontakt gepflegt hat, den wird mithin auch dies nicht erstaunen: Als die britische Wirtschaft sich im Jahre 1974 in einer dem heutigen deutschen Gesundheitssystem vergleichbaren Lage befand, diskutierte der amtierende Premierminister James Callaghan mit seinem Kabinett neben dem Weg der minutiösen Detailplanung zwei weitere – sozusagen „tao-feindliche“ – Problemlösungskonzepte. Das eine Konzept war ein eher verzweifelt-experimenteller Versuch, bei der Suche nach Rettung „auf alle Knöpfe zu drücken, die zu finden seien

25; das andere war ein eher verzagt-fluchtbetontes Modell: „Wenn er ein junger Mann wäre, würde er auswandern

26.

Die beiden letztgenannten Ideen des blinden Versuchens oder verzweifelte Flüchtens führen mich nun zur zweiten Frage meines hiesigen „Hauptteiles“; zu der Frage nach den Gefahren aus der beschriebenen Überkomplexität unseres Gesundheitswesens.

In diesem Zusammenhang bedarf es aus naheliegenden Gründen keiner weiteren Erörterung, warum sich jedes derart hemmungs- und ziellose Versuchen im medizinischen Bereich ebenso verbietet, wie bloßes (ärztliches) Weglaufen vor den Problemen. Immerhin reden wir von Leib und Leben der Patienten.

Was mich statt dessen aus meiner ureigensten juristischen Sicht beschäftigt, ist die Frage, welche rechtlichen Risiken daraus resultieren, daß, wie beschrieben, die überkommenen Sozialtechniken des Tausches und der Barmherzigkeit (also die Chancen zur individuellen Verfolgung übersichtlicher Zwischenziele) durch den sozialversicherungsrechtlichen Großapparat der solidarischen Sachleistung (in der Globaläquivalenz

27 der Massengesellschaft unter einander unbekannten Millionenscharen) dogmatisch eliminiert wurden.

Oder anders gesagt: Welche Gefahren für uns Bürger dringen durch das Flachdach namens „Fünftes Sozialgesetzbuch“, vor dem uns ein Satteldach aus zivilisiertem Tausch und kulturell abgesicherter Barmherzigkeit schützen könnte?

Ich komme also zu den juristischen und (wenn Sie so wollen) gesellschaftspolitischen Gefahren aus der Komplexität unserer Gesundheitsreformreformen.

B.III.Die rechtlichen Gefahren aus dieser Komplexität

Was, mag manch‘ einer fragen, kann falsch sein an dem Versuch, der Barmherzigkeit Verläßlichkeit beizugesellen, auch wenn das organisatorisch vielleicht etwas anspruchsvoller ist? Ist nicht legitim, individuelle Tauschverhältnisse zu entpersönlichen und sie in Abstraktion zu vergesellschaften, wenn dadurch medizinische Hilfe für jedermann – ohne Ansehung seiner Person – rechtlich verbindlich gemacht werden kann?

Bedeutet diese abweichende, neue Organisationsform ein und desselben Lebensverhältnisses nicht nur, daß man sich den immer gleichen Aufgaben und Herausforderungen eines solchen Systems statt von der einen nun von der anderen Seite nähert? Was macht denn den Unterschied, ob man die Gesundheitsversorgung einer Bevölkerung statt vom Individuum her von der Allgemeinheit her denkt und strukturiert?

Der Unterschied ist, daß das Allgemeinwohl Vorrang genießt vor dem Individualwohl. Mit anderen Worten: Individuelles Wohlergehen ist nun immer nur noch dort möglich, wo zuvor allgemeines Wohl erreicht war. Die Vorstellung, daß allgemeines Wohl gleichsam automatisch dann und dort erwächst, wo es den Individuen wohlergeht, ist damit obsolet. Damit wäre individuelles Wohl zwar noch nicht per se verunmöglicht.

Eine Schwierigkeit bleibt aber dennoch. Und genau dieser Schwierigkeit läßt sich nicht ausweichen: Jeder einzelne kann zwar für sich selbst noch – halbwegs verläßlich – erkennen, was für ihn gut ist. Er weiß aber nie, was für die Allgemeinheit gut ist

28. Er kann die Allgemeinheit zwangsläufig auch nicht danach fragen. Denn – wie sollte sie es ihm sagen?

Bei meinen Versuchen, die rechtlichen Gefahren aus dieser Lage auch für diejenigen anschaulich und plastisch zu machen, die weder mit den Komplexitäten des Gesundheitswesens und Krankenhausgeschäftes, noch auch mit rechtlichen Feinheiten des Sozialversicherungsrechtes und seinen ökonomischen Besonderheiten intim vertraut sind, habe ich in jüngster Zeit zunehmend auf eine Art vereinfachter Parabel zurückgegriffen, nämlich auf das Edeka-Gleichnis. Mit dieser Geschichte läßt sich – glaube ich – der geradezu tragische Mechanismus erklären, der immer dann zwangsläufig einsetzt, wenn die Weichen eines Systems im Anfang (bewußt oder unbewußt) in eine bestimmte Richtung gestellt werden. Das Gleichnis lautet in etwa so:

Der fiktive Herr Karl-Ulrich Geiger aus Elberfeld hatte einen Edeka-Markt gepachtet. Die Geschäfte liefen leidlich, die Kunden waren zufrieden. Nur seine Kassiererinnen stöhnten bisweilen über den nichtendenwollenden Warenstrom auf ihren Fließbändern.

Eines Nachts hatte Herr Geiger eine Idee. Er weckte seine Frau und sagte: Alle Waren müssen bislang erst von uns in die Regale sortiert, dann von den Kunden aus diesen herausgenommen, dann in ihren Korb gelegt, dann wieder aus diesem herausgenommen, dann über das Band gefahren und schließlich in Plastiktüten gepackt werden. Das ist ineffizient und ineffektiv.

Ökonomischer und effektiver wäre doch, wenn die Waren sofort aus dem Regal in die Tüten der Kunden gepackt und anschließend gleich aus dem Laden herausgetragen werden könnten. Dann müßten die Kassiererinnen insbesondere auch nicht jedes und alles nochmals Stück um Stück mühevoll in ihre Hände nehmen.

Auf den Einwand seiner Frau, wie er sich den diesenfalls die Preisermittlung, Berechnung und Bezahlung des gekauften Gutes vorstelle, entgegnete er: Dieses hocheffektiv ökonomisierte System wird angereichert um eine soziale Komponente! Ab sofort bezahlt jeder Kunde nur noch so viel, wie er tatsächlich angemessen selbst und persönlich zahlen kann. An die Stelle von einzelnen Preisen für einzelne Waren tritt eine Pauschale, die jeder Kunde nach dem Maßstab seiner eigenen persönlichen Leistungsfähigkeit erbringt.

29

Noch in derselben Nacht des Neuen Einfalles ersonnen Herr Geiger und seine Frau aus Elberfeld eine geradezu genial einfache, praktische Methode zur Umsetzung ihres Planes: In den frühen Morgenstunden des nächsten Tages vertauschten sie die Eingangs- und Ausgangsschilder ihres Edeka-Marktes. Die Kunden betraten also nun das Geschäft durch den Kassenbereich, bezahlten zu Beginn ihres Besuches – bei den dadurch erheblich entlasteten Kassiererinnen – den geschuldeten Betrag, luden sodann ihren Einkauf in die Taschen und verließen anschließend unmittelbar durch das Drehkreuz den Laden zum Parkplatz.

Da Herr Geiger belastbare Zahlen über den Umsatz und Durchsatz seines Geschäftes besaß, konnte er den zur üblichen betriebsinternen Globaläquivalenz zwischen Einkauf und Absatz erforderlichen Geldbetrag recht genau beziffern. Seinen Kunden erklärte er, sie müßten fortan nur noch ihren letzten Einkommensteuerbescheid an der Kasse zeigen; sodann würde der Zahlbetrag von der Kassiererin – ganz unbürokratisch – ermittelt und vereinnahmt.

Nach anfänglichen Irritationen in der Kundschaft über die Notwendigkeit, einen Einkommensteuerbescheid zum Einkauf mitzubringen, stellte sich indes recht zügig eine entsprechende Übung an den Kassen ein. Das System faßte gleichsam Tritt und gewann an Fahrt.

Nach einiger Zeit allerdings sprachen Kassiererinnen bei Herrn Geiger vor und äußerten einen Verdacht. Nicht immer, erklärten sie, würde ihnen der wohl richtige Einkommensteuerbescheid vorgelegt. Ihre Mutmaßung war, einige Kunden liehen sich Einkommensteuerbescheide von weniger gut verdienenden Freunden, um hierdurch zu günstigeren Konditionen – nämlich mit geringerer Pauschale – einkaufen zu können.

Frau Geiger sah hierin keine wirkliche Schwierigkeit: Sie wies das Personal einfach an, künftig durch Vorlage eines Personalausweises gemeinsam mit dem Einkommensteuerbescheid die Identitätsfrage an der Kasse zweifelsfrei zu klären. So geschah es. Aber auch die verwaltungsverschlankende Befugnis, ersatzweise andere Lichtbildausweise als Legitimationspapier akzeptieren zu dürfen, beseitigte nicht alle Probleme der Kassiererinnen.

Bohrend blieb zum Beispiel der Zweifel, ob die zunehmend in Begleitung der Kunden erscheinenden Kinder allesamt tatsächlich auch die Kinder der in den Einkommensteuerbescheiden genannten Personen waren. Der festzustellende Süßigkeiten- und Kaugummiabsatz erhärtete diese Verdachtsmomente (bei entsprechenden evidenzbasierten Gegenprüfungen).

Zudem wurde kurz darauf ein ganz anderer Fall des geradezu ruchlosen Systemmißbrauches durch einen benachbarten Bäckermeister bekannt. Der nämlich hatte – unter korrekter Vorlage zwar seines Ausweises und Einkommensteuerbescheides und nach hinlänglicher Zahlung – ganze dreißig Weißbrote in seine Tüten gepackt und diese dann im eigenen Laden gegenüber zu marktüblichen Preisen verkauft!

Um solchen (nicht erforderlichen und nicht notwendigen) Versorgungsmißbrauchs-Einkäufen zu begegnen, sah Herr Geiger jetzt keine andere Möglichkeit mehr, als an jedem Regal einen Kontrolleur aufzustellen, der das konkrete Entnahmeverhalten aller Kunden überprüfte. Wegen der hierdurch erfolgten Einstellung von gleich 40 neuen Mitarbeitern wurde er daher vom Bürgermeister der Stadt in einer kurzfristig einberufenen, öffentlichen Feierstunde ausgezeichnet und gelobt; er hatte neue Arbeitsplätze geschaffen.

Ein Kontrolleur aus der Waschmittelabteilung („Warum nehmen Sie da drei Pakete Weichspüler? Nehmen Sie eins. Wenn Sie es verbraucht haben, können Sie ja wiederkommen!“) machte Herrn Geiger auf einen bis zu diesem Zeitpunkt unbeachtet gebliebenen Umstand aufmerksam: Die Kundschaft aus dem Villenviertel der Stadt blieb plötzlich aus. Statt dessen erschienen mehr und mehr Kunden aus dem sozialen Brennpunkt der Gemeinde!

Aufgrund seines inzwischen freundschaftlichen Kontaktes zu dem Herrn Bürgermeister bat Herr Geiger ihn um einen Gefallen. Der Rat der Stadt sollte beschließen, daß auch die gutsituierten Bürger der Kommune nun bitte gesetzlich verbindlich verpflichtet würden, bei ihm einzukaufen, um sich der Solidarität aller in der Gemeinde nicht böswillig zu entziehen. Alle anderen Lebensmittelgeschäfte des Ortes waren ja ohnehin bereits in Insolvenz gefallen

30.

So geschah es. Die „Gemeindesatzung zur Stärkung der Solidarität im Einkaufswesen und zur Förderung des Lebensmittelstandortes Geiger“ trat in Kraft. Einwohner, die andernorts kauften, wurden mit empfindlichen Geldbußen belegt.

Wenige Wochen später schlugen das Einwohnermelde- und Stadtsteueramt der Gemeinde allerdings schon wieder neuen Alarm. Die fünf wohlhabendsten Bürger der Gemeinde waren in den Nachbarort verzogen. Der Bürgermeister reagierte sofort. Nachdem er dem Stadtanzeiger bei einer Pressekonferenz versichert hatte, niemand habe die Absicht, eine Mauer zu errichten, begannen die Mitarbeiter des Bauhofes eilends, um die Gemeinde einen Stacheldrahtzaun zu bauen, versehen mit Videoanlage, Hundestaffel, und – notfalls – Schießbefehl für die Angehörigen des Ordnungsamtes.

Ich weiß nicht, wie es um die Lebensmittelversorgung des nun solidarisch hermetischen Ortes auf Dauer ausgesehen hat. Aber wir können diese Gemeinde und Herrn Geiger jedenfalls hier gedanklich verlassen, denn für unseren Zusammenhang interessiert nur noch dies: Gibt es bei dieser Edeka-Parabel irgendeinen Gesichtspunkt in der Entwicklung, der nicht folgerichtig wäre? Haben sich Herr Geiger und der Bürgermeister aus Elberfeld nicht konsequent und angepaßt auf jede neue Herausforderung eingestellt? Und: Muß man nach allem noch auf die hinlänglich bekannten Parallelen zu unserem deutschen Gesundheitssystem und seiner Entwicklung eingehen oder wird deutlich, welche Gefahren sich aus der „tao-feindlichen“ Grundstruktur unseres Gesundheitssystems ganz zwangsläufig ergeben?

Herrn Geiger ebenso, wie allen unseren Gesundheitsreformreformern ist abschließend zu wünschen, daß sie eines Tages die Times vom 7. April 1862 in den Händen halten werden, in der sie einen Bericht finden können über den Tod eines

… Herrn Hart aus Wallace River [Halifax/Nova Scotia], der über 90 Jahre alt war und sein ganzes Leben am Problem des Perpetuum Mobile gearbeitet hatte; doch um es zu lösen, hatten 90 Jahre nicht gereicht. Einen Tag vor seinem Tod mußte er nur noch ‚ein paar weitere Räder‘ herstellen, um seine Arbeit zu vollenden.“

31

C. SchlußAuswege aus der Gesundheitsreformreform

Ich komme also zu meinen 5 abschließenden Bemerkungen:

  1. Unser bestehendes deutsches
    Gesundheitssystem hat mit den (althergebrachten und weltweit
    kulturübergreifend von der Menschheit entwickelten) sozialen
    Funktionstechniken des Tausches und der Barmherzigkeit gebrochen. An
    ihre Stelle hat es eine alternative Struktur der Finanzierung und
    Leistungszuteilung gesetzt, die ersichtlich nicht dauerhaft
    funktionsfähig ist. Die empirisch unbestreitbare Tatsache des
    ununterbrochenen Reparaturbedarfes an jedweder bisheriger
    Gesundheitsreformreform spricht insoweit eine eindeutige Sprache.
  2. Die Wahrscheinlichkeit, daß
    eine Lösung der bestehenden Probleme – insbesondere der für
    Ärzte und Krankenhäuser – aus dem Bereich der Politik
    kommen wird, taxiere ich mit dem Wert Null. Solange sich die
    Architekten eines Geschäftes nicht einigen können, ob
    dessen Kunden (um noch einmal an das Edeka-Gleichnis anzuknüpfen)
    wie traditionell gegen den Uhrzeigersinn, oder – aus ideologischen
    Gründen – mit dem Uhrzeigersinn durch den Laden geführt
    werden, kommt eine Lösung nicht in die Welt; Kompromisse aus
    beidem können offensichtlich nur zu Kollisionen und mithin
    weiteren Komplikationen führen. Interessanterweise scheint die
    Bevölkerung dies inzwischen erkannt zu haben: Wenn nämlich
    – wie es aktuelle Umfragen erweisen – 72% der bundesdeutschen
    Bevölkerung überzeugt sind, daß die Politik unfähig
    ist, die wichtigsten Probleme dieses Landes zu lösen

    32, dann erfaßt diese Stimmungslage auch die sogenannte Gesundheitspolitik.

  3. Das rechtsphilosophische
    Experiment des 20. Jahrhunderts, daß Zivilrecht nur „ein
    vorläufig ausgesparter und sich immer verkleinernder Spielraum
    für die Privatinitiative innerhalb des allumfassenden
    Öffentlichen Rechts
    “ sei

    33, ist gescheitert. Probleme müssen dort und von denen gelöst werden, die tagtäglich mit ihnen konfrontiert sind und mit ihnen zu handeln haben. Dies sind im Krankenhaus die Krankenhausmitarbeiter und nicht makroökonomische Fernsteuerer in einem irgendwie diffus und tagesaktuell konstituierten politisch-exekutiven Bereich.

  4. Für all diejenigen, die
    heute und künftig Krankenhäuser führen und
    bewirtschaften, kann das nur heißen, Hilfe fortan nicht mehr
    von der Politik zu erwarten, sondern selbst „die Ärmel
    aufzukrempeln
    “. Denn dieselbe Politik, die bislang Freiräume
    für das Krankenhauswesen verschaffte, wendet sich nun gegen den
    Bestand vieler Häuser selbst. Den hieraus resultierenden
    Gefahren kann sich nur derjenige mit Aussicht auf Erfolg stellen, der
    sich auf seine ureigensten Stärken besinnt. Diese sind:
    Eroberung lokaler Versorgungsfelder dort, wo die örtlichen
    Verhältnisse bestens bekannt sind; Ersinnen weiterer
    Leistungsspektren jenseits alles Budgetierungen; Arbeiten gegen
    Bezahlung in Geld durch Patienten; Denken des Undenkbaren (warum
    sollte für elektive Eingriffe kein Vorschuß gefordert
    werden?); Ernstnehmen des Bundeskartellamtes

    34, das in Krankenhäusern freie Wirtschaftsbetriebe sieht und Abschließen bislang ungedachter Bündnisse. Nur wer den Spagat zwischen dem noch bestehenden planwirtschaftlichen System und dem (geradezu naturgesetzlich zwangsläufig

    35) heraufziehenden marktwirtschaftlichen System bewältigt, wird mit seinem Haus die kommende (und intensiver werdende) Krise überstehen. Glauben Sie mir, man kann an den unglaublichsten Stellen arbeiten und Geld verdienen (ich weiß, wovon ich rede).

  5. Die Rückbesinnung auf
    erwiesenermaßen funktionsfähige Mechanismen – also auf
    Satteldächer, statt Flachdächer – wird nicht nur den
    Ausstieg aus den ressourcenverschwendenden Gesundheitsreformreformen
    ermöglichen. Sie wird zugleich die Versorgungsqualität
    verbessern und sämtliche vor Ort tätigen Akteure
    wirtschaftlich besser stellen. Verlierer dieser Neuausrichtung werden
    – gleichsam als Kollateralschaden des besonderen Art – alleine die
    heute politisch Verantwortlichen sein; sie verlieren an gesetzlich
    selbstzugewiesener Kompetenz, an Einfluß (und sicher auch
    schlicht an Macht). Aber wir im Krankenhaus können sicher sein:
    Die jahrtausendealten, althergebrachten Mechanismen von vertraglichem
    Tausch und überzeugungsgeleiteter, wertgebundener Barmherzigkeit
    werden auf dieser Welt noch kraftvoll existieren, wenn schon niemand
    mehr weiß, was eine DRG war, was ein RSA war, wie MVZs sich zur
    IV verhielten, was einen MDK bewegte und wo SGB und KHG miteinander
    kolliderten

    36.

Damit aber ende ich für hier und jetzt. Denn auch wenn der Ort noch so schön, die Menschen noch so freundlich und das Thema noch so spannend ist: Alle meine Geschäftsgeheimnisse verrate ich Ihnen heute nicht!


1 Der Vortrag wurde gehalten am 20. Oktober 2006 anläßlich
der Jahrestagung 2006 des Krankenhauszweckverbandes Köln, Bonn
und Umgebung e.V. in der WestLB Akademie auf Schloß
Krickenbeck, Nettetal
2 Bekanntlich wußte schon Konfuzius vor zweieinhalbtausend
Jahren, daß genau dort Gefahr droht, wo die Begriffe in
Unordnung kommen. In diese Vorstellung fügt sich – nebenbei
bemerkt – die jüngste juristische Begriffsverwirrung, daß
nun selbst freiberufliche Ärzte „Amtsträger“ im
strafrechtlichen Sinne sein können sollen; so jedenfalls:
Michael Neupert, Risiken und Nebenwirkungen – Sind niedergelassene
Vertragsärzte Amtsträger im strafrechtlichen Sinne? In NJW
2006, 2811 ff.
3 Der Kontext nötigt hier – wenigstens in der Fußnote – zu
einem Zitat. Die Zeitschrift „Der Arzt im Krankenhaus
berichtete wörtlich: „Der Minister sagte im Morgenmagazin
des Westdeutschen Rundfunks am 27. Juli dieses Jahres der
Moderatorin auf die Frage, warum unsere Krankenhäuser so teuer
seien, unter anderem, die Krankenhäuser seien so teuer, weil
sie jeweils einen großen Organisationsapparat darstellten, der
vielschichtige Leistungen zu erbringen habe. Man müsse aber
feststellen, daß die Kostensteigerungsraten inzwischen so
stark zurückgegangen seien, wie niemand von uns sich das vor
ein oder zwei Jahren hätte träumen lassen.
“ Das
Zitat stammt aus der Ausgabe 2/1979 dieser Zeitschrift (dort S. 68)
und der dort zitierte Landesgesundheitsminister hieß Prof.
Friedhelm Farthmann.
4 Vgl. § 2 Abs. 2 S. 1 SGB V und § 3 S. 2 SGB V
5 sog. „Kostendämpfungsgesetzgebung“
6 vgl. § 13 Abs. 2 Satz 7 SGB V sowie die geradezu skurril
anmutende gesetzliche Regelung, im Gesundheitswesen nun zwar
Medizinische Versorgungszentren in der Rechtsform einer GmbH
zuzulassen, deren wesentlichen Sinn aber – nämlich die
Beschränkung der persönlichen Haftung – durch das
Erfordernis der Abgabe von Bürgschaftsverpflichtungen der
Gesellschafter gegenüber den Kassenärztlichen
Vereinigungen gleich wieder zu kassieren; vgl. Alexander Denzer: Das
Vertragsarztänderungsgesetz, in: Arzt und Krankenhaus Heft
9/2006, S. 261 [262]. Während also die ratio legis des § 839
Abs. 2 BGB (privilegierte Haftungsregelungen für Beamte) war,
die Entscheidungsfreude der Beamten zu befördern, wird der
teilweise schon zum Amtsträger mutierte Vertragsarzt in die
Haftung genommen; wer könnte noch ernsthaft bezweifeln, daß
die Begriffe massiv in Unordnung geraten sind?
7 Krankenkassen dürfen weder Schulden machen, noch auch Vermögen
ansammeln, § 220 Abs. 2 und 3 SGB V; es sei denn der
Gesetzgeber gestattet Ausnahmen vom Verbot der Finanzierung durch
Darlehen, § 222 SGB V.
8Keine Gesellschaft, die ohne ihn auskäme“, sagt
Friedrich Stentzler in seinem eigenwilligen ‚Versuch über den
Tausch‘, Berlin 1979, S. 15; der Tausch ist ein „lebensnotwendiges
Prinzip der Natur
“ (a.a.O. S. 124). Und Jochen Hörisch
formuliert: „Im Tausch nämlich begegnen sich nicht bloß,
durch Geld vermittelt, zwei Waren, sondern auch
thematisierungsfähiges Sein und intersubjektiv verbindliches
Denken.
“ (Die Denkform des Tausches, F.A.Z. 22.07.1987, S.23)
9 zugleich erscheint dies auch – aus gleichsam paritätischen
Gründen – angezeigt, nachdem der Begriff der „Reform
hier eingangs schon ein wenig auf Kosten des Papstes definiert
worden war.
10 Joseph Kardinal Ratzinger: Politische Visionen und Praxis der
Politik, in: ders., Werte in Zeiten des Umbruchs, Freiburg, 2005, S.
10 ff. [12]
11 Roman Herzog: Staaten der Frühzeit, München 1988, S. 105
12§§ 2, 3, 220 SGB V
13 Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen
Rüttgers wurde also nur zu folgerichtig am 2. Oktober 2006 von
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit den bezeichnenden Worten
zitiert: „Noch weiß da keiner, wo es hinlaufen soll
(a.a.O. S. 1)
14 Gerechtigkeit scheint kein Wert mehr zu sein, es braucht gerechtere
Gerechtigkeit als bloße, einfache Gerechtigkeit, es braucht
soziale Gerechtigkeit“, oder?
15 Merke: „In keinem Land der Welt gibt es eine
Gesundheitsversorgung, die alle Wünsche sowohl des Patienten
als auch der Leistungsträger und dabei insbesondere der Ärzte
erfüllt. Ein solches System ist unfinanzierbar.
“ sagt
Fritz Beske, Zwei-Klassen-Medizin: Eine unbewiesene Behauptung, in
Nordlicht aktuell Heft 07/2006, S. 26
16 Edward O. Wilson: Die Einheit des Wissens, München 2000 (TB),
S. 261-264
17 Roland Baader: Geld, Gold und Gottspieler, Gräfelfing 2004, S.
5
18 OLG Frankfurt a.M., Urt. v. 13. Juni 2006, NJW 2006, 2931ff.
19 BVerfG Beschl. v. 8. Februar 2006 zum „Staatsnotstand“ infolge
staatlicher Zahlungsunfähigkeit in NJW 2006, 2907f. und BVerfG
Beschl. v. 4. Mai 2006 zur Frage, ob Verfassungsbeschwerden gegen
Akte des Internationalen Währungsfonds erhoben werden können
in NJW 2006, 2908 f.
20 Peter Sester findet klare Worte: „Es gehört zur gesetzlich
abgesicherten Lebenslüge der Bundesrepublik Deutschland und
anderer Industriestaaten, daß Staaten und
Gebietskörperschaften nicht in die Insolvenz geraten können.

NJW 2006, 2891 [2892]; aus sozialversicherungsrechtlicher Sicht mag
man hinzufügen: die §§ 155 IV, 164 I SGB V und
die auf sie verweisenden weiteren Normen erweisen eloquent, daß
diese Lebenslüge nicht nur auf Gebietskörperschaften
beschränkt ist, sondern sich auch auf gebietsunabhängige
öffentlich-rechtliche Körperschaften erstreckt: § 4
I SGB V.
21 Dietrich Dörner: Die Logik des Mißlingens, Reinbek 2003,
S. 79
22 Genau das aber schlägt Dietrich Dörner a.a.O. S. 241 als
möglichen Ausweg aus der Komplexitätsfalle vor!

23 Dietrich Dörner, a.a.O. S. 251; dieser Satz Dörners geht
übrigens auf das Ersterscheinungsjahr seines Buches (1992)
zurück und kann daher nicht auf empirischen Erfahrungen mit den
DRG beruhen; das Problem liegt also tiefer. Reinhard K. Sprenger
schreibt: „Man tut das Unwichtige, um dem Wichtigen nicht ins
Auge sehen zu müssen
.“ (Der dressierte Bürger,
Frankfurt/M 2005, S. 78)
24 Eine logische Absurdität der Sonderklasse liefert derzeit
übrigens niemand geringeres, als das Bundeskartellamt: Um
herbeizuargumentieren, daß die planungs-, budget- und
insgesamt sozialrechtlich strangulierten Krankenhäuser durchaus
noch freie Unternehmen mit (daher natürlich durch das
Kartellamt kontrollwürdigen! – wehe dem, der böses dabei
denkt) Wettbewerbsspielräumen seien, wird erklärt, es
bestünden wettbewerbsrechtlich relevante Verhaltensspielräume;
denn die Krankenhausplanung habe planungsrechtlich nur
nachzuvollziehen, was sich im Markt bereits entwickelt habe

(so die zusammenfassend berichtende Formulierung von Stefan
Bretthauer, NJW 2006, 2884 [2885]). Ist es häretisch,
angesichts dieser Argumentation zu fragen: Wenn Planung sowieso nur
Marktentwicklungen nachvollzieht – warum brauchen wir dann überhaupt
noch Planung?! Merke: „In den Politikwissenschaften ist das
kein Geheimnis: Der Staat beschäftigt sich zu 90% mit
Problemen, die er selbst erzeugt hat.
“ berichtet Reinhard K.
Sprenger a.a.O. S. 78
25 Dominik Geppert: Thatchers konservative Revolution, München
2002, S. 177
26 Dominik Geppert, a.a.O. S. 177 m.w.N.; denn: „Je länger er
Premierminister sei, erklärte Callaghan seinen Ministern bei
anderer Gelegenheit, desto weniger wisse er, was richtig und was
falsch sei
“. Diese historischen Zitate aus dem britischen
Kabinett decken sich wiederum bemerkenswert mit der Feststellung
Dietrich Dörners: „Je mehr man weiß, desto mehr weiß
man auch, was man nicht weiß. Es ist wohl nicht von ungefähr,
daß sich unter den Politikern so weniger Wissenschaftler
finden.
“ (a.a.O., S. 146).
27Äquivalenz muß hier nicht herrschen zwischen den
individuellen Parteien eines Vertrages, sondern nur zwischen dem input aller Einzahler und dem output an alle
Leistungserbringer (§ 220 SGB V); gerade das hat aber –
wie wir sehen – noch nie funktioniert, sonst bräuchten wir
keine notorische „Kostendämpfung“.
28 Das übrigens ist – nebenbei – Nietzsches Kritik an Kants
kategorischem Imperativ“: Wie soll der Einzelne wissen,
was für alle gut ist?
29 Denn es könne ja nicht sein, daß ein
Vorstandsvorsitzender für ein Pfund Butter genausoviel bezahlt,
wie seine Sekretärin, meinte Herr Geiger. Im übrigen sei
das neue System auch insbesondere deswegen gerecht, weil es viele
Menschen gebe, die zu alt oder zu schwach seien, die Waren so oft
von einem Behältnis in das andere umzufüllen; auch deren
Probleme würden durch den neuen Modus sozial freundlich
beseitigt.
30 Warum unser Herr Geiger selbst von seinen Zulieferern zu diesem
Zeitpunkt überhaupt noch Lieferungen bekam, obwohl er sie
längst nicht mehr bezahlen konnte (wovon auch?), weiß ich
nicht; Edeka ist schließlich kein Bundesland. Das ganze ist ja
aber auch nur ein Gleichnis.
31 Stephen van Dulken: Ideen, die Geschichte machten – Das große
Buch der Erfindungen, Düsseldorf 2004, S. 119
32 WAZ, 14. Oktober 2006, W0211 Nr. 239, Meinung und Tagesthema
33 so Gustav Radbruch in: Der Mensch im Recht, Göttingen 1957, S.
40; hier zit. nach Hans-Hermann Hoppe, Demokratie, Waltrop 2003, S.
92. Gleichwohl lehren auch heute noch (!) Sozialrechtler, wie z.B.
Eberhard Eichenhofer, Sozialrecht,
Tübingen, 5. Aufl. 2004, Rn 142, daß man traditionelle
Rechtsbegriffe wie Eigentum, Schuld und Vertrag beim Umbau des
Staates zu einem „aktivierenden Sozialstaat“ zu – so
wörtlich – zu „Sozialrechtskonstrukten“ umgestalten
müsse (was immer nun dies wieder sei?).
34 siehe oben, Fußnote 24!
35 Merke: Der Markt funktioniert immer, notfalls – illegal – als
Schwarzmarkt.
36 Man mache das Experiment: Ein krankenhausverwaltungsrechtlicher Laie
erhalte die Ausführungen des KGNW-Geschäftsberichtes 2005
zur Änderung des Datenrahmens für die Erarbeitung
regionaler Planungskonzepte unter Berücksichtigung der
Krankenhausstatistikverordnung. Was versteht er?

Septem artes liberales für den Europäischen Gerichtshof

Laudatio

oder

Arbeit muß sich wieder schonen?

Verleihung des „Gängelbandes 2006“ der Stiftung Liberales Netzwerk
an die Große Kammer des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften 29.
September 2006 Pariser Platz 6, Berlin

von Carlos A. Gebauer

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Gäste,

das „Gängelband des Jahres“ der Stiftung Liberales Netzwerk wird traditionell an denjenigen verliehen, der im vorangegangenen Jahr seine eigenen Interessen (oder die einer Minderheit) in herausragender Weise über das Interesse der Allgemeinheit gestellt hat und die persönliche Freiheit der einzelnen Bürger dadurch maßgeblich behindert. Zu ihrem Bedauern mußte die Stiftung in diesem Jahr erstmals Anlaß sehen, jenes „Gängelband“ einem Organ der Rechtspflege zu verleihen.

Die Große Kammer des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften in Luxemburg – nachfolgend auch: „der EuGH“ -hat mit ihrer Entscheidung „Mangold gegen Helm“ vom 22. November 2005[1] ihre eigenen richterlichen Befugnisse in ganz bemerkenswerter Weise ausgedehnt. Zugleich hat sie die rechtlichen und wirtschaftlichen Chancen der deutschen und europäischen Bürger, arbeitend tätig zu werden, markant eingeschränkt. Im einzelnen:

I.

Der Unterschied zwischen einer deutschen Ehe und einem deutschen Arbeitsvertrag ist: Eine Ehe läßt sich vergleichsweise unproblematisch und folgenlos wieder beenden. Hat hingegen ein Arbeitgeber für seinen Mitarbeiter keine Arbeit mehr, dann kann er seine Lohnzahlungspflicht in aller Regel nur beenden, wenn seine Kündigung „sozial gerechtfertigt“ ist[2].

Allerdings weiß eigentlich – abgesehen von unbeugsamen hard core Leninisten – niemand, was denn überhaupt eine solche „soziale Rechtfertigung“ sein könnte. Daher hat alleine der wohl berühmteste juristische Kommentar zu den 80 deutschen Regeln des Kündigungsschutzgesetzes 3298 Seiten[3]; mit seinen 2,3 Kilo Gewicht kann man also durchaus – wie Gerd Habermann trocken bemerkt – einen Menschen totschlagen[4]. Kurz: Der Abschluß eines Arbeitsvertrages ist daher – aus Unternehmersicht – mit ganz erheblichen („sozialen“) Unsicherheiten und Gefahren verbunden. Denn wer manövriert sich schon selber gerne in eine Sackgasse ohne Wendemöglichkeit?

Bei genauerer Betrachtung lauert hier übrigens eine durchaus perfide arbeitsrechtlich-ethische Paradoxie. Dem Arbeitgeber wird nämlich mit diesem Kündigungsrecht faktisch verunmöglicht, einen Arbeitsvertrag abzuschließen, von dem er auch nur halbwegs verläßlich – verantwortlich und verantwortbar – abschätzen kann, ob er ihn auf Dauer wird erfüllen können. Der sozialphilosophische Impetus, zum Schutze von Arbeitnehmern Arbeitsverträge möglichst ‚unkündbar‘ auszugestalten, führt also im Effekt nicht dazu, Arbeitgeber intensiver „verantwortlich“ zu machen, sondern es wird ganz im Gegenteil ein unverantwortliches Agieren des Arbeitgebers erzwungen: Er muß Arbeitsverträge abschließen, deren weiteres Schicksal nicht mehr im Bereich eines von ihm noch überschaubaren Verantwortlichkeitsbereiches liegt; der politisch (vermeintlich) verantwortlich gemachte Arbeitgeber wird also mit rechtlichen Mitteln zu ökonomisch unverantwortlichem Handeln gezwungen.

Anders gesagt: Wer sich in halbwegs verantwortlicher Weitsicht die Chance erhalten will, auf dereinst veränderte Bedingungen angepaßt reagieren zu können, der stellt sein gegenwärtiges Verhalten auf solche Unwägbarkeiten ein. Dies hat zweierlei Konsequenzen: Erstens lasse ich mir nicht auf die Stirn tätowieren: „In ewiger Treue – Schalke 04“; und zweitens schreckt jeder rational (und verantwortlich!) handelnde Arbeitgeber davor zurück, Mitarbeiter einzustellen, von denen er nicht weiß, ob er sie auf immer beschäftigen kann[5].

Nach wahrscheinlich mehrfacher Lektüre der genannten 3298 Seiten stellten sich daher eines Tages empfindsamere Arbeitsrechtler die Frage: Werden – möglicherweise, vielleicht, unter Umständen, manchmal – Arbeitsverträge namentlich mit älteren Mitbürgern deswegen nicht abgeschlossen, weil ausgerechnet verantwortungsbewußte Unternehmer das Risiko einer arbeitsvertraglichen „Dauer-Ehe“ scheuen?

So begab es sich, daß eines Tages – nach langen, langen Überlegungen – experimentell versucht wurde, grundlos befristete Arbeitsverträge gesetzlich zu erlauben. Einem 60jährigen deutschen Arbeitnehmer wurde also gestattet, mit einem Arbeitgeber zu vereinbaren, daß beide nur für eine bestimmte Dauer arbeitsvertraglich verbunden wären. Später senkte der Gesetzgeber diese Altersgrenze sogar noch auf 58 Jahre und dann – damit wird es langsam spannend – auf 52 Jahre.

Nun allerdings traten die weniger empfindsamen Arbeitsrechtler auf den Plan: Hat denn, fragten sie, ein Mann, der erst seit 34 Jahren volljährig ist, schon hinreichend persönlichen Überblick, um eine so weitreichende Entscheidung wie den Abschluß eines befristeten Vertrages alleine zu treffen? Muß ihm nicht der starke Arm eines fürsorglich-strengen Gesetzgebers zu seinem individuellen, wirtschaftlichen Glück verhelfen?

In der Tat muß man den Zweiflern zugestehen, daß ein Mann in dieser Situation regelmäßig nicht in der Lage sein wird, sich über die Risiken und Nebenwirkungen eines nur befristeten Arbeitsverhältnisses kompetent mit seinen Enkelkindern zu beraten. Die persönliche Abwägung zwischen befristeter Arbeit und unbefristeter Arbeitslosigkeit ist ein hartes Brot, das man nur ungerne ganz alleine kaut.

Also forderten die üblichen Schutzmächte des kleinen Mannes im deutschen Gesetzgebungsverfahren, derartige Befristungsmöglichkeiten legislativ zu unterlassen. Nach ihrer Vorstellung sollte eine jede derartige Befristung verboten bleiben, um jedem betroffenen Arbeitnehmer auch an dieser Stelle den vollen Breitspektrums-Schutz sozialer Wohltätigkeit gewähren zu können. Doch ihre Warnrufe blieben ungehört. §14 III des Teilzeit- und Befristungsgesetzes trat in Kraft. Die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen auch mit Menschen ab dem 52. Lebensjahr wurde geltendes Gesetz.

Damit war nun eine – vermeintlich – ausweglose Situation geschaffen. Eine jener Konstellationen also, in denen selbstlose Helden auf den Plan treten müssen, um in unerschrockenem Eifer das Ungeheuerliche doch noch abzuwenden. So geschah es, daß sich tatsächlich zwei tapfere Männer aufmachten, um alle Deutschen jenseits des 52. Jahres von den drohenden Schrecknissen und Gefahren eines befristeten Arbeitsvertrages zu erretten[6].

Der Münchner Rechtsanwalt Rüdiger Helm, Mitglied der Gewerkschaft Ver.di und Mitglied der Gewerkschaft IG Bau und Steine und Erde und Mitglied der Gewerkschaft Nahrungsmittel und Gaststätten und Genuß, schloß ohne Rücksicht auf seine persönlichen Risiken am 26. Juni 2003 als Arbeitgeber mit einem Herrn Werner Mangold einen – befristeten – Scheinarbeitsvertrag. Ohne sachlichen Grund und nur gestützt auf die ungeliebte Klausel des §14 III S. 4 Teilzeit- und Befristungsgesetz schrieb man nieder, am 28. Februar 2004 arbeitsrechtlich wieder auseinandergehen zu wollen.

Beide Männer mochten das Gesetz nicht. Beide glaubten, es müsse unwirksam sein. Beide wollten es bekämpfen. Doch als der angestellte Werner Mangold vor das Arbeitsgericht München zog, um die Unwirksamkeit der Befristung geltend zu machen, da stimmte ihm sein verklagter Arbeitgeber, der gewesene Hans-Böckler-Stipendiat Rüdiger Helm, nicht zu. Vielmehr schützte er (gegen seine innersten Überzeugungen) prozessual vor, er glaube an die Befristungsmöglichkeiten des deutschen Gesetzes.

Das Arbeitsgericht hätte die Sache zügig erledigen können. Scheingeschäfte sind rechtsunwirksam. Mangels Rechtsschutzinteresses wäre damit die Klage als Prozeß-Attrappe ohne weiteres abweisungsreif gewesen. Doch aus Gründen, die die Welt nicht kennt, beschloß das Arbeitsgericht München, sich der Sache anzunehmen. Es setzte sein eigenes Verfahren aus und legte dem EuGH im sogenannten Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 des EU-Vertrages im Kern die Frage vor, ob das deutsche Befristungsrecht denn überhaupt gültig sein könne. Damit endlich lag der Fall unseren heutigen Preisträgern, den Hohen Räten der elfköpfigen Großen Kammer des Gerichtshofes, zur Bearbeitung vor.

In der einschlägigen Fachliteratur ist das prozessuale Verhalten des Münchner Rechtsanwaltes als ein – so wörtlich – „Stück aus dem Tollhaus“ und als „abgekartetes Spiel“ bezeichnet worden[7]. Die Große Kammer des Gerichtshofes mochte sich jedoch dieser Kritik nicht anschließen. Auch wenn der Streit in Wahrheit „fiktiv oder künstlich[8] sei, so lasse sich doch irgendwie nicht übersehen, „daß dieser Rechtsstreit tatsächlich besteht[9]. Also werde auch entschieden!

Die Begründung, mit der die Große Kammer des Gerichtshofes schlußendlich ausführt, vereinbarte Befristungen zwischen den Parteien eines Arbeitsvertrages seien fortan als rechtsunwirksam anzusehen, nötigt dem geschulten Auge in vielerlei Hinsicht hohen Respekt ab. In einem argumentativen Hindernislauf der juristischen Extraklasse werden die mannigfaltigen Hürden aus europäischen Richtlinien und nationalem Recht, aus Umsetzungsfristen und Normhierarchien gleichermaßen behende wie beherzt genommen und überwunden. Die dargestellten Überlegungen des Gerichtes auf den Wipfeln der Rechtsordnung hätten sogar in ihrer formalen Dimension durchaus jedem scholastischen Philosophen zur Ehre gereicht; allerdings wirklich nur in formaler Hinsicht, doch darauf wird noch zurückzukommen sein. In der Sache selbst meinte die Kammer:

„Wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat, läuft die Anwendung nationaler Rechtsvorschriften … jedoch darauf hinaus, daß allen Arbeitnehmern, die das 52. Lebensjahr vollendet haben, unterschiedslos … bis zur Erreichung des Alters, ab dem sie ihre Rentenansprüche geltend machen können, befristete, unbegrenzt häufig verlängerbare Arbeitsverträge angeboten werden können. Diese große, ausschließlich nach dem Lebensalter definierte Gruppe von Arbeitnehmern läuft damit während eines erheblichen Teils ihres Berufslebens Gefahr, von festen Beschäftigungsverhältnissen ausgeschlossen zu sein, die doch … einen wichtigen Aspekt des Arbeitnehmerschutzes darstellen.“[10]

Jener Gefahr also, daß einem 52jährigen 13 Jahre vor Erreichen seines Rentenalters noch ein Arbeitsvertrag angeboten werden könnte, wollte die Große Kammer des Gerichtshofes entgegentreten. Um dies zu erreichen, erklärte die Kammer am 22. November 2005 schlichtweg alle deutschen Gesetze für „unanwendbar“, die Gegenteiliges besagen[11]; die nationalen Gerichte dürften diese Gesetze nun gar nicht mehr beachten.

Erstmals in der Geschichte des EuGH wurde damit eine europäische Richtlinie unmittelbar für die Beurteilung der Rechtsbeziehungen unter Privatleuten – nämlich den Parteien eines Arbeitsvertrages – herangezogen. Nach Art. 249 III des EU-Vertrages sind Adressaten dieser Richtlinien jedoch nur die Mitgliedsstaaten der EU, nicht aber deren Bürger unmittelbar. Die Preisträgerin hat somit nicht nur das geltende Arbeitsrecht in Deutschland und Europa mit seinen letzten Restbeständen bürgerlicher Autonomie zwischen vertragsschließenden Menschen inhaltlich modifiziert; sie hat zugleich die eigenen Rechtsprechungskompetenzen weit über das ausgedehnt, was bis dahin allgemein anerkannten Europarechtes war.

Folgt nun aber aus dieser Rechtsprechung tatsächlich eine Beschränkung der bürgerlichen Handlungsfreiheiten? Oder verdient die trickreich provozierte Entscheidung des EuGH in der Sache und im Ergebnis vielleicht gar Zustimmung?

II.

Wir glauben, daß die genannte Entscheidung des EuGH nicht ansatzweise geeignet ist, die rechtliche und wirtschaftliche Situation der Millionen von Arbeitslosen in der Europäischen Union zu verbessern. Wir sind im Gegenteil überzeugt davon, daß die Große Kammer des Gerichtshofes mit ihrer Judikatur im Effekt exakt das Gegenteil dessen erreicht, was sie anzustreben angibt. Nach unserer Auffassung ist der von allen Aspekten des Arbeitnehmerschutzes herausragendste dieser: Daß ein Mensch überhaupt Arbeit hat! Genau das aber wird verfehlt. Und – das Gericht hätte es besser wissen können.

Hätten die Richter nämlich nicht lediglich eine tollkühne Subsumtions-Expedition durch das Urwald-Dickicht der europäischen Normverästelungen unternommen, sondern wären sie ihrem Thema zunächst behutsam und in vorsichtigem Respekt nähergetreten, dann dürften sich ihnen folgende Überlegungen geradezu aufgedrängt haben:

Juristen genießen Respekt bekanntlich nicht zuletzt deswegen, weil sie – seit dem europäischen Mittelalter – neben Medizinern und Theologen Angehörige einer der drei „höheren Fakultäten“ sind. Während Mediziner für die körperliche und Theologen für die seelische Gesundheit sorgen sollen, kommt den Juristen traditionell die Aufgabe zu, tunlichst gesunde gesellschaftliche Verhältnisse zu ermöglichen. Ihr Instrumentarium hierzu sind wesentlich Verbote und Gebote, ebenso wie Anreize und Abschreckungen.

Mord und Totschlag beispielsweise versuchen Juristen seit jeher dadurch zu verhindern, daß sie dem möglichen Täter mit seiner Bestrafung ein Übel androhen. Umgekehrt verstehen sie beispielsweise die steuerliche Privilegierung schadstoffarmer Fahrzeuge zugunsten des gefährdet geglaubten Weltklimas als ein Gut, nach dem der Mensch streben solle[12].

Dies vorausgeschickt, hätte die Große Kammer des Gerichtshofes also durchaus die naheliegende Frage erkennen können: Ist es für den Anbieter eines Arbeitsplatzes eher ein erstrebenswertes Gut, auf unabsehbare Zukunft mit einem a la longue[13] vielleicht wirtschaftlich unsinnigen Arbeitsverhältnis belastet zu sein, oder stellt sich der Abschluß eines solchen Arbeitsvertrages für ihn vornehmlich als ein potentielles Übel dar?

Es steht zu befürchten, daß die Große Kammer der Gerichtshofes sich diese Frage tatsächlich nicht gestellt hat. Das aber ist für eines der allerhöchsten Gerichte der Europäischen Union und seine Reputation nicht schmeichelhaft. Bernd Rüthers, einer der hervorragendsten Kenner nicht nur des deutschen Arbeitsrechtes, formuliert hierzu:

„Einen vorläufigen Gipfel beschäftigungsfeindlicher Regulierung hat der EuGH mit einem Urteil vom 22. November 2005 … [erklommen]. … Die Opfer dieser Regulierung sind genau diejenigen, die geschützt werden sollen, nämlich die älteren Arbeitslosen. Sie bleiben draußen. Von der Doppelwirkung überzogenen Sozialschutzes zu Lasten der vermeintlich Geschützten nimmt der EuGH offenbar keine Kenntnis. … Offenbar ist mit real sechs bis sieben Millionen Arbeitslosen die Schmerzgrenze noch nicht erreicht. Das pathologische Lernen geht weiter. Fortschritte sind nur von solchen wissenschaftlichen Beiträgen zu erwarten, welche die Ursachen des gegenwärtigen Übelstandes nicht in Teilen verkennen oder beschönigen.“[14]

Daß die Rede von einer „Doppelwirkung“ des Schutzes in diesem Zusammenhang eher noch eine vornehm-zurückhaltende Untertreibung ist, liegt auf der Hand. Genauer ist, mit den nüchternen Worten des großen Roland Baader schlicht festzustellen, daß derartige Regulierungen nichts anderes machen, als ‚nach hinten loszugehen[15].

III.

Weil aber bekanntlich alle Kritik immer nur so gut ist, wie ihr eigener konstruktiver Beitrag zur Problemlösung, gestatten wir uns, die Mitglieder der Großen Kammer des Gerichtshofes an dieser Stelle auf einige Gesichtspunkte aufmerksam zu machen, die in der künftigen Rechtsprechung dieses Gerichtes zum Thema vielleicht – respice finem! – ihren Niederschlag finden sollten.

Bekanntlich konnte nur derjenige Student einer mittelalterlichen Universität sein Studium an einer „höheren Fakultät“ aufnehmen, der zuvor die „septem artes liberales“, die sieben freien Künste, erfolgreich absolviert hatte. Neben den vier Wegen des Quadrivium (aus Musik, Astronomie und Astrologie, Geometrie und Naturforschung sowie Arithmetik) waren die drei Wegedes Trivium (aus Logik und Dialektik, Grammatik und Rhetorik) zu beschreiten. Hätte die Große Kammer des Gerichtshofes also vor dem 22. November 2005 eine Art bildungsbürgerlichen Blick auf diese sieben freien Künste geworfen, so wäre ihr zumindest folgendes offenbar geworden:

Ein erster Blick auf das Fach Musik hätte gezeigt: Musiker unterscheiden traditionell zwischen Komponisten und Interpreten. Nur der Komponist gestaltet das Werk originär. Dem Interpreten hingegen kommt die Aufgabe zu, das Werk zu verstehen und es so darzubieten, wie der Komponist es hat schaffen wollen. Das Hinzufügen eigener Noten ist – abgesehen von eigens vorgesehenen Ausnahmen, wie Kadenzen – nicht Aufgabe des Interpreten.

In dem gleichen Sinne haben auch Richter das Gesetzeswerk als die Gestaltung einer anderen Gewalt zu verstehen und es lediglich anzuwenden. Die „Primärorientierung am gesetzgeberischen Normzweck[16] ist daher die zentrale rechtliche Aufgabe aller Juristerei. Setzt sich ein Gericht also – beispielsweise durch eine Übersteigerung Europäischer Richtlinien zu unmittelbar geltendem Recht unter Bürgern – über den Willen des normgebenden Komponisten hinweg, so stellt es gleich auch das Verfassungsprinzip der Volksherrschaft in Frage: Wo der Wille des Souveräns unbeachtet bleibt, da wackelt gleich die ganze Verfassung (wenn man denn überhaupt eine hat)[17].

Durch diese richterliche Zurückhaltung werden der Rang und die Bedeutung des Interpreten übrigens auch nicht geschmälert. Denn man muß durchaus ein großer Künstler sein, um sowohl den tango argentino in Buenos Aires zu spielen[18], als auch Richard Wagner in Israel; dennoch hat Daniel Barenboim weder in dem einen, noch in dem anderen Falle kompetenzüberschreitend eigene Noten „hinzugefügt“.

Ein zweiter Blick auf die Fächer Astronomie und Astrologie hätte gezeigt: Dort, wo manche einen „großen Wagen“ o.ä. am Himmelszelt zu sehen glauben, da ist gar nichts dergleichen. Wer also verstanden hat, daß ein Wechsel der eigenen Betrachtungsperspektive ganz neue Erkenntnisse ermöglicht, der hält Skorpiongeborene fortan nicht mehr für rundweg bissig, Löwegeborene nicht mehr für fraglos tapfer – und vielleicht auch 52jährige für fähig, einen befristeten Arbeitsvertrag eigenverantwortlich abzuschließen.

Ein dritter Blick auf die Fächer Geometrie und Naturforschung hätte gezeigt: Was wir Menschen in der Welt zu entdecken meinen, haben wir schon vorher zumeist durch unser forschendes Vorverständnis in die Beobachtung hineingelegt. Werner Heisenberg schrieb 1959: „Die Wirklichkeit, von der wir sprechen können, ist nie die Wirklichkeit an sich, sondern … in vielen Fällen eine von uns gestaltete Wirklichkeit.“[19]. Und der Biologe Francisco Varela formuliert: „Unterscheidungen, die … unsere Welt erschaffen, enthüllen [im Grunde nur] … die Unterscheidungen, die wir [zuvor selbst] machen. Und sie beziehen sich viel mehr auf den Standpunkt des Beobachters als auf die wahre Beschaffenheit der Welt … Indem wir der Welt [also nur] in ihrem bestimmten So-Sein gewahr werden, vergessen wir, was wir [zuvor] unternahmen, um sie [anschließend] in diesem So-Sein zu finden.“[20].

Indem also die Große Kammer des Gerichtshofes – ohne jeden erkennbaren Ansatz einer eigenen Kritik – die Unterscheidung zwischen einerseits Arbeitgebern und andererseits Arbeitnehmern zur Grundlage ihrer Rechtsprechung macht, rennt sie geradezu zwangsläufig und denknotwendig in genau die kognitive Falle, die sie sich selbst zuvor unbedachtsam stellt.

Jürgen Eick bemerkte zu der klassenkämpferischen Zerschneidung der Welt in zwei Teile: „ Natürlich gibt es den Konflikt zwischen den Arbeitnehmern und der Leitung der Unternehmen. … Aber er ist nur einer von vielen. Im Alltag dominieren andere, nicht weniger wichtige Spannungen, zum Beispiel zwischen den verschiedenen Ressorts: Produktion kontra Vertrieb …“[21]. Wenn also die Große Kammer schon den Mut zu einer „richterlichen Gesetzeskorrektur[22] aufbringen wollte, dann wäre wohl eher geboten gewesen, (endlich) diese längst überholte, vulgär marxistische Dichotomie aus dem vorvergangenen Jahrhundert in Frage zu stellen[23].

Ein vierter Blick auf die Arithmetik hätte gezeigt: Der Zeitraum, den ein – wie auch immer beschaffenes – Gremium für das Ausgeben einer Summe aufwendet, ist erfahrungsgemäß umgekehrt proportional zur Höhe des auszugebenden Betrages. Mit dem finanziellen Umfang nämlich wächst immer auch die Komplexität des Problemes. Ab einem bestimmten Punkt sind die Summen, um die es geht, so groß, daß man überhaupt nicht mehr rational über sie diskutieren kann.[24] Erschwerend kommt schließlich hinzu, daß Beträge ab einer bestimmten Größe für die Beteiligten gar nicht mehr vorstellbar sind.

In einem Ratgeber für die Eltern schulpflichtiger Kinder heißt es hierzu (und über einschlägige Experimente): „Schulkinder … wußten …, daß sich eine bestimmte Menge von Bonbons nicht etwa dadurch verändert, daß man sie in Reih‘ und Glied aufreiht, auf dem Tisch verteilt oder zu einem kleinen Berg anhäuft. Schulkinder … wissen also: Die Menge einer Substanz ändert sich nicht, wenn man ihr nichts hinzufügt und nichts wegnimmt. Sie haben das ‚Gesetz von der Erhaltung der Substanz‘ begriffen[25].

In diesem Punkt unterscheiden sich Schulkinder also deutlich von Sozialpolitikern und Sozialrechtlern. Der Sozialrechtslehrer Eberhard Eichenhofer beispielsweise meint, der sozialrechtliche Transfer aus den Einkünften Beschäftigter schwäche zwar deren Kapitalbildung und Investivkraft; da aber „Sozialrecht Konsumchancen für Berechtigte begründet, weitet es die Konsumnachfrage aus“, nicht zuletzt weil „auch die Sozialleistungsempfänger sparen[26]. Das komme einer Volkswirtschaft insgesamt gedeihlich zugute. Daß aber durch Umverteilung Substanz niemals vermehrt, sondern allenfalls vermindert werden kann, ist für Eichenhofer – in sozusagen brutalstmöglicher Dyskalkulie – nicht vorstellbar. Und nichts anderes gilt, leider, zuletzt auch für die hier interessierende Nachfrage nach Arbeitsleistungen: Sie wird nicht dadurch arithmetisch größer, daß man befristete Arbeitsverträge rechtlich verbietet.

Ein fünfter Blick auf Logik und Dialektik hätte gezeigt: Wissenschaftliche Dialektik hat (jedenfalls nach Schopenhauer) zur Hauptaufgabe, „Kunstgriffe der Unredlichkeit im Disputieren aufzustellen und zu analysieren, damit man sie bei wirklichen Debatten gleich erkenne und vernichte[27]. Über die Redlichkeit des vor der Großen Kammer geführten Verfahrens war hier – im Hinblick auf den Attrappen- und Scheincharakter des Prozesses – schon berichtet. Alle weiteren Darlegungen dazu erübrigen sich.

Ein abschließender sechster und siebter Blick gemeinsam auf Grammatik und Rhetorik hätte gezeigt: Die Große Kammer des Gerichtshofes argumentiert zentral mit den Begriffen von Diskriminierung und Gleichbehandlung[28]. Schwerer kann man es sich intellektuell kaum machen. Denn gerade „Gleichheit“ ist – mit den weisen Worten Wolf Schneiders – nichts anderes als ein „hochelastischer Ballon, aus dem man nahezu jede Definition herauszaubern kann[29]. Wirkliche Gleichheit nämlich, absolute Gleichheit, findet sich nur dort, wo Identität vorliegt. Die aber ist weder politisch, noch juristisch irgendwie sinnreich fruchtbar zu machen[30]. Also bezieht sich „Gleichheit“ in diesem (nicht mathematisch-logischen, sondern gesellschaftlichen) Kontext herkömmlich stets nur auf Ähnlichkeiten, die es möglichst zu nivellieren gelte[31].

In derartigen Wirrnissen kann sich ein Gericht indes nur verheddern und verstricken, grammatikalisch, semantisch und juristisch: Was eigentlich genau soll „antidiskriminiert und gleichgemacht“ werden? Alt und jung? Schwach und stark? Arbeitgeber und Arbeitnehmer[32]?

Würde eine wirkliche, wahrhafte Gleichheit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht eigentlich auch erfordern, daß der Arbeitnehmer seinerseits nur kündigen kann, wenn seine Kündigung dem Chef gegenüber „sozial gerechtfertigt“ ist?! Müssen wir das deutsche Kündigungsschutzgesetz vielleicht im Lichte der totalisierten Gleichstellung Aller künftig entsprechend – europarechtskonform – teleologisch extensiviert interpretieren? Wir erinnern uns: Gerade diese letztere Differenzierung hatte die Große Kammer erst selbst in die Welt der vermeintlichen Tatsachen hineingetragen, um sie sodann (mit der gerichtlichen Rechtsmacht eines Urteiles) aus dieser Welt wieder zu vertreiben. Ein wahrhaft abenteuerliches Unterfangen, zu den tragischen Lasten von Millionen arbeitslosen Menschen in Europa, die nicht arbeiten, sondern sich – vermeintlich – „schonen“ dürfen.

IV.

Was folgt aus alledem?

Die Preisträgerin argumentiert in letzter Konsequenz nach platonischem Kommando-Stil. Nicht Arbeitgeber und Arbeitnehmer, nicht Bürger, nicht Menschen, wissen, was für sie selber gut ist. Sondern der richtende europäische Liniengeber verfügt aus der makroökonomischen Ferne über ihre individuellen Schicksale. Damit erhebt die Große Kammer des Gerichtshofes die normsetzende Union in den Rang eines königlichen Herrschers. Peter Sloterdijk sagt:

Der platonische Herr findet die Raison seines Herrschens allein in einem züchterischen Königswissen, also einem Expertenwissen der seltensten und besonnensten Art. Hier taucht das Phantom eines Expertenkönigs auf, dessen Rechtsgrund die Einsicht ist, wie Menschen – ohne je ihrer Freiwilligkeit Schaden anzutun – am besten zu sortieren und zu verbinden wären. Die königliche Anthropotechnik verlangt nämlich von dem Staatsmann, daß er die für das Gemeinwesen günstigsten Eigenschaften freiwillig lenkbarer Menschen auf die wirkungsvollste Weise ineinanderzuflechten versteht, so daß unter seiner Hand der Menschenpark zur optimalen Homöostase gelangt.“[33]

Wir lehnen das ab. Es entspricht nicht dem europäischen Kulturverständnis und es entspricht nicht unserem Weltbild, wenn ein Mensch aus Gründen der Gleichstellung (oder gar demnächst noch mangels individueller Produktivität unter dem sogenannten Mindestlohn[34]) die letzten 13 Jahre seines Arbeitslebens ohne Arbeit bleiben muß, weil er nicht in ein Arbeitsverhältnis eingeflochten werden kann. Menschen sollen sich nur selbst ‚sortieren und verbinden‘. Andernfalls werden sie wie leblose Elemente von fremden Kausalverläufen durchströmt. Das aber ist mit dem Prinzip der Menschenwürde nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nicht vereinbar.

Die Preisträgerin möge dies ernstlich erwägen. Sonst wird demnächst jemand sagen: „Die Gewerkschaften verknappen listig das Angebot an Arbeit, um die Löhne ihrer arbeitenden Mitglieder künstlich zu steigern und der EuGH macht sich zur verlängerten Werkbank dieser Strategie!“. Was sollten wir einfachen Europäer dann sagen, um unser Hohes Gericht zu verteidigen?

  • [1] Gesch.-Nr.: C-144/04; NJW 2005,
    3695 ff.
  • [2] so will es bekanntlich das deutsche
    Kündigungsschutzgesetz“, das derzeit (wieder) für alle Betriebe ab
    fünf Mitarbeitern gilt
  • [3] vgl. Bernd Rüthers: Der Geltende
    Kündigungsschutz – Beschäftigungsbremse oder Scheinproblem; NJW 2006, 1640
    ff.
  • [4] Gerd Habermann: Richtigstellung
    – Ein polemisches Soziallexikon, München, 2006, S. 23, zum Stichwort „Arbeitsrecht
  • [5] Nach der heutigen, ständigen Rechtsprechung
    des Bundesarbeitsgerichtes werden Arbeitgebern in der Tat „dauerhaft wirtschaftlich
    unsinnige Arbeitsverträge zugemutet
    “, vgl. Georg Annuß und Alexander Bartz,
    NJW 2006, 2153 [2156] m.w.N.
  • [6] Was wäre wohl, wenn alle notorisch
    arbeitslosen älteren Mitbürger diese beiden Vorkämpfer eines Tages auf Schadensersatz
    verklagten, weil ihnen die Chance zur Bestreitung des eigenen Lebensunterhaltes
    aus ihrer eigenen Hände Arbeit ihretwegen versagt blieb?
  • [7] Jobst-Hubertus Bauer und Christian
    Arnold: Auf ‚Junk‘ folgt ‚Mangold‘ – Europarecht verdrängt deutsches Arbeitsrecht;
    NJW 2006, 6 ff. [ibid Fn 7, m.w.N.]
  • [8] EuGH NJW 2005, 3695 [3696], Tz.
    32
  • [9] EuGH NJW 2005, 3695 [3696], Tz
    38; mit dieser zirkelschließenden Argumentation läßt sich übrigens schlechterdings
    alles zum Rechtsstreit machen, denn ein Schriftstück, das nicht zwischen zwei
    Aktendeckel geheftet werden könnte, gibt es nicht
  • [10] EuGH NJW 2005, 3695 [3697],
    Tz 64
  • [11] EuGH NJW 2005, 3695 [3698],
    Tz 78
  • [12] Daß diese elementaren juristischen
    Handwerkszeuge dem modernen Gesetzgeber zunehmend entgleiten, wenn er z.B.
    zu privater Rentenvorsorge auffordert, aber gleichzeitig kontinuierlich Sparerfreibeträge
    minimiert, ist ein anderes Thema, das hier nicht vertieft werden soll.
  • [13] Französisch ist übrigens traditionell
    die interne Gerichtssprache bei dem EuGH; da – wie die Westdeutsche Allgemeine
    Zeitung [WAZ] am 21. September 2006, S. 1, berichtet – nach einer aktuellen
    FORSA-Umfrage weltweit nur Frankreich noch mehr sozialstaatliche Umverteilung
    betreibt als Deutschland (wir sind also diesbezüglich [noch?] nicht Weltmeister),
    mögen hier gewisse weltanschauliche Ursachen für die jüngste Judikatur der
    Preisträgerin zu suchen sein; ein Tummelfeld für Sozio- und Psycholinguisten…
  • [14] Bernd Rüthers: Der geltende
    Kündigungsschutz – Beschäftigungsbremse oder Scheinproblem, NJW 2006, 1640
    [1642]
  • [15] Roland Baader: Fauler Zauber
    – Schein und Wirklichkeit des Sozialstaates, Gräfelfing 1997, S. 136. Zu diesem
    backfire-effect“ ist aber noch Perfideres anzumerken: Angenommen,
    eine Regierung würde mich zum ‚Bundesbeauftragten für die Versklavung der
    deutschen Arbeiterschaft
    ‘ ernennen. Nähme ich diese Aufgabe ernst, läge
    nichts näher, als exakt so vorzugehen, wie es heute – vermeintlich zum sozialen
    Schutz der Arbeitnehmerschaft – geschieht: Indem ich nämlich die Kündigung
    einmal abgeschlossener Arbeitsverträge durch den Arbeitgeber über alle Maßen
    erschwere und gleichzeitig die weiteren sogenannten sozialen Besitzstände
    der Arbeitnehmer an ihren Arbeitsplätzen (Höhe der Löhne, Länge des Urlaubes
    etc.) so ausgestalte, daß auch der Arbeitnehmer selbst kaum noch vernünftige
    Gründe finden kann, sein bestehendes Arbeitsverhältnis zu kündigen, zementiere
    ich die einmal gegebenen Verhältnisse. Läßt aber niemand – in persönlicher
    Abwägung seiner diversen Lebensumstände insgesamt – den eigenen Arbeitsplatz
    los, weil er durch den Verlust seiner „Besitzstände“ per saldo nur
    verlieren kann, blockiert er jede Möglichkeit für einen Arbeitnehmerkollegen,
    an seiner Stelle die Arbeit weiterzuführen. In derselben Weise verhalten sich
    – individuell rational – alle übrigen Arbeitnehmer. Dem fiktiven ‚Bundesbeauftragten
    für die Versklavung der Arbeiterschaft
    ‘ spielte dies nur in die Hände,
    denn alle Arbeitnehmer sind im Ergebnis nur noch damit befaßt, sich untereinander
    im Fortkommen selbst zu blockieren. Schachmatt.
  • [16] Bernd Rüthers: Rechtstheorie,
    2. Aufl., München 2005, Rn 724
  • [17] vgl. hierzu Bernd Rüthers: Rechtstheorie,
    2. Aufl., München 2005, Rn 707f. Im übrigen: Die oft gehörte methodische Exkulpation,
    wonach ein multilingualer Gesetzgeber sich unausweichlich immer wieder auch
    undeutlich äußern müsse, was größere Interpretationsbefugnisse der Normanwender
    (Richter) erfordere, kann also – schon jenseits des deutschen Verfassungsgedankens
    vom sogenannten „Wesentlichkeitsvorbehalt“, demzufolge stets der parlamentarische
    Souverän selbst (!) das zu entscheiden habe, was wesentlich ist – nicht wirklich
    überzeugen. Denn unter dem allgemeinen Gesichtspunkt eines demokratischen
    Rechtsstaatsprinzips (bzw. eines rechtsstaatlichen Demokratieprinzips) ist
    nicht hinnehmbar, daß die Machtkompetenz eines Gesetzgebers größer ist als
    seine Sprachkompetenz. Ebenso wie die Grenzen seiner Sprache die Grenzen der
    Welt eines einzelnen sind, müssen die Grenzen seiner Sprache die Grenzen eines
    Staatsgebildes sein.
  • [18] Daniel Bareinboim: „Mi Buenos
    Aires querido – Tangos among friends
    “; wunderschön!
  • [19] Werner Heisenberg: Physik und
    Philosophie, Stuttgart 1959; hier zit. nach Paul Watzlawick: Vom Unsinn des
    Sinns, 2. Aufl., München 2005, S. 56f.
  • [20] Franciso Varela: Kognitionswissenschaft
    – Kognitionsarbeit, Ffm 1990; hier zit. nach Paul Watzlawick: Vom Unsinn des
    Sinns, 2. Aufl. München 2005, S. 49f.
  • [21] Jürgen Eick: Wie man eine Volkswirtschaft
    ruinieren kann, Ffm, 4. Aufl. 1974, S. 50f.
  • [22] Bernd Rüthers: Rechtstheorie,
    2. Aufl., München 2005, Rn 949ff.
  • [23] bei Fredmund Malik klingt in
    einem kürzlich erschienenen Aufsatz (Die Natur denkt kybernetisch, S. 80 ff.
    in: Kurt G. Blüchel und Fredemund Malik: Faszination Bionik, München 2006)
    die irritierende Frage an: Haben Sie schon einmal einen arbeitslosen Pinguin
    gesehen?
  • [24] vgl. hierzu: C. Northcote Parkinson:
    Parkinsons Gesetz, Düsseldorf 1958, S. 82-92
  • [25] Rose Riecke-Niklewski und Günter
    Niklewski: Schulkind! Von der Einschulung bis in die Pubertät, Stiftung Warentest,
    Berlin, 2004, S. 39
  • [26] Eberhard Eichenhofer: Sozialrecht,
    5. Aufl. 2004, Rn 63
  • [27] Arthur Schopenhauer: Eristische
    Dialektik, Zürich 1983, S. 19f.
  • [28] EuGH NJW 2005, 3695 [3698],
    Tz. 74
  • [29] Wolf Schneider: Wörter machen
    Leute – Macht und Magie der Sprache, 3. Aufl., München 1986, S. 137; bekanntlich
    formulierte schon John Locke: „Denn solange sich der Mensch an Wörter von
    unbestimmter und unsicherer Bedeutung klammert, ist es ihm unmöglich, bei
    seinen eigenen Ansichten Wahres und Falsches, Gewisses und Wahrscheinliches,
    Folgerichtiges und Widerspruchsvolles auseinanderzuhalten
    “; Versuch über
    den menschlichen Verstand, Bd. II, Kap. 4, Abschn. 28, Hamburg 1981, S. 215
  • [30] … außer in dem erkennbar mißlungenen
    Tatbestandsmerkmal von der „sexuellen Identität“, was immer sie auch
    sei: Bin ich mir heute sexuell identisch?! vgl. hierzu: Klaus Adomeit, Political
    correctness – jetzt Rechtspflicht! NJW 2006, 2169 [2170]
  • [31] merke: Nach §18 Abs. 1 Satz
    1 des Gesetzes über die Gleichbehandlung der Soldatinnen und Soldaten (Soldatinnen-
    und Soldaten-Gleichbehandlungsgesetz – SoldGG) vom 18.08.2006 können schwerbehinderte
    Soldatinnen jetzt die gleichberechtigte Teilhabe an der Durchführung militärischer
    Befehle rechtlich erzwingen; verstößt ein Dienstherr gegen diese Rechte der
    Soldatin, so kann sie „eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen
    (§18 Abs. 2 Satz 1 1. Hs SoldGG)!
  • [32] Müßte Gleichberechtigung eigentlich
    nicht auch für Richter untereinander gelten? Warum dürfen europäische Richter
    zuständigkeitshalber „vorab“ über Fragen entscheiden, die ihre nationalen
    Kollegen aus der Eingangsinstanz nicht verbindlich beantworten dürfen? Liegt
    eine Diskriminierung unterer Gerichtsinstanzen vor?
  • [33] Peter Sloterdijk: Regeln für
    den Menschenpark, Ffm 1999, S. 52f.
  • [34] In diesem Kontext grüßen wir
    zuletzt alle kinderlosen Zollbeamtinnen, deren Arbeitsplätze als Fahnderinnen
    nach illegalen Schwarzarbeitsverhältnissen (ebenso wie die ihrer derzeit noch
    nicht verbeamteten Schwestern im gebärfähigen Alter) hierdurch auf lange Zeit
    gesichert sein werden – Volkswirtschaften brauchen bekanntlich belastbare
    Fundamente.
  • Gängelband 2005 für die BfA

    “Die Renten sind sicher!”

    Laudatio

    Verleihung des “Gängelbandes 2005” der Stiftung Liberales Netzwerk
    am 22. April 2005, Pariser Platz 6, Berlin an die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte

    von Carlos A. Gebauer

    “Houston, wir haben ein Problem.”

    James Lovell, Apollo 13

    “Dr. Rische, holen Sie uns hier raus!”

    Deutschland 2005

    Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Gäste,

    die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte – die “BfA” – ist unsere diesjährige Preisträgerin für das “Gängelband des Jahres”. Der Preis wird bekanntlich verliehen an denjenigen, der eigene Interessen (oder die einer Minderheit) in herausragender Weise über das Interesse der Allgemeinheit gestellt hat und die persönliche Freiheit der einzelnen Bürger dadurch maßgeblich behindert. Nach unserer Beobachtung haben wir – leider – begründeten Anlaß, der BfA insgesamt, vertreten durch den Vorsitzenden ihrer Geschäftsführung, Herrn Dr. Herbert Rische, das diesjährige “Gängelband” zu verleihen. Warum?

    I.

    Die BfA ist eine Behörde. Ihre Leitung ist also Beamten übertragen. Beamten kommt – nach den Gesetzen unseres Landes – zu, die “Sicherung des Staates” zu betreiben[1]. Beamter darf folgerichtig nur derjenige werden, der jederzeit für die “freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes” einzutreten bereit ist[2]. Bei seiner Amtsführung dient er dann “dem ganzen Volk, nicht einer Partei[3]. Das heißt, er hat seine Aufgaben “unparteiisch und gerecht zu erfüllen und bei seiner Amtsführung auf das Wohl der Allgemeinheit Bedacht zu nehmen[4].

    Weil sich daher jeder einzelne Beamte der BfA “mit voller Hingabe seinem Beruf zu widmen[5] und sein Amt “nach bestem Gewissen zu verwalten hat[6], kann nicht verwundern, wenn auch geschrieben steht: Der Beamte ist verpflichtet, “seine Vorgesetzten zu beraten und zu unterstützen[7]. Hat er Bedenken gegen Anordnungen seines Chefs, dann hat er diese “unverzüglich bei seinem unmittelbaren Vorgesetzten geltend zu machen[8]. Sollte dieser dann weiterhin Fragwürdiges anweisen, hat er sich “an den nächsthöheren Vorgesetzten zu wenden[9].

    Grundgesetz und Beamtenrecht verlangen also – zusammengefaßt – einen Beamten, der sich mit engagierter Objektivität gewissenhaft dafür einsetzt, daß der Allgemeinheit seines Volkes Gerechtigkeit und Wohl widerfahren. Notfalls auch gegen den Willen seines unmittelbaren Vorgesetzten.

    Unsere Laudationskommission hat feststellen müssen, daß die Beamten unserer Preisträgerin diesen hehren Maßstäben – leider – schon seit längerem nicht gerecht geworden sind. Und  sie mußte feststellen, daß dies – leider – nicht ohne massive Konsequenzen für die Bürger unseres Landes geblieben ist.

    II.

    In ihrem Kern kommt der BfA bekanntlich die Aufgabe zu, Rentner zu alimentieren. Nach einem langen und arbeitsreichen Leben soll für jeden Angestellten sichergestellt sein, daß er seinen Lebensabend frei von finanziellen Sorgen gestalten – und möglichst genießen – kann.

    (Für Arbeiter besorgen dies übrigens die Landesversicherungsanstalten nach demselben Muster. Auch auf sie darf heute zumindest ein kleiner Abglanz des Rampenlichtes für unsere Preisträgerin leuchten. Die Arbeit dieser LVAs ist selbstverständlich – ebenso wie die der BfA – hochkompliziert und intellektuell auf das Feinste in alle Richtungen durchdrungen. Die Differenzierung zwischen Arbeitern und Angestellten nahm man nach traditioneller Lehre übrigens so vor: Arbeiter stehen bei der Arbeit und Angestellte sitzen).

    Bundesdeutsche Rentenpolitik nach Konrad Adenauer hatte eine klare Vorstellung: Das Ziel der Altersversorgung durch die BfA sollte mit Hilfe des sogenannten “Umlageprinzipes” erreicht werden. Der einzelne Bürger spart nach diesem Prinzip bekanntlich nicht einen eigenen, persönlichen Kapitalstock an, den er dann im Alter – nebst aufgelaufener Zinsen – verzehrt. Sondern alles Geld, was ein heute Berufstätiger in dieses System einzahlt, wird (anstelle einer individuellen Kapitaldeckung) sofort an einen heutigen Rentner umverteilt.

    Im Gegenzug zu seinen heutigen Einzahlungen erhält das Mitglied in den Zentralrechnern der BfA eine Art Bezugsschein (eine “Anwartschaft”). Aus diesem ergeben sich dann später – so sagt man – eigene Bezugsrechte aus der Gemeinschaftskasse. Die gesamten Verrechnungsmodalitäten und Verwaltungsanstrengungen übernimmt die BfA. (Und das ist eine schwere Last. Wer je einen Berechnungsbogen der BfA zur Ermittlung des Versorgungsausgleichsanspruches in einem Ehescheidungsverfahren gesehen hat, der erkennt sofort: So kompliziert wie diese Berechnung kann die gescheiterte Ehe selbst nie gewesen sein.)

    Notwendigerweise müssen also bei der BfA die klügsten Köpfe arbeiten, um dieses – wie gesagt: verwaltungstechnisch hochkomplizierte – System funktionsfähig zu gestalten und zu erhalten.

    III.

    Wir sind demnach – wie alle Mitglieder der BfA – überzeugt: Unser Staat kann seit jeher nur seinen fähigsten und weitblickendsten Beamten die vertrauensvolle Arbeit an diesem wichtigen System übertragen haben. Nur die Qualifiziertesten und Gewissenhaftesten kamen hierfür in Betracht. Aus eben diesem Grunde sind wir allerdings auch sicher, daß exakt jener Verwaltungselite der deutschen Staatsbürokratie (und schon lange vor uns!) wenigstens[10] folgende sechs Gedanken durch die Köpfe gegangen sein müßten:

    1.) Das Umlageprinzip – anstelle einer Kapitaldeckung – wurde als “Generationenvertrag” bezeichnet. Irritierenderweise aber handelt es sich bei diesem “Generationenvertrag” (bei genauer juristischer Betrachtung) um nichts anderes, als um einen “Vertrag zu Lasten Dritter” im klassischen Sinne!

    Großvater A sagt – der Sache nach – zu Sohn B: “Wenn Du mir meine Rente zahlst, dann verspreche ich Dir, daß Enkel C Dir Deine Rente bezahlen wird.” Irritierend hieran ist: Enkel C weiß von diesem Versprechen nichts, obwohl genau er es später erfüllen muß. Leider wurde mit dieser Grundprämisse der BfA eine jahrtausendealte Weisheit verkannt: Schon die römischen Juristen hielten einen “Vertrag zu Lasten Dritter” nämlich schlicht für unwirksam! Sollten dies die Beamten der BfA übersehen haben?

    2.) Es steht zu vermuten, daß die Beamten der BfA diese – nach zivilrechtlichen Maßstäben zweifelsfreie – Unwirksamkeit des Rechtskonstruktes “Generationenvertrag” schon früh deutlich erkannt haben. Mutmaßlich aus genau diesem Grunde luden sie das Konstrukt aber – sozusagen kompensatorisch – mit einer äußerst starken verfassungsrechtlichen Spannung auf. Sie stellten die Rentenanwartschaften nämlich unter den grundrechtlichen Eigentumsschutz aus Art. 14 GG!

    Skeptiker wurden damit gebadet im wohlig-warmen Versprechen, ihre Rente sei so sicher wie Eigentum. Was dabei gedanklich mitschwang, war: Enteignungen kämen allenfalls gegen eine Entschädigung in Betracht. Die Rente schien also sicher.

    Leider wurde aber auch damit eine simple Weisheit verkannt: Der Staat mag die Substanz eines Eigentumsgegenstandes noch mehr oder minder effektiv schützen können. Wenn er aber – mangels Kapitaldeckung – derlei Substanz einer Rente erst gar nicht bildet, sondern nur Hoffnung auf künftige Früchte fremder Arbeit richtet, die er an sich bringen und verteilen werde, dann verspricht er in Wahrheit nur, etwas zu schützen, was es (noch) gar nicht gibt!

    Mit lautem, sozialstaatlichem Getöse (und bisweilen herzergreifenden Bildern von Trümmerfrauen auf seinen Fahnen) verteidigt er also lediglich ein Vakuum[11]. Und der Kenner sieht, daß jenes scheppernde Nichts zugleich – en passant – die gesamte gewachsene Grundrechts-Dogmatik zersprengt. Der Schutz einer Vermögensposition “Rente” erfordert plötzlich spiegelbildlich die Verletzung der Vermögensposition “Arbeitseinkommen” eines anderen. Sollten die Beamten der BfA dieses – pardon – Menschenrechts-Paradox übersehen haben[12]?

    3.) Wir dürfen weiterhin annehmen, daß die Beamten der BfA vertraut sind mit der Regel vom “gesetzlichen Zahlungsmittel”. Gesetzliches Zahlungsmittel ist – man hat Anlaß, es zu bedauern, doch es ist die Realität – staatliches Geld in Gestalt staatlicher Währung[13].

    Wenn nun aber der arbeitende Mensch höchst real gezwungen wird[14], wirkliches (und von ihm selbst erarbeitetes) Geld in ein höchst reales System einzuzahlen, dann ist doch wohl in gewisser Weise unfair, ihm im Gegenzug bei Erreichen des eigenen Renteneintrittsalters nur eine fiktive Rentenanwartschaft (mit höchst real ungewisser Kaufkraft) in Aussicht zu stellen.

    Leider werden also auch hier gleichzeitig sowohl eine Grundregel des Gerechtigkeitsprinzips, als auch des geschriebenen Gesetzes gebrochen: Einzahlung und Auszahlung stehen nicht in einem Gleichgewicht. Und dem gesetzlichen Zahlungsmittel “Geld” wird – irritierenderweise – ein anderes Zahlungsmittel beigesellt: Die undefinierbare Anwartschaft[15]. Sollten dies die Beamten der BfA übersehen haben? (Ich bitte ausdrücklich, an dieser Stelle wohlwollend zu bemerken, daß die Widerlegung des Gerechtigkeitsprinzips innerhalb der BfA schlüssig gelungen ist, ohne die Vokabel “Rußlanddeutscher” auszusprechen!)

    4.) Jenseits dieser juristisch-normativen Betrachtung stellt sich aber auch ein höchst faktisches Problem. Wie kann ein solches System auf Dauer funktionieren, wenn ihm seine (künftigen) Einzahler abhanden kommen? Wir Deutschen werden ja immer weniger.

    Vielleicht werden die Geschichtsbücher unserer Welt eines Tages berichten: “Die Deutschen erfanden den Sozialstaat. Dann starben sie aus”? Will sagen: Je mehr der demographische Tannenbaum Kopf steht, desto kraftvoller erodiert auch der pekuniäre Nährboden des Systems. Und unten rieselt seine Finanzierbarkeit wie aus einem Trichter ins Nichts. Zum Schluß überschlagen sich erstens die Bilder und zweitens schlägt die Erosion der Tanne die Krone vom Fuß. Und endlich sind alle in ihren Assoziationen so verwirrt, wie es das System und seine Techniker schon lange waren.

    Aber, im Ernst: Vielleicht ist dies sozusagen die nationalökonomische Schattenseite der Säkularisierung. Je töter Gott, desto gotter der Staat. Bis zuletzt – gleichsam pantheistisch – überall der Gott Staat waltet und die Prozession der Altersrentner hinter dem Heiligenbild des “Rentners Eck” marschiert, ohne ihn selbst – prozessionstypisch – je greifen zu können. Vielleicht war es ja auch kein Zufall, daß es ausgerechnet ein Christ demokrat war, der sagte: “Die Renten sind sicher”? Denn bekanntlich gilt hierzukontinent seit Augustinus: Credo, quia absurdum est … ! (Auf diese katholisch-allumfassende, besser “all-erfassende” Dimension wird noch zurückzukommen sein.) Sollten die Beamten der BfA also diese demographische Erosion ebenfalls übersehen haben?

    5.) Bemerkenswerter Weise werden alle Mitglieder der BfA auch in ein einheitliches System gezwungen. So werden diese “zu Brei flachgestrichen[16] Menschen auch dereinst alle einheitlich vom Bestand dieses einen Systems abhängig sein.

    Was aber geschieht, wenn dieses eine System strauchelt? Man muß eigentlich weder Kornbauer aus dem amerikanischen Mittelwesten sein, noch gar Joschka Künast heißen, um zu wissen: Monokulturen sind eine anfällige Angelegenheit. Das Analogon zur biodynamischen Streuobstplantage muß also ersichtlich (was läge näher?) auch im Rentenversicherungssystem heißen: Diversifizierung. So, wie es chinesische Bäuerinnen seit Jahrtausenden ihre Kinder lehren: “Lege niemals alle Eier in einen Korb!” Alles andere ist – in Anlehnung an eine Formulierung Papst Benedikt des XVI. – sicher intellektuell defizitär. Sollten die Beamten der BfA auch dies nicht gewußt haben?

    6.) Mit dem Beginn dieses Jahres 2005 hat nun – und dies war der letzte und entscheidende Impuls für die heutige Preisverleihung – im Hause der BfA eine weitere Einrichtung ihre Tätigkeit aufgenommen: “Die Zentrale Zulagenstelle für Altersvermögen” (ZfA), im Internet auch zu finden unter der – harmlosen, weil eher an Susi und Strolchi, oder Tim und Struppi erinnernden – Bezeichnung “zusy.de”. Obgleich sie bei der BfA angesiedelt ist, wurde sie gleich dem Bundesfinanzministerium zugeordnet. Ihre Aufgabe ist maßgeblich, für den Datenabgleich bei Rentenzahlungen mit allen beteiligen Stellen zu sorgen, insbesondere also mit den Finanzämtern der Rentner. So wird – ganz unbürokratisch … – die Auszahlung einer Rente sofort zum Anknüpfungspunkt auch für eine etwaige Steuerpflicht.

    Es ist all dies nicht mehr nur ein verwaltungstechnischer Operationsmodus. Vielmehr handelt es sich um die in Organisationsform gegossene Botschaft des Staates an alle seine Bürger: “Ich vertraue Euch nicht (mehr)!” Anstelle einer archaischen Wohlverhaltensvermutung[17] herrscht nun das Mißtrauensprinzip, sinnreich ergänzt um den legalisierten Bankgeheimnisverrat im toll-collect-wütigen Staat. Der Kapitalfluß wird an seiner Quelle, in seinem Lauf und an seiner jeweiligen Mündung maßgenau kanalisiert und erfaßt. Und all dies lustigerweise unter einem Grundgesetz, das stets erklärt hatte, seine Bürger dürften alles, nur niemals zum Objekt staatlicher Aktionen werden. Sollten dies die Elitebeamten der BfA verkannt haben?

    IV.

    Es will also insgesamt scheinen, als habe sich die rechtsdogmatische Fragwürdigkeit und die nationalökonomische Funktionsunfähigkeit des Rentensystems “á la BfA” denjenigen, die sich wirklich auskannten, schon seit längerem durchaus aufgedrängt. Und es will scheinen, als habe exakt derjenige Sachverstand, der dies zu erkennen vonnöten war, in den Reihen dieser BfA schon lange existiert.

    Wenn aber ein billig und gerecht denkender Beamter selbst nie auf den Gedanken verfallen sein könnte, ein dermaßen juristisch-ökonomisch-demographisch-systematisch dem Tode geweihtes Konstrukt zu inszenieren: Wer war es dann? Die Politik? Wahrscheinlich! Doch: Entlastet dies die Preisträgerin, wenn sie doch im Besitze der Erkenntnis war?

    Wir glauben nicht. Jedenfalls dann nicht, wenn wir die Maßstäbe unseres deutschen Beamtenrechtes anlegen wollen. Denn nach diesem Recht waren unsere Beamten ja bekanntlich verpflichtet, die erkannten Bedenken an ihren unmittelbaren Vorgesetzen, also die Politik, mitzuteilen. Und wenn dieser Vorgesetzte nicht hören wollte, dann erwuchs ihnen die Pflicht, ihren nächsthöheren Vorgesetzten zu alarmieren: Das Volk höchstselbst! Hat aber irgendjemand die BfA je so reden hören?

    Während schon Bücher geschrieben werden über den Kollaps des Rentensystems, die den Vergleich zu sittenwidrigen Schneeballspielen[18] ziehen und die von Lösungen aus dem Bereich einer geradezu offenen, staatlich organisierten räuberischen Erpressung schwärmen[19], hört man noch immer keinen öffentlich vernehmlichen Protest aus den Reihen der qualifizierten BfA-Beamtenschaft.

    Statt dessen werden nur technokratisch Mitgliedschaften erweitert, Bemessungsgrenzen verschoben und Prozentsätze erhöht. Freiberuflichkeit wird mit faszinierendem definitorischen Aufwand eingeschränkt, um neue Einzahler zu gewinnen (derzeit zieht die BfA z.B. allen Ernstes durch das Land und klassifiziert Fernseh-Regisseure in solche, die Künstler seien und solche, die nur überwiegend vorgegebene Abläufe koordinierten; letztere seien in Wahrheit nicht frei, sondern weisungsabhängig und also rentenbeitragspflichtig! Der pantheistische Sozialstaat quillt durch alle Nähte.). Dann werden wieder Schwankungsreserven verkleinert oder monatliche Auszahlungszeitpunkte und Renteneintrittsalter verschoben. Rentenerhöhungen minimieren sich, stagnieren und werden natürlich bald zu Rentenkürzungen mutieren[20]. Aber: Protest? Laute und vernehmliche Kritik? Unhörbar aus den Reihen der Preisträgerin, die doch keiner Partei, sondern nur dem ganzen Volk verpflichtet ist.

    V.

    In der Konsequenz müssen mehr und mehr Rentner am Gängelband der BfA leben. Und ebenso leben die Einzahlenden an diesem selben Gängelband. Sie alle werden unausweichlich zu Spielbällen tagespolitischer Beliebigkeiten im Grundrechtsparadox namens “Generationenvertrag”. Rentner empfinden sich zuletzt als quersubventionierte Kostgänger der Jugend. Und nicht nur Angestellte tanken nolens volens ökosteuerlogisch für die Rente. Der Kulminationspunkt aller Renten- und Steuerlogik ist schließlich: Rentenkassen werden einerseits aus Steuermitteln bezuschußt und andrerseits werden Renten zunehmend besteuert. Wieder einmal leben Menschen also in der Illusion, ein perpetuum mobile konstruiert zu haben. Also: Pflichtversicherte Prozessionsraupen on tour? Nein. Es perpetuiert sich ausschließlich die öffentliche Verwaltung. Das Eigeninteresse am Behördenerhalt hat also wohl – wieder einmal – überwogen. Und das Volk ist gefangen. Alternativlos. Schachmatt. Gegängelt.

    VI.

    Was also ist zum Schluß zu tun? Der amerikanische Journalist P. J. O‘ Rourke begab sich im Dezember 1992 auf eine Reise durch Somalia. Kurz vor Sylvester begleitete er einen Militärkonvoi, der – in bester Absicht und edler Mission – Lebensmittel durch die Wüste transportierte. Er berichtet:

    Nach Sonnenuntergang kam der Konvoi irgendwie vom Kurs ab. Ich weiß zwar nicht genau, was passierte, aber ich glaube, daß der Fahrer an der Spitze der Kolonne etwas sah, was er für die Lichter des Flugfeldes von Jalaaqsi hielt. Er muß auf sie zugefahren sein. In Wahrheit waren es aber die Lichter der letzten Fahrzeuge des Konvois. Wie auch immer: Am Ende hatten wir ein riesiges Karussell aus Lastwagen, Jeeps und Panzerfahrzeugen, die in der Wüste im Kreis herumfuhren.[21]

    Merke: Ein Scout, der sich wirklich auskennt, findet auch wieder aus seiner Wüste heraus[22]. Daher unser Ruf aus der Wüste an den Vorsitzenden der Geschäftsführung der BfA: Herr Dr. Rische, bitte, holen Sie uns hier raus!


    [1]§ 4 Nr. 2 BBG
    [2]§ 7 Abs. 1 Nr. 2 BBG
    [3]§ 52 Abs. 1 Satz 1 BBG
    [4]§ 52 Abs. 1 Satz 2 BBG
    [5]§ 54 Satz 1 BBG
    [6]§ 54 Satz 2 BBG
    [7]§ 55 Satz 1 BBG
    [8]§ 56 Abs. 2 Satz 1 BBG
    [9]§ 56 Abs. 2 Satz 2 BBG
    [10]Fragen wie die, inwieweit
    die – derzeit laufende – “Sozialwahl” eine Wahl sei und was
    sie zu einer “sozialen” mache, wollten wir in Anbetracht des festlichen
    Rahmens unserer Preisverleihung explizit nicht stellen, zumal das kontroverse
    Finden von Lösungen auch stets einen gewissen Konsens voraussetzt, der nicht
    generell in Frage gestellt sein soll.
    [11]Mit der unerfreulichen Konsequenz:
    Will der Staat in Erfüllung seines Versprechens das Vakuum später doch noch
    mit Substanz füllen, muß er seine künftigen Bürger unausweichlich zu Frondiensten
    für das System zwingen. Die Beitragszahlungspflicht des Pflichtversicherten
    ist – es mag hart klingen – nur die homöopatische Vorstufe zu Zwangsarbeit
    (wenn man überhaupt angesichts von Beitragssätzen um 20% noch von Homöopathie
    sprechen mag). Zuletzt kommt in dieser Umgebung eben nicht mehr nur der Gerichtsvollzieher,
    sondern der Henker, wenn Dissidenten und Häretiker streiken[vgl. F. A. von
    Hayek: Der Weg zur Knechtschaft, 4. Aufl. Tübingen, S. 112f.]
    [12]Wenn ein Menschenrecht zuletzt
    ausschließlich noch (im wahrsten Sinne des Wortes!) auf Kosten eines
    anderen Menschenrechtes gewährt werden kann, dann läßt sich dies auch nicht
    mehr mit dem schönen Wort des Bundesverfassungsgerichtes von der “praktischen
    Konkordanz
    ” erklären. Ich schlage daher vor, im Falle der Strangulierung
    eines Grundrechtes durch ein anders ab sofort von einer “effektiven
    Diskordanz
    ” zu sprechen.
    [13]Wer seine Hoffnungen auf
    eine ergänzende Kapitaldeckung des Rentensystems richtet, der sollte allerdings
    – so viel Literaturempfehlung sei hier gestattet – unbedingt die Darstellungen
    von Murray Rothbard: Das Schein-Geld-System zur Kenntnis nehmen. Wer
    derzeit – nach Steuern – realistisch 1% Zinsertrag auf seine Ersparnisse realisieren
    kann, der wird den inflationsbedingten Kaufkraftverlust seines Geldes nach
    stets jährlicher Geldmengenerhöhung von 4,5% durch die Europäische Zentralbank
    erkennbar nie auffangen. Schade.
    [14]indem seinem Arbeitgeber mit Gefängnisstrafen gedroht
    wird, § 266a StGB!
    [15]Was umgekehrt aber übrigens
    nicht hieße, daß “Geld” – anders als eine Rentenanwartschaft – irgendwie
    definiert wäre; im Gegenteil: Der Gesetzgeber hat, was Geld ist, “nirgends
    definiert, sondern vorausgesetzt
    ”[vgl. Palandt-Heinrichs, BGB-Kommentar,
    64. Aufl. 2005, § 245 BGB Rn 1]
    [16]So – in ähnlichem Zusammenhang
    – wunderbar ins Bild gefaßt von Valentin Braitenberg: Ill oder Der
    Engel und die Philosophen, München 1999, S. 12
    [17]Deren Krönung einer der berühmtesten
    juristischen Sätze überhaupt ist und den selbst juristische Laien und Nichtlateiner
    bestens kennen: in dubio pro reo!
    [18]Bernd W. Klöckner, Die gierige
    Generation, Ffm 2003, S. 24 ff.
    [19]Solcherlei schlägt Klöckner
    bezogen auf Altersrückstellungen von privaten Krankenversicherungen, a.a.O.
    S. 202, ernsthaft vor (!).
    [20]Selbst die zarten Anfänge
    einer zusätzlichen Kapitaldeckung, die mit dem Namen des Gewerkschafter-Ministers
    Riester verbunden sind, können nur den beruhigen, der entweder die
    Geldmengenpolitik der Europäischen Zentralbank nicht kennt, oder der die Bedeutung
    des dauerhaft flexibilisiert-aufgeweichten “Stabilitätspaktes
    verkennt.
    [21]P. J. O‘ Rourke, Alle Sorgen dieser Welt, Hamburg 1995,
    S. 100
    [22]Bezeichnend ist eine andere
    Episode, in der O‘ Rourke den Autor Roderick Franzier Nash zitiert, der sich
    im Dschungel Malaysias über einen Dolmetscher mit einem einheimischen Jäger
    unterhielt: “Ich bat den Dolmetscher schließlich, den Jäger zu fragen,
    wie er in seiner Sprache sagt ‚Ich habe mich im Dschungel verlaufen.‘ …
    Der Dolmetscher … sagte … der Mann habe ihm angedeutet, er verlaufe sich
    nicht im Dschungel.
    ” a.a.O. S. 137

    Laudatio für Ulla Schmidt und Horst Seehofer

    Sonntag, 28. März 2004, Pariser Platz 6, Berlin

    Carlos A. Gebauer

    Liebe Ehrengäste (anwesende und abwesende), sehr geehrte Damen und Herren,

    die Stiftung Liberales Netzwerk verleiht das „Gängelband des Jahres 2004“ an Frau Ministerin Ulla Schmidt und Herrn Horst Seehofer. Nach Auffassung der Stiftung haben beide im Jahre 2003 in herausragender Weise die eigenen Interessen über das Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltig funktionsfähigen Gesundheitsversorgung gestellt und ihre Eigeninteressen damit zugleich auch über das je individuelle Interesse aller einzelnen Bürger.

    Frau Schmidt hat mitgeteilt, der Verleihung des Gängelbandes nicht im Wege stehen zu wollen. Indes werde es bei ihr keinen Ehrenplatz erhalten. Herr Seehofer schrieb, er halte sich des Preises – trotz „planwirtschaftlicher Verbundenheit“ – nicht für würdig.

    Wer sind die Preisträger? Sie beschreiben sich selbst, wie folgt:

    Ulla Schmidt wurde 1949 in Aachen geboren. Sie erwarb das Abitur in Aachen. Anschließend studierte sie Pädagogik und Psychologie in Aachen. Nach ihrem Referendariat in Aachen arbeitete sie als Lehrerin in Stolberg (bei Aachen). Sie erwarb einen Abschluß zur Rehabilitation lernbehinderter Schüler und wurde Personalrätin für Sonderschulen, Ratsfrau in Aachen, anschließend Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende einer „Querschnittsgruppe für die Gleichstellung von Mann und Frau“,  im Januar 2001 dann Bundesgesundheitsministerin. Sie ist u.a. Mitglied der Arbeiterwohlfahrt, der Karnevalsvereine „Öcher Penn“ und „Koe Jonge“, der IG Bergbau, Chemie und Energie sowie des Arbeiter-Samariter-Bundes.

    Auch Horst Seehofer wurde 1949 geboren, in Ingolstadt. Nach der Mittleren Reife absolvierte er eine Prüfung für den Verwaltungsdienst und arbeitete bei Landratsämtern. Im Alter von 30 Jahren erwarb er ein Diplom als Verwaltungswirt. Ein Jahr später wurde er Mitglied des Bundestages. Dort wirkte er als sozialpolitischer Sprecher der CSU, wurde Staatssekretär und 1992 Bundesgesundheitsminister. Die Person der Vergangenheit, die er am meisten bewundere, sei „Franz Josef Strauß“. Seine besondere Stärke sieht er im Anpacken von „ungeliebten Problemen“. Er ist reaktionsschneller Autofahrer und einer seiner Lieblingsschriftsteller ist der französische Philosoph André Glucksmann.

    Was taten die Preisträger im vergangenen Jahr?

    Ulla Schmidt und Horst Seehofer befanden sich im vergangenen Sommer in einzigartiger Situation: Die Machtverteilung in Bundestag und Bundesrat erzwang überparteiliche Kooperation. Beide Politiker waren gesundheitspolitisch Meinungsführer ihrer Parteien. Der Bevölkerung war das Scheitern des Gesundheits-Systems bewußt. Das Volk war reformbereit. Die Legislaturperiode stand am Anfang. Die Mitglieder der Regierungsparteien waren demnach motiviert, ihre Mandate nicht durch Abstimmungsdissens zu gefährden. Die Opposition hatte die Chance, einen maßgeblichen gesundheitspolitischen Richtungswechsel als eigenen Erfolg propagieren zu können.

    Die Preisträger ließen sich jedoch durch die volkswirtschaftliche und demographische Situation in Deutschland nicht beeindrucken. Sie ließen sich auch von den offenliegenden Schwächen des bestehenden Systems mit seiner betörenden Bezugsschein-Glücksseligkeit nicht beeindrucken. Statt dessen beließen sie es wiederum bei einem Konsens, der nur an Symptomen laboriert, nicht aber die Ursachen der Probleme beseitigt.

    Am frühen Morgen des 21. Juli 2003 vereinbarten die Preisträger ihre so genannten „Eckpunkte der Konsensverhandlungen zur Gesundheitsreform“. In diesen Eckpunkten wird das planwirtschaftliche Gesundheits-System strukturell unverändert gelassen und darüber hinaus mit den Worten gefeiert, es gelte „weltweit nach wie vor als Vorbild “.

    Der Präsident des Berliner Verfassungsgerichtshofes, Helge Sodan, schrieb zu dieser ‚globalen Vorbildlichkeit‘:

    „Diese Worte, die … offensichtlich ernst gemeint sind, lassen angesichts der schweren Krise der GKV, die seit langem selbst eine ‚Dauerpatientin‘ ist, auf einen beachtlichen Realitätsverlust schließen.“ [1]

    Fragen wir also: Was zeichnet diesen „Realitätsverlust“ aus? Warum kritisieren unabhängige Experten dieses Gesundheitssystem scharf und schärfer? Warum meint nur Horst Seehofer, vor uns läge die „größte Reform der jüngeren Sozialgeschichte“? Und warum rechtfertigt eine Verteidigung dieser Planwirtschaft die Verleihung des Gängelbandes? Wagen wir eine Bestandsaufnahme:

    Die meisten Menschen in Deutschland glauben noch immer, die Gesetzliche Krankenversicherung habe lediglich ein Finanzierungsproblem. Auch Horst Seehofer reduziert die Schwierigkeiten gerne auf ein bloßes Beitragssenkungsproblem. Tatsächlich stehen die Dinge weitaus schlimmer.

    Die Gesetzliche Krankenversicherung hat – und ist – inzwischen ein massives juristisches Problem, ein staatsrechtliches und ein grundrechtliches. Die Preisträger haben sich zu diesen Fragen bislang erstaunlicher Weise nicht erklärt.

    Der Gesetzgeber hatte während 25 Jahren in dem System schon weit mehr als 7000 Gesetzesbestimmungen geändert[2]. Genau das aber ist typisch für ein planwirtschaftliches System. Ganz typischerweise also feiern die Ursula Engelen-Kefers dieser Welt solche Abänderungs-Tohuwabohus als ‚Wir werden immer besser‘ und die Fidel Castros läßt solcherlei schwärmen: „Es una Révolution permanente! “. In Wahrheit aber ist all dies nichts anderes als ein – sprechen wir es aus, auch wenn es politisch völlig unkorrekt ist: – prämissenkrankes Herumgepfusche.

    Die soziale Marktwirtschaft ist mutiert zu einem marktwirtschaftlichen Sozialismus. Inzwischen ist das System bekanntlich schon so weit, daß nicht mehr Ärzte und Patienten über die Verwendung von homöopathischen Medikamenten entscheiden, sondern höchstselbst der Hüter der Verfassung, das Bundesverfassungsgericht (!).

    Die fließenden Grenzen in einen totalen juristischen Regulierungsstaat sind längst überschritten. Rechtsstaatliche Prinzipien finden in diesem normativen Hedderwerk nur noch äußerst eingeschränkt statt. Die Preisträger haben diese Erkenntnis aber bislang nicht gewinnen können oder nicht gewinnen wollen.

    In ihrer Absage für den heutigen Tag hat Ulla Schmidt Erstaunliches festgehalten, nämlich daß sie „Gängelbänder nie gemocht“ habe. Das muß in der Tat erstaunen: Denn die These von einem gängelnden und bürgerrechtswidrigen Gesundheitswesen läßt sich ohne weiteres durch einen Blick in das Gesetz belegen:

    Heute sind 9 von 10 Deutschen gesetzlich krankenversichert. Arbeitnehmer werden gesetzlich gezwungen, pro Jahr beinahe 7.000,– EURO in das System einzuzahlen[3]. Dafür gewährt ihnen das Gesetz den gerade „ausreichenden“ und „notwendigen“ medizinischen Schutz[4]. In Schulnoten ausgedrückt also einen Schutz, für den der Arzt von seinem Lehrer eine „4“, ein „ausreichend“, erhielte. So macht man aus einem Kassenarzt einen Massenarzt. Der pflichtversicherte Arbeitnehmer kann und darf diesem „Geschäft“ nach dem Gesetz nicht ausweichen. Er ist Zwangsmitglied. Wir halten das für ein Gängelband.

    Ein Arbeitgeber, der sich weigert, mit seinen Mitarbeitern an einem solchen System teilzunehmen, wird von dem Gesetz bedroht: Mit Geldstrafe oder Gefängnisstrafe von immerhin bis zu 5 Jahren[5]. Um die Proportionen zu verdeutlichen: Zu demselben Tarif (fünf Jahre Gefängnis) kann der Chef seine Sekretärin auch als Prostitutierte ausbeuten[6]. Wir halten das für ein massives Gängelband.

    Wenn Zweifel bestehen, ob sein eigener Arzt vielleicht über das Maß des Notwendigen hinaus tätig geworden ist (wenn er also eine Leistung erbracht hat, die eine befriedigende Schulnote „3“ oder gar eine „2“ gerechtfertigt hätte), dann muß der Patient im Krankenhaus von einem Beamten der Krankenkasse eine körperliche Untersuchung dulden[7]. Wir halten das für ein äußerst unangenehmes Gängelband.

    Wenn ein Hausarzt eine ärztliche Leistung für seinen Patienten erbringt, die nicht nur dessen Not wendet, sondern die ‚befriedigt‘, oder die gar ‚gut‘ ist, dann haftet er im sogenannten ‚Wirtschaftlichkeitsregreß‘ der Kassenärztlichen Vereinigung mit seinem persönlichen Vermögen für diese Verschwendung[8]. Wir halten das für ein perfides Gängelband.

    Wenn niedergelassene Ärzte auf ihre Kassenarzt-Zulassung verzichten, weil sie solcherlei nicht mehr mittragen wollen, dann ereilt sie anschließend ein sechsjähriges Berufsverbot als Kassenarzt[9]. Wir halten das für ein druckvolles Gängelband.

    Ein so aus der kassenärztlichen Versorgung ausgeschlossener Arzt könnte versucht sein, privat Behandlungsverträge mit Patienten abzuschließen, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Das aber verhindert das Gesetz: Seine Verträge sind rechtlich unwirksam. Die Patienten schulden ihm keine Vergütung[10]. Wir halten das für ein sagenhaftes Gängelband.

    Wenn Kassenärztliche Vereinigungen sich weigern, die ihnen gesetzlich aufgegebenen Pflichten umzusetzen (z.B. die Durchführung von Wirtschaftlichkeitsregressen gegen übereifrige Kollegen), dann droht ihnen die zwangsweise Einsetzung eines Staatskommissars als Geschäftsführer[11] oder gar ihre komplette Zwangsliquidierung[12]. Wir halten das nicht für vornehme staatliche Zurückhaltung, sondern für ein Gängelband.

    Alle pflichtversicherten Beschäftigten sind demnach gezwungen, ihre sämtlichen Sozialdaten, also Details über Familie, Vorerkrankungen, Gebrechen, körperliche Besonderheiten und intimste Verhältnisse einer Krankenversicherungsbehörde zur Erhebung, Verarbeitung und Nutzung in deren Datenfernübertragungs-Systeme offenzulegen[13]. Wir halten das für das (vorläufig) persönlichste Gängelband.

    Schließlich: Betriebswirtschaftlich verantwortlich handelnde Krankenkassen werden gezwungen, über den sog. „Risikostrukturausgleich“ (ein weiteres Zwangs-Finanzausgleich-Verwaltungsmonstrum unter allen gesetzlichen Kassen) bis zu 70% ihres eigenen Beitragsaufkommens an solche Kassen zu zahlen, die schlechter wirtschaften, damit am Ende aller Berechnungen sämtliche Kassen wieder „gleich“ darstehen. Damit wird jedes Lippenbekenntnis zu „mehr Wettbewerb zwischen den Kassen“ greifbar ab absurdum geführt. Das halten wir für das unökonomischste Gängelband.

    Wer Gesundheitsminister ist in einem Staat mit freiheitlich-demokratischer Grundordnung, der müßte eigentlich diese ungeheuerlichen Gängelbänder kennen. Er müßte sie tagtäglich sehen und ihre Tragweite erfassen. Und wenn er sie nicht mag, müßte er sie unverzüglich beseitigen. Er müßte handeln, um den totalen staatlichen Zugriff auf die persönlichsten und privatesten Lebensverhältnisse der Bürger zu beenden.

    Ein Gesundheitsminister müßte nach unserer Auffassung insbesondere dann und deshalb handeln, wenn das Zwangs-System (mit kalendertäglich etwa 22 Millionen Euro internen Verwaltungskosten seiner Krankenkassen[14]) nicht einmal seinen zentralen Zweck erfüllt: Nämlich die volkswirtschaftlich bestmögliche medizinische Versorgung seiner Mitglieder sicherzustellen.

    Statt dessen hat sich Ulla Schmidt im Jahr 2003 nicht nur einen weiteren strukturellen status quo verordnet. Im Gegenteil. Sie liebäugelt gemeinsam mit ihrem gesundheitssozialistischen Chefideologen Karl Lauterbach, dieses System auch noch auf die gesamte Bevölkerung auszudehnen.

    Die so genannte „Bürgerversicherung“ mit totalem Einbezug der Gesamtbevölkerung bedeutet nichts anderes, als ein staatlich verwaltetes Gesundheits-Einheits-Zwangs-System. Eine Einheits-AOK, mit der behördlichen Befugnis zur allumfassenden Vermögens- und Einkommenserforschung gegenüber jedermann.  Frau Schmidt erwägt also nicht die gebotene Beseitigung des dauermorbiden Systems, sondern seine Ausdehnung und mithin eine Intensivierung der beschriebenen Gängelbänder!

    Warum aber soll ein Rezept, das 90 Brote nicht bäckt, nun plötzlich 100 Brote backen? Warum soll eine Landkarte, die 90 Reisende in die Irre führt, deren 100 zum Ziel bringen? Und wenn doch die staatliche Versicherung tatsächlich eine so gute und überzeugende Idee ist: Warum überhaupt bedarf es eines strafrechtlichen Zwanges zur Teilnahme? Müßte nicht jedermann die Vorteile eines so guten, eines so gerechten und eines so tragfähigen Systems selbst sehen und ihm freiwillig beitreten?

    Ulla Schmidt beruft sich bei ihrer Verteidigung dieses Zwangssystems bisweilen darauf, daß das System seit 1883 besteht und schon alleine deswegen erhaltenswert sei. Hierbei übersieht sie jedoch ebenso regelmäßig, daß 1883 nur 10% der Bevölkerung an dieser Art der Versicherung beteiligt waren, nämlich die wirklich schutzbedürftigen Armen. Heute sind über 90% der Bevölkerung in der Verwaltung ihrer eigenen körperlichen Gesundheit weitestgehend entmündigt. Man spüre die paradoxe Analogie zur Beteiligung an einer Bundestagswahl: Alle wahlbeteiligten 90% – entmündigt!

    Horst Seehofer meint, er sei des Preises nicht würdig. Er achte die Freiheit des Bürgers. Zugleich aber hält er für politisch nicht vermittelbar, wenn eine Sekretärin (im so genannten „Kopfpauschalen-Modell“) denselben Krankenversicherungsbeitrag bezahlen müsse, wie der Vorstandsvorsitzende einer Aktiengesellschaft. Für diesen holzschnittartigen Satz wird er besonders gefeiert. Auf den Internet-Seiten der SPD-Fraktion, auf den Seiten der Gewerkschaft Ver.di und auf den Seiten des Weltsozialistenforums. Allem Anschein nach hat Horst Seehofer übersehen, was sein Lieblingsschriftsteller André Glucksmann[15] schrieb:

    Man stelle sich … vor – Churchill oder de Gaulle -, wie sie sich jeden Morgen nach ihrem Kurswert an der Meinungsbörse erkundigen und sich gar noch danach richten!“

    Was die Einkommenssituation eines Menschen mit dem Risiko seiner körperlichen Erkrankungen zu tun hat, das sagt Horst Seehofer nicht. Im Gegenteil: Er bestätigt, daß er die unsägliche Koppelung des Versicherungsbeitrages an die Einkommenssituation (die jede gesundheitsbewußte Lebensführung konterkariert) noch immer nicht als eine maßgebliche Wurzel des Übels erkannt hat. Es kosten aber nun einmal der Herzschrittmacher eines Arbeiters genauso viel wie der einer millionenschweren Gewerkschaftsführerin. Da sind alle Menschen gleich. Die Reziprok-Diskriminierung der Fleißigen im kleptokratischen Umverteilungsreflex namens „Solidar-Prinzip“ ändert hieran nichts.

    Welche Schlüsse sind aus alledem zu ziehen?

    Die gesetzliche Krankenversicherung ist das Problem, dessen Lösung zu sein sie vorgibt. Gesundheitspolitik ist die Nahtstelle, an der die Republik aufplatzt.

    Unter dem Nebelschwanden-Begriff der „sozialen Gerechtigkeit“ ist ein Verwaltungs-Moloch entstanden, der jedes rechtsstaatlich tolerierbare Maß an Überwachung individuellen Handelns weit überschreitet.

    Wir reden nicht von sozial gerechtem Krankenversicherungsschutz für Menschen, die zu Hungerlöhnen unter Tage in peruanischen Minen arbeiten! Wir reden von hochqualifizierten Arbeitnehmern mit einem Jahresbruttoeinkommen von – zur Erinnerung – fast DM 100.000,–! Die Gängelung dieser Menschen verhindert jeden effektiven und wahrhaft menschenwürdigen „Gesundheits-Schutz“. Zugleich führt diese planwirtschaftliche Gängelung zwangsläufig zu einer Verschwendung der Ressourcen, die dem System aus der Wirtschaftskraft seiner Teilnehmer zwangsweise eingespeist werden.

    Das staatsverwaltete Gesundheitswesen ist nicht länger zu bezahlen. Es mag schwer sein, das liebgewonnene Instrumentarium der Gesetzlichen Krankenversicherung mit seinen diversen Herrschaftsmechanismen und Posten-Ressourcen aus der Hand zu geben. Anders aber geht es nicht. Der lukrative Tanz um das goldene Sozialversicherungsverhältnis muß ein Ende finden. Am Ende behauptet noch einer, es diene nur der Alimentation unserer Administrativ-Kaste. Das wollen wir doch nicht!

    Die im Jahre 2003 wieder massiv manifestierten eigenen Interessen der beiden Preisträger, ihre Wählerpotentiale tunlichst nicht zu verwirren, müssen endlich zurückstehen hinter dem Interesse der Menschen an bezahlbarem Gesundheits-Schutz. Medienwirksam Symptome zu bekämpfen und für alle Fehlentwicklungen Saboteure zu beschuldigen: Das kennen wir schon und das ist nicht mehr hinzunehmen.

    Wer mit dem „Sozialstaat“ argumentiert, der argumentiert verfassungswidrig. Unser Grundgesetz will einen „sozialen Staat[16]. Ein sozialer Staat ist etwas anderes als ein Sozialstaat, weil ein langer Finger etwas anderes ist als ein Langfinger. Freiheit ist unteilbar. Wer dem Arzt seine Therapiefreiheit nimmt und dem Patienten die Freiheit, über das Schicksal seines Körpers zu befinden, der nimmt diesen Menschen auch politische Freiheit. Das ist nicht zu tolerieren.

    Deutschland hat keine Lust, weiter bittere Printen aus Aachen zu schlucken. Mag Aachen unser Gängelband als Appell ‚wider die tierische DDRisierung des Gesundheitswesens‘ auffassen. Und mag der Ingolstädter Horst Seehofer aufHORCHen, wenn André Glucksmann sagt[17]:

    „Es ist höchste Zeit, den Sozialismus aufzugeben mit seiner Anmaßung, alle Finsternis … beherrschen zu wollen … Laßt uns im Hinblick auf die Interessen des einzelnen die Zügel schießen, und man wird unweigerlich den Weg zum Interesse der Allgemeinheit finden!

    In einem Leserbrief an den SPIEGEL vom 20. Oktober 2003 formulierte ein äußerst hellsichtiger Leser wortgewandt und punktgenau:

    „Es geht schon lange nicht mehr nur um Reformen. Die ganze Republik muß neu erfunden werden.

    Beginnen wir mit dem Gesundheits-System!

    Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


    [1] NJW 2003, 2581 (2582)
    [2] Sodan NJW 2003, 1761
    [3] ~ 15% von Euro 45.900,– = Euro 6.885,– (zzgl.
    Zuzahlungen)
    [4] § 12 SGB V
    [5] § 266a StGB
    [6] § 181a I StGB
    [7] § 276 IV S. 1 SGB V
    [8] § 106 V SGB V
    [9] § 95b II SGB V
    [10] § 95b III SGB V; die kompensatorische Kassenzahlung
    ist nicht einmal kostendeckend
    [11] § 79a I SGB V
    [12] § 72a I SGB V
    [13] § 35 SGB I, § 301 SGB V, §§ 67, 67a SGB X; Gebauer
    NJW 2003, 777ff
    [14] Euro 8.000.000.000,00 p. a. geteilt durch 365
    [15] in: „Die Macht der Dummheit“[Stuttgart
    1985], a.a.O. S. 140
    [16] Art. 20 I GG
    [17] a.a.O. S. 65
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