Die weiträumige Außerkraftsetzung des Grundgesetzes durch das Recht des Fünften Sozialgesetzbuches

Ein Thesenpapier zu den Hayek-Tagen 2007

Carlos A. Gebauer

„Am wenigsten werden wir die Demokratie erhalten oder ihr Wachstum fördern, wenn die gesamte Macht und die wichtigsten Entscheidungen in der Hand einer Organisation liegen, die viel zu groß ist, als daß der normale Mensch sie überblicken oder begreifen könnte.“

Friedrich A. von Hayek

A. Einleitung – Zur These und über die Struktur des Folgenden

Deutschland erlebt derzeit eine erstaunliche Außerkraftsetzung von Verfassungsrecht auf dem Gebiet des Gesundheitswesens. Die breite Öffentlichkeit hat es zwar noch nicht bemerkt. Aber Grundrechte, rechtsstaatliche Garantien, Verfassungsprinzipien und sogar ganz elementare Prämissen unseres traditionellen Verfassungsverständnisses werden in einem bislang kaum vorstellbaren Maße ausgedünnt oder gleich ganz in ihr systematisches Gegenteil verkehrt.

Worum geht es? Ich werde hier zunächst [B.I.] die Grundstrukturen des Fünften Sozialgesetzbuches (SGB V) erläutern, um anschließend [B.II.] die aus dieser Konstruktion typischerweise resultierenden Probleme zu umreißen. Die Darstellung bisheriger Problemlösungsansätze durch die Rechtsprechung [B.III.] führt zu der angekündigten verfassungsrechtlichen Kritik [B.IV.], sowie zuletzt [B.V.] zu der Skizzierung des Ergebnisses, daß mit dem SGB V alles noch viel „unsozialer“ ist, als es ohne das SGB V je sein könnte.

B. Hauptteil – Die sozialgesetzliche Verfassungserosion

I. Zur Grundstruktur des SGB V

Der einfachste Weg, das SGB V zu begreifen, besteht darin, für einige Augenblicke so zu tun, als gäbe es das Gesetz gar nicht. In diesem Falle nämlich würden Gesundheitsdienstleistungen von Patienten bei Ärzten und anderen medizinischen Dienstleistern schlicht „eingekauft“. Die Parteien eines Behandlungsvertrages einigten sich rein zivilrechtlich über die von ihnen gewünschten Leistungen und Gegenleistungen. Dann käme es zur Erfüllung der wechselseitig eingegangenen Verpflichtungen.

Diese althergebrachte und andernorts kulturübergreifend erfolgreiche zivilrechtliche Lösung ist im deutschen Gesundheitswesen über die vergangenen 130 Jahren in Mißkredit gebracht worden. Zum einen wurde behauptet, Patienten seien ihren Ärzten fachlich nicht gewachsen, um derartige Verträge „auf gleicher Augenhöhe“ schließen zu können. Zum anderen wurde bemängelt, daß die (stets prinzipiell beschränkte) Zahlungsfähigkeit eines Patienten nicht den Umfang seiner (stets prinzipiell unbeschränkten) medizinischen Behandlungs-Erfordernisse präjudizieren dürfe.

Über den Sinn und Unsinn derartiger Debatten läßt sich vielerlei sagen. Für den hiesigen Zusammenhang soll jedoch ausschließlich eine einzige Dimension der historischen Sozialgesetzkonstruktion interessieren. Hier geht es darum, daß mit der Abschaffung des zivilrechtlichen Vertrages in der gesetzlichen Krankenversicherung denknotwendig – sozusagen spiegelbildlich – der Zwang begründet wurde, alle bisher von ihm erfüllten Funktionen zu ersetzen.

Insbesondere – und damit grenze ich das Operationsfeld für heute noch weiter ein – musste das Sozialgesetzbuch Regelungen dazu treffen, von wem, wie, wann und nach welchen Maßstäben der Inhalt der medizinischen Leistungserbringung definiert werden soll; denn der vertragliche Wille des die Leistung „bestellenden“ und empfangenden Patienten sollte ja gerade konstruktiv ersetzt werden. Das SBG V spricht vom sogenannten „Sachleistungsprinzip“: Die pflichtversicherten Patienten erhalten die „Gegenleistung“ für ihre Zwangsbeiträge in der Gestalt von Sach- und Dienstleitungen1.

Der Gesetzgeber versetzte sich auf seiner Suche nach einer Regelung gleichsam gedanklich in die Interessensphäre des Patienten und fand, daß dieser billigerweise nur ein Interesse haben kann: Er will die objektiv erforderliche und notwendige Medizin bestellen und erhalten. Also schrieb der Gesetzgeber genau diese Leistungsdefinition in sein SGB V2.

Nun haben allerdings unbestimmte und interpretationsbedürftige Begriffe stets eine mißliche Eigenschaft: Es läßt sich trefflich über ihren Inhalt streiten. Ein unempfindlicher Naturbursche erachtet prinzipiell weniger ärztliche Hilfe für nötig, als – beispielsweise – ein blasser Hypochonder. Um das Gesetz mit seinen Begriffen auszufüllen, bedurfte es also eines möglichst objektiven Maßstabes. Wie aber will man gerade dieses objektive Maß finden, wenn alle Menschen individuell und alle Krankheiten besonders sind? Der Kenner fühlt sich erinnert an die böse Frage Anthony de Jasays: „ Wie lang ist ein Stück Schnur?“3.

II. Typische Probleme aus dieser Konstruktion

Wenn ein Gesetzgeber dergestalt an die Grenzen seiner eigenen normativen Problemlösungskapazitäten stößt, dann greift er traditionell auf eine verbreitete Gesetzestechnik zurück: Er schafft Behörden und weist diesen die Kompetenz zur Klärung der Details als amtliche Aufgabe zu.

Zunächst lag im Gesundheitswesen nichts näher, als die Definitionshoheit über das erforderliche Maß den Behörden namens „Krankenkasse“ zuzuweisen. Die waren schließlich – als Beitragseinzugsstellen – schon da und sollten in gewisser Weise auch die Interessen der Versicherten wahren können. Gegen diese Mandatierung sprach jedoch, daß deren Sozialversicherungsfachangestellte mangels eigener ärztlicher Kompetenz zur Sache der Definition gar nichts beitragen konnten. Damit war die Zeit reif für die Schaffung eines „Medizinischen Dienstes der Krankenkassen“, des „MDK“, der die Kassen kompetent mit ärztlichem Sachverstand unterstützen sollte4.

Die fachliche Leistungskontrolle durch einen auch noch so gut vernetzten MDK leidet jedoch ebenfalls an einem Mangel: Solange es draußen in der Welt mehr Ärzte gibt, als innerhalb des MDK, solange spielt die Realität mit der Bürokratie Hase und Igel. Die verwaltungstechnische Antwort auf diesen Strukturmangel konnte also nur lauten: Der Gesetzgeber muß die Erledigung allgemeiner, normativer Aufgaben „vor die Klammer ziehen“. Die generell-abstrakten Fragen nach notwendiger Medizin kann und muß nicht mehr der MDK beantworten. Der bleibt in seinem Handeln einzelfallbezogen. Zuständig für die großen Definitionsentscheidungen im Gesundheitswesen wurde damit eine weitere Institution mit Namen „Gemeinsamer Bundesausschuß“5.

Nun schien die alte, subjektive Leistungsdefinition durch Individualvertrag endlich hinreichend „objektiv“ ersetzt. Das SGB V hatte an die Stelle des verpönten bürgerlichen Konsenses eine steuernde behördliche Entscheidung gesetzt. Leider war aber auch dieser Ersatz nicht hinreichend, um den Auftrag zur Definition richtiger Medizin schon ganz zufriedenstellend zu erfüllen. Denn die 21 Mitglieder des Gemeinsamen Bundesausschusses („GemBA“)6 waren der schieren Masse der fachmedizinischen Kompetenz natürlich schlicht operativ nicht gewachsen. Sie brauchten wieder Hilfe. Und also erfand der Gesetzgeber zum Beistand des GemBA das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (das „InQualWiG“)7. An dieser Institution imponieren für unseren Zusammenhang zwei Phänomene: Zum einen beachte man den interessanten gesetzesterminologischen Kniff, anstelle von medizinischer Zuteilung und Leistungseingrenzung von Qualitätssicherung zu sprechen. Zum anderen bemerke man: Das InQualWiG muß wissenschaftliche Forschungsaufträge stets an „externe Sachverständige“ vergeben8. Kenner Friedrich A. von Hayeks fühlen sich angesichts dessen an seine Worte aus dem Jahre 1944 erinnert:

„Die Unfähigkeit demokratischer Körperschaften, einen eindeutigen Auftrag des Volkes auszuführen, wird unvermeidlicherweise Unzufriedenheit mit den demokratischen Einrichtungen wachrufen. … Dann gewinnt die Überzeugung Boden, daß … die Steuerung aus den Händen der Politiker in die von Sachverständigen gelegt werden müsse.“9

Doch zurück zur Gegenwart.

III. Probleme der Rechtsprechung und deren Lösungsansätze

Mit Hilfe dieser geballten behördlichen und institutionalisierten Hilfen war eigentlich nicht mehr zu erwarten, daß es fortan jemals noch irgendwelche

Probleme im Gesundheitswesen – und insbesondere in der Definition des je konkret erforderlichen, objektiven Maßes der Leistungserbringung – geben konnte. Und in der Tat: Eigentlich war es nun so. Eigentlich.

Uneigentlich aber ergaben sich nun wieder ganz neue Probleme. Wie ist beispielsweise der Fall zu lösen, daß der medizinische Fortschritt eine neue Behandlungsmöglichkeit weist, der traditionell träge bürokratische Apparat aber noch keine Zeit oder Neigung hatte, sich mit der Bewertung der diagnostischen und therapeutischen Verfahren zu dieser Krankheit zu befassen10? Was, wenn die Vertreter der Krankenkassen im GemBA zur eigenen Beitragsstabilität und austarierten „Globaläquivalenz“ zwischen Einnahmen und Ausgaben11 durch geschicktes ‚politisches’ Lavieren gewisse medizinische Leistungen aus dem Leistungskatalog haben streichen lassen können?

Zwischen dem medizinisch Möglichen und dem gesundheitsbehördlich Erlaubten tat sich also ein klaffender Abgrund auf. Und die Rechtsprechung sah sich bald in die Situation gestellt, daß Patienten ihre Rechte einforderten. Auf die Frage, welche Ansprüche sozialversicherte Patienten denn nun genau hätten, antworteten die Sozialgerichte mit einem entschiedenen: „Es kommt darauf an!“.

Das Bundessozialgericht entwickelte hierzu eigens ein beeindruckendes „Rechtskonkretisierungskonzept“. Kingreen faßt dieses mit den Worten zusammen: „Danach sind die Leistungsansprüche der §§ 27 ff. SGB V nicht als Leistungsrechte im Vollsinne zu begreifen, sondern als ausfüllungsbedürftige Rahmenrechte.“12

Die danach nötige „Ausfüllung“ ist nach dieser Rechtsprechung Sache des GemBA13. Oder, mit anderen, weniger juristischen Worten: Was der mache, das gehe schon mit rechten Dingen zu, solange es nur bei ihm mit rechten Dingen zugehe. Eine gerichtliche Kontrolle dessen, was der GemBA beschließe, finde jedenfalls – wie das BSG meint: zu Recht – nicht statt14.

In dieser Konstellation war nur eine Frage der Zeit, bis ein leidender Patient entdeckte: Auch außerhalb des SGB V hat der deutsche Gesetzgeber seinen Bürgern Rechte zugesichert. Und also fiel der Blick auf unser Grundgesetz. Dessen authentischer Interpret, das Bundesverfassungsgericht, befand dann auch schließlich am Nikolaustag 2005 tatsächlich, daß es um die Sache der Leistungsdefinition so einfach nicht stehe:

„Es ist mit Art. 2 I GG in Verbindung mit dem grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip nicht vereinbar, den einzelnen … einer Ver-sicherungspflicht … zu unterwerfen und … Krankheitsbehandlung … zuzusagen, ihn andererseits aber … von der Leistung einer bestimmten Behandlungsmethode durch die Krankenkasse auszuschließen …

Dabei muß allerdings die vom Versicherten gewählte andere Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf versprechen. …

Die angegriffene Auslegung … des SGB V durch das Bundessozial-gericht ist in der extremen Situation einer krankheitsbedingten Lebensgefahr auch nicht mit den Schutzpflichten des Staates für das Leben … zu vereinbaren. …

Die … Sozialgerichte haben in solchen Fällen … zu prüfen, ob es … Hinweise auf einen … Erfolg der Heilung … gibt.“15

Dies also hieß: Wenn es hart auf hart kommt für das Leben des gesetzlich krankenversicherten Patienten, dann kann er an aller Definitionsbürokratie vorbei Anspruch auf medizinische Hilfe haben!

Für das Bundessozialgericht als dem obersten Fachgericht der Sozialjustiz stellte – und stellt – diese Nikolaus-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes naturgemäß ein nicht geringes Problem dar.

Wie soll die feingesponnene Systematik des SGB V auf Dauer noch als rechtmäßig verteidigt werden können, wenn das Lebens- und Gesundheitsinteresse eines einzelnen Patienten die ganze Dogmatik kippen kann?

Das BSG beeilte sich daher auch, anschließend sehr ausführlich zu begründen, warum die Rechte des einzelnen die Funktionsfähigkeit des Systems insgesamt nicht prinzipiell überlagen dürfen. Es formulierte:

„Die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Maßstäbe … anzuwenden, bedeutet auch zu berücksichtigen, daß die verfassungsrechtlichen Schutzpflichten den Leistungsansprüchen Versicherter selbst im Falle regelmäßig tödlich verlaufender Krankheiten Grenzen setzen. … Ebenso wenig darf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes dazu führen, daß unter Berufung auf sie im Einzelfall Rechte begründet werden, die bei konsequenter Ausnutzung durch die Leistungsberechtigten institutionelle Sicherungen aushebeln, die der Gesetzgeber gerade im Interesse des Gesundheitsschutzes der Versicherten und der Gesamtbevölkerung errichtet hat.“16

Mit anderen Worten: Es gilt durch gezieltes juristisches Handeln zu verhindern, daß ein Zwangsversicherter im Angesicht seines drohenden eigenen Todes die ihm zuerkannten sozialgesetzlichen und verfassungsrechtlichen Rechtsansprüche in einer Weise (aus-)nutzt, die dem Gemeinwohl der Gesamtbevölkerung schaden könnte17. Friedrich A. von Hayek hatte zu solcherlei Konstellationen bekanntlich formuliert: „Es gibt buchstäblich keine Handlung, zu der der konsequente Kollektivist nicht bereit sein muß, wenn sie dem ‚Wohle des Ganzen’ dient, denn das ‚Wohl des Ganzen’ ist für ihn das einzige Kriterium des Sollens.“18

Um in Grenzfällen zugunsten der Allgemeinheit und gegen den einzelnen Patienten entscheiden zu können, hat das BSG inzwischen übrigens auch einen weiteren Weg gewiesen: Die Sozialgerichte könnten sich auch auf den Standpunkt stellen, zu den Details des Einzelfalls sei von dem Betroffenen vielleicht nicht hinreichend spezifisch schriftsätzlich vorgetragen worden19.

Der weitere Verlauf dieser Debatte bleibt also interessant. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Nikolaus-Beschluß zur rechtlichen Legitimität des GemBA-Verfahrens ausdrücklich nicht Stellung bezogen. Doch eine solche dezidierte Nicht-Bewertung war in der Vergangenheit nur allzu oft die Ankündigung für eine anschließende Verwerfung. Genau das weiß natürlich auch der zuständige Erste Senat des BSG, der zur weiteren Problembearbeitung vorsorglich schon die Anrufung einer neuen Ethikkommission empfiehlt20. Doch auch die persönliche Bekräftigung seines Senatsmitgliedes Ernst Hauck, eigentlich ändere sich durch den Nikolaus-Beschluß des Bundesverfassungsgerichtes nichts21, überzeugt nicht. Im Gegenteil ist der Vorsitzenden Richterin bei dem LSG Niedersachsen-Bremen, Schimmelpfeng-Schütte, zuzustimmen, die den GemBA bereits als delegitimiert und also für tot ansieht22. Warum ist das so?

IV. Verfassungsrechtliche Kritik an der behördlichen Zuweisung von Leistungen in der gesetzlichen Kranken(-zwangs-)versicherung

Welche Grundrechte, welche rechtsstaatlichen Garantien, welche Verfassungsprinzipien und welche grundlegenden Prämissen unseres traditionellen Verfassungsverständnisses sind nun durch diese gesetzlichen Regelungen – und durch ihre Ausformungen in der hierzu ergangenen Rechtsprechung – betroffen? Aus den vielerlei Inkompatibilitäten zwischen einer ursprünglich freiheitlichen Verfassung und einem behördlichen Leistungszuweisungssystem greife ich exemplarisch sechs Gesichtspunkte heraus:

1. Das verletzte Demokratieprinzip

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus23. Zwischen einer behördlichen Zuteilungsentscheidung des Staates und dem Willen dieses Volkes muß also ein irgend noch vorhandener Zurechnungszusammenhang bestehen. Die Ausübung von Hoheitsgewalt muß sich mithin – in den Worten Kingreens – „personell und sachlich-inhaltlich auf das Volk zurückführen lassen“24. Hieran fehlt es dem GemBA und – erst recht – dem InQualWiG oder seinen subunternehmerisch engagierten Sachverständigen. Der GemBA ist keine Institution eines demokratischen Staates. In einer Formulierung der Vorsitzenden Landessozialrichterin Schimmelpfeng-

Schüttes heißt es hierzu wörtlich: „Bedenkt man, … daß die Gesetzliche Krankenversicherung eine Zwangsversicherung ist, … assoziiert die Machtfülle des Gemeinsamen Bundesausschusses absolutistische Strukturen.“25 Dem kann praktisch nicht widersprochen werden.

Ein weiteres kommt hinzu: Das Demokratieprinzip verlangt nicht bloß ein immer gleiches, hinreichendes Legitimationsniveau. Vielmehr gilt: „Dieses muß umso höher sein, je wichtiger die zu treffende Entscheidung ist.“26 Die Vorstellung also, über Leben oder Tod könne ein Gremium wie der GemBA legitim entscheiden, ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.

2. Das verletzte Rechtsstaatsprinzip

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Rechtsstaat27. Seit jeher ist das Rechtsstaatsprinzip von dem Bundesverfassungsgericht als eines der „elementaren Prinzipien des Grundgesetzes“28 angesehen worden. Sein Inhalt ist insbesondere das sogenannte Wesentlichkeitsprinzip. „Danach ist der Gesetzgeber verpflichtet, im Bereich der Grundrechtsausübung … alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen.“29

Die beeinflußbare Entscheidung über das Leben oder den Tod eines Bürgers ist eine wesentliche Entscheidung, namentlich dann, wenn es sich um einen ohne Alternative zwangsweise gesetzlich krankenversicherten Menschen handelt.

Die Delegation dieser Entscheidung an ein – demokratisch nicht hinlänglich legitimiertes – Gremium ist ein Verstoß gegen das Prinzip des Rechtsstaates.

3. Der verletzte Körper- und Gesundheitsschutz

Das Grundgesetz verpflichtet den Staat nicht nur, menschliches Leben zu schützen. Das Recht auf Leben und das Recht auf körperliche Unversehrtheit stehen gleichberechtigt nebeneinander30. Indem das Bundesverfassungsgericht in seiner Nikolaus-Entscheidung das gesetzliche Zuteilungssystem des SGB V nur in solchen Fällen für partiell obsolet erklärt, in denen Lebensgefahr besteht, bleiben körperliche oder Gesundheitsleiden intrasystematisch unberücksichtigt. Das ist mit dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit auch eines gesetzlich Zwangsversicherten nicht zu vereinbaren.

4. Das verletzte Übermaßverbot

Zum Rechtsstaatsprinzip gehören anerkanntermaßen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie das Übermaßverbot. Nach der ausgefeilten und differenzierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zu den diversen Teilaspekten dieses Grundsatzes gilt jedenfalls: Der Staat darf nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen. Das Maß der einen einzelnen treffenden staatlichen Belastung muß also – mit den Worten des Bundesverfassungsgerichtes – stets „in einem vernünftigen Verhältnis zu den der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen stehen“31.

Gegen diese Grundsätze verstößt ein Sozialversicherungssystem, das mit einem an Kompliziertheit und Unübersichtlichkeiten kaum mehr zu überbietenden bürokratischen (Kosten-)Aufwand Beiträge vereinnahmt und Leistungen zuteilt. Denn jedwede Ressource, die in der Exekutive Verwendung findet, fehlt letztlich für den Kern der Sache, für die Medizin. „ Die Patienten werden hier bis heute nach den Grundsätzen des Armenrechtes behandelt“32 sagt Gerd Habermann – wobei derzeit schon rund 90% aller Menschen in Deutschland unter dieses spezielle Armenrecht fallen. Das ist nicht mehr verhältnismäßig.

Ein weiteres kommt hinzu: Der althergebrachte Gedanke einer jeden Versicherung ist, daß die Gesamtheit aller einzahlenden Versicherten für den einzelnen dann einzuspringen habe, wenn sich in seiner Person ein Risiko verwirklicht, dessen Bewältigung ihn alleine überfordert. Wenn nun das Bundessozialgericht darlegt, der überforderte einzelne könne nicht so weit Schutz beanspruchen, daß dies die Allgemeinheit übermäßig fordere, dann wird der elementare Versicherungsgedanke konterkariert33. Mit anderen Worten: Wenn die gesetzliche Krankenversicherung ihren Zwangsversicherten gleichsam allerorten „Vollkaskoschutz“ – auch gegen minder schwere Erkrankungen – gewährt, dann wird hierdurch die Hilfe für den schwer Erkrankten erschwert, wenn nicht verunmöglicht. Genau das aber verstößt gegen das Verbot, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen.

5. Das verletzte allgemeine Funktionsprinzip der Grundrechte

Jenseits dieser konkreten Einzelproblematiken muß insbesondere eine völlig neue, strukturelle Ausrichtung des deutschen Verfassungsrechtes im Bereich des Sozialrechtes irritieren: Das Grundgesetz hat den Schutz der Menschenwürde bekanntlich nicht zufällig an seinen Anfang gestellt. Der systematische Standort des Art. 1 GG hat vielmehr einen guten und konkreten Grund:

„Damit war deutlich gemacht, daß in der Ordnung des Grundgesetzes zuerst der Mensch kommt und dann der Staat, in Umkehrung des nationalsozialistischen Leitsatzes, der einzelne sei nichts, der Staat (oder die Gemeinschaft) sei alles. … Der Staat und seine Ziele haben keinen Eigenwert, sondern ziehen ihre Berechtigung alleine daraus, daß sie den Menschen konkret dienen. Darin liegt auch eine Abkehr von der Vergötterung des Staates und der Volksgemeinschaft.“34

Nach diesem grundlegenden und prinzipiellen Verständnis unserer Verfassung schützen daher die Grundrechte den einzelnen vor Übergriffen des Staates, vor der Gewalt einer Volksmasse und vor der Übermacht der Allgemeinheit.

Vor diesem systematischen – und historischen – Hintergrund muß demnach auf das Äußerste befremden, wenn wir heute, im 59. Lebensjahr unseres Grundgesetzes, in der sozialrechtlichen Lehrbuchliteratur aus der Feder zweier Hochschullehrer wörtlich lesen müssen:

„Der Gesetzgeber hat der Sozialversicherung primär die Form einer Zwangsversicherung gegeben, weil nur auf diese Weise die Allgemeinheit vor unterlassener Risikovorsorge des einzelnen geschützt … werden kann.“35

In dieser völligen Verkehrung des Verhältnisses zwischen einzelnem und Gemeinschaft liegt ein Paradigmenwechsel, der in seiner Bedeutung und in seinen Gefahren schlechterdings nicht unterschätzt werden kann. Im Sozialrecht hat die Allgemeinheit plötzlich wieder Schutzansprüche gegen den einzelnen. Genau das aber ist mit der Grundstruktur unserer Verfassung als einer Rechtsgarantie für den einzelnen gegen die Gewalt der Masse nicht zu vereinbaren.

6. Das verletzte Justizgewährungsgrundrecht

Zuletzt wird dem einzelnen gegen die Übermacht der Allgemeinheit und des Systems – wie dargelegt – nach der Rechtsprechung des BSG und seinem „Rechtskonkretisierungskonzept“ auch noch versagt, gerichtliche Hilfe anzurufen. Die Festlegungen des GemBA unterliegen regelmäßig nicht der gerichtlichen Überprüfung36. Dies widerspricht schon in seinem Ansatz der Justizgewährungspflicht des Staates aus Artikel 19 IV 1 GG.

Insbesondere muß dies irritieren, weil das BSG selbst die Entscheidungen des GemBA als mit Rechtsverordnungen vergleichbar ansieht37. Genau für diese jedoch greift üblicherweise das Justizgewährungsgrundrecht38. Doch auch hier dreht sich die sozial(-verfassungs-)rechtliche Welt derzeit augenscheinlich anders, als in anderen Zusammenhängen. Dieser Zustand ist aber auf Dauer nicht akzeptabel, weil er mit unserem Grundgesetz nicht vereinbar ist.

V. Mit dem SGB V ist die Welt „unsozialer“ als ohne

Die stolze Prämisse des Sozialgesetzbuches ist bekanntlich, daß einem jeden einzelnen ein menschenwürdiges Dasein mit den Mitteln von Recht und Gesetz garantiert werde. Für den Bereich des Gesundheitssystems soll gelten: Wer sich mit seinen eigenen Mitteln die benötigte Medizin nicht leisten kann, der erhält diese Hilfe per Rechtsanspruch von dem Staat und also von der Allgemeinheit39. Er ist nicht auf die Barmherzigkeit, auf das Mitleid und auf die Nächstenliebe seiner Mitmenschen angewiesen. Denn diese Hilfeentscheidungen seiner Mitbürger wären lediglich freiwillig und beruhten nicht auf einer rechtlichen Pflicht zur Hilfe. Das Angewiesensein auf den guten Willen anderer sei jedoch mit „sozialer Gerechtigkeit“ nicht vereinbar40.

Anders als in der Gesetzeslage vor Inkrafttreten des SGB soll also der einzelne nicht auf das Gutdünken seiner Mitmenschen angewiesen sein. Seine Ansprüche sollen garantiert und geregelt sein. Vor diesem Hintergrund muß nun wieder erstaunen, wenn das BSG die Entscheidungen des GemBA als nichtjustitiable Hoheitsakte definiert. Zu

solchen Ausnahmeerscheinungen zählen nämlich üblicherweise praktisch nur noch gewisse Regierungsakte sowie Gnadenakte41.

Wenn aber die Zuteilung oder Nichtzuteilung medizinischer Hilfe ganz am Ende der gesetzlichen Zwangskrankenversicherung im gesundheitlichen Ernstfalle wiederum zum justizfreien Gnadenakt wird, dann stellt sich um so mehr die Frage nach der Sinnhaftigkeit des gesamten Giga-Systems. Besonders dann, wenn den umfänglich durch Beitrags-, Zuzahlungs- und Steuerzahlungslasten wirtschaftlich abgeschöpften Betroffenen42 zuletzt weder für sich, noch – barmherzig – für andere die Möglichkeit bleibt, die wirklich medizinische Hilfe jenseits des Systems frei zu erwerben.

Schluß

Das gesetzliche Krankenversicherungssystem des SGB V mit Solidar- und Sachleistungsprinzip ist wirtschaftlich gescheitert.

Darüber hinaus verstößt es schon heute gegen eine solche Vielzahl von grundlegenden bundesrepublikanischen Verfassungsgrundsätzen, daß eine jede Fortentwicklung seiner gegebenen Strukturen von vornherein aus Rechtsgründen als unmöglich ausscheidet.

Alleine die grundgesetzliche Forderung, daß die Bundesrepublik auch ein sozialer Staat zu sein habe, begründet eine verfassungsrechtliche Notwendigkeit zur Hilfe gegenüber dem (kranken) Schwachen. Diese staatliche Hilfspflicht hat sich jedoch nach den Grundsätzen des Verhältnismäßigkeitsprizips auf die tatsächlich Hilfebedürftigen zu beschränken.

Wer staatliche Hilfe dort aufdrängt, wo sie materiell nicht benötigt wird, der handelt nicht im verfassungsrechtlichen Rahmen des Grundgesetzes.

Wer nämlich könnte hilfloser sein, als ein Kranker, dem seine Kasse Hilfe nicht leistet, dem sein Staat gerichtlichen Rechtsschutz nicht gewährt und dem nicht einmal sein Freund noch Geld für eine Behandlung zu leihen vermag?

1
vgl . § 2 II 1 SGB V
2
vgl. pars pro toto: §§ 12 I, 27 I,
28 I 1, 39 I 2, 55 I 1, 60 I 1
SGB V u.v.a.m
3
Anthony de Jasay: Über Umverteilung, S. 19ff. in: Roland Baader
(Hrsg.) Wider die Wohlfahrtsdiktatur, Gräfelfing 1995, ibid. S.
24
4
vgl. §§ 275 ff. SGB V
5
vgl. §§ 91, 135 SGB V
6
vgl. § 91 II SGB V (bisweilen wird er auch „GBA“
genannt)
7
vgl. §§ 139a ff. SGB V: Das InQualWiG (manche
sprechen übrigens auch kürzer vom „IQWiG“) ist eine
privatrechtliche Stiftung, gegründet von dem GemBA selbst. Es
erhält seine Aufträge entweder von dem GemBA oder von dem
Bundesgesundheitsministerium. Fragen von grundsätzlicher
Bedeutung sind im Auftrag des InQualWiG subunternehmerisch von
externen Sachverständigen zu beantworten. Das InQualWiG wird
finanziert durch Zuschläge zu jedem Krankenhausaufenthalt sowie
durch die gezielte Verteuerung vertrags(zahn)ärztlicher
Leistungen. Den Umfang der Finanzierung des InQualWiG darf der GemBA
im Auftrage des Gesetzgebers unmittelbar selbst festlegen.
8
vgl. § 139b III 1 SGB V
9
Friedrich A. von Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, Kapitel 5,
Planwirtschaft und Demokratie, Neuausgabe Tübingen, 4. Auflage
2004, S. 57
10
Nach dem Gesetzeswortlaut hat sich das InQualWiG mit „ausgewählten
Krankheiten
“ zu befassen (§ 139a III Nr. 1 SGB
V) – eine Formulierung, die bisher eher von Salat- oder Weinkarten
bekannt war, nicht aber aus gesundheitsrechtlichen Gesetzestexten!
11
vgl. § 220 I 1 SGB V
12
Thorsten Kingreen NJW 2006, 877 [878]
13
und dem mag man Friedrich A. von Hayeks Worte in sein Stammbuch
schreiben: „Garantiert man jemand eine bestimmte Menge eines
Kuchens von veränderlicher Größe, so muß
notwendig der Anteil, der für alle anderen übrig bleibt,
verhältnismäßig stärkeren Schwankungen
unterworfen sein als die wechselnde Größe des ganzen
Kuchens.
“ Friedrich A. von Hayek, Der Weg zur Knechtschaft,
Kapitel 9, Sicherheit und Freiheit, Neuausgabe Tübingen, 4.
Auflage 2004, S. 114
14
vgl. Kingreen a.a.O. m.w.N. auf die Rspr. des BSG
15
BVerfG Beschl. v. 6.12.2005, NJW 2006, 891 [894]
16
BSG Urteil vom 4.4.2007, NJW 2007, 1380 [1382]
17
Die genaue Abgrenzung zwischen dem (Lebens-)Recht des einzelnen und
den institutionellen Interessen des Allgemeinwohls wird dann wohl
wieder eine juristische Aufgabe sein, vielleicht für das
letztinstanzliche Bundessozialgericht. Angesichts der sich
diesenfalls abzeichnenden Machtkompetenzen seiner Richter wird man
diese hinweisen dürfen auf Karl Poppers soziologische Gesetze
und Hypothesen, die – wie er formuliert – „den Gesetzen
oder Hypothesen der Naturwissenschaften analog sind
“. Zu der
von ihm vorgeschlagenen Anzahl von Beispielen für solche
Gesetze gehört unter anderem dies: „Man kann einem
Menschen nicht Macht über andere Menschen geben, ohne ihn in
die Versuchung zu führen, diese Macht zu mißbrauchen; die
Versuchung wächst annähernd in demselben Maße wie
die Menge der Macht, und sehr wenige können ihr widerstehen.“
,
Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, 5. Aufl. 1979,
Tübingen, S. 50
18
Friedrich A. von Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, Kapitel 10, Der
Triumph der menschlichen Gemeinheit, Neuausgabe Tübingen, 4.
Auflage 2004, S. 129f. Unter Berufung auf Wilhelm Röpke weist
Hayek a.a.O. S. 112f. im übrigen auch auf die Erkenntnis hin,
daß die letzte Instanz im Wettbewerbssystem der
Gerichtsvollzieher sei, während in der Planwirtschaft zuletzt
der Henker komme; nach allem hier will scheinen, als etabliere sich
im sozialstaatlichen Gesundheitswesen der Arzt, der nicht kommt, zur
letzten Station.
19
BSG Urteil vom 7.11.2006, NJW 2007, 1385 [1387, li. Sp.], was m.E.
mit dem Amtsermittlungsgrundsatz des Sozialgerichtsverfahrens gar
nicht vereinbar ist
20
BSG Urteil vom 7.11.2006, NJW 2007, 1385 [1391, li. Sp.]
21
Ernst Hauck NJW 2007, 1320 [1324, re. Sp.]
22
Ruth Schimmelpfeng-Schütte NJW 2007, 180 [182 re. Sp.]
23
so noch immer der Wortlaut des Art. 20 II GG
24
Thorsten Kingreen NJW 2006, 877 [879]
25
Ruth Schimmelpfeng-Schütte NJW 2006, 180 [182]
26
Hans D. Jarass und Bodo Pieroth, Kommentar zum Grundgesetz für
die Bundesrepublik Deutschland, 8. Aufl. 2006, Art. 20 Rn 9 m.w.N.
27
Art. 20 III GG
28
BVerfGE 20, 323 [331]
29
Hans D. Jarass und Bodo Pieroth, Kommentar zum Grundgesetz für
die Bundesrepublik Deutschland, 8. Aufl. 2006, Art. 20 Rn 46 m.w.N.
auf die Rspr. des Bundesverfassungsgerichtes
30
Art. 2 II 1 GG
31
BVerfGE 76, 1 [51]
32
Gerd Habermann in: Richtigstellung, München 2006, S. 63
33
Nicht nur aus diesem Grunde handelt es sich bei der „Gesetzlichen
Krankenversicherung
“ in Wahrheit – gegen den ersten Anschein
ihres Namens – nicht um eine wirkliche „Versicherung“.
Einer richtigen Versicherung ist wesenseigen, daß der
eingezahlte Beitrag mit dem Risiko der Inanspruchnahme in einem
Gleichmaß steht. Hieran fehlt es der Gesetzlichen
Krankenersicherung; vgl. hierzu im einzelnen auch „Lenin und der
Kassenarzt“ bei „www.MAKE-LOVE-NOT-LAW.com“
34
Hans D. Jarass und Bodo Pieroth, Kommentar zum Grundgesetz für
die Bundesrepublik Deutschland, 8. Aufl. 2006, Art. 1 Rn 1
35
Gerhard Igl und Felix Welti, Sozialrecht – Ein Studienbuch, 8.
Auflage Neuwied 2007, S. 10 (Rn 8)
36
Thorsten Kingreen NJW 2006, 877 [878] m.w.N.
37
BSG NJW 2007, 1385 [1387]
38
Hans D. Jarass und Bodo Pieroth, Kommentar zum Grundgesetz für
die Bundesrepublik Deutschland, 8. Aufl. 2006, Art. 219 Rn 43
39
so §§ 1, 2 SGB V
40
merke: Die „Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit“ ist
oberstes, höchstes und erstes Ziel des bundesrepublikanischen
Sozialgesetzbuches: § 1 I 1 SGB I. Was diese „soziale
Gerechtigkeit
“ jedoch im einzelnen sei, wird an keiner Stelle
des Gesetzes näher definiert oder sonst ausgeführt. Dies
deckt sich mit der Präambel der ersten DDR-Verfassung aus dem
Jahre 1949, deren erstes Ziel ebenfalls die Herstellung „sozialer
Gerechtigkeit
“ war.
41
So die Rspr. des BVerfG, Nachweise bei Hans D. Jarass und Bodo
Pieroth, Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik
Deutschland, 8. Aufl. 2006, Art. 19 Rn 43
42
der jüngste „Gesundheitsfonds“ aus dem
Wettbewerbsstärkungsgesetz“ vom 26. März 2007
hat schon alle Hoffnung fahren lassen, jemals nur aus
Beitragseinnahmen leben zu können; die „Bundeszuschüsse
aus Steuermitteln werden jetzt von § 271 I Nr. 5 SGB V
schon gleich als Regeleinnahmen behandelt. Der Gesetzgeber nimmt
darüber hinaus schon jetzt – sicher zutreffend – an, daß
auch all dies zur Finanzierung nicht hinreichen wird, weswegen
weitere zinslose Bundeszuschüsse „in Höhe der
fehlenden Mittel
“ gleich Inhalt des Gesetzes geworden sind
(§ 271 III 1 SGB V).

Ulla Tse-tung?!

Referat auf dem „Vertragsärztetag“ in
Köln am 17. März 2007

von Carlos A. Gebauer

„Laßt uns abwägen, wie viele Menschen sterben würden, wenn ein Krieg ausbräche. Die Weltbevölkerung zählt 2,7 Milliarden Menschen … Im schlimmsten Falle stirbt die Hälfte, und die andere Hälfte überlebt, aber der Imperialismus würde ausgelöscht und die ganze Welt würde sozialistisch.“

Mao Tse-tung, 18. November 1957

Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren,

ich danke für die Einladung zu Ihrer heutigen Veranstaltung und möchte sogleich zu meinem Thema kommen, das ich – ganz traditionell und ohne reformierte Gliederungsmaßnahmen – in Einleitung, Hauptteil und Schluß bearbeite.

I.Einleitung

der wahrscheinlich angesehenste deutsche Forscher auf dem Gebiete der Gesundheitssystematik ist Professor Dr. Fritz Beske aus Kiel. Genau dieser sah sich unter der Überschrift „Warum, Frau Ministerin, warum …“ zur Lage der aktuellen Gesundheitspolitik nun veranlasst, zu formulieren:

„Unverändert hören wir Bekenntnisse zu den Strukturen unseres Gesundheitswesens. Noch am 10. Januar dieses Jahres hat die Bundesgesundheitsministerin Schmidt in einem Interview … gesagt: ‚Schließlich hat Deutschland eines der besten Gesundheitssysteme weltweit.’ … Befremdlich nur, dass die Bundesgesundheitsministerin mehrfach und fast im gleichen Atemzug fordert, dass unser Gesundheitswesen grundlegend umgestaltet werden muß. Dieser Widerspruch entzieht sich … einem logischen Verständnis. …

Wer Gründe für Verhaltensweisen sucht, tut gut daran, zwei Fragen zu stellen: Die Frage nach finanziellen Vorteilen und die Frage nach der Durchsetzung ideologischer Zielvorstellungen … Das Streben nach finanziellen Vorteilen kann bei der Gesundheitsministerin ausgeschlossen werden. Bleibt die Ideologie, und dies dürfte ein Treffer sein.“1

Es ist seit einigen Monaten in Deutschland kein Geheimnis mehr, dass unsere noch amtierende Gesundheitsministerin, Ulla Schmidt, zu Beginn ihres politischen Lebens starke Affinitäten nicht nur zu kommunistischem, sondern insbesondere auch zu maoistischem Gedankengut pflegte. Gegenüber der Zeitschrift „Cicero“ räumte sie im vergangenen Frühjahr ein, dass sie noch im Jahre 1976 geschrieben hatte:

„… die ‚freiheitlich-demokratische Grundordnung’ … ist die Garantie des Privateigentums an den Produktionsmitteln … Insbesondere die jetzt anstehenden Bundestagswahlen werde ich dazu nutzen, gegen diese Eigentumsverhältnisse aufzutreten durch meine Kandidatur für den Kommunistischen Bund Westdeutschlands.“2

Gut dreißig Jahre später, am 9. März 2007, erklärte dieselbe Ulla Schmidt, nun Gesundheitsministerin unserer freiheitlich-demokratischen Republik:

„Viele Impulse für eine bessere medizinische Versorgung kommen aus dem Osten, weil es in der DDR bereits erfolgreich praktiziert worden ist.“3

Folglich erscheint sinnvoll, einen Blick auf den Mann zu werfen, dessen Ideologie und Charisma auf Frau Ministerin weiland eine so große Anziehung hatten ausüben können. Fragen wir also: Wer war Mao Tse-tung und was kennzeichnete sein politisches Handeln?

II. Hauptteil

Eine von der Chinesin Jung Chang und ihrem britischen Ehemann Jon Halliday im Jahre 2005 vorgelegte Biographie über das Leben Maos4 gibt eine erste Vorstellung nicht nur von Leben und Werk dieses politischen Führers, sondern insbesondere auch von seinen grundlegenden politischen Herrschaftstechniken. Die Kenntnis dessen könnte demnach vielleicht Wege weisen, unsere aktuelle Gesundheitspolitik besser zu verstehen. Denn „Tse-tung“ heißt schließlich nichts anderes, als „auf den Osten scheinen5.

Was also kennzeichnet(e) diesen chinesischen Osten – und wie strahlt eine Ulla Tse-tung über ihn?

Mao wurde im Jahre 1893 in einfache, bäuerliche Verhältnisse geboren. Das Ende der Mandschu-Dynastie bedeutete für China den Beginn des gesellschaftlichen und politischen Wandels in die Moderne6. Aus seiner Anschauung des Zusammenbruches der alten Strukturen zog Mao bald eine eigene weltanschauliche Konsequenz: Tod und Zerstörung müssten stets die Vorbedingung für neue Formen und Gestalten sein7. Es war dies der Boden, auf dem schon bald seine Maxime „Brennen, brennen, brennen! Töten, töten, töten!“ wachsen sollte8. Eher noch zufällig schloß er sich zunächst – 27jährig – der soeben mit sowjetrussischer Hilfe gegründeten Kommunistischen Partei Chinas an9.

Innerhalb dieser Partei machte Mao – abgesehen von Rückschlägen – kontinuierlich Karriere. Auf Veranlassung der sowjetischen Führung in Moskau unterteilten seine Agitatoren die chinesische Bevölkerung zunächst in unterschiedliche Klassen. Dann riefen sie die Klasse der „Armen“ gegen die Klasse der „Reichen“ zum Aufstand auf10.

Der Gedanke, eine Bevölkerung dadurch zu beherrschen, dass man sie politisch spalte, ist nun kein spezifisch maoistischer. Schon die alten Römer wussten sich bei ihrem territorialen Imperialismus die Erkenntnis des „divide et impera“ – teile und herrsche – zu nutze zu machen. An die Stelle territorialer (oder religiöser) Spaltung von Menschen trat jedoch mit dem Aufkommen der sozialistischen Theorien die Trennung zwischen hier Proletariern und dort der Bourgeoisie.

Dieser Politikansatz hat sich bis heute bestens bewährt. Wem es gelingt, eine Mehrheit zu entdecken, sie zu definieren und sich zu ihrem Vertreter zu stilisieren, der hat es stets in der Hand, nicht nur die komplementäre Minderheit zu beherrschen, sondern „seine“ dankbare Mehrheit gleich mit. Dies erklärt nicht zuletzt unsere politischen Kategorisierungen in Arbeitnehmer und Arbeitgeber, in Verbraucher und Unternehmer, in Raucher und Nichtraucher, in Männer und Frauen und viele andere mehr. Es erklärt im Bereich der sogenannten Gesundheitspolitik namentlich die Spaltung(en) von Haus- und Fachärzten, ambulantem und stationärem Bereich, privat Versicherten und gesetzlich (Zwangs-)Versicherten, Ärzten im Krankenhaus und niedergelassenen Ärzten etc. pp. Wer immer politisch versteht, die größere Zahl hinter sich zu scharen, der kann die politische Richtung bestimmen. Im Großen, aber auch in allem Kleinen.11

Doch zurück zu Mao: Um das Wirtschaften im Sinne der kommunistischen Gerechtigkeitsideen neu zu gestalten, verfügte er, dass die Mieten gesenkt und die Löhne erhöht werden mussten12. Unter der Parole „Jeder der Land besitzt, ist ein Tyrann“ kam es schon bald zu ersten Zusammenbrüchen der sozialen Ordnung13. Im Zuge seiner gewaltsamen Umverteilungsmaßnahmen von den Reichen an die Armen formulierte Mao dann am 7. April 1927 die bekannte Erkenntnis: „Die Macht kommt aus den Gewehrläufen“. Dann wurde der von da an zentrale Begriff jedweder Neugestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse von ihm geprägt; er lautete: „Reform14: China erlebte von da an praktisch ununterbrochen „Reformen“, z. B. die Bodenreform, die Landreform, die Arbeitsreform, die Reform des Denkens sowie die Künstlerreform.

Ob es nach alledem wohl ein Zufall ist, dass auch wir umspült sind von Föderalismusreformen, von immer neuen Arbeitsmarktreformen, von Agrarreformen, von Rechtschreibreformen und – natürlich – von ununterbrochenen Gesundheitsreformen?

Um die Mitglieder seiner Requirierungstrupps bei ihrem alltäglichen Raub zum Nachteil der „reichen“ Bevölkerungsteile angemessen zu beteiligen (und somit auch deren Kampfmoral aufrecht zu erhalten, damit es nicht zu eigenmächtigen Plünderungen komme15), richtete Mao bei ihnen sogenannte „Soldatenkomitees“ ein. Deren Aufgabe war, bei der Verteilung aller Beute die soldatischen Mitbestimmungsrechte geltend zu machen16. Jürgen Eick hatte schon im Jahre 1976 – am Beispiel einer Staatsanwaltschaft – plastisch darauf aufmerksam gemacht, dass sich Unzulänglichkeiten in jedem inneren Staatsapparat schwerlich mit dem üblichen marxistischen Mittel der Verstaatlichung lösen lassen17. Mitbestimmung bei der Wahrnehmung von Personalvertretungsinteressen funktioniert daher dort traditionell über Räte.

Der entstehende kommunistische Staat Chinas betrachtete seine Bevölkerung bald als Lieferantin von Geld, Lebensmitteln, Arbeitskraft und Soldaten. Allerdings bereitete – wie stets in Sozialismen aller Schattierungen – Schwierigkeiten, sowohl die Produktivität des Volkes aufrechtzuerhalten, als auch den gewaltsamen Kampf gegen die dort bestehenden Strukturen fortzusetzen18.

Um den Widerspruch dieser beiden Zielstellungen aufzulösen, propagierte Mao daher nun die völlige Gleichberechtigung der Frau. Die Emanzipation der Frau bedeutete Unabhängigkeit der Frau von ihrem Mann – und deren eigene Beteiligung an der Produktion19. Zur Sicherstellung der Produktion wurde demgemäß bald auch der schwere Arbeitsdienst für Frauen verpflichtend20.

Um jede Kritik gegen dieses Gleichheitsideal im Ansatz auszuschalten, gab Mao nun die Losung vom „absoluten Egalitarismus“ aus21. Damit war klargestellt: Nicht nur die Unterschiede zwischen arm und reich, sondern auch die zwischen Mann und Frau sollten durch konsequente faktische Gleichstellung beseitigt werden. Besonders Gleichstellungsmaßnahmen zwischen Mann und Frau hatten auch noch weitere, gewünschte Effekte: Nicht nur das der Besteuerung zugängliche Produktionsvolumen stieg; auch die persönlichen Bindungen innerhalb der Familie und zwischen den Familienmitgliedern wurden geschwächt, wodurch sich die „Säuberungen“ auf den Dörfern erheblich vereinfachten22.

Einen absoluten Egalitarismus verlangt in Deutschland nun auch das am 14. August 2006 in Kraft getretene „Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz“ mit seiner Forderung, „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.23

Das Grundgesetz hatte diesen Gedanken – teilweise – schon im Jahr 1994 vorweggenommen, als sein Art. 3 Abs. 2 Satz 2 formuliert wurde: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Der Nachteil, kindererziehungsbedingt nicht (besteuerbar) erwerbstätig sein zu können, wurde (und wird) seither konsequent von einem – insoweit natürlich ganz uneigennützigen – Staat beseitigt. Der politische Kampf um die Ganztagsbetreuung von Kindern in Deutschland ist inzwischen bekanntlich voll entbrannt. Die Bundesfamilienministerin erhält hierbei sogar schon Schützenhilfe aus prominent-beliebtem Munde. Ulrich Wickert erklärt der „Bild am Sonntag“ am 11. März 2007 wörtlich:

„Deshalb bin ich überzeugt davon, dass der Staat Kinder besser erziehen kann, als es die Eltern können.“24

Ob sich die familiären und persönlichen Bindungen der deutschen Eltern und ihrer Kinder auf dem Boden dieser Philosophie stärken oder schwächen, bleibt abzuwarten.

Zurück zu Mao: Die Maschinisierung seines gesamten chinesischen Volkes durch einheitliche staatliche Bürokratie war eingeleitet. Ziel war, ausnahmslos alle Facetten des menschlichen Lebens zu politisieren25. Obwohl er den Menschen zunächst eine „Volksherrschaft“ versprochen hatte, organisierte er allerdings faktisch deren Totalenteignung. Dasjenige Land, das er den „Armen“ erst durch „Reformen“ übereignet hatte, wurde nun in seinem Ertrag vollständig besteuert. Weil ihm jedoch die Einnahmen aus diesen Steuern nicht genügten, erhob er zusätzliche Sonderabgaben – würden wir heute sagen: Solidaritätszuschläge? – unter der Bezeichnung „Zwangsdarlehen“. Trotz ihrer Bezeichnung als Darlehen kam es jedoch nie zu einer Rückzahlung. Die „Armen“ kamen daher faktisch nie in den Genuß von Vorteilen aus dem ihnen übertragenen Land26.

Um die bürokratische Überwachung des Volkes sicherzustellen, ergriff Mao diverse flankierende Maßnahmen. An die Stelle persönlicher Freizügigkeit traten Passierscheine für jedermann und alles. Auf den Dörfern patrouillierten rund um die Uhr Wachen27. Das chinesische Volk wird an dieser Stelle glücklich sein müssen, dass es damals noch kein „toll collect“ und keine maschinenlesbaren Ausweise mit biometrischen Daten, keine Fahrtenbücher und keine mittelgroßen Lauschangriffe gab.

Neben all diesen internen Maßnahmen auf dem von ihm bereits eroberten Gebiet führte Mao konsequent seinen Feldzug zur Eroberung der Macht im gesamten China fort. Auf dem legendären „Langen Marsch“ mit seiner Armee quer durch China zwang er ungezählte Menschen unter unwürdigen Bedingungen, Waffen und Gerät zu schleppen, während er selbst sich in einer Sänfte tragen ließ, in der er sich verschiedener Literatur widmete28. Absoluter Egalitarismus oder Regeldisziplin galten für ihn selbst nicht29. Nach einem Jahr des Marsches mit anfangs 80.000 Mann und einer Strecke von über 10.000 Kilometern hatte er jedenfalls die Führungsrolle der kommunistischen Partei weitgehend erobert.

Daß dieser „Lange Marsch“ Maos selbstredend wiederum ungezählte Menschenleben kostete, wird nach dem hier bisher schon Gesagten keiner weiteren Darlegung bedürfen.

Mitte der 1930er Jahre begann Mao einen Propaganda-Feldzug auf dem Weg zur angestrebten Weltbedeutung: Hierzu empfing er den ihm geneigten amerikanischen Journalisten Edgar Snow. Diesem unkritischen Zuhörer diktierte er Details seiner propagandistisch schöngefärbten Biographie, einschließlich der Behauptung, den „Langen Marsch“ selbst wie ein einfacher Soldat zu Fuß zurückgelegt zu haben. Das (vorläufige) Zurückhalten unliebsamer biographischer Details gehört demnach nicht erst in den letzten dreißig Jahren zum Kernbestand politischer Öffentlichkeitsarbeit.

Im Frühjahr 1942 begann Mao dann ein gewaltiges Umerziehungsprojekt namens „Korrektur-Kampagne30. Um jeden intellektuellen Widerstand zu brechen, etablierte er ein System der gegenseitigen Überwachung und Kontrolle aller gegen alle. Geradezu ununterbrochen mussten sich die Menschen zu Versammlungen treffen, wurden sie verhört und zur Niederschrift und Veröffentlichung aller ihrer Gedanken genötigt. Tagebücher mussten abgegeben werden, Humor wurde verboten. Der wohl gefährlichste Straftatbestand hieß „Sonderbare Dinge sagen31. Wer nichts zu verbergen habe, der könne sich daran schließlich nicht stoßen, hieß es. Alle sozialen Beziehungen mussten in Schriftform offengelegt werden, jede Privatheit war ausgeschlossen32. So wurden es namentlich jene detaillierten Kenntnisse über jedermann, die Mao über die Jahre mehr und mehr ermöglichten, kraft Detailwissens Macht über seine Mitarbeiter und Untergebenen zu erlangen.

Es kennzeichnet totalitäre Regimes seit jeher, dass sie möglichst umfänglich Kenntnisse von allen Lebensdetails ihrer Bevölkerung erlangen möchten. So wird sich jede Diktatur natürlich nur beglückt zeigen, wenn ihr ein vorangegangenes, freiheitliches System schon alle Voraussetzungen für die totale Überwachung seiner Bürger liefert.

Aus genau diesem Grunde muß irritieren, wenn derzeit die deutsche Gesundheitspolitik ein datentechnisches Giga-Projekt der Extraklasse vorantreibt: Die elektronische Gesundheitskarte. Ein Staat, der nicht nur alle vermögensrelevanten und bewegungstechnischen Daten seiner Bürger jederzeit überall vernetzt abrufen kann, sondern zusätzlich auch noch über intimste medizinische Kenntnisse zu jedem einzelnen Menschen verfügt, der erlangt eine historisch und weltweit sicher unvergleichliche und einzigartige Machtfülle. Wenn aber Menschen schon seit den frühesten Anfängen der staatsrechtlichen Literatur verstanden hatten, dass Macht der Kontrolle und möglichst der Teilung bedarf, was würden genau diese historischen Autoren sagen, wüssten sie von diesen technischen Möglichkeiten? Wäre nicht interessant, z.B. Montesquieu zu fragen, was er von der Idee hielte, heimische Personalcomputer mit staatlicherseits eingeschleusten „Trojanern“ zu Ausspähungszwecken zu versorgen?

Der bisweilen vorgetragene Einwand, jeder einzelne könne sich der Datenerfassung durch die bloße Verweigerung seines informationellen Einverständnisses entziehen, verfängt auf mittlere Sicht nicht. Denn schon jetzt verkündet die Bundesgesundheitsministerin die flankierende Absicht, eine gesetzliche „Pflicht zur Vorsorge“ einzuführen: Wer kollaboriert, erhält das Privileg der halbierten Zuzahlungspflicht, wer sich verweigert, muß zahlen33.

Auch in Maos China uferten die Kosten für die exzessiv vorangetriebene Bürokratisierung allen Lebens mehr und mehr aus. Mao reagierte, indem er die Getreidesteuer verdoppelte und zusätzlich eine Steuer auf Pferdefutter erhob. Gegen die Unzufriedenheit der Bevölkerung ergriff er zwei Maßnahmen: Zum einen frisierte er die Bilanzen, zu anderen verkündete er, faktisch seien die Steuern gesenkt worden34.

Vorschläge, Armee und Verwaltung zu verkleinern, blieben nicht nur ungehört. Sie verstummten, nachdem deutlich wurde, dass derartige Anregungen als Anlaß zu politischer Anklage dienen konnten. Lediglich zu Propagandazwecken nahm Mao das Sprichwort vom verkleinerten Apparat auf35. Nachdem auch der Versuch, weitere Mittel durch den Anbau und Handel mit Opium zu beschaffen, gescheitert war, griff Mao auf geldpolitische Maßnahmen zurück. Im Juni 1941 ordnete er an, die lokale Währung in unbegrenzter Menge zu drucken. Die lokale Wirtschaft brach zusammen. Den inzwischen drogensüchtig gewordenen, verzweifelten Bauern versprach Mao, ihnen werde mit Medikamenten geholfen und „die Armen“ müssten für ihre Behandlung nichts bezahlen.

Mao entdeckte für sich weiter die Möglichkeiten der Propaganda. Seine Mitarbeiter wies er an, den Begriff des „Klassenkampfes“ zu meiden und statt dessen zu propagieren, man kämpfe für die „Demokratie36. Hunger und Armut seiner eigenen Bevölkerung machten ihm diese zudem weiter gefügig. Wo Widerstand drohte, wurde er gezielt mit Hunger und mit Terror bekämpft. Millionen Menschen lebten in Angst vor dem Verdikt, ‚rechtsgerichtete Gedanken37 zu denken. Am 1. Oktober 1949 war es endlich so weit: Mao konnte in Peking die Volksrepublik China ausrufen.

Damit waren endgültig die Voraussetzungen für weitere, exzessivste Überwachungen der Bevölkerung durch Blockwarte, Ordnungskomitees, Gefängnisse und Arbeitslager geschaffen38. Ende 1951 begann die von Mao initiierte „Drei-Anti-Kampagne“ gegen Korruption, Verschwendung und Bürokratismus (verstanden als bürokratische Ineffektivität).

Dem Kenner dieser Zusammenhänge muß daher eher missfallen, wenn er nunmehr in unserem Fünften Sozialgesetzbuch Vorschriften über „Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen“ lesen muß:

„Die Krankenkassen … richten organisatorische Einheiten ein, die Fällen und Sachverhalten nachzugehen haben, die auf Unregelmäßigkeiten oder auf rechtswidrige oder zweckwidrige Nutzung von Finanzmitteln … hindeuten.“39

Schon 1952 wurde dieser Kampf zu einer „Fünf-Anti-Kampagne“ umgewidmet und richtete sich nun gegen Bestechung, Steuerhinterziehung, Unterschlagung von Staatseigentum, Betrug und Diebstahl von Geschäftsgeheimnissen40.

Sind uns heute Aktionen wie „Zoll-stoppt-Schwarzarbeit.de“, tranparency international oder permanente Straßenkontrollen des Bundesamtes für den Güterverkehr auf unseren Fernstraßen ganz fremd?

Während die amerikanische Journalistin Anna Louise Strong in Artikeln zu Ende der 1940er Jahre die Auffassung verbreitete, Maos Arbeit würde „höchstwahrscheinlich die späteren Regierungsformen in Teilen Europas“ beeinflussen41, warnte Winston Churchill im britischen Parlament bereits vor einem Appeasement gegenüber Mao42. Und in der Tat: Mao war entschlossen, China zur Supermacht umzugestalten.

Im Oktober 1950 marschierten chinesische Truppen in Korea ein, um dort – weil Stalin Mao keine Atombombe liefern wollte – mit „Menschenwellen“ die USA das militärische Fürchten zu lehren. Drei Millionen Chinesen standen gegen eine Million Amerikaner43. Nachdem dieser Krieg zu seinem Bedauern nicht die von Mao gewünschten Ergebnisse gebracht hatte, begann er sein wohl gigantischstes Projekt: Er beabsichtigte, China binnen 15 Jahren zu industrialisieren und auf diese Weise – im wesentlichen durch die Konzentration auf Rüstungsprogramme – eine Supermacht zu schaffen44.

Die Jahre seiner Regierung nach 1953 sind maßgeblich bestimmt von dem Versuch, entweder die Sowjetunion zur Weitergabe von Atomwaffen an China zu bewegen, oder aber irgend selbst diese Waffen herstellen zu können45. Und dies – im wahrsten und brutalsten Sinne – um jeden Preis.

Um das Wohlwollen Russlands und des Ostblocks zu erkaufen, versorgte Mao diese Länder im wesentlichen mit genau denjenigen von ihnen benötigten Lebensmitteln, die er seiner eigenen Bevölkerung raubte und vorenthielt46. Als der Staats- und Parteichef Walter Ulbricht der DDR im Jahre 1956 China besuchte, empfahl Mao ihm nicht nur den Bau einer „Großen Mauer“, um „Faschisten“ vom eigenen Territorium fernzuhalten; insbesondere führte der Kontakt zwischen beiden auch dazu, dass Ost-Berlin im Jahre 1958 die Rationierung von Lebensmitteln dank chinesischer Lieferungen aufheben konnte47.

Spiegelbildlich zu derartigen Lebensmittel-Exporten litten die chinesischen Bauern mehr und mehr Hunger. Bei der Beschlagnahme müsse brutaler vorgegangen werden, um effektiv sein zu können, meinte Mao: „Der Marxismus ist so brutal!48. Bauern erhielten das Verbot, den Beruf zu wechseln49 und wurden in Genossenschaften und sogenannten Volkskommunen kollektiviert, um in ihrer Arbeit besser überwacht werden zu können; Millionen von Haushalten waren praktisch nicht zu überprüfen gewesen, in Kollektiven war dies jedoch endlich möglich50. Die Bauern in seiner Musterprovinz Henan ließ er mit Nummern auf den Hemden arbeiten, damit sie besser aus der Ferne kontrollierbar waren; er spielte mit dem Gedanken, individuelle Namen ganz zu verbieten51.

Jede gedankliche Anlehnung an die Einschränkungen kassenärztlichen Handelns, jede Anlehnung an die Berufs(wechsel)verbote des Fünften Sozialgesetzbuches und alle Vergleiche mit einer Kollektivierung von Vertragsärzten in Medizinischen Versorgungszentren verbieten sich natürlich. Denn: Ähnlich wie Ulrich Wickert den Kritikern seiner Kinderstaatserziehung schon entgegenhielt, wird man auch hier erklärt hören: China war eine Diktatur, Deutschland hingegen ist ein freies Land!

Wenn es in seinen sozialistischen Bruderstaaten des Ostblocks trotz aller Kollektivierungen, Requirierungen und trotz Überwachung auch nach Jahren noch nicht zu maßgeblichen Besserungen der Versorgungslagen gekommen war, so gab es für Mao nur eine einzige plausible Erklärung hierfür: „Das Grundproblem in einigen Ländern Osteuropas ist, dass sie nicht alle Konterrevolutionäre eliminierten … Osteuropa tötet einfach nicht in großem Stil. … Wir müssen töten. Und wir sagen, dass es gut ist, zu töten52.

Im Februar 1957 machte er sich folglich daran, mehr Konterrevolutionäre auch im eigenen Land zu finden. Hierzu propagierte er das Programm „Laßt hundert Blumen blühen!“. Die Menschen im Land wurden aufgefordert, freimütig ihre Kritik gegen die Partei zu äußern, damit – wie er sie glauben ließ – die Parteiarbeit kontrollierbar werde. In Wahrheit ging es darum, Kritiker ausfindig zu machen, um sie sodann gezielt zu töten53.

Bei der anschließenden Jagd nach „Rechtsabweichlern“ verließ er sich nicht auf den zufälligen Jagderfolg seiner Jäger. Vielmehr erfand er eine spezifische „Quotenregelung“: 550.000 Menschen – vornehmlich Gebildete und Intellektuelle – sollten gefunden und liquidiert werden54. Haben wir in Deutschland das Wort „Quotenregelung“ nicht auch schon einmal in anderem Zusammenhang gehört?

Im Mai 1958 brachte Mao seine ungeduldigsten Industrialisierungspläne endgültig voran. Hatte er zunächst noch geplant, innerhalb von 15 Jahren die westliche Industrie einzuholen, verkürzte er diese Zeit nun auf acht, sieben, fünf, oder „möglicherweise drei“ Jahre55. Als Namen für dieses Programm, das bis 1961 für knapp achtunddreißig Millionen Chinesen den Hungertod brachte56, wählte er den „Großen Sprung nach vorn57. Auch hier wieder setzte er willkürlich fiktive Quoten fest, anhand derer er seine Bauern besteuerte. Widersetzen sie sich den Requirierungen oder besaßen sie schlicht nicht, das was von ihnen herausverlangt wurde, sprach Mao ihnen die kommunistische Gesinnung ab. Aus Angst vor Strafe erfanden einige Parteichefs der Provinz aberwitzige Produktionssteigerungen und „Phantomernten58, die dann den vermeintlich nicht erfolgreichen entgegengehalten wurden.

An dieser Stelle ist übrigens dem „Grünen-Politiker“ Volker Beck dringend anzuempfehlen, sich mit jenen historischen Ereignissen gelegentlich detaillierter vertraut zu machen. Denn anders als die bekannten „Alt-68er“, die den insoweit noch geradezu harmlosen „Langen Marsch durch die Institutionen“ zu ihrem politischen Lebensziel insgesamt erklärt hatten, formuliert dieser Volker Beck in seiner Eigenschaft als Parlamentarischer Geschäftsführer der „bündnisgrünen“ Bundestagsfraktion, die rechtliche Gleichstellung der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft durch den Gesetzgeber sei – so wörtlich – ein „großer Sprung nach vorn59. Einzelheiten könnte ihm vielleicht sein Parteifreund Reihard Bütikofer erläutern, der mit Ulla Schmidt (und Krista Sager) ebenfalls zu dem schon genannten Kommunistischen Bund Westdeutschlands gehörte60.

Mao plante weiteres: „Später einmal werden wir das Weltkontrollkomitee einrichten und einen einheitlichen Plan für die Erde aufstellen.61 Und seinen Bauern erklärte er: „Ich bin der Ansicht, dass es gut ist, weniger zu essen.62. Denn zur Eroberung der Weltherrschaft brauchte er nach eigener Überzeugung Atomwaffen. Da die Sowjetunion sie ihm nicht lieferte, musst er eigene Testreihen durchführen. Seine Raketentests musste er mit Biotreibstoffen bewerkstelligen; je Teststart wurden 10.000 Tonnen Getreide verbraucht63. Während der Bevölkerung dieses Getreide bei der Ernährung fehlte, begeisterte sich Walter Ulbricht für die beeindruckend dokumentierten Produktionssteigerungen und bat Mao am 11. Januar 1961 (auf der Höhe der chinesischen Hungersnot 1960/1961) um weitere Lebensmittel, damit die DDR es mit dem westdeutschen pro-Kopf-Fleischverbrauch von 80 kg im Jahr aufnehmen könne64. Daß auch angesichts unserer aktuellen Diskussionen um die Beimischung von sogenannten „Biosprit“ bereits von ersten Ernährungsproblemen in der Welt berichtet wird, kann nicht erstaunen. Warten wir ab, wie viele Opfer dereinst der Kampf gegen den Klimakiller CO² zeitigen wird.

Maos Ungeduld und fachliche Inkompetenz führten zu immer größeren Fehlentwicklungen. So propagierte er zur Zeitersparnis das Ideal der „Drei Gleichzeitigkeiten“, wonach seine Projekte stets gleichzeitig untersucht, geplant und ausgeführt werden sollten65. Mal befahl er, alle Spatzen zu töten, weil sie zu viele Getreidekörner äßen, dann wieder gab er Anweisung, alle Hunde zu töten, weil sie zu viel Futter verbrauchten. Der Versuch, die gesamte Produktion des Landes bis in jedes Dorf hinein auf Stahlproduktion umzustellen, damit Großbritannien nicht länger führend auf diesem Gebiete wäre, endete mit weit verbreiteter Obdachlosigkeit, weil Hütten und Dächer zum Befeuern der Öfen verheizt worden waren und mit Überschwemmungskatastrophen, weil ganze Bergkämme hatten abgeholzt werden müssen66. Er verhielt sich demnach gerade wie einer, der zugleich den Tabakanbau subventioniert und das Rauchen verbietet; wenig kohärent. Als Gegenmittel gegen Engpässe und zum Anreiz, mehr zu leisten, inszenierte Mao nun unablässig „Wettbewerbs-Kampagnen67, während ihm zugleich ein bargeldlos funktionierendes Kasernen-System für alle vorschwebte68.

Auch hier wieder mag man nicht an „Wettbewerbsstärkungsgesetze“ denken, die – mit anderen gesetzlichen Reformen, Strukturierungen und Modernisierungen – in einer Schnelligkeit aufeinanderfolgen, dass das je neue Gesetz die Umsetzung seines Vorgängers manches mal geradezu schon überholt. Über allem schwebt nur – als Konstante – auch hier die Bargeldlosigkeit des Krankenkassen-Kartensystems, weil Gesundheit den „Armen“ ja bekanntlich – ideologiekonform – nichts kosten darf. Ebenso hatte es Mao selbst bereits mit seinen opiumsüchtigen Bauern gehalten.

Die durch diesen „Großen Sprung“ zerstörte Lebensmittelversorgung der Bevölkerung führte in die größte Hungerkatastrophe der Menschheit. 38 Millionen Chinesen verhungerten69. Mao jedoch ignorierte sein Versagen. Statt dessen erklärte er: „Wir glauben an die Dialektik, deswegen können wir nicht gegen den Tod sein.“ Und: „Die Toten sind nützlich. Sie können den Boden düngen.70. Seine Zynismen blieben folgenlos. Der Maokult hatte ihn bereits unangreifbar gemacht.

Während der Hunger tobte und Säuberungsaktionen unvermindert anhielten, begann im Januar 1960 die Arbeit an der „Mao-Bibel“, mit der das „Mao-Tse-tung-Denken“ auf der ganzen Welt propagiert werden sollte71. Nach Simone de Beauvoir, die Maos Macht in die Fesseln einer chinesischen Verfassung gelegt sah72, vergewisserten sich auch der spätere französische Staatspräsident Francois Mitterrand, der kanadische Premier Pierre Trudeau und der britische Feldmarschall Montgomery, dass es in China 1960 eine Hungersnot nicht gab73. Die Propaganda, die dann im Jahre 1968 zu der phantastischen Feststellung Jean-Paul Sartres führen sollte, Maos revolutionäre Gewalt sei „tief moralisch74, war mit Erfolg angelaufen. Auch heute hält sich hierzulande unverständlicherweise noch immer ein ähnliches Gerücht, nämlich das von der angeblichen „sozialen Gerechtigkeit“ des „solidarischen Versicherungssystems“.

Aus dem Hunger seines Volkes gewann Mao nunmehr diejenigen Exportüberschüsse, die ihm das Geld zur Finanzierung seines weltweiten Personenkultes einspielten. Er subventionierte nicht nur Ungarn, Algerien, Fidel Castros Kuba und Albanien, sondern insbesondere auch all jene westeuropäischen Gruppen, die sich zur Verbreitung des Maoismus bereit erklärten. In den einschlägigen Kreisen herrschte geradezu eine Art Goldgräberstimmung: Jeder Kommunist, der erklärte, statt Marx und Lenin nun Mao zu huldigen, hatte Aussicht auf Geld aus China. Sogar der niederländische Geheimdienst wurde – nach entsprechenden Legenden – von Mao subventioniert75.

Interessant wäre, die genauen Geldflüsse auch nach Deutschland zu kennen. Nach Angaben der Zeitschrift „Cicero“ verfügte der schon genannte Kommunistische Bund Westdeutschland im Jahre 1980 über eine „Dienstwagenflotte von rund 50 Saab-Fahrzeugen und 67 Festangestellte76. Daß diese Mittel – ebenso wie die für den Kauf einer dann 1985 für 15 Millionen DM veräußerten Immobilie im Westen Frankfurts – alleine aus der 10% Einkommensabgabe seiner Mitglieder hatten aufgebracht werden können77, mag man füglich bezweifeln.

Allen innenpolitischen Erfolgen zum Trotz kam es im Jahre 1962 zu einer geringfügigen Einschränkung von Maos Machtpositionen, nachdem sich die „Nummer 2“ im Staate, Liu Shao-chi, für kurze Zeit unter Hinweis auf die Hungerkatastrophen des „Großen Sprunges“ parteiintern Gehör und Einfluß hatte verschaffen können. Die damit erzwungene Kursänderung währte jedoch nicht lange und sie markierte im Gegenteil nur die Ursache für die dann als „Kulturrevolution“ bekannt gewordenen, weiteren Säuberungen Maos78.

Nunmehr im Besitz der Bombe, widmete sich Mao wieder verstärkt seinen innenpolitischen Reform-Projekten. Schon rund dreißig Jahre zuvor hatte er die These vertreten, ein Volk brauche nur so viel Bildung, wie erforderlich sei, um politische Propaganda-Maßnahmen zu verstehen79. Jetzt propagierte er offensiv eine „Haltet-die-Leute-dumm-Politik80. Zu dieser gehörte wieder einmal eine Reform, diesmal die „ernsthafte Reform“ der Künstler im Februar 1964. Statt sich künstlerisch zu betätigen, sollten Künstler – unter Androhung des Essens-Entzuges –historische Baudenkmäler abreißen, die Mao missliebig waren. Der Personenkult um Mao erforderte als Komplementär-Phänomen die absolute Unpersönlichkeit aller seiner Untergebenen.

Die Raubzüge der Roten Garden im Rahmen der „Kulturrevolution“ betrafen in Peking fast 34.000 Häuser. Das geraubte Gut musste – wie in der Vergangenheit – akribisch abgeliefert werden. Zur Organisation dieses Projektes erfand Mao die sogenannten „Fallgruppen“: Für jeden Funktionär gab es eine solche „Fallgruppe“, um zu entscheiden, ob er – wegen Widerstandes – beseitigt werden musste81.

In den mit Wirtschaftlichkeitsprüfungen vertrauten Ohren der deutschen Kassen- bzw. Vertragsärzte muß diese Terminologie eher Unbehagen auslösen. Denn bekanntlich werden auch sie zu statistischen Vergleichszwecken in derartige „Fallgruppen“ zusammengefasst. Wehe dem, der politisch-terminologisch Böses dabei denkt, erst recht, wenn er auch noch dies hört: Um sicherzustellen, dass bei der Verfolgung von Klassenfeinden in den einzelnen Provinzen nicht der Verdacht nachlässigen Handelns aufkam, entwickelte der zuständige Chef der Provinz Anhui eine Art statistischer Hinrichtungsquote nach Vergleichgruppendurchschnitten. Er ließ ermitteln, wie viele Hinrichtungen pro Monat in den Provinzen Jiangsu und Zhejiang durchgeführt worden waren und ordnete an, nach dem Maßstab des Durchschnitts aus beiden Provinzen in Anhui hinzurichten82.

Im Jahr 1969 waren alle mao-kritischen Parteimitglieder beseitigt. Die Kulturrevolution hatte ihren Zweck erfüllt.

Gleichwohl entglitt ihm seine Macht zusehends. Weil er merkte, die Dritte Welt nicht propagandistisch erobern zu können, verlegte sich Mao schließlich darauf, den amerikanischen Präsidenten Richard Nixon nach Peking einzuladen, was ihm gelang. Dies wertete Mao zwar als Gastgeber für vielerlei Gäste aus aller Welt nochmals auf. Zu belastbaren Allianzen über die Lieferung einiger Technik hinaus kam es indes nicht mehr.

Am 9. September 1976 starb Mao an Altersschwäche in einem erdbebensicheren Hochsicherheitsgebäude. Ein Testament hinterließ er nicht. Die Probleme anderer Menschen waren ihm über den eigenen Tod hinaus egal. Zuvor hatte seine Politik wenigstens 70 Millionen Menschen das Leben gekostet.

Am 16. September 1976 erschien in Deutschland die „Kommunistische Volkszeitung“, gleichsam Sprachrohr des Kommunistischen Bundes Westdeutschland, und formulierte die Schlagzeile:

Ewiger Ruhm dem Vorsitzenden Mao Zedong, Führer und Lehrer des chinesischen Volkes, Lehrer des internationalen Proletariats83

III. Schluß

Nach allem bleibt für uns die Frage: Was können wir „aus dem Osten“ tatsächlich lernen?

Klar ist zunächst dies: Ulla Schmidt hat keine Arbeitslager gebaut, sie hat nicht gezielt Hungersnöte inszeniert, sie verbreitet nicht Furcht und Schrecken durch Hinrichtungsexzesse oder öffentliche Exekutionen und sie erstrebt nicht den Besitz von Massenvernichtungswaffen. In all diesen Beziehungen verbieten sich alle Vergleiche zwischen Ulla Schmidt und Mao Tse-tung selbstredend.

Aber: Ulla Schmidt ist aus ihrem eigenen politischen Werdegang ganz zwangsläufig (anders als sicher die meisten lebenden Bundesbürger) eine intime Kennerin all jener Daten, Fakten und Zusammenhänge, die wir hier – im einzelnen nachlesbar bei Jung Chang und Jon Halliday – umrissen sehen.

Folglich kommt doch gerade einer Politikerin wie Ulla Schmidt hervorgehoben die Aufgabe und Pflicht zu, jedweden Anfängen einer maoistischen Politik mit aller Kraft entgegenzutreten. Wer sonst, wenn nicht der Kenner dieser Terminologien und Zwangsläufigkeiten, könnte berufen sein, seine politische Arbeit in den Dienst der Abwehr solcher Exzesse zu stellen? Die bloße ‚Erschütterung’ über damalige Naivität und der entschuldigende Hinweis, man habe vor dreißig Jahren kein Geld gehabt, dort hin zu fahren84, genügen hier ersichtlich nicht.

Als der Fußballweltmeister Paul Breitner dereinst mit der Mao-Bibel zum Fußballtraining erschien, da lag in der deutschen Bibliothek schon seit mehr als 10 Jahren das Buch Klaus Mehnerts über „Peking und Moskau“ vor85. Daß Mao gezielt Terror plante, hätte folglich jedem bekannt sein können, den es interessierte. Und auch wenn Paul Breitner keine Zeit hatte, in eine Bibliothek zu gehen, weil er wichtige Elfmetertore gegen Holland schießen musste: Ulla Schmidt konnte lesen!

Wenn Ulla Schmidt die „Freie Presse Chemnitz“ am 9. März 2007 fragt

„Warum sollen bundeseinheitliche Beitragssätze bei den Krankenkassen plötzlich Sozialismus oder des Teufels sein?“,

dann müssen wir Heutigen also jetzt erheblich erstaunt sein und ihr nach allen weithin bekanten historischen Erkenntnissen antworten: Staatlich gelenkte und festgesetzte Preise sind nicht Sozialismus oder des Teufels; Sie sind vielmehr Sozialismus und des Teufels!

Dem Sozialismus ist – wie dargelegt – wesenseigen, Menschen in Gruppen zu spalten. Also dürfen sich Ärzte von ihren Patienten ebensowenig mehr trennen lassen, wie von ihren sämtlichen Berufskollegen. Die Wirklichkeit kann im Sinne Fritz Beskes auf zwei Arten „zurückschlagen“: Entweder, Ärzte werden sich untereinander und mit ihren Patienten einig. Denn gegen Ärzte und Patienten, die sich einig sind, bleiben maoistische Politiker ebenso machtlos, wie wohlfahrtsstaatliche. Oder alle Gattungen und Arten und Unterarten von Ärzten bleiben uneins; dann „fährt das System vor die Wand“ wie jedes andere sozialistische System auch. Genau das aber ist, was ein billig und gerecht denkender Bürger nicht will.

Wer die Zukunft besser gestalten will, der muß die Vergangenheit kennen. Und er muß bereit sein, die erforderlichen Schlüsse aus ihr zu ziehen. Die Tochter des bei Mao in Ungnade gefallenen Transportministers Zhang Bojun, die Schriftstellerin Zhang Yihe, formuliert es nach 20jähriger Haft wegen unerlaubter Tagebucheinträge mit den Worten:

„Wer sich nicht erinnern will, wiederholt die alten Fehler ein ums andere mal – und sie werden immer dümmer.“86

Es geht also um weit mehr, als nur um ärztliche Abrechnungsmodalitäten. Es geht um die Frage, wie wir hier alle demnächst zusammenleben wollen. Sie sind zwar aktuell primär als Ärzte in das Fadenkreuz der ideologischen Verteilungskämpfe geraten. Doch Sie sind im wesentlichen als Bürger betroffen. Und das ist der Kern dessen, was wir aus dem Osten nicht nur lernen können, sondern was wir lernen müssen: Reden Sie über das, was passiert. Reden Sie miteinander und reden Sie mit jedermann. Und erklären Sie Ihren Patienten, was geschieht. Solange Sie noch Patienten haben.

1 Fritz Beske in: „Nordlicht Aktuell“, 02/2007, S. 2. Weiter heißt es dort: „Es lohnt sich also, … Ansätze dafür zu finden, was einer solchen Entwicklung entgegengesetzt werden kann. Nur wer die Triebkräfte kennt, die gesundheitspolitisches Handeln bestimmen, kann mit Erfolg versuchen, das Ruder herumzuwerfen. Den handelnden Personen sei aber gesagt: Vorsicht! Die Wirklichkeit schlägt zurück.“

2 Cicero, Ausgabe April 2006, S. 76

3 Freie Presse Chemnitz, Interview vom 9. März 2007

4Jung Chang und Jon Halliday: Mao – „Das Leben eines Mannes, das Schicksal eines Volkes“, Originalausgabe London 2005, übersetzt von Ursel Schäfer, Heike Schlatterer und Werner Roller. Die hier folgenden Fußnoten „Mao S. …“ beziehen sich auf die 1. Auflage der deutschen Ausgabe, München 2005; das vorangestellte Zitat findet sich dort S. 536. Für den Sieg der kommunistischen Weltrevolution erklärte Mao im Mai 1957, sei er bereit, 300 Millionen Chinesen zu opfern; S. 575.

5 Mao S. 19

6 Mao S. 17, 22

7 Mao S. 32, 58

8 Mao S. 86. Klaus Mehnert [Peking und Moskau, 5. Aufl. Stuttgart 1963] zitiert Mao mit den Worten: „Die Revolution ist kein Festmahl, kein literarisches Schaffen, kein Malen oder keine Feinstickerei … Die Revolution – das ist ein Gewaltakt“, a.a.O. S. 189

9 Mao S. 39; bei diesen blieb er dann – abgesehen von einem kurzen Intermezzo bei den chinesischen Nationalisten, S. 58, 65 – bis zu seinem Lebensende.

10 Mao S. 61f.

11 Ludwig von Mises hat schon im Jahre 1919 auf die Aussichtslosigkeit allen bürgerlichen Widerstandes gegen proletarische Mehrheitsbildungen hingewiesen, sofern nur die Minderheit der Bürger dem politisch-strategischen Irrtum unterliege, sich auf diese diktierte Spielregel einzulassen: Nation, Staat und Wirtschaft, Original Wien 1919, Nachdruck 2006, Colombo, S, 209

12 Dies sind bekanntlich bis tief in die Bundesrepublik hinein Kernthemen der politischen und rechtlichen Debatten. So beklagt etwa der sozialistische Berliner Rechtslehrer Uwe Wesel noch 1991, dass es keine starken ‚Wohnungsgewerkschaften’ gebe, die den „Kampf gegen egoistische Hauseigentümer“ aufnehmen könnten; Uwe Wesel: Fast alles, was Recht ist, Frankfurt am Mai 1991, S. 343

13 Mao S. 62

14 Mao S. 89, 412f., 425, 545, 637:

15 Mao S. 167

16 Mao S. 82

17 Jürgen Eick: Wie man eine Volkswirtschaft ruiniert, Frankfurt am Mai 1976

18 Mao S. 125

19 Mao S. 36, 43

20 Mao S. 145

21 Mao S. 105

22 Mao S. 142, 81, 87

23 vgl. § 1 AGG

24 „BamS“ v. 11. März 2007; ob Wickert auch überzeugt ist, dass öffentliche Toiletten immer sauberer sind, als private, hat die BamS leider nicht gefragt.

25 Mao S. 142, 637; die totale Politisierung aller Lebensverhältnisse ist bekanntlich stets dasjenige Vorgehen aller, die eine “totale Ökonomisierung” des Lebens ablehnen.

26 Mao S. 144

27 Mao S. 148

28 Mao S. 186, 212

29 Mao S. 167, 212

30 Mao S. 318

31 Mao S. 325f.

32 Mao S. 328f.

33 W.A.Z. vom 12. März 2007. Systematisch am spannendsten hieran ist (wieder): An derartigen Fronten wird das individuelle Eigeninteresse eines jeden eigenen Bürgers gerne entdeckt und genutzt; wer nicht mitmacht, der soll wenigstens zahlen.

34 Mao S. 360f.

35 Mao S. 362

36 Mao S. 392f.

37 Mao S. 416

38 Mao S. 426f.

39§ 197a SGB V. vgl. i.ü. den praktisch inhaltsgleichen § 81a SGB V für die KVen.

40 Mao S. 429f.

41 Mao S. 440

42 Mao S. 454

43 Mao S. 477ff., 489

44 Mao S. 496

45 Wenn man keine Atombombe besitze, dann „hören einem die Menschen einfach nicht zu“, meinte Mao, S. 533

46 Mao S. 498-500

47 Mao S. 501

48 Mao S. 515

49 Mao S. 499

50 Mao S. 515, 568

51 Mao, 2. Bildteil, Blatt 3, Begleittext oben

52 Mao S. 544f.

53 Mao S. 545

54 Mao S. 548

55 Mao S. 557

56 Mao S. 574 – die 27 Millionen Toten aus Gefängnissen und Arbeitslagern nicht eingerechnet, Mao S. 426

57 Mao S. 557

58 Mao S. 588

59 vgl. Zuwachs für Ehe und Familie – www.gruene-bundestag.de

60 Cicero, April 2006, S. 78

61 Mao S. 558

62 Mao S. 559

63 Mao S. 561

64 Mao S. 582

65 Mao S. 562

66 Mao S. 564f.; Kleinhochöfen zur Stahlproduktion in allen Dörfern waren zu dieser Zeit Maos “Lieblingsprojekt“, S. 579

67 Mao S. 567

68 Mao S. 571

69 Mao S. 574

70 Mao S. 575

71 Mao S. 602

72 Mao S. 602

73 Mao S. 603

74 Mao S. 738

75 Mao S. 604f.; Tansania versprach er eine Eisenbahnlinie, S. 647, Pakistan bot er Hilfe beim Bau der Atombombe an, S. 648, in Indonesien versuchte er, die KP zu stützen, S. 649ff.

76 Cicero April 2006, S. 78

77 Cicero April 2006, S. 78

78 Mao S. 625

79 Mao S. 146

80 Mao S. 636

81 Mao S. 682

82 Mao S. 708

83 Cicero April 2006, S. 75

84 Cicero April 2006, S. 75f.

85 vgl. oben, Fußnote 8

86 Westdeutsche Allgemeine, 16. März 2007

Die Rückbesinnung auf das Zivilrecht als als Chance für eine neue Bürgergesellschaft

Referat auf der Tagung des Bundes Freiheit der Wissenschaft e. V. am 9. Februar 2007 in Gummersbach

von Carlos A. Gebauer

Sehr geehrte Damen,sehr geehrte Herren,

gestatten Sie mir, einer liebgewonnenen Gewohnheit nachzugehen. Lassen Sie mich mein heutiges Thema in drei Teilen vortragen: In Einleitung, Hauptteil und Schluß.

Einleitung

Der juristische Blick auf unsere gegenwärtige Gesellschaft erweist: Das Zivilrecht befindet sich kontinuierlich auf dem Rückzug. Auf allen Ebenen der Gesetzgebung – von den einzelnen Bundesländern über den Bund selbst bis hin zur EU – sind unsere Gesetzgeber damit befasst, unser Leben entweder insgesamt öffentlich-rechtlich auszugestalten, oder aber noch bestehende individuelle rechtliche Gestaltungsspielräume aller Beteiligter konsequent einzuengen.

Mit einer derartigen Gesetzgebung werden aber nicht nur unsere je eigenen, einzigartigen, individuellen Lebensentwürfe standardisiert. Die Entscheidungsbefugnisse aller Bürger werden vielmehr insgesamt zwangsläufig weiter und weiter minimiert.

In der Bundesrepublik Deutschland geht es schon lange nicht mehr nur um rechtsdogmatische Skurrilitäten wie etwa den ganz aus dem Ruder gelaufenen arbeitsrechtlichen Kündigungsschutz[1] oder die ähnlich bemerkenswerten Mieterschutzregeln nach den §§ 568 ff. BGB, mit denen bei letzter legislativer Gelegenheit gleich auch noch die gesamte Aufbaulogik des Bürgerlichen Gesetzes in ihr Gegenteil verdreht wurde[2].

Aus den normhierarchisch übergeordneten Sphären der Europäischen Union drängen weitere Einschränkungen der Bürgerfreiheiten in das nationale Recht. Die durch europarechtliche Pauschalreiserichtlinie veranlasste Kundengeldabsicherungspflicht des Reiseveranstalters nach § 651k BGB[3] etwa stellt ebenso eine Behinderung des freien bürgerlichen Handelns und Wirtschaftens dar, wie weite Teile des Rechtes über die Allgemeinen Geschäftsbedingungen (§§ 305 ff. BGB)[4].

Als wäre dies alles dem alltäglichen Leben der Bürger – namentlich den arbeitenden Menschen – noch nicht hinderlich genug, arrondiert der Gesetzgeber derartige Regelwerke zusätzlich noch dadurch, dass er z.B. sogenannte „qualifizierte Einrichtungen“ ermächtigt, gegen (ohnehin rechtlich unwirksame!) Allgemeine Geschäftsbedingungen gerichtlich vorgehen zu dürfen[5]. Oder dass er mit einer eigenen Verordnung über Informations- und Nachweispflichten nach Bürgerlichem Recht[6] die Unternehmer bisweilen zur Aufführung und Benennung von rund zwanzig katalogisch aufgeführten Zwangsangaben in seiner alltäglichen geschäftlichen Korrespondenz belastet[7]. Es will scheinen, als befürchte kein an derartigen Gesetzesvorhaben Beteiligter, eines Tages selbst im wirklichen Leben außerhalb des Parlamentes oder Ministeriums vor die Aufgabe gestellt zu sein, alle diese Vorschriften beachten zu müssen.

Den allerjüngsten Kulminationspunkt unsäglichen, nicht zuende gedachten legislativen Gebarens auf zivilrechtlichem Gebiet markiert das nun unter dem Namen „Allgemeines Gleichstellungsgesetz“ in Kraft getretene sogenannte Antidiskriminierungsrecht. Dieses Gesetz nötigt Bürger allen Ernstes in rechtswirksame Vertragsverhältnisse, auch wenn sie diese innerlich ablehnen. Es handelt sich folglich um ein legislatives Monstrum, das allem dient, nur nicht der Schaffung von tatsächlichem Rechtsfrieden unter Bürgern. Es ist daher vielerlei, nur jedenfalls nicht mehr Bürgerliches Recht[8].

Was aber können wir – namentlich unter den damit skizzierten gesetzgeberischen Umgebungsbedingungen – noch unter einer „Bürgergesellschaft“ verstehen? Was kennzeichnet ihr Zivilrecht? Und: Wie besinnt sich eine Gesellschaft auf jenes Recht, dass es auch wieder tatsächlich zur Geltung komme?

Hauptteil

Ich möchte meine Überlegungen zum Thema in der Hauptsache in zwei Teilen darstellen. Zunächst will ich definieren, was ich unter einer „Zivilgesellschaft“ verstehe (und welche Vorteile sie gegenüber anderen Gesellschaftsmodellen hat). Dann werde ich mich mit der Frage befassen, was wir anzustellen haben, um eine solche Zivilgesellschaft (wieder) in die Welt kommen zu lassen.

A. Inhalt und Wert einer Zivilgesellschaft

Zunächst ist also zu fragen: Was eigentlich kennzeichnet eine solche Zivilgesellschaft? Zwei Elemente erscheinen mir hierbei besonders charakteristisch und wesentlich: Zum einen die „horizontale“ oder „gleichberechtigte“ Verbindung der Beteiligten und zum anderen die konkrete Festlegung gemeinsam verfolgter Zwecke durch die jeweils persönlich Beteiligten selbst.

I. Horizontale Gleichberechtigung der Beteiligten

Die juristische Literatur verwendet zur Unterscheidung ihrer Gegenstände „öffentliches Recht“ einerseits und „Zivilrecht“ andererseits üblicherweise zwei bildhafte Begriffe: Die „Über-Unter-Ordnung“ verschiedener Rechtssubjekte zueinander kennzeichnet das öffentliche Hoheitsrecht, während die „Gleich-Ordnung“ mehrerer Rechtssubjekte zueinander das bürgerliche, zivile Recht prägt.

Während also eine Behörde dem Bürger mit ihren Möglichkeiten zum Erlaß von Verwaltungsakten „vertikal“ übergeordnet ist, stehen sich zwei Bürger bei dem Abschluß und der Durchführung eines Vertrages untereinander gleichsam in gleicher Augenhöhe auf einer einheitlichen, „horizontalen“ Ebene gegenüber. Im öffentlichen Recht herrscht demnach also gerade nicht „gleiches Recht für alle“; sondern die Behörde hat das bessere, stärkere Sonderrecht gegenüber dem Bürger.

Genau das aber bleibt nicht ohne Konsequenzen für jedweden rechtlichen Dialog zwischen den an solchen Rechtsverhältnissen Beteiligten. Wer nämlich einen anderen zu bestimmten Handlungen zwingen kann, der argumentiert – aus naheliegenden (und nachstehend im einzelnen zu erläuternden) – Gründen anders als einer, der den anderen Partner seines Rechtsverhältnisses erst zu diesem von ihm angestrebten Tun überzeugen muß. An die Stelle der einvernehmlichen (und ganz friedlichen) Einigung zwischen Gleichberechtigten tritt im öffentlichen Hoheitsrecht bestenfalls eine vorherige Anhörung des Schwächeren mit einer anschließenden (einsam-autonomen) Entscheidung des Stärkeren.

II. Auffinden und Verfolgen von Zwecken

Die damit umrissene Differenzierung im praktizierten Rechtsverkehr zwischen entweder „horizontal“ oder aber „vertikal“ miteinander agierenden Beteiligten kann nicht ohne Auswirkungen auf den Inhalt ihres Kommunizierens, insbesondere aber auch nicht ohne Auswirkungen auf den Inhalt ihres Handelns insgesamt bleiben.

Denn wer einen gleichberechtigten Partner erst davon überzeugen muß, gemeinsam mit ihm einen bestimmten Zweck zu verfolgen, an dessen konkrete Darlegungs- und Begründungsanstrengungen sind ganz andere Anforderungen gestellt, als an einen, der das von ihm vorgestellte anschließende Handeln des anderen auf alle Fälle – also insbesondere ohne Rücksicht auf das Ergebnis eines vorab vielleicht noch anhörend geführten Dialoges – „von oben herab“ einsam und monologisch erzwingen kann.

Gleichsam rein und archetypisch ist der Gedanke eines derartigen, gleichberechtigten Konsenses als Voraussetzung zur anschließend gemeinsamen Verfolgung eines übereinstimmend als sinnvoll erkannten Zieles in § 705 BGB beschrieben:

„Durch den Gesellschaftsvertrag verpflichten sich die Gesellschafter gegenseitig, die Erreichung eines gemeinsamen Zweckes in der durch den Vertrag bestimmten Weise zu fördern, insbesondere die vereinbarten Beiträge zu leisten.“

Diese Formulierung betont gleich vierfach (!) den gemeinsamen Willen der Beteiligten: Sie schließen erstens einen „Vertrag“. Sie definieren zweitens hierzu einen „gemeinsamen Zweck“. Dazu setzen sie drittens die „bestimmten“ Mittel ein. Und viertens leisten sie die „vereinbarten“ Beiträge. Mehr Konsens geht kaum.

Daß die einzelnen Tatbestandsmerkmale dieses bürgerlich-rechtlichen Gesellschaftsvertrages (bei einer hier einmal unorthodox angenommenen, extensiven Auslegung) schlechterdings auch auf jeden zweiseitigen Vertrag Beteiligter „passen“, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Stets verständigen sich die Partner eines zivilrechtlichen Vertrages „horizontal“ auf den gesamten Inhalt dessen, was sie (nach ihrer gemeinsam als je individuell sinnvoll erachteten Weltsicht) als ihre Ziele mit dem Vertrag sinnvoll zu erreichen wünschen. Was nur einer wünscht und will, ist hier so lange irrelevant, wie er den anderen nicht für dieses Ziel begeistert.

Das konkrete Bündnis der Beteiligten erhält auf diese Weise seine ganz eigene, konkrete, dezentrale und privatautonom nur von den Beteiligten im Konsens definierte Finalität in der Welt.

Ändert sich der konkrete Blick der Beteiligten auf ihren Zweck, stellen sie übereinstimmend fest, dass er nicht mehr verfolgt werden kann, oder beschließen sie, die Lust an der Zielerreichung allseits verloren zu haben, dann beenden sie einvernehmlich ihren alten Konsens und schaffen sich einen neuen. Gelingt ihnen aber nicht, gemeinsam einen neuen Konsens zu finden, bleibt es bei der Verbindlichkeit des alten. Das schafft genau diejenige rechtliche Sicherheit, derer alle Beteiligten an einem Vertrag bedürfen und die sie an derartigen Geschäften auch stets zu schätzen gelernt haben.

Hiermit ist folglich eine hohe konkrete Flexibilität für die Beteiligten verbunden. Sie können sich in eigener Verantwortung jederzeit wieder neu einigen, ab sofort etwas ganz anderes zu wollen und zu erstreben. Die gemeinsame Finalität lässt sich jederzeit an neueste (auch schicksalhafte) Entwicklungen anpassen.

Genau hier nun tritt aber eine weitere Dimension der „horizontalen“ Zweckverfolgung vor Ort durch die konkret Beteiligten auf die Szene. Es ist dies die Dimension der philosophischen Erkenntnistheorie (Epistemologie). Erkenntnistheoretiker wissen bekanntlich: Es ist stets nur all das im Hirn eines Menschen, das irgendwann einmal dort hineingekommen ist. Wer blind geboren wurde, dessen Hirn weiß nicht, was eine Farbe ist. Es wäre fruchtlos, ihm mit Worten das Entstehen von grün aus blau und gelb anschaulich erklären zu wollen.

Für jedes angepasste Verhalten ist aber dringend notwendig, mit den eigenen Sinnen ein realitätsgetreues Bild von der Welt zu haben. Der Blinde ist folglich lebensnotwendig darauf angewiesen, auf anderen Erkenntniswegen schnell und zuverlässig von einer roten Ampel zu erfahren. Sonst droht ihm ebensolche Lebensgefahr, wie einem Wanderer in der Wüste, der mit letzter Kraft auf eine nur vermeintlich wasserspendende Fata Morgana zuläuft.

So müssen wir Menschen also – ebenso wie viele Tiere – unserem Schicksal dankbar sein, dass es uns Augen und Ohren so nahe bei unserem Hirn beschert hat. So können wir in der Regel zügig Änderungen in unserer Umgebung erkennen und unser – wiederum hirngesteuertes – Handeln darauf einstellen. Das sichert unser Überleben.

Diese Chance zur schnellen Umsetzung erkannten Wissens in unser an die jeweilige Umgebung angepasstes Handeln hat indes auch ganz massive rechtliche Dimensionen. Epistemologisch macht es nämlich einen gehörigen Unterschied, ob Menschen in horizontaler oder in vertikaler Weise rechtlich miteinander verbunden sind. Sieht beispielsweise der Käufer A, dass eine ihm von B verkaufte Scheune infolge Blitzschlages vor Übergabe und Bezahlung in Flammen aufgeht, werden beide Vertragsparteien jedes weitere Handeln in Richtung auf eine Durchführung ihres ursprünglichen Vertrages auf der Stelle einvernehmlich beenden. Ihr Handeln setzt die gewonnene neue Erkenntnis sofort sinnvoll um.

Wüßte aber – um im Beispiel zu bleiben – der Käufer A gar nichts von dem Verbrennen der Kaufsache, so würde er weiter in der Vorstellung von einer Durchführbarkeit des Vertrages leben. Und: Er würde sich nach Maßgabe dieser seiner (unzutreffenden) Überzeugung verhalten. Damit aber stünde sein gesamtes weiteres Handeln nicht mehr im Einklang mit der Realitäten der Welt.

Genau dies aber ist die grundsätzliche Ausgangssituation aller nur öffentlich-rechtlich ausgestalteter Rechtsverhältnisse: Wenn (und weil) die „befehlende“ Instanz in aller Regel nicht selbst persönlich anwesend und beteiligt ist, sondern nur aus der Ferne ihrer Amtsstube auf unsicherer – gegebenenfalls schon überholter – Tatsachengrundlage entscheidet, hat sie gegenüber zivilrechtlichen Verhältnissen einen strukturellen epistemologischen Nachteil.

Wenn also rechtlich „übergeordnete“ Instanzen über die Pflicht zum Handeln, Dulden und Unterlassen „untergeordneter“ Rechtssubjekte zu befinden haben, dann fehlt es nicht nur meist an der Freiwilligkeit des Mitwirkens. Es mangelt der Entscheidung insbesondere stets auch an all denjenigen spezifischen tatsächlichen Erkenntnissen, die nur der jeweils Betroffene vor Ort in seiner Person höchstselbst hat machen können. Die vertikal getroffene Entscheidung basiert daher stets auf unsicherer(er) Tatsachengrundlage, als eine Entscheidung, die (nur) die Beteiligten selbst getroffen hätten. Die hoheitliche Entscheidung ist schon alleine daher überwiegend wahrscheinlich faktisch unrichtig[9].

Wesentlicher aber noch scheint, dass die hoheitlich getroffene Entscheidung in ihrer Finalität einen gänzlich anderen Handlungsrahmen berücksichtigt und einbezieht, als ihn die Betroffenen selbst berücksichtigt hätten. Denn je mehr Personen von einer (rechtlichen) Entscheidung betroffen sind, desto mehr potentielle Finalitäten aller Beteiligten werden durch die Handlungsanordnung berührt.

Lassen Sie mich zur Verdeutlichung dieses Gedankens ein ebenso einschneidendes, wie plastisches Beispiel heranziehen. Ich zitiere aus Winston S. Churchills Bericht[10] über die Konferenz von Teheran im Jahre 1943 und das dort skizzierte weitere Schicksal des polnischen Staatsgebietes[11]:

„Dann regte ich eine Aussprache
über Polen an. Stalin willigte ein und forderte mich auf, zu
beginnen. … Ich für meinen Teil glaube, Polen könnte sich
nach Westen verlagern, wie Soldaten, die seitlich wegtreten. Falls es
dabei auf einige deutsche Zehen trete, könnte man das nicht
ändern … Stalin fragte, ob wir gedacht hätten, dass er
Polen schlucken wolle. Eden erwiderte, wir wüssten nicht, was
Russland alles zu verspeisen gedenke. … Stalin erklärte, die
Russen wollten nichts, was anderen Völkern gehöre, nur aus
Deutschland würden sie sich vielleicht auch einen Brocken
herausschneiden. Eden meinte, was Polen im Osten verliere, könnte
es im Westen gewinnen. … Ich demonstrierte dann mit Hilfe dreier
Streichhölzer meine Gedanken über eine Westverlagerung
Polens. Das gefiel Stalin …“

Wer könnte angesichts solcher öffentlich-rechtlich-vertikaler Lenkung durch die agierenden Staatsmänner glauben, dass die sozusagen „zur Seite tretenden Streichhölzer“ persönlich – bei eigener horizontaler Entscheidungsbefugnis – auch nur in größerer Zahl ernstlich in Betracht gezogen hätten, beim Verspeisen fremder Landbrocken irgendjemandem auf die Zehen zu treten?

Oder, umgekehrt und weniger dramatisch: Was würde wohl geschehen, wenn man – jede Ähnlichkeit mit real existierenden Verhältnissen wäre rein zufällig und nicht beabsichtigt – einer bürokratischen Organisation aus z.B. Gemeinden, Kreisen, Landschaftsverbänden, Ländern, einem Bund und einer EU mit 27 Mitstaatsentscheidern die Aufgabe stellen würde, einen Käsekuchen zu backen oder eine Spülmaschine zu befüllen? Wer fängt an? Womit genau? Wie lange dauert es? Was kostet es? Wer bezahlt?

III. Exkurs: Bündnisse brauchen
(und haben) Menschenmaß

Die mit Befehlsbefugnissen ausgestattete Entscheidungsbefugnis einzelner Menschen (oder Gruppen) über eine anonyme Masse anderer Menschen führt also zwangsläufig zur Störung oder gar Zerstörung anderer, persönlicher, privater, individueller, bürgerlicher Finalitäten, wenn und weil diese den jeweiligen Befehl empfangenden Menschen nicht an einer (einvernehmlichen) Vereinbarung der zu erreichenden Zwecke beteiligt wurden[12].

Die Idee einer demokratischen Legitimierung solcher Großentscheidungen qua Wahlrecht ist erkennbar ein nur äußerst unzulängliches Surrogat für tatsächliche unmittelbare und zivilrechtliche „Bürgerbeteiligung“ im ureigentlichen Sinne. Für den Bereich des bundesrepublikanischen Sozialrechtes hat der Regensburger Rechtswissenschaftler Thorsten Kingreen diesen Gedanken in den Satz gefasst:

Im demokratischen Sozialstaat werden Entscheidungen, die nach bestimmten formalen, sachadäquaten und anerkannten Regeln zu Stande gekommen sind, auch dann akzeptiert, wenn sich über das, was im Einzelfall sozial gerecht ist, kein Konsens erzielen lässt.[13]

An dieser Stelle lauern nach allem wenigstens zwei Dilemmata:

Das Dilemma Nr. 1 ist: Wenn die Klein(st)gruppe der Entscheidungsträger intern eigene Finalitäten entwickelt, die mit denen der verwalteten „untergeordneten“ Bürger nicht mehr übereinstimmt, dann kommt es zu Interessenkollisionen zwischen Ober- und Unterebene. Denn jede Gruppe entwickelt ihre eigene übersichtliche Zweckbündnis-Logik. Dies ist das große Thema der „politischen Klasse“[14]. Ab einem bestimmten Punkt stört die Meta-Ebene nur noch das Leben der Primär-Ebene. Es kommt also zur Entstehung neuer, hyperkomplexer Konfliktlagen, statt zur Bereinigung der vergleichsweise übersichtlichen alten.

Das Dilemma Nr. 2 ist: Wenn eine mit Befehlsgewalt ausgestattete, vertikal übergeordnete Ebene immer weiter und detaillierter in die jeweiligen Konkretheiten der Bürger und ihre sämtlichen elementaren Lebensentscheidungen oder Lebensbedingungen hineinregiert, dann kommt es zwangsläufig zu Kollisionen mit elementaren ethischen und insbesondere auch verfassungsrechtlichen Maßstäben, wie z.B. erkennbar in einer – nicht ohne Grund vielbeachteten – Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes über Rechtssetzungsbefugnisse einer Behörde in Fragen der Gesundheitsversorgung vom 6. Dezember 2005[15]. Danach darf eine Behörde gerade nicht über Leben und Tod eines zwangsweise „gesetzlich“ versicherten Patienten befinden.

Kurz: In der Überkomplexität der legislativen und exekutiven Hyperregulierung kommt dem Alltagsleben das Menschenmaß abhanden. Die Zivilgesellschaft aber ist das klassische und allein eigentliche Instrument zur Wahrung des Menschenmaßes[16].

IV. Zwischenergebnis

Alleine eine kooperative und auf individuellen Verträgen aufgebaute Zivilgesellschaft bleibt für die Beteiligten und Betroffenen übersichtlich und für sie selbst rational steuerbar. Ferngesteuerte Großeinheiten kollabieren unter ihrer eigenen Trägheit und Blindheit[17]. Zuletzt verlieren sie ihre Funktionalität.

Eine Gesellschaft, die den Anspruch hat, das Individuum zu achten, kann nur einen Staat mit schlanken Verwaltungs- und Herrschaftsstrukturen akzeptieren. Denn der behutsame Umgang mit dem einzelnen erfordert Demut, Respekt, Beschränkung, Zurückhaltung und steten Zweifel an der Richtigkeit ihres Handelns aller derjenigen, die Macht ausüben. Wer aber unter allen Umständen seinen Willen gegen den der Bürger durchsetzen möchte, der kann sich solche Vornehmheiten nicht leisten. Er muß mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln erkennen, erforschen, entscheiden und durchsetzen[18].

Die historischen Beispiele für all dies sind hinlänglich bekannt. UdSSR, DDR, Maos VR China wie alle übrigen sozialistischen und Kommunistischen Regime scheiterten nicht an Naturkatastrophen, sondern an ihren eigenen internen Strukturen, die genau diese hier skizzierten Probleme aufwiesen.

Absurd ist insbesondere die noch immer verbreitete Polemik der Gegner zivilrechtlicher Gesellschaftsstrukturen, wonach ein von seinen Bürgern geschaffener Markt nur „kalte Ellenbogen“ generiere. Im Gegenteil hat gerade ein öffentlicher Verwaltungsakt solche kalten Ellenbogen. Wer sich vertragen will (und muß), der agiert notwendig mit offenen Händen, die sich einander zum Vertrag gereicht werden, nicht aber mit Ellenbogen.

Schließlich hat die Geschichte immer wieder erwiesen: Wir Menschen sind keine Heiligen. Nur wenn wir unsere Mitmenschen überzeugen und einbinden müssen, handeln wir human. Wer dagegen zwingen kann, wird – früher oder später – stets zum Tyrannen.

B. Die Herstellung einer
Zivilgesellschaft

Alles Gesagte ist im Grunde jedem, der es wissen möchte, lange bekannt, rational nachvollziehbar und in sich plausibel. Aber wie kommt es, dass diese Rationalität in unserer alltäglichen Welt nur so wenig Gehör findet? Ist also eine solche Zivilgesellschaft jenseits ihrer schönen Theorie überhaupt in der Welt tatsächlich möglich? Und wenn ja: Wie stellt man sie her?

Versuchen wir also zunächst noch eine kleine Analyse, bevor wir die Frage nach Handlungs-Chancen hin zur konkreten und faktischen Schaffung einer Zivilgesellschaft stellen.

I. Die Zivilgesellschaft als
(non-ideologische) Nicht-Organisation

Eine Zivilgesellschaft im hier beschriebenen und verstandenen Sinne als freier Zusammenschluß gleicher Bürger auf „horizontaler“ Ebene ist nicht hierarchisch gegliedert. Jede Organisationsstruktur reicht stets nur so weit, wie die konkrete Einigung der Beteiligten. Die maximale Größe eines jeden zivilrechtlichen Bündnisses (und seiner gemeinsam vereinbarten Finalitäten) wird durch die Vorstellungs- und Willenskräfte seiner konkret beteiligten Personen vorgegeben.

Während in einer öffentlich-rechtlichen Gesellschaft ein einziger Befehl ausnahmslos alle Rechtsgenossen erreichen (und verpflichten) kann, erscheint dies wegen der konkret beschränkten Einigungsmöglichkeiten einzelner Individuen „horizontal“ unmöglich.

Dies ist zwar einerseits von Vorteil, weil es Tyranneien und Gewaltherrschaften (jedenfalls im Mega-Format) verunmöglicht. Andererseits sind derartige Zivilgesellschaften stets dann im Nachteil, wenn es gilt, sich gegen quasi-militärisch organisierte Gesellschaftskonzepte abzugrenzen und zu verteidigen.

Eine Gesellschaft, die sich auf das dezentrale Entdecken ihrer Mitglieder mit allen ihren Sinnen und Kreativitäten konzentrieren möchte, kann nicht mit denselben Heilsversprechungen operieren, wie ein gegenteiliges Konzept, das einen konkreten Plan zu haben und dessen Durchsetzbarkeit zu beherrschen vorgibt.

Insofern bedient das „vertikale“ Modell auch noch – anders als das „horizontale“ – ein ganz besonderes menschliches Bedürfnis: Menschen wollen gerne entlastet sein. Und sie bevorzugen das Bequeme gegenüber dem (vermeintlich) Unangenehmeren[19]. Mithin liegt in dem Heilsversprechen der zwangsweise herstellbaren Ordnung stets auch der geradezu erotische Reiz, auftretende Probleme ließen sich allesamt lösen. Sofern man es nur mit allen Machtmitteln wirklich, wirklich wollte!

Vorschub leistet hierbei eine sehr anschauliche optische Täuschung: Ebenso, wie sich beobachten lässt, dass mit staatlichen Machtmitteln Räuber verfolgt und gefangen werden können, Steuergelder eingetrieben und in den Bau imposanter Gebäude geleitet werden können, so muß wohl auch – meint der unbedarfte Betrachter – per vertikalem Befehl allgemeiner Wohlstand einer Gesellschaft geplant und herbeiverfügt werden können[20].

Daß aber Kreativität nicht befohlen und vollstreckt werden kann, liegt auf der Hand. Andernfalls müsste möglich sein, unter der Androhung von Zwangsgeldern und Ordnungsmitteln (oder durch das Inaussichtstellen von Freiheitsstrafen etc.) Menschen zu bewegen, Gedichte zu schreiben, Sonaten zu komponieren oder beeindruckende, künstlerisch wertvolle Gemälde an Kirchendecken zu malen. Mehr noch: Der Befehlshaber hätte gerade diejenige Idee, die noch gar nicht in der Welt ist, weil ihr kreativ-genialer Erfinder sie noch nicht gedacht hat, schon vorausahnen und –haben müssen, um eine entsprechende Anweisung erst erteilen zu können. Das aber widerspricht greifbar aller zeitlichen Logik (zumindest unseres bekannten Universums)[21].

Dennoch bleibt das politische Versprechen, Glück mit Machtmitteln herbeizwingen zu können, ein gerne gehörtes. Und je vehementer das Versprechen vorgetragen wird, desto begieriger wird es von einem jeden Bequemlichkeits-Freund gehört und geglaubt. Hierbei haben sich straff organisierte und quasi-militärisch aufgestellte Heilsboten-Bündnisse als erfolgreich erwiesen. Die staatliche Organisation schlägt bislang erfahrungsgemäß immer die zivilgesellschaftliche Nicht-Organisation. Nicht zuletzt die Fahnen und Melodien, die Aufmärsche und das wohlige Teilnahme- und Teilhabe-Gefühl solcher Massen tun ihr Übriges zu diesen Erfolgen.

Aber auch die Geschichte der römisch-katholischen Kirche und ihrer Auseinandersetzung mit dezentral-lokalen Ortskirchen gibt ein nachvollziehbares Bild dieser Mechanismen[22]. Die Geschichte der Arbeiterorganisationen bis hin zum Sowjetstaat steuert weitere Exempel bei.

Bezeichnend ist auch, dass das Gegenmodell schlanker Staaten mit individuellem Wohlstand stets dort – vorübergehend – erstarkte, wo vertikale Machtstrukturen (noch) nicht (wieder) existierten: Die Siedler der USA drangen in staatlich unverwaltetes Gebiet vor und schufen die stärkste Volkswirtschaft der Welt – bis die staatliche Organisation nachzog, mit den bekannten Konsequenzen. Die junge Bundesrepublik Deutschland wies eine völlig zerstörte Infrastruktur bei gleichzeitig zunächst fehlenden breiten Eliten auf. In konkreter Ansehung aller Beteiligten, dass keine Macht der Welt dem einzelnen etwas vom Nachbarn umverteilen konnte, weil auch der nicht besaß, entstand das – irritierend so genannte, denn in dieser Lage gar nicht verwunderliche – „Wirtschaftswunder“. Schließlich konnte auch Margaret Thatcher nur deswegen vorübergehend so segensreich agieren, weil die gewerkschaftlichen Machteliten ihres Landes 1979 faktisch insolvent und damit handlungsunfähig waren[23]. Ludwig von Mises formulierte hierzu bereits im Jahre 1919:

„Der Liberalismus, der volle Freiheit der Wirtschaft fordert, sucht die Schwierigkeiten, die die Verschiedenheit der politischen Einrichtungen der Entwicklung des Verkehrs entgegenstellt, durch Entstaatlichung der Ökonomie zu lösen.“[24]

Sollte aber ein menschlicher Wohlstand durch eine entstaatlichte Ökonomie tatsächlich immer nur dort entstehen können, wo zuvor eine jede Staatlichkeit fehlt oder gerade in Fortfall geraten ist?

II. Die Schaffung einer Zivilgesellschaft

Wie also läßt sich in Ansehung all dessen eine Zivilgesellschaft schaffen und verwirklichen? Braucht sie stets den vorangehenden Zusammenbruch eines vertikalen Systems als ihren Nährboden? Und: Ist die Zivilgesellschaft immer im Hintertreffen gegenüber dem vertikalen Modell?

Ich glaube (und möchte glauben): Nein. Die Schwierigkeit scheint mir zunächst zu sein, dass horizontale Zivilgesellschaften aus gleichen Bürgern sich nach Staatszusammenbrüchen vielleicht vorübergehend „Zepter und Reichsapfel“ erobern. Dann aber lassen sie diese wieder unbeachtet herumliegen, weil sie sich ihrer nicht bedienen mögen. Das genau ist die Stunde all derjenigen, die nicht produktiv-kreativ sein mögen, sondern allenfalls administrativ-kreativ.

Tatsächlich ist der „Markt“ als Organisationsphänomen ja auch nie endgültig ausgeschaltet. In der Krise bewährt er sich gerade als sogenannter „Schwarz“markt sowie – zur Überlebenssicherung in kommunistisch kaputtzerwirtschafteten Volkswirtschaften – in der Gestalt von Korruption. Werden „vertikal“ Subventions-Sondermärkte geschaffen, dockt er hier ebenfalls an. Der Markt ist faktisch ein Naturgesetz. Denn nur wenn Menschen sich konkret im Tausch einigen können, vermögen sie auch konkret ihr Leben zu sichern[25].

Wie aber aktualisiert man dieses Wissen vor der ausbrechenden Krise? Damit sie am besten erst gar nicht eintritt?

Schlussbemerkung(en)

Gegenüber den Sozialismen in allen Spielarten, angefangen vom hard-core Kommunismus bis hin zum Sozialdemokratismus, steht die Zivilgesellschaft in einer denkbar ungünstigen Ausgangsposition. Im Hinblick auf ihr Marketing nämlich ist jede Variante der politischen Heilslehre ihr zunächst weit überlegen. Wer behaupten kann (und will), der Allgemeinheit das Glück und den Reichtum zu bescheren, der findet eher Gehör, als derjenige, der die Menschen zuerst auf ihr eigenes Geschick und ihre persönliche Kreativität hinweist.

Für den klassischen Kapitalismus in seiner definitorischen Abgrenzung zu sozialistischen Wohlfahrtsstaaten formuliert Roland Baader deutlich:

„Es steht also nicht –ismus gegen –ismus, sondern System gegen Non-System, Eingriffsideologie gegen Nichteingriffs-Ideologie, Dogma gegen Erfahrung“[26]

Nichts anderes gilt für die Abgrenzung zu einer Zivilgesellschaft. Auch sie ist nichtideologisch, nichteingreifend, gewährend und Erfahrung respektierend. Folglich können ihre „Werbebotschaften“ nicht ebenso populistisch und grell daherkommen, wie die einer das Glück verheißenden Heilslehre.

Gleichwohl bedarf die Zivilgesellschaft souveräner Bürger, die voller Enthusiasmus und in ganzer Überzeugung laut die Stimme für sie ergreifen. Jede rhetorische Zurückhaltung gegen Sozialismen aller Art verbietet sich daher absolut. Sozialistische Theorien sind nicht irgend bedenkenswerte, ernstzunehmende oder noch diskutable Gegenentwürfe, sondern schlicht empirisch widerlegte und vielfach allerorts gescheiterte Konzepte, denen keine intellektuelle Gnade gebührt. Im Gegenteil. Wer im wissenschaftlichen oder auch nur allgemeinen öffentlichen Dialog wohlfahrtsstaatliche Theoreme noch ernstlich zu widerlegen bereit ist, statt sie als offenen Unsinn oder abgewickelte Geschichte zu kennzeichnen, der verhält sich wie einer, der minutiös auf die Behauptung eingeht, die Sonne drehe sich um die Erde.

Problematisch bleibt nur die weiterhin persistierende sozialistische Marketing-Anmaßung, sie verfolge ganz selbstlos den guten, sozial gerechten Zweck. Die Delegitimierung dieser Behauptung durch die induktive Demaskierung jeder dieser Einzelverheißungen bleibt ein mühseliges Geschäft, das Tag für Tag allerorten auf seine Erledigung wartet. Empirisches Material zur anschaulichen Argumentation findet sich ersichtlich zuhauf.

Die einzelnen, konkreten Wege zurück zum Menschenmaß einer zivilen Gesellschaft können nur wir alle in den jeweiligen, sich uns bietenden Situationen finden und beschreiten. Sie lassen sich nach allem Gesagten eben nicht zentral definieren und weisen. Aber erst wenn wir uns frei machen von der Vorstellung, alles und jedes von einem allgegenwärtigen Staat „vertikal“ von oben herab auf entsprechenden Antrag hin zugewiesen erhalten zu können, dann kann unser Zusammenleben wieder werden, was es sein sollte: zivilisiert.

[1]
Nach § 1 Kündigungsschutzgesetz kann ein Arbeitgeber einen
Arbeitsvertrag grundsätzlich nur dann regulär kündigen,
wenn die Kündigung „sozial gerechtfertigt“ ist. Das
erfordert rechtswissenschaftliche Interpretationsanstrengungen, die
in den gängigen juristischen Kommentaren inzwischen mehrere
hundert Seiten umfassen. Und es verschafft umtriebigen
Arbeitsrichtern einen Quell attraktiver Zusatzeinkünfte nicht
nur durch das regelmäßige Verfassen einschlägigen
Kommentarliteratur, sondern auch durch das Angebot von
entgeltpflichtigen Fortbildungsveranstaltungen, auf denen sie „ihre
prognostische Rechtsprechung akademisch erläutern.
[2]
Eine intellektuelle Höchstleitung des historischen Gesetzgebers
bei der Schaffung des Bürgerlichen Gesetzbuches war, alle
Regelungen begriffsjuristisch in „vor die Klammer gezogene
allgemeine und erst dann in spezifische besondere Teile aufzuteilen,
um den Regelungskanon übersichtlich zu halten. Die Abschnitte
über das Mietrecht haben diese Systematik nach gut hundert
Jahren jetzt aufgegeben. In der Kommentierung von Hubert Blank und
Ulf P. Börstinghaus (Neues Mietrecht, München 2001) heißt
es hierzu trocken: „Dieser neue Aufbau hat zur Folge, dass
bisher zusammenhängende Vorschriften nunmehr
auseinandergerissen werden.
“ (a.a.O. Vorbemerkung II zu den
Anhängen, ibid. S. 176)
[3]
Im Falle der Insolvenz seines Reiseveranstalters soll sichergestellt
werden, dass der buchende Tourist gleichwohl wieder sicher nach
Hause zurückgebracht wird; so zieht der – erwachsene! –
Weltenbummler hinaus, gilt seinem Gesetzgeber aber als zu unbedarft,
um selbständig wieder heimzufinden.
[4]
Diese gesetzlichen Bestimmungen nämlich machen beinahe
vollständig unmöglich, dass sich ein Verwender das
typischerweise für den Bedarf seines eigenen, spezifischen
Geschäftes notwendige Vertragsrecht einmal für eine
unbestimmte Vielzahl vergleichbarer Geschäftsvorfälle
vorbereitet.
[5]
vgl. §§ 3, 4 UnterlassungsklagenG
[6]
vgl. § 1 BGB InfoV
[7]
faszinierend an dieser Verordnung ist nicht nur ihr augenscheinlich
schon unzutreffender Name (denn ersichtlich kann angesichts
derartiger einseitiger und nicht abdingbarer Informationszwänge
nicht ernstlich mehr von „bürgerlichem Recht
gesprochen werden, was – in anderen Zusammenhängen – schon
die klauselrechtliche und/oder wettbewerbs- und markenrechtliche
Frage nach ihrer Bezeichnungswahrheit aufwürfe), sondern
insbesondere, dass beispielsweise selbst das amtliche Muster eines
Sicherungsscheines nach § 14 dieser Verordnung in praxi
bereits als gesetzeswidrig angesehen wird; vgl. Palandt-Grünberg,
BGB-Kommentar mit Nebengesetzen, München, 66. Aufl., 2007, § 14
BGB-InfoV Rn 5 mit weiteren Verweisungen auf die obergerichtliche
Rechtsprechung; prägnanter lässt sich kaum zeigen, dass
augenscheinlich die Normgeber selbst bereits den Überblick
verloren haben.
[8]
Und es erinnert fatal an den „absoluten Egalitarismus“, den Mao
Tse-tung predigte; vgl. Jung Chang und Jon Halliday: Mao, München
2005, S. 105
[9]
Hier liegt auch der Grund für das mehr und mehr ausufernde
Interesse aller Behörden an Informationen über Vorgänge
in der Welt. Die Überwachungsmaßnahmen des „big
brother“ sollen – möglichst in Echtzeit – Daten über die
Welt an die aus der Ferne entscheidenden Beamten vermitteln, damit
wenigstens eine irgend greifbare Chance auf angemessenes
öffentliches Handeln besteht. Weil aber jeder Eingriff durch
die Behörde diese Welt sogleich wieder verändert, gerät
das Zusammenspiel zwischen flexibler ziviler Welt und unflexiblerer
Behörde zu einem ununterbrochenen Wettlauf zwischen Hase und
Igel. Dieser Wettlauf beschleunigt sich in dem Maße, in dem
mehrere Behörden – zwangsläufig voneinander unabhängig
– in das Weltgeschehen steuernd eingreifen wollen. Zuletzt
blockieren die zur Koordinierung allen Behördenhandelns mehr
und mehr geschaffenen weiteren öffentlichen Stellen sich selbst
(und natürlich auch die bearbeitete, reale Welt selbst). Wir
finden also zuletzt geradezu eine bürokratische Variante der
Heisenberg’schen Unschärferelation.
[10]
In „Der zweite Weltkrieg“ – Kapitel „Triumph und Tragödie“
[11]
Das hier von mir gewählte, extreme Beispiel des Entscheidens
über fremder Leute Leben und Eigentum macht mein Thema zwar
sehr anschaulich, wie ich glaube. Dennoch sehe ich mich der Ordnung
halber wenigstens in dieser Fußnote zu einer ergänzenden
Bemerkung gehalten: Churchill stellte bei seinem Gespräch mit
Stalin klar, selbst ohne parlamentarische Vollmacht zu handeln und
seine Idee lediglich als Vorschlag zu verstehen, den ‚wir dann
den Polen vorlegen und zur Annahme empfehlen können
’. Es
war also nicht so, dass Churchill über die Köpfe Polens
hinweg ‚menschliche Streichhölzer’ zu verschieben trachtete
(jedenfalls nicht über die Köpfe polnischer Politiker
hinweg…).
[12]
Umgekehrt erscheinen gerade die Flexibilität und
Anpassungsfähigkeit vereinbarungsgestützter Kooperationen
als das ewige Verteidigungsmittel der übergangenen Massen.
Anders sind weder dezentrale „Korruption“ in ihrer stets
beseitigungsresistenten Beharrlichkeit, noch auch das kontinuierlich
beobachtbare Entstehen sogenannter „Schwarz“märkte
erklärlich.
[13]
Thorsten Kingreen: Verfassungsrechtliche Grenzen der
Rechtsetzungsbefugnis des gemeinsamen Bundesausschusses im
Gesundheitsrecht in: NJW 2006, 877 [879]. Die Interpretation alleine
dieses einen Satzes rechtfertigt im Grunde einen ganzen eigenen
Aufsatz; für den hiesigen Zusammenhang sei nur auf dies
hingewiesen: Dem gesamten Satz fehlt das Subjekt, denn offen bleibt,
wer (?) die Entscheidung akzeptiert. Auch das Hilfsverb „werden
kann nicht befriedigen; denn gemeint ist greifbar nicht eine
deskriptive Beschreibung der (allgemeinen) Entscheidungsakzeptanz,
sondern die normative Erkenntnis, dass der jeweilige Adressat der
Entscheidung diese schlichtweg hinnehmen „muß“ (!).
Aber selbst mit diesen Konkretisierungen bleibt noch immer völlig
unentschieden, wie genau es um das „Anerkennen“ von
Regeln in jenem Satze steht und was unter ‚Sachadäquanz
in diesem Sinne zu verstehen sein könnte. Konkret: Ob
derjenige, der eine – aus seiner Sicht – konsensunfähige
Entscheidung faktisch hinzunehmen hat, Trost in der Erkenntnis
findet, Opfer einer wenigstens sachadäquaten Regel geworden zu
sein? Und all dies auch noch auf dem ohnehin so schlüpfrigen
Boden der „sozialen Gerechtigkeit“, deren Unterschied zur
traditionell anerkannten Gerechtigkeit noch niemand hat umrisshaft
definieren können?
[14]
Anschaulich hierzu mit Beispielen: Hans Herbert von Arnim, Vom
schönen Schein der Demokratie, München, 2000, S. 260ff.
[15]
NJW 2005, 891 ff.; nach meinem Dafürhalten markiert diese
Entscheidung den Anfang vom grundgesetzlichen Ende des sogenannten
solidarischen Gesundheitssystems“ mit Zwangsteilnahme.
Sobald das Bundesverfassungsgericht die Konsequenz finden wird,
seine dort aufgeworfenen Fragen an den Maßstäben
insbesondere auch des Art. 1 Abs. 1 GG zu messen, werden
medizinische Teilnahme- und Zuteilungszwänge im ökonomisch
denknotwendig stets begrenzten Leistungsspektrum argumentativ nicht
mehr zu halten sein.
[16]
In seinem lesenswerten Buch „Die ferne Haut“ (1. Aufl.,
Berlin, 1999) beschreibt Florian Felix Weyh am Beispiel der winzigen
und filigranen Bedienungseinheiten unserer High-Tech-Geräte,
warum Technik Menschenmaß haben muß: „Schlug sich
die Menschenverachtung des 19. Jahrhunderts
[man muß wohl
ergänzen: und weiter Teile des 20.Jahhunderts] im
Gigantismus nieder, drückt sie sich im ausgehenden 20.
Jahrhundert in der Mikromanie aus. Technik muß Menschenmaß
haben, um nicht vom Hilfs- zum Repressionsinstrument zu werden.

(a.a.O. S. 51). Bezeichnenderweise
übrigens weist Weyh a.a.O. S. 19 auch noch auf einen
verfassungsrechtlich fruchtbaren Gedanken hin: Die Würde des
Menschen sei „unantastbar, weil eben die Unantastbarkeit Würde
schafft
“!
[17]
Alles Aufklären, Erforschen, Durchleuchten, Ermitteln, Steuern
und Lenken führt nie zum gewünschten Ergebnis. Man mag
elektronische Gesundheitskarten, Fahrtenbücher, Bilanzen,
Dokumentations- und Aufbewahrungspflichten einführen ohne
Grenzen und Ende; das Leben vor Ort wird immer bunter sein, als
seine verwaltungstechnische Erfassung.
[18]
Aus diesen Gründen bleibt der stete Ruf nach
„Entbürokratisierung“ auch immer ungehört. Der Beamte
in seiner Behörde, der doch – mit dem reinsten Gewissen – nur
das Beste in seinem Zuständigkeitsbereich erreichen möchte,
kann alleine deswegen einer entbürokratisierenden Beschneidung
seiner Amtsbefugnisse nie zustimmen, weil er diese aus seinem
eigenen Horizont als Mittel zur Qualitätsreduktion seines
eigenen Handelns begreift. Genau das aber würde ihn selbst in
Frage stellen. Wäre er nicht so geschmacklos, böte sich
der Vergleich an, von einer Mutter mit Kinderwunsch eine
Selbststerilisation zu verlangen.
[19]
Ein promovierter, selbständiger Arzt sagte mir einmal, Verträge
abzuschließen sei ihm so unübersichtlich und unangenehm,
dass er sich – so wörtlich – einen „großen Bruder“
wünsche, der alles juristisch Verwaltungsrelevante für ihn
erledige. Ich antwortete ihm: „Verzichten Sie doch einfach auf Ihr
Leben und lassen Sie sich Ihre Zukunft ganz bequem abbuchen. Wer
nicht erwachsen sein will, muß Knebel und Fesseln ertragen.“
[20]
Hier liegt m. E. auch eine der Wurzeln der europäischen
Sozialdemokratie: Der Arbeiter sah, wie seines Fabrik funktionierte.
Er war begeistert und glaubte, eine ganze Gesellschaft müsse
auch so funktionieren können.
[21]
Das ist übrigens auch Kernthema von Karl Raimund Poppers Werk:
Das Elend des Historizismus. Er formuliert: „Eine
wissenschaftliche Theorie der geschichtlichen Entwicklung als
Grundlage historischer Prognosen ist unmöglich.
“ (a.a.O.
[Vorwort zur englischen Ausgabe aus dem Juli 1957])
[22]
Christoph Auffarth weist in einem lesenswerten Buch über die
Ketzer [Die Ketzer, München 2005] darauf hin, dass die
‚Erfindung’ der Ketzer durch deren Definition seitens der
römisch-katholischen Kirche nicht inhaltlichen, sondern nur
pragmatischen Erwägungen folgte: „Diejenigen werden zu
Ketzern gemacht, die sich weigern, sich der Autorität der
römischen Kirche zu unterwerfen.
“ [ibid.
S. 8f.]. Und – einmal etabliert – wurde diese kirchliche
Macht vehement verteidigt, unter kirchenrechtlichem Rückgriff
auf ein rund achthundert Jahre altes Gesetz: “Mit dem Gesetz
Quisquis von 391 hatten die römischen Kaiser … sich eine
geradezu heilige Unberührbarkeit zugelegt. Wer immer ihnen
bedrohlich werden könnte, … ‚verletzte die kaiserliche
Würde’, beging das crimen laesae maiestatis.
“ [ibid. S.
73].
[23]
Niedergangsszenarien und Krisenstimmung dominierten das
politische Klima Großbritanniens während der siebziger
Jahre…
“ schreibt Dominik Geppert in: Thatchers konservative
Revolution, München 2002, S. 227
[24]
Ludwig von Mises, Nation, Staat und Wirtschaft, Wien 1919,
reproduzierte Ausgabe 2006, Colombo, S. 41f.
[25]
Merke: „Die Wirtschaftsgeschichte ist eine Entwicklung der
Arbeitsteilung. … Die Erkenntnis der Tatsache, dass die
arbeitsteilig verrichtete Arbeit produktiver ist, als die ohne
Arbeitsteilung verrichtete, macht der Isoliertheit der einzelnen
Wirtschaften ein Ende. Das Verkehrsprinzip, der Tausch, schlingt ein
Band um die einzelnen … Wirtschaft wird aus einer Sache des
Einzelnen eine gesellschaftliche Angelegenheit.
“ (Mises
a.a. O. S. 150f.)
[26]
Roland Baader: Das Kapital am Pranger, Gräfelfing 2005, S. 38

Der solidarische Zulassungsverzicht der Kassenärzte

Vortrag von Carlos A. Gebauer

Stiftung Liberales Netzwerk am 11.Dezember 2006 Hamburg

Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren,

als ich eingeladen wurde, heute über die Arztproteste dieses Jahres zu sprechen, zögerte unser Gastgeber zunächst, auch den vorgeschlagenen Untertitel über den „Sozialstaats-Irrsinn“ sofort gutzuheißen.

Es ehrt Herrn Dr. Traub natürlich, wenn er den politischen Diskurs grundsätzlich von grelleren Tönen freihalten möchte. Welcher seriöse Bürger eines demokratischen Rechtsstaates könnte diesen Anspruch nicht gutheißen? Allerdings glaube ich, daß die Entwicklungen des deutschen Sozialstaates inzwischen nicht nur rechtfertigen, sondern geradezu dazu nötigen, dezidiert von „Sozialstaats-Irrsinn“ – auch und gerade in dieser deutlichen Terminologie – zu sprechen.

I.

Zur Plausibilisierung meines Themas und seiner konkreten Tonlage möchte ich vorab, gemeinsam mit Ihnen, gleichsam stichprobenartig einen Blick auf die Seite 1 einer deutschen Regionalzeitung werfen, der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) vom vergangenen Freitag, dem 8. Dezember 2006.

1.) Unter der Überschrift „Großrazzia im Revier gegen Schwarzarbeit – Polizei und Zoll kontrollieren in 7 Ruhrgebietsstädten“ berichtet das Blatt durchaus Beeindruckendes:

In sieben Ruhrgebietsstädten haben Bundes- und Landespolizei sowie Zollbeamte gestern zeitgleich 6 Stunden lag Razzien in Hauptbahnhöfen und auf Weihnachtsmärkten durchgeführt. Zum ersten, aber nicht zum letzten Mal. … Ihren Arbeitsauftrag beschrieb Essens Polizeisprecher Thomas Hemmelmann so: ‚Heute nehmen wir mal alles, was kommt.’ … Das Hauptzollamt fand 13 Schwarzarbeiter und überprüft noch 30 weitere Fälle. Dazu stellte das Essener Ordnungsamt 40 Anzeigen aus. In Essen, Gelsenkirchen und Mülheim blockierte die Polizei Taxi-Halteplätze und kontrollierte alle Fahrer und Fahrzeuge. Hintergrund: Weil im Taxigewerbe in den letzten Jahren die Umsätze um bis zu 30% gesunken sind, ist dort die Schwarzarbeit nach Schätzungen des Zolls auf bis 15% angestiegen. … In Berlin forderten gestern die Polizei- und Gaststättengewerkschaft die Eingliederung der Zolldienststellen zur Bekämpfung der Schwarzarbeit in eine neue Bundesfinanzpolizei, um effektiver gegen die Schattenwirtschaft vorgehen zu können. … Die Gewerkschaften verlangten auch höhere Strafen. Anders könne die Schwarzarbeit nicht eingedämmt werden, sagte der Vorsitzende der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, Möllenberg.

Dieses erkennbar äußerst massive staatliche Tätigwerden wird allerdings von der Zeitung selbst nur mit maßvollsten Bemerkungen kritisiert. Auf Seite 2 desselben Blattes heißt es lediglich – und im übrigen unkommentiert – weiter:

Im Taxigewerbe schätzen die Fahnder die Schwarzarbeiterquote auf 15%, höher als auf den Großbaustellen. Das hat seinen Grund: Auf ehrliche Art ist auf dem Taxi kaum noch ein Auskommen zu schaffen … Korrekt arbeitende Fahrer kommen kaum noch über € 10,– Umsatz pro Stunde, nach Abzug der Kosten bleiben € 5,– brutto.

Mit anderen Worten: Den betroffenen Menschen wird das Arbeiten augenscheinlich durch Sozialversicherungsabgaben, Lohn- und Umsatzsteuer praktisch wirtschaftlich unmöglich gemacht. Statt jedoch dafür zu sorgen, daß Kosten fallen, bläht sich der staatliche Überwachungsapparat – mit dadurch zwangsläufig und unausweichlich weiter steigenden öffentlichen Kosten – auf; ein volkswirtschaftlicher Teufelskreis oder, wenn Sie so wollen, eine Todesspirale in den Staatsbankrott.

2.) Hierbei weiß sich dieser Staat auch in bemerkenswertem Einklang mit der Linie von Gewerkschaften. Auf Seite 2 derselben „WAZ“ dieses Tages heißt es unter der Überschrift „19% MwSt bringt Schub für Schwarzarbeit“ unter anderem weiter wörtlich:

Der Chef der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, Möllenberg, sagte, im Hotel- und Gaststättengewerbe seien bei 720.000 offiziell Beschäftigten etwa 70.000 bis 120.000 Menschen illegal tätig. Auftraggeber von Schwarzarbeit sollten mit höheren Bußgeldern bestraft werden. … Die Kontrollen bezeichnete Möllenberg derzeit als noch zu halbherzig.

3.) Gründe dafür, warum der Sozialstaat nicht mehr zu finanzieren ist, gibt es also ungezählte. Sie stehen auf den Seiten 1 und 2 unserer Regionalzeitungen. Neben den inzwischen an vorderster medialer Stelle (wenn auch noch unkommentiert) diskutierten Gründen für diesen Bankrott, werden aber zunehmend auch äußerst unorthodoxe Gründe offenbar. Dieselbe „WAZ“ berichtete nur sechs Tage zuvor (am 2. Dezember 2006 unter ihrer weniger prominenten Rubrik „Bericht und Hintergrund“) davon, daß die nordrhein-westfälischen AOKs und IKKs bis zum Jahr 1992 für ihre eigenen Beschäftigten keinerlei Rentenbeiträge gezahlt hatten. Die Renten von nun immerhin 7.000 ehemaligen Beschäftigten „müßten aus dem laufenden Geschäft erbracht werden – eine Belastung von insgesamt einer Milliarde Euro in NRW1.

4.) Ungeachtet dieser Ungeheuerlichkeiten sieht sich das Bundesministerium für Gesundheit jedoch nach einer eigenen professionell gestalteten Werbekampagne („Die neue Gesundheitsversicherung – www.bmg-newsletter.de“) zur Fortsetzung des eigenen Kurses veranlaßt und berechtigt. „Deutschland bleibt gesund“ heißt es dort; und ganz Deutschland werde jetzt krankenversichert: „Ganz Deutschland? Ja, ganz Deutschland. Endlich.2.

5.) Wenn zuletzt auch noch ein juristischer Fachverlag in aktuellen Werbeschaltungen für sozialrechtliche Literatur formulieren läßt

Fest steht zweierlei: Die neue Reform wird kommen. Und: Nach der Reform wird auch dieses Mal wieder vor der Reform sein. Sichern Sie sich jetzt verläßliche und aktuelle Informationen. Die Herausgeber dieser Kommentare sind aktiv an der Ausgestaltung der Gesundheitsreform beteiligt.

dann wird die behauptete „verläßliche und aktuelle Kommentierung aus erster Hand“ ersichtlich schon gleich im eigenen Werbefaltblatt widerlegt. Denn was sich ständig ändert, kann wohl seriös nicht mehr kommentiert werden. Das Ganze ist faktisch unbezahlbar3. Und Zollbeamte müssen zuletzt in Razzien die Durchsetzung funktionsunfähiger Spielregeln gewaltsam herbeizwingen.

Bei aller terminologischen Zurückhaltung, lieber Dr. Peter Traub, ich glaube: Es ist bei alledem inzwischen legitim, von einem Sozialstaats-Irrsinn zu sprechen. Denn Irrsinn ist der Sinn, der irrt und mithin in den Vorstellungen über die Erreichbarkeit seiner gesteckten Ziele mit eingesetzten Mitteln fehlgeht.

6.) Was aber hat all dies mit unseren Ärzten zu tun? Welcher Zusammenhang besteht zwischen schwarzarbeitenden Taxifahrern und bußgeldbelegten Gastwirten? Sehr viel! Alle leben im Sozialstaats-Irrsinn und die Ärzte mittendrin. Wo es Unterschiede gibt, da sind sie nur optischer, nicht prinzipieller Art. Während Taxifahrer am Weiterfahren gehindert und Zimmermädchen von Zollbeamten gejagt werden, behindern und verfolgen Kassenärzte einander selbst. Die Gründe sind stets dieselben und die Ziele sind es auch. Wie konnte es zu dem, was wir beklagen, kommen?

II.

Ich habe nach diesen allgemein einführenden Betrachtungen nun im Folgenden für unser spezifisches Thema zu erklären, welchen Weg ein „Kassenarzt“ in das System der gesetzlichen Krankenversicherung hineinnimmt. Anschließend werde ich beschreiben, welche Wege dann wieder für den Kassenarzt aus dem System heraus offenstehen. In der diesbezüglichen Diskussion sind nach meiner Überzeugung zur grundrechtlichen Situation des Kassenarztes bislang einige wesentliche Gesichtspunkte nicht beachtet worden. Hierzu will ich – soweit dies im Rahmen meines heutigen Vortrages möglich ist – kurze Anmerkungen machen. Zum Schluß werde ich dann noch den Versuch unternehmen, den „Spezialfall“ der solidarischen ärztlichen Sezession aus dem gesundheitsrechtlichen Sozialstaats-Irrsinn skizzenhaft auf mögliche andere Gebiete zu übertragen.

1.) Das Fünfte Sozialgesetzbuch hat den im Volksmund noch immer als „Kassenarzt“ bekannten Arzt zum „Vertragsarzt“ gemacht. Dies ist bei stringenter juristischer Betrachtung in vielfacher Hinsicht irritierend. Denn der „Vertragsarzt“ hat einen Vertrag weder mit seinen gesetzlich krankenversicherten Patienten, noch auch mit der – bezeichnenderweise noch immer so genannten – Kassenärztlichen Vereinigung. Aus vielen „Vertragsärzten“ gemeinsam wird also eine „Kassenärztliche Vereinigung“. Ich bleibe daher terminologisch lieber beim althergebrachten und angemesseneren Begriff vom „Kassenarzt“.

a.) Der Weg für den angehenden Kassenarzt in dieses System ist nicht nur steinig, sondern vor allem äußerst staatslastig. Zunächst muß der Arzt bei einer staatlichen (oder staatlich anerkannten) Schule seine Hochschulreife erwerben. Anschließend muß er bei einer staatlichen Universität ein Medizinstudium absolvieren. Nachdem er mehrere Staatsexamina bestanden hat, erhält er die Befugnis, bei einer staatlichen Behörde (dem Regierungspräsidenten) eine Approbation zu beantragen. Läßt er sich dann in ein öffentliches Arztregister eintragen, sind die Voraussetzungen dafür geschaffen, bei der öffentlich-rechtlichen Körperschaft „Kassenärztliche Vereinigung“ eine Zulassung als Vertragsarzt/Kassenarzt zu beantragen. Wird ihm diese dann durch behördlichen Verwaltungsakt (mit Rechtsmittelbelehrung) erteilt, sieht er sich schließlich in den Stand versetzt, den „freien Beruf des Vertragsarztes“ freiberuflich auszuüben.

Bereits im elften Band seiner amtlichen Entscheidungssammlung hat das Bundesverfassungsgericht zu diesem bemerkenswerten Status des Kassen- bzw. Vertragsarztes wörtlich ausgeführt:

Er trägt das ganze wirtschaftliche Risiko seines Berufs selbst; die Kassenzulassung bietet ihm nur eine besondere Chance. Es hängt von ihm und der Gunst der Verhältnisse ab, ob es ihm gelingt, sich eine auskömmliche Kassenpraxis aufzubauen.4

b.) Daß inzwischen keinesfalls mehr von dem Kassenarzt selbst abhängt, ob ihm gelingt, wirtschaftlich zu überleben, kann praktisch jeder Kassenarzt im Detail ermessen und vermitteln. Das marode System bezahlt „seine“ Ärzte bisweilen schlechter, als die Angehörige von Berufen mit weit geringerer Qualifikation und minderem Verantwortungsbereich. Der „freie Beruf“ des Kassenarztes existiert faktisch nicht (mehr). Vielmehr handeln Kassenärzte schon heute praktisch als Scheinselbständige der öffentlich-rechtlichen Körperschaft Kassenärztliche Vereinigung. Ihre therapeutischen Spielräume sind entkernt und auf ein Mindestmaß reduziert. Denn aus dem Zusammenschluß freiberuflicher Ärzte wird nach dem Willen des Sozialgesetzbuches plötzlich wieder eine öffentlich-rechtliche Körperschaft. Diese heißt zwar Organ der Selbstverwaltung. Der Umfang ihrer eigenen Verwaltung ist indes durch ungezählte Regelungen tatsächlich auf das Minimalste reduziert. Um es einmal nicht durch die Blume zu sagen: Es ist, als habe ein Gesetzgeber seine Galeerensklaven in den Schiffsrumpf gekettet und als zieht er sich dann mit der Bemerkung zurück, nun könnten sie ihre Ketten selbst verwalten – nur rudern müßten sie, immer rudern, weiter rudern. Und das volle wirtschaftliche Risiko ihres Berufes müssen sie nach wie vor persönlich tragen.

c.) Ein aus Bulgarien stammender Kassenarzt sagte mir neulich, das hiesige System sei „wie Kommunismus, nur schlimmer“. Denn anders als hier hätte man sich als Arzt im Ostblock wirtschaftlich schlichtweg um gar nichts scheren müssen (mit den allseits bekannten Konsequenzen); hier droht zugleich noch die private Insolvenz.

2.) Bei dieser Lage, die die deutschen Kassenärzte nunmehr auf die Straße getrieben hat, kann nicht verwundern, wenn von ihnen zunehmend ein Weg hinaus aus dem System gesucht wird. Die Frage ist also: Wie befreit – besser: wie entfesselt – sich ein bestens ausgebildeter Arzt von den hinderlichen, sozialstaatsirrsinnigen Restriktionen seines Status als deutscher Kassenarzt?

a.) Das bestehende System ist auf die medizinische Leistungserbringung seiner Kassenärzte unausweichlich angewiesen. Für seine Verteidiger mußte es sich demnach als eine große Gefahr darstellen, als zu Beginn der 1990er Jahre verschiedene Arztgruppen ernsthaft begannen, gemeinschaftlich aus den systematischen Zwängen der Kassenärztlichen Versorgung auszusteigen. Ziel war, anstelle der Vergütungszuweisungen durch die Kassenärztliche Vereinigung aus dem allgemeinen Einheitstopf der gesetzlichen Krankenversicherung selbst und eigenverantwortlich mit Patienten in Kontakt und Kontrakt zu treten.

In der Reaktion hierauf wurde von dem Gesetzgeber die in jeder Hinsicht bemerkenswerte Regelung des § 95b Fünftes Sozialgesetzbuch geschaffen. Verzichten demnach Kassenärzte in einem mit anderen aufeinander abgestimmten Verfahren oder Verhalten auf ihre Zulassung als Kassenarzt, verlieren sie für die anschließende Dauer von sechs Jahren die Möglichkeit, erneut Kassenärzte werden zu dürfen, wenn die Aufsichtsbehörde der Kassenärztlichen Vereinigung feststellt, daß dadurch die vertragsärztliche Versorgung nicht mehr sichergestellt ist.

b.) Damit aber bei weitem nicht genug. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers soll sogar ein Vergütungsanspruch eines Arztes gegen behandelte Versicherte nicht einmal zivilrechtlich entstehen können, wenn der Patient mit dem kollektiv ausgeschiedenen Arzt einen ganz gewöhnlichen Vertrag nach den normalen gesetzlichen Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuches abschließt (§ 95b III S. 3 und 4 Fünftes Sozialgesetzbuch).

c.) Der in diesen rigiden Vorschriften steckende juristische „Sprengstoff“ erscheint ersichtlich äußerst explosiv. Denn jeder gemeinschaftlich „aussteigende“ Arzt muß das Ende seiner beruflichen Tätigkeit bis auf weiteres befürchten, wäre diese gesetzliche Regelung wirksam. Nicht einmal in einem gängigen Standardwerk zum Medizinrecht wird bis heute auf Einzelheiten hierzu eingegangen. Michael Quaas und Rüdiger Zuck beschränken sich in ihrem Werk „Medizinrecht“ noch im Jahre 2005 praktisch auf eine bloß kursorische Wiedergabe des betreffenden Gesetzestextes5.

d.) Die durch solcherlei gesetzliche Regelungen um den einmal als Kassenarzt zugelassenen Mediziner errichteten Mauern sind durch eine obergerichtliche Entscheidung des Landessozialgerichtes Niedersachsen-Bremen vom 13. September 2006 (Geschäftszeichen L 3 KA 90/05) noch bemerkenswert erhöht worden. Zwar stehe selbst einem Kassenarzt im Prinzip auch die grundgesetzlich abgesicherte Berufsfreiheit aus Artikel 12 I GG zur Seite, sich zu entscheiden „ob er im Rahmen des vertrags(zahn)ärztlichen Versorgungssystems oder privatrechtlich tätig werden möchte“. Dies gälte aber dann nicht mehr, wenn – so wörtlich – „diese Freiheit – wie im Fall des § 95b I SGB V – durch konzertiertes Verhalten zu dem Zweck mißbraucht wird, Druck auszuüben, etwa um den Gesetzgeber oder die Normgeber der Selbstverwaltung … zur Änderung von Rechtsvorschriften zu bewegen oder sogar die … Versorgung in einem bestimmten Gebiet insgesamt auszuhöhlen.

Zur Begründung bezieht sich das Gericht auch in dieser Entscheidung wieder – inzwischen geradezu traditionell – auf kollidierende Gemeinschaftsziele:Denn die Berufsausübungsfreiheit des (Zahn-)Arztes wird durch Gemeinwohlbelange beschränkt, zu denen insbesondere der Schutz eines funktionierenden … Systems im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung gehört.“ Schon an dieser Stelle möchte ich bereits – im Vorgriff auf das, was dann gleich noch im einzelnen auszuführen sein wird – jene kleine Brücke zu unserem deutschen Streikrecht schlagen: Wäre „konzertiertes Verhalten“ mehrerer, um „Druck auszuüben“ damit Regeln geändert werden, mit dieser Definition stets Rechtsmißbrauch, dann könnte in Deutschland keine Gewerkschaft mehr zum Streik aufrufen oder ihn gar durchführen. Dazu aber später.

e.) Die Vorstellung, daß ein Bürger sein Grundrecht „mißbrauchen“ könne, ist schon für sich gesehen juristisch alles andere als unproblematisch. Rechtsgeschichtlich wird der Rechtsmißbrauch – in Anlehnung an römisch-rechtliche Vorstellungen – verstanden als eine Art Grenzlinie gegen eine sittenwidrige und schikanöse, schrankenlose Rechtsausübung. Das Rechtsinstitut des Rechtsmißbrauches sollte mithin „dem sittlich verwerflichen Gebrauch rechtlicher Macht entgegentreten6. Von einem rechtsunwirksamen Gebrauch eigener Rechte geht beispielsweise die gesetzliche Regelung des § 226 BGB dann aus, wenn die Rechtsausübung keinen anderen Zweck haben kann, als den, einem anderen Schaden zuzufügen7. Wollen aber Kassenärzte, die den Systemzwängen der gesetzlichen Krankenversicherung ausweichen, überhaupt zielgerichtet irgend jemandem schaden? Das läßt sich schwerlich behaupten.

f.) In der bereits genannten Entscheidung des Landessozialgerichtes Niedersachsen-Bremen wird an einer Stelle sogar terminologisch davon ausgegangen, daß die „Kollektivaussteiger“ die normativen Festlegungen ihres rechtlichen Handlungsrahmens durch den Ausstieg – so wörtlich – „bekämpfen“ wollen8. Das Landessozialgericht stellt mithin eine gedankliche Parallele her zu einer Vorschrift des Grundgesetzes, die die Verwirkung von Grundrechten thematisiert. Artikel 18 GG lautet:

Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 I), die Lehrfreiheit (Artikel 5 III), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.

Interessant an dieser Parallele sind wenigstens drei Aspekte: Zum ersten, daß Artikel 18 GG just die hier interessierende Berufsfreiheit aus Artikel 12 GG nicht erwähnt; zum zweiten, daß Artikel 18 GG die Verwirkung von Grundrechten durch mißbräuchlich handelnde Grundrechtsträger allenfalls durch das Bundesverfassungsgericht und auch nur in jedem Fall eines einzelnen Rechtssubjektes beschreibt. Zum dritten, daß jede Auseinandersetzung mit der Frage fehlt, ob nicht Artikel 19 II GG (mit seiner Garantie, daß Grundrechte nicht in ihrem Wesenskern angetastet werden dürfen) dieser gerichtlichen Entscheidung entgegensteht.

g.) Zusammenfassend ist demnach zu resümieren: Die partielle Aberkennung des Grundrechtes auf Berufsfreiheit für eine ganze Gruppe von Grundrechtsträgern mit der Erwägung, sie mißbrauchten ihr Grundrecht zur Bekämpfung von Rechtsregeln, überschreitet folglich den von dem Grundgesetz selbst vorgestellten Rahmen der Einschränkung von Grundrechten. Die Rechtsprechung des Landessozialgerichtes Niedersachsen-Bremen kann daher nicht anders als „außergewöhnlich“ bezeichnet werden.

h.) Hat ein Arzt nach dieser Vorstellung einmal durch Zulassung zur Kassenärztlichen Versorgung jenen Bereich seines beruflichen Tätigwerdens betreten, so will ihn das System partout nicht wieder – jedenfalls nicht gemeinschaftlich-solidarisch mit Gleichgesinnten – ohne weiteres freigeben. Das System will einfach nicht wieder verlassen werden. Kurt Tucholsky hatte in einem anderen Zusammenhang über Anstalten sinniert:

Auf nichts ist der Anstaltsleiter so erpicht wie auf die Ausdehnung seines Betriebes. Er verträgt alles: Kritik, die ihm ja meist nicht viel anhaben kann, Kontrollen, Revisionen, Besichtigungen – nur eines verträgt er nicht, daß man ihm die Anzahl der von ihm beherrschten Menschen oder Sachen mindert.

i.) Ich habe bereits an anderen Orten mehrfach auf die bedenklichen systematischen Parallelen zwischen der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland und Aspekten der leninistischen Wirtschaftspolitik hingewiesen9. Die Vorstellung, daß um den Kassenarzt eine Mauer errichtet wird, die er ohne Schaden nicht überqueren kann, wird durch die genannte Entscheidung des Landessozialgerichtes Niedersachsen-Bremen weiter verschärft. Das Gericht spricht nicht nur von einer sogenannten „Nachhaftung“ des einmal zugelassenen Kassenarztes10, sondern sogar – wörtlich – von einer ‚Verhaftung’ des Vertragsarztes im System11. In einer eigenartigen Umkehr des an anderer Stelle unserer Rechtsordnung mit ungebrochener Energie betriebenen Vorgehens, „schwächeren“ Mietern und Arbeitnehmern Vertragskündigungen zu erleichtern, ihren Vermietern und Arbeitgebern hingegen praktisch zu verunmöglichen, wird hier der relativ schwache Kassenarzt in eine fast unauflösliche Ehe mit der übermächtigen Behörde „Kassenärztliche Vereinigung“ gezwungen. Hierin liegt ein doch augenfälliger Wertungswiderspruch unserer Rechtsordnung, der der Auflösung bedarf.

3.) Soweit ersichtlich, sind die (wenigen) juristischen Beschäftigungen mit der bemerkenswerten Vorschrift aus § 95b Fünftes Sozialgesetzbuch allerdings bislang in einigen groben rechtsdogmatischen und verfassungsrechtlichen Betrachtungen zu Artikel 12 GG – also zu der Berufsfreiheit als Grundrecht – steckengeblieben. Ein anderer Grundrechtsartikel, auf dessen Schutz die solidarisch aus dem System aussteigenden Kassenärzte sich meines Erachtens ebenfalls berufen können, wird bislang (jedenfalls soweit ich sehe) überhaupt noch nicht diskutiert. Diese Diskussion wird man aber führen müssen, auch wenn sie jetzt hier für ein paar Minuten etwas sehr technisch-juristisch daherkommen mag.

a.) Artikel 9 I unseres Grundgesetzes besagt:

Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden.

Dieses (jedenfalls für Deutsche schrankenlos gewährleistete) Grundrecht bietet – nach ganz gängiger Verfassungsdogmatik – nicht nur das Grundrecht, Vereinigungen zu bilden. Es schützt insbesondere auch den sogenannten status negativus, nämlich die Freiheit, gewissen Vereinigungen gerade nicht beitreten zu müssen. Ebenso also, wie mir die Freiheit zugebilligt ist, eine Meinung zu haben oder einer Religion anzuhängen, billigt mir das Grundgesetz auch zu, eine Meinung nicht zu haben bzw. einer Religion nicht anzuhängen.

Gegen den reinen Wortlaut dieses Grundrechtsartikels herrscht jedoch bei den Verfassungsinterpreten (dem Bundesverfassungsgericht ebenso, wie bei der wohl überwiegenden Meinung der Literatur) ein erheblich freiheitsbeschränkender Konsens dahin, daß dieser Artikel 9 I GG nicht mit einem „status negativus“ gegen den Zwangszusammenschluß zu öffentlich-rechtlichen Vereinigungen schütze12. Gegen die Pflichtmitgliedschaft in derartigen Vereinigungen schützt nach Auffassung dieser Grundgesetzinterpreten lediglich der allgemeine Freiheitsartikel (Artikel 2 I GG), dessen – schwacher – Schutzbereich jedoch schon durch jede auch nur irgend formal ordnungsgemäß zustande gekommenen Norm wirksam eingeschränkt wird.

Artikel 9 I GG bringt daher für die solidarisch ausstiegswilligen Kassenärzte unter der Herrschaft des § 95b Fünftes Sozialgesetzbuch keine substantielle Hoffnung. Er schafft keinen Platz und keinen Weg für den Exodus aus der Kassenärztlichen Vereinigung.

b.) Allerdings garantiert Artikel 9 III S. 1 und 2 GG für jedermann (also nicht nur für Deutsche) noch ein weiteres, für unseren Zusammenhang jetzt außerordentlich interessantes, weil breites und starkes Grundrecht:

Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig.

In Ansehung dieses Wortlautes läßt sich demnach für solidarisch ausstiegswillige Kassenärzte durchaus die Auffassung vertreten, daß diese Ärzte zur Wahrung und Förderung ihrer eigenen Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen eine Vereinigung in diesem Sinne bilden; nämlich die Vereinigung der solidarisch aus dem Kassenarztsystem aussteigenden Ärzte. In seiner bisherigen Auslegung wird das vorstehend bereits beschriebene gewerkschaftliche Streikrecht auf diesen Verfassungsartikel gestützt.

c.) Zwar wird von durchaus maßgeblichen Teilen der Verfassungsliteratur auch hier wiederum eine (textlich nicht vorgegebene) Einschränkung des grundrechtlichen Schutzbereiches angenommen. Vielfach wird die Auffassung vertreten, Artikel 9 III S. 1 und 2 GG schütze nur frei gebildete Arbeitgeber- sowie Arbeitnehmervereinigungen13.

Richtigerweise wird man jedoch (mit anderen, bereits vorhandenen Stimmen der einschlägigen Literatur) bei der Auslegung dieses Grundrechtsartikels von etwas anderem ausgehen müssen, nämlich:

Dieses Recht gilt ‚für jedermann und alle Berufe’, also nicht nur für Arbeitnehmer oder Arbeitgeber, sondern z. B. auch für Zusammenschlüsse von Ärzten zu kassenärztlichen Vereinigungen …; auch müssen die Vereinigungen nicht notwendig fachberuflich organisiert sein.14

Da die Kassenärztlichen Vereinigungen im Sinne des Fünften Sozialgesetzbuches per Definition des Gesetzgebers Körperschaften des öffentlichen Rechtes sind (vgl. § 77 V SGB V), können sie sich im Ansatz – gleichsam als „Teil des Staates“ mit der Befugnis zur hoheitsrechtlichen Regelungen von Sachverhalten und Rechtsverhältnissen – nicht auf grundgesetzlich garantierte Abwehrrechte gegen den Staat berufen. Mithin kann nach der Auffassung von Zippelius und Würtenberger richtigerweise der dort verwendete Begriff der „kassenärztlichen Vereinigung“ richtigerweise nur dahin gedeutet werden, daß dort gerade nicht die bereits gesetzlich spezifizierte und körperschaftlich ausgeprägte Form dieser Vereinigung gemeint ist15, sondern jedwede (neue) Vereinigung von Ärzten zur gemeinschaftlichen Ausübung ihrer Berufstätigkeit (oder von Teilen derselben). In der Konsequenz folgt hieraus also: Schließen sich mehrere „Vertragsärzte“ solidarisch zu einer Ausstiegsgemeinschaft aus dem positiviert vorhandenen Kassenärztlichen Versorgungssystem innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung zusammen, um ihre je individuellen Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen wiederherzustellen (also zu fördern) oder zu wahren (also gegen weiteren Abbau zu verteidigen), so können sie sich auf den Schutz des Artikels 9 III S. 1 GG berufen.

d.) Für die gesetzlich positivierten Regelungen des § 95b Fünftes Sozialgesetzbuch folgt hieraus dann jedenfalls dies:

§ 95b 1 Fünftes Sozialgesetzbuch, der es mit den Pflichten eines Vertragsarztes für unvereinbar erklärt, solidarisch aus dem System auszusteigen, ist wegen seines Verstoßes gegen Artikel 9 III S. 1 GG verfassungswidrig. Jenseits seiner schon rechtslogischen Zweifelhaftigkeit (der Vertragsarzt kann allenfalls für eine „logische Sekunde“ pflichtwidrig handeln, denn danach ist er bereits ausgeschieden und also schon nicht mehr „Vertragsarzt“) verbietet bzw. erschwert § 95b I Fünftes Sozialgesetzbuch die Ausübung dieser solidarischen Ausstiegstätigkeit (jedenfalls zielt er darauf ab). Das ist mit Artikel 9 III S. 1 GG nicht zu vereinbaren.

Auch die Regelungen aus § 95b III S. 3 und 4 Fünftes Sozialgesetzbuch sind demnach verfassungswidrig. Denn wenn die solidarisch ausgestiegenen Koalitionäre nach deren Verzicht auf die Zulassung weiter als Ärzte arbeiten wollen, würde ihnen mit diesen Regelungen der geschützte Zweck ihrer Vereinigungstätigkeit tatsächlich vereitelt. Dies aber ist mit dem verfassungsrechtlichen Schutz aus Art. 9 III GG nicht zu vereinbaren.

Eine Verfassungswidrigkeit der Regelung aus § 72a I Fünftes Sozialgesetzbuch kann hingegen mit der wohl überwiegenden Meinung nicht angenommen werden, da öffentlich-rechtliche Zusammenschlüsse – wie eingangs ausgeführt – generell nicht unter die Regelungen des Artikel 9 GG fallen16. Unter dieser Annahme ließe sich auch die Zerschlagung der heute bekannten Kassenärztlichen Vereinigung als öffentlich-rechtlicher Körperschaft nach § 79a I und II Fünftes Sozialgesetzbuch verfassungsrechtlich – jedenfalls im Hinblick auf Artikel 9 GG – nicht verhindern.

e.) Zu beachten ist allerdings, daß auch bei dieser Auslegung des Artikel 9 III GG prinzipiell eine Einschränkung seines Schutzbereiches vorstellbar bleibt17. Die sogenannte Koalitionsfreiheit, die dieser Verfassungsartikel gewährt, ist nämlich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zum Schutz von anderweitigen „Gemeinwohlbelangen“ mit eigenem verfassungsrechtlichem Rang grundsätzlich noch einschränkbar18. Allerdings – so sagt das Bundesverfassungsgericht – können auch nur schwerwiegende Gründe einen solchen schwer wiegenden Eingriff in Artikel 9 III GG in diesem Sinne rechtfertigen19. Nach der bisherigen20 Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes soll die finanzielle Stabilität des Sozialversicherungssystems ein solcher Gemeinwohlbelang21 sein. Allerdings gesteht das Bundesverfassungsgericht an anderen Stellen seiner Rechtsprechung durchaus bereits ein, daß es Dinge gibt, die sich „angemessener“ regeln lassen, als durch staatliche Maßnahmen22. Dies gälte nach seiner Rechtsprechung insbesondere für die auch hier betroffene Frage nach der Entlohnung von Arbeit („Festsetzung der Löhne“), als auch für materielle Arbeitsbedingungen23.

f.) Wenn also der Schutzbereich des Artikel 9 III S. 1 und 2 GG eingeschränkt werden soll, dann kann dies folgerichtig allenfalls „verhältnismäßig“ im Sinne der traditionellen Verfassungsdogmatik geschehen24. Der Eingriff in dieses Grundrecht muß demnach überhaupt „geeignet“ sein, das kollidierende Gemeinwohl „Volksgesundheit“ zu schützen. Notwendig ist daher zumindest, daß – mit den Worten des Bundesverfassungsgerichtes – die „abstrakte Möglichkeit der Zweckerreichung“ dieses Zieles durch jene Grundrechtsrestriktion besteht25. Inwieweit aber auch nur eine solche abstrakte Möglichkeit dieser Zweckerreichung unter den heute gegebenen gesetzlichen Voraussetzungen bestehen könnte, erscheint mehr als zweifelhaft.

g.) Wer das heutige Kassenarztsystem mit seinen Planungs-, Überwachungs-, Rechtfertigungs- und „Qualitäts“-Zwängen und in seinen Bürokratie-Exzessen von innen her kennt, der wird schaudern angesichts einer knappen Zusammenfassung Horst Dieter Schlossers aus dem Jahre 1990 über den zusammengebrochenen DDR-Sozialismus:

Dem ‚sozialistischen Wettbewerb’ als diffizilem System zur Leistungssteigerung im DDR-Arbeitsleben konnte sich kaum jemand entziehen … Unter Führung des FDGB und seiner jeweiligen Betriebsgewerkschaftsorganisation sollte der Wetteifer der Werktätigen zu einer koordinierten Übererfüllung vorgegebener Planziele erbracht werden. … Die persönlichen und kollektiven Leistungen wurden auf offiziellen Formularen (Planauftrag) abgerechnet, die u. a. die Normerfüllung und ein Fehlerlimit in Prozent angaben, die Einsparung von Grundarbeitszeit, Grundmaterialkosten u. a. in Markbeträgen, die Anzahl von eingereichten Neuerervorschlägen, die Auslastung der Grundmittel (etwa der Werkzeugmaschinen) in Zeitangaben enthalten mußten. …26

Ein bürokratisch entgleistes Kassenarztsystem (ebenso wie das gesamte Gesundheitsversorgungssystem der Bundesrepublik insgesamt) bietet – auch unter den dort so genannten „Qualitätssicherungsmaßnahmen– seriös keinerlei auch nur abstrakte Möglichkeit, den Zweck einer ordnungsgemäßen Gesundheitsversorgung der Gesamtbevölkerung sicherzustellen. Mithin läßt sich auch mit den Maßstäben aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes nicht begründet argumentieren, das gegebene System schütze Gemeinwohlbelange von solcher Bedeutung, daß die grundrechtliche Freiheit von Ärzten, solidarisch aus dem System auszusteigen, hierdurch eingeschränkt werden dürfte.

h.) Kassenärzte sind heute nur noch der Form nach Freiberufler. Inhaltlich handelt es sich um halbstaatliche Bedienstete eines öffentlichen Dienstes besonderer Art; der Kassenarzt ist also ein Amtsträger sui generis. Inwieweit es in einem solchen System noch zu einer verantwortlichen Kostenkontrolle auch der beteiligten Ärzte kommen könnte, ist unklar. Denn gerade derjenige, der (wie jeder Beamte) weisungsgebunden zu handeln hat, soll ja die Sinnhaftigkeit des erteilten Befehles gerade nicht in Zweifel ziehen; seine Aufgabe ist vielmehr, die von anderen (vermeintlich) erkannte Rationalität ungefragt und unmittelbar, insbesondere unpersönlich umzusetzen. Der Nobelpreisträger Elias Canetti formulierte zu solcherlei Handeln unter Befehlen:

Es ist bekannt, daß Menschen, die unter Befehl handeln, der furchtbarsten Taten fähig sind. Wenn die Befehlsquelle verschüttet ist und man sie zwingt, auf ihre Tat zurückzublicken, erkennen sie sich selber nicht. Sie sagen: Das habe ich nicht getan, und sie sind sich keineswegs immer klar darüber, daß sie lügen. … Für jeden Befehl, den der Täter ausgeführt hat, ist ein Stachel in ihm zurückgeblieben. Aber dieser ist so fremd, wie der Befehl selber war, als er erteilt wurde. … Der Stachel ist ein Eindringling, er bürgert sich niemals ein. … Als fremde Instanz lebt er im Empfänger weiter und nimmt ihm jedes Gefühl von Schuld. … Es ist also wahr, daß Menschen, die unter Befehl gehandelt haben, sich für vollkommen unschuldig halten. … Von welcher Seite immer man ihn betrachtet, der Befehl in seiner kompakten, fertigen Form, wie er sie nach einer langen Geschichte heute hat, ist das gefährlichste einzelne Element im Zusammenleben von Menschen geworden. Man muß den Mut haben, sich ihm entgegenzustellen und seine Herrschaft zu erschüttern. Es müssen Mittel und Wege gefunden werden, den größeren Teil des Menschen von ihm freizuhalten. Man darf ihm nicht erlauben, mehr als die Haut zu ritzen. Aus seinen Stacheln müssen Kletten werden, die mit leichter Bewegung abzustreifen sind.27

i.) In der Menschheitsgeschichte ist es immer dort gefährlich geworden für Rationalität, Aufklärung und Geradeausdenken, wenn nicht mehr nur nüchtern geforscht wurde, sondern wenn statt dessen „gefühlt und geglaubt“ wurde28. Noch aber herrscht in Deutschland gesundheitspolitisch ein diffuser Glaube an das vermeintlich Warme, Gute und Soziale in jedem Befehl an den Kassenarzt. Dieser gefährliche Glaube muß ersetzt werden durch das Zugeständnis, auf einen geistesgeschichtlichen Abweg geraten zu sein. Aus den Stacheln des Kassenärztlichen Zulassungssystems mit seinen Fesseln für beteiligte Ärzte müssen daher so schnell wie möglich Kletten im Sinne Elias Canettis werden, die abgestreift werden können.

4.) Den Kassenärzten muß nach allem das verfassungsmäßige Recht zugestanden werden, freiwillig und gemeinschaftlich – also solidarisch im ureigensten Sinne des Begriffes – aus dem heute bestehenden, maroden System auszusteigen, um anschließend ein auf jeweils freiwilliger Basis eingegangenes, neues und funktionsfähiges System zu begründen.

Eine Vergesellschaftung der Kassenärztlichen Vereinigungen erscheint in diesem Zusammenhang als weiteres realistisches Ziel wünschenswert. Als Gesellschaftsform kommt die zivilrechtliche Form der Genossenschaft oder der Aktiengesellschaft mit ihren beteiligten Ärzten als – ausschließlichen – Aktionären bzw. Genossen in Betracht. Unter diesen Voraussetzungen wird es den beteiligten Kassenärzten möglich, jederzeit freiwillig aus dieser Vereinigung auszutreten. Nur dies entspricht den Wertentscheidungen auch des Grundgesetzes als einer zuerst freiheitlichen Verfassung.

An die Adresse der protestierenden Kassenärzte gerichtet mag in ihrem Konflikt mit den Vertretern des derzeit noch bestehenden Systems an den großen chinesischen Konfliktexperten Sun Zi erinnert werden. Schon der wußte, daß die beste Konfliktlösungsstrategie stets die ist, einen Gegner unversehrt einzunehmen; eine schlechte Taktik sei, ihn zu zerstören. Dies sollten auch die heute protestierenden Kassenärzte beherzigen.

III.

In dem eingangs genannten Sinne weisen die Kassenärzte durch einen solidarischen Ausstieg aus einem funktionsunfähigen Gesundheitswesen in der Bundesrepublik Deutschland nach allem durchaus einen auch für andere Kontexte interessanten Weg. Stehen nicht unsere alten umlagefinanzierten Renten- und Pflegeversicherungen im deutschen Sozialstaat einer Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen entgegen? Hindert nicht unser Arbeitsrecht Flexibilität und Wohlstand für alle? Muß nicht insbesondere auch über das seit Jahrzehnten kontinuierlich scheiternde öffentliche Verwalten des sogenannten Arbeits“marktes“ in Anbetracht von über 30 Jahren Massenarbeitslosigkeit neu nachgedacht werden? Alle Betroffenen des eingangs so bezeichneten „Sozialstaats-Irrsinns“ werden im einzelnen und jeweils für sich zu prüfen haben, ob sie gemeinsam und solidarisch mit anderen, gestützt auf die Freiheitsrechte des Artikel 9 III GG, neue staatsfreie Gemeinschaften bilden können, um unser Gemeinwesen insgesamt an allen seinen überschuldeten und überverwalteten Stellen gedeihlich und neu zu organisieren.

Der schon zitierte Horst Dieter Schlosser formulierte in seinem genannten Buch über Geschichte und Zusammenbruch der DDR insbesondere im Hinblick auf die hier eingangs beschriebenen Probleme mit der sogenannten „Schwarzarbeit“ übrigens Erstaunliches:

Viele echte freiwillige Leistungen erbrachte der DDR-Bürger jedoch in der Feierabendarbeit, in der er einen nicht geringen Teil des Volksvermögens schuf. Im Gegensatz zur westdeutschen Schwarzarbeit (auch Schattenwirtschaft) waren solche Tätigkeiten nicht rechtswidrig, sondern wurden sogar gefördert, weil sie auch eigentlich öffentliche Arbeiten umfaßten, die aber nicht im Plan waren. … Nicht wenige ‚schonten’ ihre Arbeitskraft am Tage für solche Tätigkeiten. Unumgänglich hatte sich in der SBZ/DDR auch ein anderes Verhältnis zu Waren und Geld entwickelt, und zwar nicht nur durch die immer wieder auftretenden Versorgungsengpässe auf verschiedenen Sektoren. Die Warenverteilung wurde zentral gesteuert, die Preise waren einheitlich festgelegt. Es gab so gut wie keine Konkurrenz zwischen verschiedenen Warenanbietern, was sich auch atmosphärisch, und zwar oft negativ, in der Behandlung der Verbraucher niederschlug. In der DDR konnte nicht der Kunde, sondern immer nur derjenige ‚König’ sein, der etwas anzubieten hatte. … Als weiterer Widerspruch im ‚sozialistischen’ System war der vielfach gespaltene Preis für identische Leistungen zu sehen. Die äußerst günstigen Tarife für Grundnahrungsmittel, Wohnen, öffentlichen Nahverkehr u. ä. waren ‚gestützte’ Preise, die auch nicht annähernd die Gestehungskosten deckten. … Um den Staatshaushalt durch die Stützung der Verbraucherpreise nicht zu überlasten, war man vielfach aber auch dazu übergegangen, dieselbe Ware, die eigentlich für einen Verkauf in der HO bestimmt war, für einen drei- bis vierfachen höheren Preis in Delikat-(Lebensmittel-) bzw. Exquisit-(Mode-) Läden anzubieten. … Privat erzeugte Ernteprodukte … wurden an die HO-Läden verkauft und zum gestützten niedrigeren Abgabepreis (Stützpreis) wieder zurückgekauft …29

Neben den terminologischen und inhaltlichen Parallelen zu unserem deutschen Kassenarztrecht, die schaudern machen („gestützte Punktwerte“ kennen wir dort ebenso, wie zentrale Planung etc.), fällt eines wesentlich auf: Entläßt man nach allem (auch) die Kassenärzte aus dem Gesamtplan der Kassenärztlichen Versorgung, wird zum Gewinn aller Beteiligten mit geradezu mathematischer Sicherheit wieder ein Mehr an medizinischer Produktivität festzustellen sein.

Der solidarische Ausstieg der Kassenärzte aus dem heutigen System ist ein erster Schritt in diese Richtung. Mögen ihn viele gehen.

1
was natürlich auch zwei weitere Fragen aufwirft, die hier nicht
zu beantworten sind: Erstens, wo ist das Geld geblieben? Und
zweitens: Wer muß nun wohl bezahlen?
2
Pikant an dieser Anzeigen-Kampagne ist allerdings besonders ihr
Zeitpunkt: Während der Souverän über eine allgemeine
Versicherungspflicht noch gar nicht entschieden hat, weiß die
Exekutive sie schon zu verkünden!
3
Besonders ärgerlich ist, wenn das Publikum diese authentischen
Interpreten des jeweils neuesten Gesetzes gleich zweimal bezahlen
muß: Einmal als Beamte und Experten per Steuer und einmal via
Kaufpreis mit dem Kommentar.
4
BVerfGE 11, 30 (40).
5
Quaas/Zuck, Medizinrecht, 2005, § 18 Rn 49; dies wird sich in
kommenden Auflagen dieses Werkes sicher ändern, da die
Verfasser dieses Werkes im Zusammenhang mit den neuerdings ebenfalls
eingerichteten (und tatsächlich nicht sinnvollen)
Korruptionsverdachtsstellen“ durchaus kritisch ins
Gericht gehen, a.a.O. § 7 Rn 23.
6
Staudinger-Olaf Werner, BGB-Kommentar, 1995, § 226 BGB Rn 3f.
7
BGH NJW 1975, 1314; sowie Staudinger-Olaf Werner a.a.O. § 226
BGB Rn 9 m. w. N.
8
LSG Niedersachsen-Bremen a.a.O., Urteilsdruckstück S. 13 f.
9
vgl. „
Lenin und der Kassenarzt
(www.make-love-not-law.com)
10
LSG Niedersachsen-Bremen a.a.O. Druckstück Seite 22.
11
LSG Niedersachsen-Bremen a.a.O. Druckstück Seite 16.
12
vgl. statt aller: Hans D. Jarass und Bodo Pieroth, Kommentar zum
Grundgesetz, 8. Auflage, 2006, Artikel 9 Rn 7 m. w. N.
13
Jarass/Pieroth a.a.O. Artikel 9 Rn 30 m. w. N. sowie
Maunz/Dürig-Scholz, Februar 1999, 35. Lieferung, Artikel 9 Rn
195
14
so: Reinhold Zippelius und Thomas Würtenberger, Deutsches
Staatsrecht, 31. Auflage, 2005, § 27 III 1 [Seite 258].
15
Dafür spricht auch, daß a.a.O. von der „
kassenärztlichen
Vereinigung
“ die Rede ist und nicht – wie für
Eigennamen typisch – von der „Kassenärztlichen
Vereinigung
“.
16
Jarass/Pieroth, 8. Auflage, Artikel 9 GG Rn 5.
17
Jenseits der Möglichkeiten des Artikels 18 GG; aber welcher
Arzt wollte schon die freiheitlich-demokratische Grundordnung
bekämpfen?!
18
BVerfGE 103, 293 [306], Entscheidung vom 3. April 2001.
19
BVerfGE 94, 268 [285], Entscheidung vom 24. April 1996.
20
Allerdings unrichtigen: vgl. Gebauer ZRP 2005, 162 ff.
21
So jedenfalls Jarass/Pieroth a.a.O. Artikel 9 Rn 50.
22
BVerfGE 94, 268 [285], Entscheidung vom 24. April 1996.
23
BVerfGE 100, 271 [283 f.], Entscheidung vom 27. April 1999.
24
Jarass/Pieroth a.a.O. Artikel 9 Rn 50.
25
BVerfGE 67, 157 [175], Entscheidung vom 20. Juni 1984.
26
Horst Dieter Schlosser, Die deutsche Sprache in der DDR zwischen
Stalinismus und Demokratie, Köln, 1990, Seite 78.
27
Elias Canetti, Masse und Macht, Kapitel „
Der Befehl“,
Unterkapitel „Befehl und Verantwortung“.
28
Eindringlich hierzu: Wolfgang Behringer, Hexen – Glaube, Verfolgung,
Vermarktung, München, 4. Auflage, 2005, Seite 95.
29
Horst Dieter Schlosser a.a.O. Seite 79 f.

Frankfurter Plädoyer für eine herrschaftsfreie Medizin

Vortrag auf dem anästhesiologischen Aktionstag des Berufsverbandes Deutscher Anästhesisten am 11. November 2006 in Frankfurt am Main

Carlos A. Gebauer

Sehr geehrte Damen,sehr geehrte Herren,

ich danke für die Einladung, heute bei Ihnen über Leninismus, Sozialismus und das deutsche Sozialgesetzbuch sprechen zu dürfen.

Nachdem meine Vorredner Sie bereits im Fußmarsch intensiv durch das Dickicht und Untergehölz namentlich des Vertragsarztrechtes und des Krankenhausrechtes für Ärzte geführt haben, möchte ich nun den Versuch unternehmen, gleichsam einen kleinen historischen Hubschrauberflug über diesen sozialrechtlichen Dschungel zu unternehmen. Denn aus dem Abstand besehen erschließen sich dem Betrachter häufig erst diejenigen Zusammenhänge, die – inmitten des Gestrüpps – verborgen bleiben.

Wegen der Nähe Ihres heutigen Veranstaltungsortes zu der langjährigen Wirkungsstätte des berühmten Neomarxisten Jürgen Habermas habe ich mich – in Ihrem vermuteten Einverständnis – entschlossen, meinen heutigen Ausführungen den Titel „Frankfurter Plädoyer für eine herrschaftsfreie Medizin“ zu geben.

Der Hintergrund ist einfach: Jürgen Habermas hat die Welt nicht nur unerquicklich durch marxistische Augen betrachtet, sondern weitaus erbaulicher (auch) die interessante Theorie des sogenannten „herrschaftsfreien Diskurses“ vertreten. Zur Wahrheit kann demnach nur ein solcher Diskurs unter Menschen führen, der nicht von Herrschafts- oder Machtinteressen einzelner Beteiligter gelenkt und beeinträchtigt wird.

Nach meinem Dafürhalten verhält es sich mit Medizin nicht anders: Nur dann, wenn sie frei von Herrschaft und Macht ausgeübt und in die freie Verantwortung von Ärzten (und Patienten!) gestellt ist, kann sie zu allseitigem Nutzen und allseitigem Wohle ausgeübt werden.

Ich habe an anderen Stellen in jüngerer Vergangenheit gegenüber Ärzten immer wieder darauf hingewiesen, daß eine „herrschaftsfreie Medizin“ – namentlich in der Gestalt frei abgeschlossener zivilrechtlicher Verträge zwischen Ärzten und Patienten – nichts Ungewöhnliches und nichts Ungehöriges ist. Nur Verträge zwischen Menschen entsprechen einem mitmenschlichen Beisammensein und einem Handeln mit Menschenmaß. Ich will heute versuchen, Ihnen zugleich zu vermitteln, daß die Situation, in der Sie sich derzeit als Kassen- und Krankenhausärzte befinden, ebensowenig außergewöhnlich und unvorhersehbar ist. Vielmehr ergibt sich diese Situation aus langfristigen gesellschaftspolitischen Weichenstellungen, die der „historische Hubschrauberblick“ recht deutlich erhellt.

Ich möchte Ihnen zur Einstimmung ein kurzes Zitat zur Verlesung bringen und Sie mögen – während ich vorlese – spekulieren, aus welchem Munde es wohl stammt. Was glauben Sie: Ist es ein Rückblick eher von Renate Schmidt (SPD) oder von Ursula von der Leyen (CDU), wenn wir lesen:

Statt des 10- bis 12-stündigen Arbeitstages …. ist jetzt der 7-Stunden-Arbeitstag eingeführt, und einzelne …. arbeiten 6 Stunden und weniger am Tage bei einer sechstägigen Arbeitswoche, bzw. sie haben bei gleicher Arbeitsdauer die 5-Tage-Woche mit zwei arbeitsfreien Tagen; allgemein wurden gesündere Arbeitsbedingungen geschaffen; …. das Realeinkommen der Arbeiter in der Industrie und im Bauwesen ist …. gestiegen, die …. Verkürzung der Arbeitszeit in Rechnung gestellt; …. die Wohn- und Lebensbedingungen haben sich bedeutend verbessert; die Bildung ist allgemein und wird vom Staat finanziert; die Gesellschaft bestreitet einen bedeutenden Teil der Aufwendung für die Erziehung der heranwachsenden Generation. …. Die Zahl der Schüler in den allgemeinbildenden Schulen ist …. angewachsen; es wurde ein einheitliches System der Altersversorgung geschaffen. Die Renten werden vom Staat …. bezahlt. Das Rentenalter ist …. niedriger als in den meisten anderen Ländern; die kostenlose medizinische Betreuung und der Schutz von Mutter und Kind wurden eingeführt.“

Ich behaupte, daß Sie kaum verbindlich werden entscheiden können, welche unserer bundesrepublikanischen Vertreter diese gar zu vertraut klingenden Thesen formuliert haben. Erstaunt sein werden Sie aber vielleicht, zu hören, daß es Thesen des Zentralkomitees der kommunistischen Partei der Sowjetunion sind, die im Jahre 1970 zum 100. Geburtstag Wladimir Lenins verfaßt wurden1.

Vielleicht ist der Untergang des Ostblocks eine doch nicht allzu fern liegende geschichtliche und gesellschaftspolitische Konstellation?

Um die Mechanismen zu erklären, die das Zusammenleben einzelner Individuen in einer Gemeinschaft nach unserem bundesrepublikanischen Staatsverständnis ermöglichen sollen, greife ich in jüngerer Zeit gerne auf eine Geschichte zurück, die der deutsch-amerikanische Nationalökonom Hans-Hermann Hoppe vor einiger Zeit erzählte. In dieser Geschichte wird die Fiktion ausgearbeitet, am kommenden Sonntag wären Weltwahlen. Jeder erwachsene Mensch, der zum Zeitpunkt der Wahl auf dieser Erde lebt, hat eine Stimme. Was wäre das Ergebnis einer solchen Weltwahl? Es bedarf keiner großen Phantasie, um zu erkennen, daß es zu einer indisch-chinesischen Koalitionsregierung käme.

Nähme man weiter an, diese indisch-chinesisches Koalitionsregierung setzte es sich zur Aufgabe, durch Umverteilung gleiche Lebensbedingungen und „soziale Gerechtigkeit“ unter allen Menschen herzustellen, so liegt eine Erkenntnis nicht fern: Eine Analyse dieser Koalitionsregierung ergäbe, daß der Westen und Amerika über verhältnismäßig viele Güter verfügen, andere Länder hingegen über weniger Güter (zum Beispiel China und Indien). Es käme zu einer Umverteilung. Denn die Mehrheit könnte die Minderheit überstimmen.

Das, was anhand dieser Fiktion auf der Hand liegt, läßt sich in ein einfaches Schema übertragen: Wenn A und B mit C in einer Gemeinschaft leben und feststellen, daß C etwas besitzt, was A und B gerne auch besäßen, so haben A und B zwei Möglichkeiten. Die eine ist, selbst fleißig zu sein und sich das zu beschaffen, was C bereits besitzt. Die zweite ist, eine demokratische Abstimmung zwischen A, B und C darüber durchzuführen, ob C verpflichtet ist, A und B jeweils sein Besitztum herauszugeben, wenn die Mehrheit aus den Reihen dafür stimmt. Die weiteren Details hierzu bedürfen erkennbar keiner weiteren Ausführung.

Demokratietheoretiker haben genau dieses Problem gesehen. Und sie haben ein Mittel gegen die hieraus drohenden Gefahren für Minderheiten (und insbesondere für die kleinste aller Minderheiten: das Individuum) geschaffen. Diese Mittel heißen Grundrechte und/oder Menschenrechte. Diese Grundrechte werden bisweilen bezeichnet als „negative Kompetenznormen für den Staat“. Dies bedeutet nichts anderes als: Im Bereich des Grundrechtes hat der Staat keine Befugnis, Gesetze zu erlassen. Grundrechte sind folglich nichts anderes als „Laß-mich-in-Ruhe-Rechte“.

Eines dieser „Laß-mich-in-Ruhe-Rechte“ ist beispielsweise Ihre Berufsfreiheit als Ärzte. Wenn Sie sich das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland zur Hand nehmen, dann stellen Sie fest, daß Sie in Wahl, Ausbildung und Ausübung Ihrer Berufsfreiheit grundsätzlich Freiheit genießen. Allerdings kann in Ihre diesbezüglichen Berufsfreiheiten gesetzlich eingegriffen werden. Mißlich hieran ist, daß die Eingriffsbefugnisse in diese Grundrechte wiederum von Mehrheiten definiert werden.

Das macht die Sache nicht einfacher. Denn namentlich für das Sie interessierende Gesundheitswesen wird von dem Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung die Auffassung vertreten, die Allgemeinheit habe ein ganz überragend wichtiges Interesse daran, daß dieses öffentliche Gesundheitswesen funktioniere. Spiegelbildlich also minimiert sich der Umfang Ihrer Berufsfreiheit. Eine typische Formulierung des Bundesverfassungsgerichtes hierzu lautet etwa:

Neben der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung, die das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung als besonders wichtiges Gemeinschaftsgut bezeichnet hat, hat gerade im Gesundheitswesen der Kostenaspekt für gesetzgeberische Entscheidungen erhebliches Gewicht. Die Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung ist für das Gemeinwohl anerkanntermaßen von hoher Bedeutung. Soll die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung mit Hilfe eines Sozialversicherungssystems erreicht werden, stellt auch dessen Finanzierbarkeit einen überragend wichtigen Gemeinwohlbelang dar, von dem sich der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Systems und bei der damit verbundenen Steuerung des Verhaltens der Leistungserbringer leiten lassen darf.2

Damit ist die Lage für Sie als Ärzte und „Leistungserbringer“ nicht einfach. Ihre Möglichkeit, zivilrechtliche Verträge mit Patienten zu schließen, ist auf Basis dieser Verfassungsrechtsprechung erheblich eingeschränkt. Mehr noch: In allerjüngster Zeit müssen wir sogar von einem bundesdeutschen Landessozialgericht lesen:

Artikel 12 Abs. 1 GG [das Grundrecht der Berufsfreiheit] schützt zwar auch die Freiheit des (Zahn)arztes, sich zu entscheiden, ob er im Rahmen des vertrags(zahn)ärztlichen Versorgungssystems oder privatrechtlich tätig werden möchte. Dies gilt aber dann nicht mehr, wenn diese Freiheit … durch konzertiertes Verhalten zu dem Zweck mißbraucht wird, Druck auszuüben, etwa um dem Gesetzgeber oder die Normgeber der Selbstverwaltung der Vertrags(zahn)ärzte zur Änderung von Rechtsvorschriften zu bewegen … Denn die Berufsausübungsfreiheit des (Zahn)arztes wird durch Gemeinwohlbelange beschränkt, zu denen insbesondere der Schutz eines funktionierenden vertrags(zahn)ärztlichen System im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung gehört.3

Daß allerdings in Wahrheit aus ökonomischen Gründen mit geradezu naturgesetzlicher Zwangsläufigkeit nur und ausschließlich zivilrechtliche Verträge zwischen Ärzten und Patienten auf Dauer zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung der Gesamtbevölkerung führen, hat sich unter den gegebenen Bedingungen der deutsche Sozialgesetzgebung und –rechtsprechung in den letzten Jahrzehnten traurig bewahrheitet. Es ist geradezu der empirisch-experimentelle Nachweis darüber geführt worden, daß die Konstruktion des SGB V weder für stabile Finanzierungsgrundlagen sorgen kann, noch auch für eine dauerhaft gute medizinische Versorgung der Bevölkerung. Ganz zu schweigen von einer nachhaltig angemessenen und die Grundrechte aller Beteiligten respektierenden Vergütung der sogenannten „Leistungserbringer“.

Die Einzelheiten hierzu habe ich in meinem freundlicherweise viel gelesenen Aufsatz „Lenin und der Kassenarzt“ im einzelnen dargelegt. Ich werde an dieser Stelle nicht weiter auf diesen Gesichtspunkt eingehen4. Sie interessiert, aus welchen Gründen heute – und nach Maßgabe der anstehenden „Gesundheitsreform“ aus den „Eckpunkten“ der Bundesregierung – weiterer existenzbedrohender und existenzvernichtender politischer und rechtlicher Druck auf Sie ausgeübt wird. Auch hier stehen Sie – leider – nicht in einer historisch zufälligen Situation. Vielmehr folgen alle bisherigen und absehbar künftigen Entwicklungen zu Lasten ihrer Berufsfreiheit als Ärzte einer ebenso traurigen wie gefährlichen politischen Automatik.

Der Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek hat schon im Jahre 1944 auf diese Gefahren hingewiesen. Unter anderem formulierte er wörtlich:

Sobald der Staat die Planung des …. Wirtschaftslebens übernimmt, ist unvermeidlich, daß die Frage, welche Stellung den einzelnen Individuen und Gruppen zukommt, zum Kernproblem der Politik wird. …. Wenn ich mich recht erinnere, so war es Lenin selber, der …. das …. Schlagwort einführte: ’Wer -Wen?’ …. Wer plant wen? Wer dirigiert und beherrscht wen?“5

Genau dies ist das, was Sie derzeit in den Medien beobachten und an Ihren eigenen Abrechnungsbescheiden, Frequenztabellen etc. ablesen. Welche Stellung Ihnen als Kassenärzten zukommt, wird im Kern von der Politik definiert und bestimmt. Ihre individuellen Vorstellungen treten mehr und mehr in den Hintergrund. Es ist – so auch typischerweise heute – kein Zufall, daß in derartigen Debatten immer wieder an George Orwells Roman „1984“ erinnert wird. Ebenso, wie die jetzigen politischen Behauptungen, es werde der Wettbewerb gestärkt, genau das Gegenteil dessen besagen, was tatsächlich legislativ beabsichtigt ist, hatte George Orwell beschrieben, wie aus Kriegsministerien Friedensministerien werden. Tatsächlich war George Orwell im Jahre 1944 Leser eben des vorzitierten Friedrich August von Hayek und hat mit seinem Roman „1984“ ausdrücklich der philosophischen und nationalökonomischen Darstellung Friedrich August von Hayeks eine literarische Fortführung beigeben wollen.

Ein anderer Nobelpreisträger, Karl Raimund Popper, formulierte etwa zeitgleich – in der deutschen Ausgabe 1958 – folgendes:

Ich möchte …. hinzufügen, daß jede Art ökonomischer Intervention …. die Tendenz haben wird, die Gewalt des Staates zu vergrößern. …. Wenn wir …. dem Staat …. durch das interventionistische ’Planen’ zusätzliche Gewalt verschaffen, dann kann es leicht geschehen, daß wir unsere Freiheit verlieren.“6

Genau diese Tendenz, die Karl R. Popper beschrieb, den Staat zu vergrößern, ist das, was Sie heute in ihrer eigenen, aktuellen Lebenssituation erfahren. Die bereits öffentlich-rechtlich ausgestaltete Funktion beispielsweise eines Gemeinsamen Bundesausschusses, die bislang (noch) ansatzweise in selbstverwalteten Händen einer Gesundheitsverwaltung lag, soll nach den heutigen Plänen der Bundesregierung gänzlich in eine staatlich gelenkte Medizin überführt werden. Die Gewalt des Staates wird durch interventionistisches Planen – auch im Gesundheitswesen – schlicht vergrößert.

Hayek und Popper haben sich mit ihren zitierten Werken gegen eine tragische Tendenz des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts gewendet, die ich Ihnen mit einem weiteren Zitat illustrieren möchte:

Wir waren die ersten, die erklärt haben, daß die Freiheit des Individuums um so mehr beschränkt werden muß, je komplizierter die Zivilisation wird.“

Das, was in diesem Zitat scheinbar so plausibel daherkommt, entspringt schlicht einer totalitären Ideologie. Das Zitat stammt nämlich von Benito Mussolini und aus dem Jahre 19297. Aus einer merkwürdigen Angst vor einer sich verkomplizierenden Welt wird der Wunsch, mit staatlicher Gewalt „auf Biegen und Brechen“ steuernde Wirtschaftsplanung zu betreiben. Diese jedoch erreicht genau das Gegenteil dessen, was sie zu erreichen vorgibt: Statt wohliger, warmer Verhältnisse für alle werden unfreie und unsägliche Verhältnisse produziert.

Daß nach der heute absehbaren Modifizierung Ihrer Berufsbedingungen nicht dezidiert ein Berufsverbot ausgesprochen wird (etwa nach dem Motto: Es gibt zu viele Kassenärzte, wir müssen 35 % von Ihnen mit einem Berufsverbot belegen o.ä.), steht dieser generellen Tendenz zur Aushöhlung der Versorgung vor Ort nicht entgegen.

Es stehen durchaus andere gesetzgeberische Mittel zur Verfügung, dasselbe Ziel auf – um mit Roland Baader (einem Schüler Friedrich August von Hayeks) zu sprechen – „Samtpfoten“ zu erreichen. Nicht anders beispielsweise ging die Deutsche Demokratische Republik mit dem von ihr ungeliebten Hauseigentümern um. Hauseigentümer in der DDR wurden in der Regel nicht mit einmaligem Verwaltungsakt zugunsten des Staates bzw. Volkseigentumes enteignet. Vielmehr wurden sie in eine wirtschaftliche „Klemme“ getrieben. Einerseits wurde ihnen (noch sozialistischer Doktrin, daß Wohnraum billig zu sein habe) auferlegt, daß Mieten z. B. nur 30 Mark betragen dürfen. Andererseits aber wurde durch entsprechende kommunale Anweisungen dafür gesorgt, daß Häuser kostenträchtig, z. B. für 30.000 Mark, saniert werden mußten. Da die Unterhaltskosten für das Haus aus den vereinnahmten Mieten nicht getragen werden konnten, waren die Eigentümer zunächst auf den Verbrauch ihres eigenen Kapitales angewiesen. War dieses erschöpft, bot ihnen in der Regel die örtliche Kreissparkasse einen Spezialkredit an. Diese wurde mit einer Hypothek „mit Vorrang vor allen übrigen Lasten“ in das Grundbuch eingetragen. Nach mehrmaliger Wiederholung dieses Vorganges war das Grundstück zugunsten der Kreissparkasse hemmungslos überschuldet. Dies war dann der Zeitpunkt, zu dem ein Mitarbeiter der kommunalen Gebäudeverwaltung das freundliche Übernahmeangebot unterbreitete, um den Eigentümer von den nicht mehr tragbaren Lasten zu befreien.

Wenn Ihnen die heute beabsichtigte Ausdünnung der Kassenarztversorgung zugunsten von Polikliniken (genannt Medizinische Versorgungszentren) in etwa ähnlich vorkommt, so ist dies keine historische Zufälligkeit. Auch die Klemme, die das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen konstruiert, ist durchaus perfide: Wenn die Kassenärzte aussteigen wollen, steht ihnen hierfür kein Schutz durch Menschenrechte zu; wenn sie im System bleiben, schrumpfen ihre Honorare bis unter die Grenze der faktischen Existenzchance. Sie stehen also ersichtlich in einer schwierigen Kontinuität historischer Entwicklungen.

Was also ist zu tun?

Nach meiner Überzeugung haben Sie als Kassenärzte nur eine einzige Möglichkeit: Sie können (wahrscheinlich am ehesten über sogenannte „Körbe“) in großer Zahl aus der kassenärztlichen Versorgung aussteigen. Sie müssen (!) sogar mit hoher Wahrscheinlichkeit gleichsam en bloc aussteigen, um den Planern Ihres Berufslebens die Chance zu nehmen, durch ängstlich im System bleibende Kollegen eine dürftige Notversorgung der Menschen vorübergehend sicherzustellen. Denn nur wenn Sie als Ärzte insgesamt (!) sich in Ihren Interessen für Ihre Patienten nicht aufteilen lassen, wird Ihnen auf Dauer eine herrschaftsfreie Medizin zu Gunsten dieser Patienten überhaupt noch möglich sein. Dies ermöglicht Ihnen dann anschließend, mit Ihren Patienten sinnvolle und zivilrechtliche Behandlungsverträge abzuschließen. Denn nur wer den „Gesundheitsplanern“ ihre Planungsmöglichkeiten nimmt, der nimmt ihnen auch ihre Potentiale zur Gängelung von Ärzten.

Wenn ich mir Ihre rechtliche und wirtschaftliche Situation als Ärzte betrachte, so komme ich zu dem für mein Land wenig schmeichelhaften Ergebnis: Es nicht mehr die Zeit, die Freiheit zu verteidigen, sondern es ist Zeit, Ihre Freiheit zurückzuerobern. Es geht um die Freiheit zu individueller Entscheidungsbefugnis statt zu bürokratischer Fernsteuerung. Es geht darum, daß der Mensch „Arzt“ den Menschen „Patient“ als sein individuelles Mitgeschöpf ernst nehmen und respektvoll behandeln kann, statt den Kranken nur als Objekt eines technisch-bürokratischen Verwaltungsmechanismus plankonform abzuarbeiten.

Wenn nämlich tatsächlich richtig wäre, daß unser heutiges Sozialversicherungswesen ein so großartiges wäre, wie bisweilen behauptet wird, dann frage ich mich: Warum werden wir mit Mitteln des Strafrechtes (§ 266 a StGB etc.) in dieses System hineingezwungen?

Sie alle sind heute versammelt aus einer bestimmten beruflichen Perspektive. Dies hier ist also keine unmittelbar politische Versammlung. Weil wir jedoch in unserem Land Gesundheit und Medizin verpolitisiert haben, ist unausweichlich, auch zu politischen Fragen am Rande Stellung zu beziehen. Ich stelle deswegen klar: Ich habe nichts gegen Sozialismus; ich wende mich nur dagegen, daß man unfreiwillig an ihm teilnehmen muß.

Ich habe auch nichts gegen Planung. Aber Zwangsplanung wäre allenfalls dann akzeptabel, wenn der Planer allwissend ist (und allwissend kann auch ein noch so investigativ tätiger Planer im Raum- und Zeitkontinuum unserer Welt niemals sein; mit anderen Worten: nicht einmal das Bundesgesundheitsministerium verfügt über eine Zeitmaschine, derer es jedoch bedürfte, um aus gesicherter Zukunftserkenntnis heraus heutige Planung zu betreiben).

Mir ist wohl bewußt, daß Kritiker gegen den sogenannten „Systemausstieg der Kassenärzte“ ins Feld führen, daß durch ihn die Sicherheit der Kassenärzte im heutigen System verlorenginge. Diesen Kritikern entgegne ich jedoch: Glauben Sie ernsthaft, daß es für Sie in dem heutigen System noch irgendeine Sicherheit gibt?

Gegen einzelne, die Kassenärzten zu dem Ausstieg raten, wird polemisiert, sie wollten mit den ausgestiegenen Kassenärzten anschließend nur eigene Geschäfte machen. Diesen Kritikern entgegne ich: Ja, es werden Geschäfte gemacht. Aber auch die Ärzte werden ihre Geschäfte mit diesen Menschen machen können.

Gegen die Perspektive des Abschlusses zivilrechtlicher Verträge wird erklärt: Ärzte sind keiner Unternehmer. Ich sage demgegenüber: Wer die Verantwortung für das Leben seiner Patienten übernehmen kann, der hat auch das intellektuelle und seelische Handwerkszeug, um sein eigenes Leben wirtschaftlich zu beherrschen.

Betrachten Sie also nach allem nüchtern Ihre eigene wirtschaftliche und rechtliche Situation als Kassenärzte. Und dann denken Sie bisweilen an eine jahrhundertealte indianische Weisheit: „Wenn du merkst, daß das Pferd, das du reitest, tot ist – dann steig ab!

1 Lenins Ideen und Werk sind unsterblich, Thesen des Zentralkomitees
der KPdSU zum 100. Geburtstag Wladimir Iljitsch Lenins, APV-Verlag,
Moskau 1970, Seite 33 f.
2 BVerfG NJW 2001, 1797 [1780]
3 LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. vom 13.09.2006 L 3 Ka 90/05 (dort
Seite 23)
4 vgl.: „Lenin und der Kassenarzt“ bei www.make-love-not-law.com
5 Friedrich August von Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, Neuausgabe Tübingen, 4. Auflage 2004, Seite 96 f.
6 Karl R. Popper, die offene Gesellschaft und ihre Feinde, UTB-Ausgabe, Band 2 Seite 161
7 zitiert nach Hayek, ibid. Seite 41
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