Udo di Fabio: Die Kultur der Freiheit, München 2005, Verlag C.H. Beck

Die grundlegenden Ideale moderner westlicher Staates – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – kamen nicht aus dem Nichts. Sie wurden im Gegenteil gleichsam organisch geboren aus einer gewachsenen und wachsenden Kultur. Ordnungen und Traditionen der konkreten abendländischen Kultur gehen den rechtlichen und staatlichen Ideen des Westens also bereits zeitlich voran. Gesellschaftsrelevantes Handeln innerhalb dieser Gemeinschaften basiert aber zugleich auch systematisch unausweichlich stets auf den Werten genau dieser Kultur.

Was, fragt Udo di Fabio nun, geschieht mit einer Gesellschaft, wenn sie ihre kulturellen Wurzeln vergißt oder sie – im Ringen mit ihrer bisweilen auch tragisch fehlgedeuteten Geschichte – verleugnet? Haben eine Gemeinschaft und ihr Staat, im Inneren wie nach außen, noch eine Zukunft, wenn sie elementare kulturelle Grundvoraussetzungen ihres Zusammenlebens verkennen oder nur gering achten? Seine These, daß die Kultur einer Nation gleichsam die Folie ist, auf die jedwede juristischen Thesen erst geschrieben werden, reiht der Bundesverfassungsrichter di Fabio sowohl in historische wie völkerrechtliche Kontexte.

Auf ersten oberflächlichen Blick könnten seine Erörterungen als bloße Kritik an den Deutschland und Europa bis heute prägenden gesellschaftlichen Dekonstruktionen der ‚68er‘ erscheinen, die den autoritären Staat zu bekämpfen vorgaben, seine Herrschaftsansprüche jedoch im Ergebnis gerade intensivierten. Sein deutliches Eintreten für Ehe, Familie und insbesondere für Kinder als ebenso unverzichtbaren, wie positiven und elementaren Urzellen jedes menschlichen Zusammenlebens bürstet die obwaltende political correctness zudem ebenfalls heftig gegen den Strich. Aus ersten Schnellschußkommentaren war dann auch tatsächlich zu vernehmen, di Fabio wolle zurück in den behaupteten deutschen Muff und Mief der 1950er Jahre. Wer di Fabio indes so liest, hat ihn deutlich mißverstanden. Es geht ihm gerade nicht um das bloße Wiederaufkochen einzelner historischer Perioden, sondern im Gegenteil um eine selbstbewußte Fortentwicklung grundlegender Werte und Traditionen zur Schaffung einer neuen Bürgerlichkeit, die sich – in klarer Öffnung auch zu Lebensformen ohne jedes klassische Vorbild – in Vielfalt und Kraft ihre eigene weltoffene Zukunft erschließt.

Auf der Einsicht, daß kein noch so regelungseifriger Staat mit den anspruchsvollsten sozialmechanistischen Illusionen je denjenigen bürgerlichen Kitt wird schaffen können, der eine Gesellschaft auf Dauer in ihrem Innersten zusammenhält, beruht sein Plädoyer für eine kulturelle Wende sowohl in Deutschland, wie im Westen insgesamt. Was aber ist der zentrale kulturelle Gemeinschaftshorizont, der alles verbindet? Ist es der herrschende Egalitarismus im Ergebnis, der alle und alles gleichzumachen trachtet? Oder ist es die Freiheit des Individuums, die aus seiner Menschenwürde als der einzigen Quelle jeder westlichen Herrschaftslegitimation teils gesetzt, teils deduziert ist?

Di Fabio optiert für die Freiheit, und er tut es mit besten Gründen. Nicht nur, daß unsere geschriebene Verfassung die Freiheit systematisch noch vor die Gleichheit gesetzt hat, sondern insbesondere auch die Erwägung, daß der individuelle personale Achtungsanspruch eines jeden Menschen für sich selbst dessen generelle Vergesellschaftung praktisch verbietet, ist Ursache dieser Erkenntnis. Mehrfach weist di Fabio beispielsweise darauf hin, daß die Scheingleichheiten des unsäglichen ‚Antidiskriminierungsrechtes‘ in Wahrheit nichts anderes sind, als Fehldeutungen der Gleichheitsmaxime und tragische Rückfälle in vormoderne Entwicklungsstände. Nicht Gruppen von Menschen müssen gleich sein, sondern alleine einzelne Menschen mit ihrer jeweiligen individuellen Würde sind der Maßstab. Mit Verwunderung stellt di Fabio auch fest, wie leise die mediale Kritik an solcherlei Abwegen bislang ist, namentlich, wenn übernationale Instanzen vom Weg der Freiheit abirren. Es mag die Freiheit bisweilen ihre Härten haben, aber sie hat gerade auch eine unersetzbare Anziehungskraft. Die läßt sich nicht leugnen, sobald man die gewachsene Kultur als Voraussetzung des europäischen Menschenbildes verstanden hat und beachtet.

Mit seinem Einstehen für die Freiheit als dem zentralen Wert europäischer Staatlichkeit verbindet sich bei di Fabio allerdings mitnichten eine landläufig gerne als „soziale Kälte“ diffamierte Geisteshaltung. Vielmehr webt er seinen Freiheitsbegriff in ein System der individuell gewählten und effektiv gelebten Bindungen der Menschen untereinander. Denn nur derjenige, der die kulturelle und in lebensweltlicher Vernunft erprobte Gemeinsamkeit von Menschen erfaßt und erlebt hat, kann seine Traditionen beherrschen, um Freiheit zu gestalten. Nicht Umverteilung, sondern nachvollziehbare Gegenseitigkeit in Geben und Nehmen ist das Elexier, aus dem jede funktionsfähige Gemeinschaftlichkeit sich nährt. In diesen Zusammenhang fügen sich die deutlichen Hinweise, daß alles „Soziale“ seine Wurzel gerade nicht in der Gleichheit, sondern in der Brüderlichkeit findet und daß die geradezu essentiell gewordenen, immensen Erwartungshaltungen an den bundesdeutschen Staat schlicht das Symptom einer korrekturbedürftigen deutlichen Fehlleitung ihres kulturellen Systems sind. Dieser Korrekturbedarf folgt nach di Fabio nicht selten aus den von ihm vielfach skizzierten Paradoxien einzelner Theorieansätze. So gerät das durch alle Definitionen, Geschichten und Systeme allgegenwärtige Paradox gleichsam zum zweiten Leitmotiv seiner Darstellungen.

Es wäre – neben dem ungeheuer spannenden Projekt, das geltende deutsche Arbeitsrecht mit den Grundsätzen des von di Fabio beschriebenen Gegenseitigkeitsprinzips abzugleichen – von einigem Interesse, die greifbaren Parallelen im Denken einerseits Udo di Fabios und andererseits Hans-Hermann Hoppes oder Roland Baaders näher zu beleuchten. Denn auch deren konsequentes Eintreten für juristische Freiheit und ausgeweitetes Zivilrecht basiert bekanntlich maßgeblich auf traditionellen christlichen Werten. Nicht zuletzt aber die Feststellung, daß das Vertrauen auf Freiheiten mit Udo di Fabio einen Vertreter bei dem Bundesverfassungsgericht gefunden hat, stimmt vorsichtig zuversichtlich, daß die Ideale der Freiheit anstelle der Intensivierung allen Etatismus in Deutschland vielleicht doch noch nicht tot sind.

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