Eine Besprechung und Zusammenfassung der Studie „Wandlungen des Neoliberalismus“ des F.A.Z.- Wirtschaftsredakteurs Philip Plickert, Stuttgart, 2008
Wer verstehen möchte, was Liberalismus ist, der muß sich mit seiner Geschichte auseinandersetzen. Insbesondere die diversen Ausprägungen des sogenannten Neoliberalismus lassen sich nur erfassen, wenn man die Entwicklung des Liberalismus in einem weiteren historischen Kontext betrachtet. Die Erforschung dieses Aspektes der Menschheitsgeschichte kommt seit dem Jahr 2008 an einem Werk nicht vorbei: Philip Plickert hat mit seiner Studie zu den „Wandlungen des Neoliberalismus“ nicht nur ein detailfreudiges und quellenmächtiges Werk vorgelegt, sondern insbesondere in großer Nüchternheit wirtschafthistorisches Faktenmaterial zur Sache zusammengetragen. An die Stelle von vielerlei Kommentierungen oder umschreibenden Wertungen setzt Plickert auf die blanke Abbildung des tatsächlich Geschehenen. Der Gewinn für den Leser kann größer nicht sein.
Der Titel des Buches – „Wandlungen des Neoliberalismus“ – gibt den Duktus der Darstellung vor. Zunächst erklärt Plickert, was Liberalismus ist und aus welchen historischen Quellen er herrührt, bevor er sich dann dem Phänomen „Neoliberalismus“ nach dessen Entstehung und Entwicklung widmet. Daß es sich bei alledem um menschliche Ideengeschichte handelt, wird nicht zuletzt deswegen deutlich, weil – gleichsam als rotem Faden – die intellektuellen Auseinandersetzungen namentlich der Mont Pèlerin Society den Hintergrund der gesamten Studie bilden.
Getreu seiner Darstellungslogik zeichnet Plickert zunächst nach, wie es historisch überhaupt zum Aufkommen des klassischen Liberalismus kommen konnte. Dessen Wurzeln in der Industriellen Revolution und in der Befreiung des Individuums von den absolutistischen und merkantilistisch-interventionistischen Wirtschaften der vorindustriellen Epochen wird geistesgeschichtlich umrissen. Die noch in mittelalterlichen Vorstellungen befangen gewesenen Ordnungsgedanken, aller Reichtum auf Erden bestehe in fest gefügten Quantitäten und was des einen Gewinn sei, müsse des anderen Verlust werden, prägten dieses Bild. Erst Adam Smith stellte dieser Auffassung die Erkenntnis entgegen, daß schöpferische Arbeit des Menschen völlig neuen Reichtum schaffen und mehren könne. Damit wurde eine wirtschaftlich völlig neue Dimension eröffnet, die allerdings schon kurz danach mit den Theoretikern der Französischen Revolution wieder eine maßgebliche Einschränkung erfuhr. Während einerseits in Amerika Benjamin Franklin die Einmischung der Regierung in den Handel beenden wollte und auch in Deutschland der Freiherr von Hardenberg die Fesseln der Bürokratie zu Gunsten eines Aufschwungs menschlicher Tätigkeit zerbrechen wollte, träumten die französischen Jakobiner bereits von einer Umgestaltung der Gesellschaft nach technischen Plänen auf dem Reißbrett.
Im Gefolge dieser Umbrüche und der daraus folgenden Freiheiten für den einzelnen entwickelte sich das gesamte 19. Jahrhundert zunächst zu einer Zeit des permanenten wirtschaftlichen Wachstums. Zeitgleich erlebten jedoch viele Menschen, die vor dem Hunger auf dem Land zu den Arbeitsmöglichkeiten in den Metropolen flüchteten, den Verlust ihrer vorherigen familiären und gesellschaftlichen Bindungen. Es entstand in der Folge das, was Plickert die „Sehnsucht nach neuer Geborgenheit“ nennt.
Zur Befriedigung dieses Bedürfnisses nach Geborgenheit und Sicherheit schwangen sich interventionistische Theorien auf. Sie erklärten, dem einzelnen nicht nur seine neu gewonnene Freiheit zu belassen, sondern sie ihm durch Zuteilung weiteren fremden Vermögens erst substantiell zu ermöglichen. Analog zu den unbestreitbaren technischen Fortschritten aus rationalem menschlichen Handeln wurde jetzt versprochen, die gesamte Gesellschaft nach derartigen wissenschaftlichen Kriterien auch wirtschaftlich und sozial zu ordnen, um die Sehnsucht nach Geborgenheit und Sicherheit befriedigen zu können. Selbst in den USA, die planwirtschaftlichen Experimenten bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts traditionell skeptisch gegenüber standen, gewann diese Art des wirtschaftlichen Interventionismus zügig an Einfluß. Während in Europa der Terminus der „Wissenschaftlichkeit“ staatlichen Eingriffen zunehmend zur Legitimation diente, wählten die interventionistischen Vordenker Amerikas den Begriff des „Liberalen“ zum Vortrieb progressiver und korporativer Wirtschaftsmodelle. Ebenso wie zuvor der Freiheitsbegriff wurde also nun der Begriff des Liberalen terminologisch in sein Gegenteil verkehrt; Freiheit sollte erst als Ableitung von staatlicher Aktivität möglich werden und liberal sollte erst diejenige Politik sein, die menschliches Wirtschaften steuernd beherrschte.
Obwohl in Europa Ludwig von Mises den sozialistischen Planungsphantasien bereits 1920 eine intellektuell gleichsam vernichtende logische Kritik entgegensetzte, fand John Maynard Keynes mit seinen populären Thesen über ein staatlich gesteuertes „demand management“ dort zunehmend Gehör. Der Staat nahm mehr und mehr Einfluß auf wirtschaftliche Strukturen und Dynamiken. In den späten 1920iger Jahren indes wurde das internationale Finanz- und Währungssystem zunehmend instabil. Es entbrannte zwischen den verschiedenen Meinungsrichtungen in der Folge ein erbitterter Streit darüber, was die Ursache des Weltwirtschaftszusammenbruches von 1929 gewesen sei: Zuviel staatlicher, inflationärer Interventionismus (namentlich durch die 1913 gegründete amerikanische Zentralbank „Fed“) oder aber die Vorstellung des Interventionismus, Märkte könnten „verrückt spielen“.
In der Diskussion siegte zunächst John Maynard Keynes mit seiner 1936 vorgestellten Theorie über ein „Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung“. Nach seiner Auffassung mußte der Staat notfalls Arbeitslose Löcher graben und anschließend wieder zuschaufeln lassen, um die Wirtschaft zu beleben. Das, was Keynes in der Theorie darlegte, lebte das nationalsozialistische Deutschland seit dem 1. Mai 1933 bereits praktisch vor. Adolf Hitler verkündete an diesem Tag einen Vier-Jahres-Plan zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit. „Subventionen zur Renovierung und zum Umbau von Häusern wurden gewährt, ebenso staatliche Familiengründungskredite und neue Sozialleistungen eingeführt … nochmals mehrere 100.000 Arbeitslose zog die Regierung zum propagandistisch überhöhten Ausbau der Autobahnen heran. … Finanziert wurde diese Aufrüstung mit verdeckter Kreditaufnahme …, später vermehrt auch über die Guthaben von Privatleuten bei Sparkassen, Geschäftsbanken und Versicherungen, die zwangsweise angezapft wurden.“
Eine Schülerin von John Maynard Keynes, Joan Robinson, bewunderte diese Wirtschaftspolitik Adolf Hitlers: „Hitler hatte bereits herausgefunden, wie man Arbeitslosigkeit kurierte, bevor Keynes mit der Erklärung fertig war, warum sie eintrat“. Diese ideologische Verwandtheit zwischen Hitlers nationalem Sozialismus und den Interventionstheorien von Keynes‘ veranlasste Henry C. Simons im Jahre 1936 zu der Polemik, Keynes laufe Gefahr, mit seiner Theorie „die ökonomische Bibel einer faschistischen Bewegung“ geliefert zu haben. Bald jedoch wurde schon deutlich, daß der Weg zum totalitären deutschen Staat insbesondere von denjenigen gut gepflastert worden war, die der Staatsgewalt schon vor 1933 immer weitere Interventionsinstrumentarien zur Verfügung gestellt hatten.
In der generellen Rezeption war zu diesem Zeitpunkt praktisch in der gesamten entwickelten Welt nach 1929 die Auffassung vorherrschend, es müsse die Aufgabe des Staates sein, wirtschaftliche Aktivitäten so zu lenken und zu kontrollieren, daß es nicht zu – andernfalls unvermeidlichen – wirtschaftlichen Zusammenbrüchen komme.
Der hierdurch weithin in die argumentative Defensive getriebene Liberalismus mußte sich folglich argumentativ neu konstituieren. Im Abrücken von einem klassisch liberalen „Laissez-faire“ begründete Alexander Rüstow im September 1932 den Gedanken von einer „dritten Möglichkeit“ zwischen planwirtschaftlicher Steuerung einerseits und wirtschaftlichem Laissez-faire andererseits; er forderte einen „liberalen Interventionismus“. Schon zu diesem Zeitpunkt – 1932 – allerdings wurde klar, daß diese staatlichen Interventionen in das gesellschaftliche Wirtschaften zu einem tragischen „Verflechtungsprozeß von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft“ einmünden müssen. Und Walter Eucken warnte, daß ein totaler Wirtschaftsstaat zwangsläufig ein schwacher Staat sein müsse. Wer es allen recht machen will, der kann zuletzt niemandem mehr gerecht werden. Trotz dieser intellektuellen Warnungen nahm weltweit der staatliche Interventionismus zu. In den USA setzte Franklin Delanoe Roosevelt seinen „New Deal“ um. Zugleich blickten amerikanische Intellektuelle wirtschaftlich neidvoll nicht nur – wie die Keynes-Schülerin Joan Robinson – auf faschistische Sozialmaschinen, sondern auch auf das vermeintliche sowjetische Produktionswunder. Langsam nur erwachte in Kreisen kritischer Ökonomen der Zweifel, ob diese eingeschlagenen Wege interventionistischen und kollektivistischen Wirtschaftens der Königsweg sein könnten. Gerade weil planwirtschaftliche Gesellschaften abgeschlossene Territorien bevorzugen, sah man die Gefahr, daß der Traum von einem internationalen Sozialismus dem Albtraum eines nationalen Sozialismus würde weichen können.
Im August 1938 trafen daher 26 Journalisten, Ökonomen und Unternehmer zu einem Kolloquium zusammen, um das Buch „The Good Society“ des Journalisten Walter Lippmann zu diskutieren. Dieses Buch war eine Streitschrift gegen den Totalitarismus und gleichzeitig eine Kampfschrift gegen den „graduellen Kollektivismus“ des New Deal in den USA. Alle dort Versammelten gingen jedoch im wesentliche davon aus, daß der Liberalismus Abschied vom Laissez-Faire nehmen müsse; erforderlich sei etwas „gänzlich Neues“, für das man sich schließlich auf den Begriff des „Neoliberalismus“ einigte. Dieser sollte ein positives Programm gegen die marktfeindliche, kollektivistische Rebellion darstellen. Die Bezeichnung „Liberalismus“ wurde zu diesem Zeitpunkt überwiegend für nicht mehr zeitgemäß erachtet.
Das Kolloquium Walter Lippmann eröffnete damit gleichsam die Diskussion zwischen den Vertretern verschiedener Schattierungen jenes „Dritten Weges“ namens Neoliberalismus, der eine Art Synthese zwischen Laissez-Faire und Interventionismus schaffen wollte. In jenen Diskussionen liegen nicht nur die Wurzeln des sogenannten „Ordoliberalismus“ der Freiburger Schule begründet, sondern auch die Konzeption der „Sozialen Marktwirtschaft“, die nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland von Bedeutung werden sollte. Den Unterschied zwischen Ordoliberalismus einerseits und sozialer Marktwirtschaft andererseits hat Michael von Prollius dahin charakterisiert, daß ersterer eher „regelorientiert“ sei, während die soziale Marktwirtschaft „zielorientiert“ ausgerichtet werde.
Der Zweite Weltkrieg brachte die intellektuelle Diskussion über den Neoliberalismus praktisch völlig zum Erliegen. Erst im April 1947 trafen wiederum Intellektuelle zusammen, um das weitere wirtschaftliche Schicksal ihrer Welt zu diskutieren. Das Treffen am Fuße des Schweizer Berges Mont Pèlerin markierte den Beginn einer jahrzehntelangen, intellektuell anspruchsvollen Diskussion. Maßgeblichen Anteil an dieser Entwicklungslinie hatten die Gedanken Friedrich August von Hayeks, der im Markt eine spontane Ordnung entdeckte, die eine Koordinierung all jenes Wissens erlaube, das niemals konzentriert einem einzigen Entscheider zur Verfügung stehe, sondern stets über Millionen von Individuen verstreut liege. Diesen Kräften gelte es den Vorrang vor staatlichen Planungsspiralen einzuräumen. Die Diskutanten fanden sich in stringenter historischer Entwicklung namentlich zu den Warnungen Tocquevilles, der bereits mehr als 100 Jahre zuvor prophetisch vor einem sich ausbreitenden Versorgungsstaat gewarnt hatte, der nicht nur eine milde und friedliche Knechtschaft entwickeln werde. Dieses Gefahrbewußtsein hatte zum damaligen Zeitpunkt – nach dem Zweiten Weltkrieg – auch einzelne Politiker bereits erreicht. Churchill warnte 1945 zur britischen Unterhauswahl – wörtlich – vor einer „Vergottung des Staates“. Das in die Diskussion geführte Argument für einen „Dritten Weg“ schien Hayek nicht überzeugend. Er plädierte für den Mut, die alten Ideale des klassischen Liberalismus und Individualismus anzuerkennen und zu verteidigen. Das politische Klima für die Schaffung von Strukturen nach diesen Einsichten war jedoch direkt nach dem Zweiten Weltkrieg denkbar schlecht. Die kriegsmüden Völker entschieden sich für einen scharfen Linksruck ihrer Politik. Friedrich August von Hayek entschied daher, die Arbeit der Mont Pèlerin Society nicht primär auf das politische Tagesgeschäft zu konzentrieren, sondern – gleichsam als Vorbereitungsmaßnahme – die intellektuelle Herrschaft unter den besten Köpfen für Freiheit und gegen Interventionismus zu gewinnen. Gleichwohl wußte Hayek, daß es ein fataler Fehler des Liberalismus im 19. Jahrhundert gewesen war, die Politik zu ignorieren. In Anerkennung dieser Zwangsläufigkeiten tendierte Hayek zu dieser Zeit zu dem Konzept eines Ordoliberalismus. Nahrung fanden diese Überlegungen nicht zuletzt in den Sozialenzykliken der katholischen Kirche aus den Jahren 1891 und 1931, die zwar einen Ausbau staatlicher Sozialprogramme befürworteten, die kapitalistische Wirtschaftsweise aber als „in sich nicht schlecht“ bezeichneten.
In den folgenden Jahren trafen Politiker und Wissenschaftler in zunehmender Häufigkeit, zuletzt jedes Jahr, weltweit zu Treffen zusammen. Die Idee einer positiven liberalen Utopie, die gegenüber Meinungseliten mutig vertreten werde, gewann an Boden. Gleichzeitig entwickelten sich unterschiedliche Strömungen innerhalb der Mont Pèlerin Society. Während die einen eher regelorientiert staatliche Maßstäbe setzen mochten, entwickelte sich eine andere, vornehmlich amerikanische Fraktion an den puristischen Ideen Ludwig von Mises. In ihrem Selbstverständnis mußte das Wirtschaften stets den Vorrang vor dem Politischen haben. Dies markierte ihren libertären, puristisch-marktwirtschaftlichen Standpunkt.
Über das intellektuelle Niveau, auf dem in der Mont Pèlerin Society der „Neoliberalismus“ und seine verschiedenen Schattierungen diskutiert wurden, geben verschiedene Gradmesser eloquent Auskunft. So hatten die Ökonomen der Gesellschaft mehr als zwei Jahrzehnte vor dem Auftreten des Phänomens der sogenannten „Stagflation“ deren Herannahen befürchtet und vor ihm gewarnt. Als Folge einer ununterbrochenen keynesianischen Vollbeschäftigungspolitik erschien dieses Phänomen unausweichlich. Grundlegend für die Arbeit war eine Verständigung darüber, was überhaupt „Markt“ sei und wie dieser wettbewerbspolitisch in Konkurrenz und Dezentralisierung als normativen Zielen sichergestellt werden könne. Die Diskussionen über die Rolle des Staates in Anbetracht dieser Marktmodelle trugen über Jahre und Jahrzehnte Früchte. Gleichwohl wurde der intellektuelle interne Kampf um den richtigen Weg hart geführt. Nachdem zunächst Hayek eine faktische Führerposition innerhalb des intellektuellen Zirkels der Mont Pèlerin Society gehabt hatte, war es anschließend maßgeblich Milton Friedman, der die informelle Führerschaft der Gesellschaft übernahm. Ihm kam die Rolle zu, den – wie man annahm – orthodoxen Keynesianismus ein für alle mal umzuwerfen. Im Nachhinein wundert, daß es rund ein Jahrzehnt dauerte, bis sich die Erkenntnis eines proportionalen Zusammenhanges zwischen Geldmengenexpansion und Geldwertverminderung in das allgemeine politische Bewusstsein durchsetzte. Die Frage wurde zunehmend, welches das richtige Geldsystem sei, um eine Wirtschaft auf Dauer zu stabilisieren. Puristische Liberale wie Ludwig von Mises vertraten fest den Standpunkt, es sei einzig der Goldstandard, der diese Sicherheit verschaffe. Insbesondere das zwischenzeitlich etablierte System von Bretton-Woods sei nicht geeignet, die Wiederholung von Währungskatastrophen zu verhindern.
Friedman vertrat die These, neoliberale Sozialpolitik müsse sich nicht als Gegensatz zur Marktwirtschaft verstehen, sondern als deren Ergänzung. Auf diese Weise lasse sich auch das Stigma überwinden, liberale Politik sei „unsozial“. Eine Endideologiesierung der Arbeiterbewegung erfordere Aufklärungsarbeit. Ein Mensch habe seine personale Würde nur dann, wenn er frei sei, Entscheidungen zu fällen; Massenfürsorgebetriebe entwürdigten den Menschen zu einem „schweifwedelnden Haustier“ formulierte Röpke. Den Befürwortern interventionistischen Wirtschaftens hielten dessen Kritiker entgegen, die Organisationsform einer jeden Planwirtschaft sei auf Dauer stets eine Diktatur.
Bei der Auseinandersetzung mit den Gefahren der Plandiktatur geriet mehr und mehr das fürsorgestaatliche Vokabular des „Sozialen“ in den Mittelpunkt des Interesses. Es legte sich wie ein „goldener Nebel“ (Hayek) über alle Debatten. Der Wunsch nach „sozialer“ Korrektur der Ergebnisse marktwirtschaftlichen Tauschens gefährdete jedoch nach den hellsichtigen Prophezeiungen nicht nur Hayeks im Kern den gesamten Rechtsstaat. Insbesondere für die Altersvorsorge sah Hayek bereits 1960 das kommende bundesrepublikanische Chaos voraus; Plickert formuliert: „Äußerst negativ beurteilte Hayek die Entwicklung der staatlichen Altersfürsorge in westlichen Ländern. Erst zerstöre der Staat durch inflationistische Politik die Möglichkeiten einer eigenverantwortlichen Kapitalbildung für das Pensionsalter. Dann degradiere er die Bezieher umlagefinanzierter Renten zu Geschenkempfängern, deren Ansprüche unsicher seien.“
Spätestens seit der „Rentenreform“ des Jahres 1957 ahnten die Neoliberalen, daß der Weg des Wohlfahrtsstaates eine Einbahnstraße sein werde. Der damit zugleich begründete Bürokratieapparat werde sich als äußerst beseitigungsresistent erweisen. Die Warnungen dieser Jahre blieben jedoch im Konzert der internationalen Diskussion ungehört. Der schwedische Sozialist Gunnar Myrdal formulierte 1956, daß die zentrale Planung als erste Vorbedingung für allen Fortschritt empfehlenswert sei. Hierbei stützte er sich insbesondere auf die Erfolgsmeldungen Moskauer Statistiken zum Sowjetstaat, die er als richtig unterstellte.
Wilhelm Röpke unterdessen sah zeitgleich bereits die Gefahren einer Überbürokratisierung der gerade beginnenden europäischen Gemeinschaft. Bereits im Hinblick auf die Montanunion warnte er, hier entstünden administrative Vorstufen zu einem – so wörtlich – „Superstaat“. Tatsächlich wurde bald offenbar, daß die paradoxen Verflechtungen des überall eingreifenden Interventionsstaates widerstreitende nationale Interessen in groteske Situationen brachten. Harmonisierungsphantasien innerhalb Europas führten unter anderem dazu, daß aus Frankreich die Forderung erhoben wurde, die boomende westdeutsche Wirtschaft müsse durch eine Verkürzung von Arbeitszeiten und einer Verlängerung von Jahresurlauben für deutsche Arbeitnehmer so eingebremst werden, daß sie die französische Wirtschaft nicht dauerhaft überhole. Diese Kollisionen der 1950er Jahre nahmen vorweg, was auf geldpolitischem Gebiet in den 1980er Jahren den Streit zwischen einerseits Frankreich und Italien und andererseits Deutschland prägte; Plickert formuliert: „Da Paris und Rom die ökonomisch gebotene Abwertung von Franc und Lira aus politischen Gründen zu vermeiden suchten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich effektiv der auf Währungsstabilität bedachten Geldpolitik der deutschen Zentralbank anzuschließen. Sie sahen dies als demütigende Unterwerfung, entsprechend unbeliebt war die Bundesbank bei vielen europäischen Konkurrenten“.
Die Spätwirkungen der nationalen sozialistischen Währungspolitik bis 1945 hatten Ludwig Erhard 1948 gezwungen, eine „massive Reduzierung des monetären Überhangs“ vorzunehmen. Durch die Währungsreform des 20. Juni 1948 erhielt jeder Bürger ein Kopfgeld von DM 40,–; darüber hinaus aber machte die Reform 90% der alten Barbestände und rund 93,5% der Bankguthaben auf Reichsmark mit einem Schlag ungültig. Der Vordenker der katholischen Soziallehre in Deutschland, Oswald von Nell-Breuning, stimmte dieser Vorgehensweise zu, weil eine marktwirtschaftliche Ordnung eher der menschlichen Moral entspreche. Systeme der Zwangsverwaltungswirtschaft zwängen Menschen, ihren eigenen Interessen zuwiderzuhandeln. Dies gelte es zu verhindern.
Kurz nachdem die spätere „Zeit“-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff formuliert hatte, Gott möge Deutschland davor schützen, daß Ludwig Erhard Wirtschaftsminister werde, weil dies „nach Hitler und der Zerstückelung Deutschlands die dritte Katastrophe“ wäre, zog die Produktion innerhalb Westdeutschlands binnen eines halben Jahres um 50% an. Die Erkenntnisse dieser Zeit befruchteten innerhalb der SPD die Schaffung des „Godesberger Programmes“ von 1959, mit dem Wirtschaftssenator Karl Schiller den „dritten Weg in eine sozialistische Marktwirtschaft“ beschreiten wollte.
Gleichwohl verging sich die westdeutsche Politik in Ansehung des wirtschaftlichen Aufschwunges zunehmend an allen wirtschaftspolitischen Rationalitäten. Die Rentenreform des Jahres 1957 brachte Rentensteigerungen zwischen 65% und 72%. Kritiker sahen hierin „das Ende der sozialen Marktwirtschaft“. Eine ähnliche radikale Steigerung von Bezügen sollte Deutschland unter der Regierung Willy Brandt zwischen 1970 und 1972 wieder erleben, als die effektiven Einkommen je Beschäftigten um rund 40% stiegen. Konsequenz dessen sollte sein, daß die Teuerungsrate 1972 in Deutschland über dem Durchschnitt der gesamten industrialisierten Welt lag. Doch die Verlockungen für Politik und Bürokratie, sich geneigte demokratische Mehrheiten durch umverteilende Wohltaten zu erkaufen, waren größer, als jede mathematische Beherrschung und alle wirtschaftliche Vernunft.
Frankreich entwickelte unter den militärischen Vorstellungen De Gaulles eine starke zentrale Planung unter dem Begriff der „indikativen Planung“, die – anstelle der sowjetischen Vorgehensweise – keinen Zwang, sondern Anreize und sanften Druck ausüben wollte. Auch in Großbritannien war die Wirtschaftspolitik nach 1945 davon geprägt, dem allgemeinen Wunsch nach sozialer Sicherheit, nach ökonomischer Teilhabe und größerer Gleichheit durch materielle Umverteilung nachzukommen. England orientierte sich hierbei weniger an den westdeutschen Vorbildern, als vielmehr an Frankreich. Auch die USA beschritten unter der Präsidentschaft John F. Kennedys den Weg des Keynesianismus. Erst als auch die USA die unausweichlichen wirtschaftlichen Auswirkungen derartiger Politik schmerzhaft zu spüren begannen, gelang es unter anderem Ronald Reagan, sich für Freiheit statt Totalitarismus Gehör zu verschaffen. Reagan erklärte: „Es gibt nur ein Aufwärts oder ein Abwärts: Aufwärts zum uralten Traum des Menschen, zur endgültigen individuellen Freiheit im Einklang mit Recht und Ordnung – oder abwärts zum Ameisenhaufen des Totalitarismus.“
Während die intellektuellen Vordenker des Neoliberalismus zunehmenden Konsens über ihre Vorgehensweise gewonnen hatten, bildeten einerseits Frankreich und anderseits Westdeutschland auch empirischen Beleg für die Richtigkeit ihrer Plädoyers für Marktbefreiungen. In den späten 60er Jahren beschlossen daher die Mitglieder der Mont Pèlerin Society, den Diskurs offensiver zu eröffnen. Überrascht allerdings waren sie von den Revolten der 1968er, deren Freiheitsverständnis von merkwürdigen Ambivalenzen und Widersprüchen geprägt waren. Plickert schreibt: „Zwar zeigten die Wortführer der Studentenbewegung eine ostentative Abneigung gegen den Staat und seine Institutionen, gleichzeitig aber forderten sie soziale ‚Rechte‘, also wohlfahrtsstaatliche Versorgungsansprüche … Bedeutend … war, daß der bislang außerhalb linksradikaler intellektueller Zirkel geltende antikommunistische Konsens aufzuweichen begann.“
Trotz der unbestreitbaren Erfolge der Wirtschaftspolitik Ludwig Erhards schwenkte die westdeutsche Politik Ende der 1960er Jahre um zum Keynesianismus. Die Zauberbegriffe lauteten „Globalsteuerung“ und „Konvergenztheorie“. In jenem Zirkel glaubte man, die östlichen Planwirtschaftssysteme und die westlichen, freiheitlicheren Systeme ließen sich auf Dauer „einebenen“. Der niederländische Ökonom Jan Tinbergen meinte gar, es könne keine kapitalistische und sozialistische Wirtschaftstheorie geben, weil es ‚für Ost und West auch nur eine Physik gibt“.
Während sich in den USA auch Präsident Richard Nixon bald als Keynesianer bezeichnete, brach die keynesianische Wirtschaft in Großbritannien zunehmend zusammen. Intellektuelle liberale Vordenker in England kehrten daher zurück zur Forderung einer „Marktwirtschaft ohne Adjektiv“. Sie erklärten, die Rede vom „sozialen Markt“ sei letztlich ein Unglück gewesen. Die Arbeit dieser Vordenker in Großbritannien blieb nicht ohne Erfolg. Die keynesianische Regierung der Labour Party wurde bei den Wahlen am 3. Mai 1979 – wie Plickert formuliert – „regelrecht weggespült“. Die anschließend organisierte Streikwelle der britischen Gewerkschaften stürzte das Land in eine tiefe Krise. Gleichwohl bestand Margaret Thatcher auch diese. Sie schrieb in ihren Erinnerungen: „Was die Streikniederlage klarstellte war, daß Britannien nicht unregierbar gemacht werden konnte durch eine faschistische Linke.“
Innerhalb der Mont Pèlerin Society setzte sich zunehmend die Erkenntnis durch, daß es falsch sei, wenn Regierungen die Ergebnisse von freiwilligen Tauschakten am Markt – aus vermeintlich sozialen Gründen – zu modifizieren trachteten. Es wurde auch klargestellt, daß eine „Marktmacht“ etwas sei, wovon man zwar reden könne, was es aber in der wirklichen Welt nicht gebe. Denn im Wirtschaftsleben entsteht keine Machtposition, es sei denn, der Staat delegiert seine tatsächliche Macht an wirtschaftliche Agenten. In verständlicher Sprache sollte nunmehr ein „Marketing für den Markt“ umgesetzt werden. Margaret Thatcher proklamierte den Beginn der Ära eines „Volkskapitalismus“. Über die Auswirkungen ihrer liberalen Befreiungspolitik geben diverse volkswirtschaftliche Kennzahlen beeindruckend Auskunft. So fiel die britische Arbeitslosenquote auch noch nach dem Ende der Ära Thatcher bis zur Jahrtausendwende auf nur noch 3%. Damit war erstmals seit Jahrzehnten inflationsfreie Vollbeschäftigung erreicht.
Auch in den USA brach sich unter der Präsidentschaft Ronald Reagons die Erkenntnis Bahn, daß niedrige Steuern Wachstumsschübe auslösen, die sogar ein entgleistes Verhältnis von Geld zu Gütermenge wieder heilen konnten. Problematisch allerdings blieb, daß eine derartige Marktwirtschaft keine Politiker benötigt. Problematisch blieb weiterhin, daß ein Staat das Geld, das er einmal eingenommen hat, stets auch sofort gerne wieder ausgeben möchte. Die Verlockungen, „sozial“ sein zu wollen, sind für einen Staat in dieser Situation offenbar unwiderstehlich. Plickert zitiert den amerikanischen intellektuellen George Gilder: „Indem man die materiellen Umstände randständiger Gruppen durch staatliche Fürsorge erleichtere, werde zugleich deren Wille zur Selbsthilfe gelähmt. Die Empfänger von Sozialleistungen … würden gar Opfer der guten Absicht handelnder Sozialbürokratie“.
Trotz dieser Erkenntnisse blieb die Schwerkraft gegen politische Korrekturen erheblich. Die staatsfixierte französische politische Klasse setzte nach dem Triumph Francois Mitterands’ 1981 zunächst wiederum auf staatliche Interventionen, die erst nach erheblichen Abstürzen der eigenen Währung korrigiert wurden. Sein Nachfolger, Jacques Chirac, erkannte den Begriff der sozialen Gerechtigkeit schließlich als ein „trojanisches Pferd“. Auch in Deutschland drängte die Opposition des Jahres 1981 massiv auf Kurskorrekturen, nachdem die deutsche Staatsquote sich seit Antritt der sozialliberalen Koalition in gut 10 Jahren von 38% auf über 48% erhöht hatte. Die Versuche der Regierung Kohl, das Ruder herumzureißen, blieben jedoch halbherzig. Insbesondere im Zusammenhang mit dem Beitritt der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik kam es zu weiteren Exzessen staatlicher Umverteilung. „Etwa jede dritte Mark, die der Osten ausgab, stammte aus dem Westen – erneut eine Widerlegung der keynesianischen Theorie“ schreibt Plickert.
Bundeskanzler Helmut Kohl, der dieses Scheitern seiner Wiedervereinigungspolitik zu verstehen begann, wandte sich mehr und mehr der Europapolitik zu. Auch dort jedoch überwogen bereits wieder bürokratisch-interventionistische Theorien alle wirtschaftliche Vernunft. Die Genfer Ökonomin Victoria Curzon-Price warnte, der fundamentale Irrtum vieler Europapolitiker sei, eine Angleichung der wirtschaftlichen und rechtlichen Verhältnisse als Vorbedingung für einen funktionierenden Wettbewerb zu sehen. „Wir sind Zeuge einer erstaunlichen Rückkehr der überholten, diskreditierten, langweiligen Philosophie des umverteilenden Wohlfahrtsstaates, gekleidet in ‚europäische‘ Tücher: Vielleicht kann man es ‚Euro-Sozialismus‘ nennen.“ Wer an diesem Euro-Sozialismus Kritik wage, werde anschließend sogleich als „anti-europäisch“ diffamiert. Tatsächlich blieben auch Geistesgrößen wie Karl Popper weithin ungehört, wenn sie beispielsweise den europäischen Vertrag von Maastricht als „ein schreckliches Dokument“ brandmarkten.
Die Vorstellungen vieler westlicher Ökonomen, es könne mittelfristig zu einem Verschmelzen westlicher und östlicher Ökonomien kommen, basierten wesentlich auf massiv falschen Vorstellungen des Westens über östliche Produktionskapazitäten. Die propagandistisch gefärbten Wirtschaftsstatistiken des Ostblocks hatten wenig Realitätsbezug. Dies wurde von keynesianischen Theoretikern des Westens gemeinhin übersehen. Plickert dokumentiert in der durchgehend nüchternen Art seiner Zusammenstellung auch diese Fehleinschätzung schonungslos: „Dagegen hatte ein Großteil der westlichen Intellektuellen und Experten den geschönten Statistiken der sozialistischen Staaten über Jahrzehnte geglaubt. Im Lehrbuch ‚Economics‘ von Nobelpreisträger Paul Samuelson war noch in der Auflage von 1989 zu lesen, ‚die Sowjetökonomie ist der Beweis, daß im Gegensatz zu dem, was viele Skeptiker früher geglaubt hatten, eine sozialistische Kommandowirtschaft funktionieren und sogar blühen kann‘ … ‚Die Sowjetunion ist weder jetzt noch wird sie im nächsten Jahrzehnt in den Fängen einer echten systematischen Krise sein, da sie sich enormer ungenutzter Reserven politischer und sozialer Stabilität rühmen kann, die ausreichen, um die größten Schwierigkeiten auszuhalten‘ erklärte Seweryn Bialer, ein bekannter Professor der Universität Columbia … Noch 1989 sagte Lester Thurow … über die Sowjetunion: ‚Sie ist heute ein Land, dessen wirtschaftliche Leistungen einen Vergleich mit denen der Vereinigten Staaten aushalten‘.“
Daß im Kern stets nur Politik und Staat wirtschaftlich versagen können, nie aber der Markt, blieb eine Erkenntnis der Debatten, die nur schwer intellektuelles Gewicht gegen eine staatlich-bürokratische Übermacht der Interventionisten gewinnen konnte. Bereits 1981 hatte der Kölner Ökonom Christian Watrin gewarnt, sobald das Ideal der Gleichheit und des unbeschränkten Volkswillens über den Wert der Freiheit des einzelnen gestellt werde, schlage ein System der Mehrheitsherrschaft in Tyrannei um. Das Wachstum eines zum „Leviathan“ degenerierten Wohlfahrtsstaates müsse auch die westlichen demokratischen Länder beunruhigen; hier sei eine Überdehnung und Überlastung des öffentlichen Sektors zu beobachten, bis der Staat zuletzt unter seinem eigenen Gewicht zu kollabieren drohe.
Die Erkenntnisse, die aus den Archiven des zusammengebrochenen Ostblockes gewonnen werden konnten, zeigten nicht zuletzt für Friedrich August von Hayek dies: Der Ausflug der Liberalen weg vom Laissez-Faire hin zu einer dritten Lösung nahe des Interventionismus, jenes Experiment namens „Neoliberalismus“, durfte in weiten Teilen als gescheitert angesehen werden. Hayek kehrte mit seinen Positionen wieder zurück zu denen Ludwig von Mises’. Als die unverzichtbaren Institutionen einer freien Gesellschaft erkannte er Privateigentum und Familie. Beide Säulen sah er „schwer beschädigt“. Staatlich besoldete Sozialarbeiter können die von diesen Schäden gerissenen Lücken niemals angemessen füllen.
Plickert resümiert über Hayeks späten Wandel: „In seinen späten Schriften beschrieb Hayek den Marktprozeß als ein Spiel, in dessen Verlauf wohlstandssteigernde Lösungen entdeckt würden. Allerdings funktioniere das Spiel nur, wenn man nicht am Ende die Regeln … willkürlich ändere oder aufhebe, indem die Ergebnisse des freien Tausches entsprechend einer egalitären Auffassung von Gerechtigkeit korrigiert würden.“
Nach Abschluß einer internationalen, 70-jährigen Debatte dürfte daher heute feststehen: Der Neoliberalismus hat sich überholt. Es lebe der Liberalismus.