Die nächste Pleite wird die letzte sein

Interview „Durchblick Gesundheit

Ärztenachrichtendienst :Herr Gebauer, vor rund drei Jahren haben Sie geschrieben, man könne in Deutschland nicht mehr „Gesundheit“ sagen, ohne gleich auch „Reform“ zu denken. Fühlen Sie sich bestätigt?

Gebauer: Absolut. Alle reden ununterbrochen von einer Gesundheitsreform. Aber je mehr geredet wird, desto ferner rückt die Lösung.

Ärztenachrichtendienst: Was läuft denn falsch?

Gebauer: Unsere Politiker streiten über Detailfragen und verheddern sich dort. Die wirklich wesentliche Frage wird nicht gestellt.

Ärztenachrichtendienst: Wie heißt diese Frage?

Gebauer: Sie lautet: Steht unser gesamtes System der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland überhaupt auf einem vernünftigen rechtspolitischen Fundament? Auf dieseFrage gibt es nämlich nur eine richtige Antwort. Und die heißt: Nein.

Ärztenachrichtendienst: Was ist denn Ihrer Meinung nach fundamental falsch?

Gebauer: Wir lesen täglich zwei Begriffe in der Zeitung: Solidarprinzip und Sachleistungsprinzip. Die meisten Menschen wissen gar nicht, was diese Prinzipien eigentlich besagen, Politiker eingeschlossen. Und dennoch ist man sich bis heute noch immer einig, dass diese Prinzipien nicht angetastet werden dürfen.

Ärztenachrichtendienst: Aber sind diese Prinzipien denn nicht wertvoll? Es geht doch bei beiden darum, dass Reiche und Gesunde für Arme und Kranke einstehen.

Gebauer: Ja. Dieser Anschein wird erweckt. Aber imErgebnis wird genau das Gegenteil erreicht.

Ärztenachrichtendienst: Das müssen Sie erklären.

Gebauer: Das Solidarprinzip besagt, dass jeder nach dem Maßstab seines Arbeitseinkommens Beiträge an seine Krankenkasse einzahlt. Wer gut verdient, bezahlt viel, wer schlechter verdient, weniger. Trotzdem haben alle einen Anspruch auf dieselbe medizinische Hilfe.

Ärztenachrichtendienst: Was, meinen Sie, ist daran falsch?

Gebauer: Falsch ist, dass hierbei jeder medizinische Maßstab fehlt. Wer sagt, dass alle gleich behandelt werden sollen, der muß auch sagen, was denn überhaupt genau gleich sein soll. Im Gesetz steht, jeder bekommt nur das gerade Erforderliche und Notwendige. Im Ergebnis legen also nicht Ärzte, sondern Politiker die Art und den Umfang der Behandlung fest. Damit beherrscht plötzlich die Politik die Behandlung, nicht mehr Arzt und Patient. Ich als Patient finde das beängstigend.

Ärztenachrichtendienst: Aber die Politiker schützen doch auf diese Weise die Armen und sozial Schwachen?

Gebauer: Nein, tun sie nicht. Im Gegenteil. Die Finanzierung des Systems aus einem großen Topf, in den alle je nach Arbeitseinkommen einzahlen, führt zu den aberwitzigsten Konsequenzen: Wenn sich zum Beispiel der bestens verdienend Geschäftsführer einer Aldi-Filiale beim Drachenfliegen den Hals bricht, dann bezahlt die versicherte Aushilfskassiererin mit ihren Beiträgen seine Krankenhausbehandlung, sein Krankengeld, seine Haushaltshilfe und seine Heil- und Hilfsmittel anteilig mit, ohne dass sie selbst mit ihrem Einkommen auch nur einmal in die Nähe eines Drachens kommen könnte! Finden Sie das „gerecht“? Ich nicht.

Ärztenachrichtendienst: Und was stört Sie am Sachleistungsprinzip?

Gebauer: Im wesentlichen zwei Dinge: Zum einen funktioniert es nicht, zum anderen ist es verlogen.

Ärztenachrichtendienst: Warum funktioniert es denn nicht?

Gebauer: Arzt und Patient sprechen – abgesehen von der eher symbolischen Praxisgebühr – nie über Geld. Beide wissen daher nicht, welchen Preis die Leistungen des Arztes haben. Wo und wann sonst im Leben sagt man aber: Geld spielt keineRolle?

Ärztenachrichtendienst: Warum ist das schlecht? Gerade das schützt doch ganz besonders die ärmeren Patienten.

Gebauer: Nein, tut es nicht. Die Versichertenkarte ist nämlich nichts anderes als ein Bezugsschein. Sie wirkt wie eine Lebensmittelkarte im Krieg. Mit solchen Warengutscheinen kann man in Krisengebieten die Bevölkerung kurzfristig vor dem Hungertod bewahren. Auf Dauer führen solche Systeme aber für alle in den Ruin. Denn dort hat zwar nicht der Reichste die beste Position. Aber wer die Regeln kennt und beherrscht, der nimmt ein derartiges System mit Freude aus. Zum Schaden wieder der Schwächsten, denen die nötige Raffinesse zur pfiffigen Manipulation fehlt.

Ärztenachrichtendienst: Gegen Missbräuche kann man aber vorsorgen.

Gebauer: Nein, auch das kann man im Ergebnis nicht. Es wird zwar immer wieder versucht. Und wesentliche Teile unseres heutigen Gesundheitssystems bestehen aus nichts anderem, als aus geradezu verzweifelter „Missbrauchsbekämpfung“, die in Wahrheit nur das Erzwingen verwaltungskonformen Verhaltens ist. Aber je mehr Korruptionsbekämpfungsstellen man schafft, je mehr Leistungs- und Finanzkontrollen eingerichtet werden und je mehr Verwaltungsbeamte nichts anderes mehr tun, als nur andere zu überprüfen: Das „Geld-spielt-keine-Rolle-System“ wird immer teurer und teurer. Bis es kollabiert. Ökonomisch handelt es sich hierbei übrigens um exakt denselben Grund, aus dem in der Geschichte alle Planwirtschaften wie die der DDR zusammengebrochen sind.

Ärztenachrichtendienst: Ist das der Grund,warum sie das Sachleistungsprinzip auch für verlogen halten?

Gebauer: Genau. Es ist eine Beschäftigungsmaßnahme für Verwaltungsbeamte. Und die hat unfaßbare Ausmaße. Alleine für die interne Verwaltung der Krankenkassen wurde 2005 sechsmal so viel ausgegeben, wie für alle häusliche Krankenpflege. Halten Sie das für gut und gerecht?

Ärztenachrichtendienst: Bis vor kurzem hat das System aber funktioniert.

Gebauer: Es hat nie funktioniert. Übrigens auch nicht erst seit 1975, seit wir die sogenannte „Kostendämpfung im Gesundheitswesen“ betreiben. Schon seit seiner Einführung durch den Reichskanzler Bismarck zu Kaisers Zeiten ist das System nämlich tatsächlich immer wieder „vor die Wand gefahren“.Ursprünglich waren nur rund 10% der Bevölkerung – die Ärmsten der Armen – vom System erfasst. Trotzdem war das System immer wieder pleite. Und immer wieder half man sich dadurch, dass man mehr Menschen zwang, sich zu beteiligen. Das brachte zwar mehr Geld ins System. Aber auch mehr Versicherte, die dann selbst wieder Leistungen aus dem System beziehen wollten. Ich nenne das den Bumerang-Effekt. Kaum ist man das Problem los, kommt es auch schon wieder angeflogen.

Ärztenachrichtendienst: Aber wenn tatsächlich alle teilnähmen?

Gebauer: Wenn alle beteiligt werden und nicht mehr„nur“ 90% der Bevölkerung wie heute, dann erreicht das System sein Endstadium. Denn mehr als alle kann man nicht zur Teilnahme zwingen. Die nächste Pleite wird also dann die letzte sein.

Ärztenachrichtendienst: Warum wird das System nicht geändert, wenn es so schlecht ist, wie Sie sagen?

Gebauer: Gesundheitspolitik wird von Sozialpolitikern gemacht. Wenn man einem Sozialpolitiker erklären will, dass das Solidarprinzip nicht funktioniert, dann trifft man sofort auf taube Ohren. Es ist, als wollte man mit dem Papst über die Jungfräulichkeit der Gottesmutter diskutieren. Nur schwieriger. Besonders Sozialdemokraten leiden sehr, wenn diese Scheinsolidarität Thema wird. Für sie ist allein der Begriff ein unantastbares Heiligtum.

Ärztenachrichtendienst: Fehlt also die Einsicht in das Problem?

Gebauer: Ja. Ich glaube, kaum ein Sozialpolitiker durchschaut noch ganz, was gespielt wird, von sonstigen Parlamentariern ganz zu schweigen. Und denen, die es verstehen, fehlt meist die Phantasie, eine schmackhafte Alternative zum zuckersüßen Begriff vom Solidarprinzip zu denken.

Ärztenachrichtendienst: Was wäre denn Ihr Gegenvorschlag?

Gebauer: Wenn ich die Organisationsgewalt hätte,würde folgendes geschehen: Jeder Einwohner in Deutschland wird gesetzlich verpflichtet, sich mit einem zivilrechtlichen Versicherungsvertrag gegen das Risiko der Erkrankung zu versichern. Spiegelbildlich werden Krankenversicherungen verpflichtet, jeden Antragsteller ohne Gesundheitsprüfung zu einem einheitlichenTarif zu versichern.

Ärztenachrichtendienst: Was wird aus den heutigen Krankenkassen?

Gebauer: Die gesetzlichen Kassen werden in Privatversicherungen umgewandelt und damit zu Wettbewerbern der heutigen privaten Anbieter. Eigentümer der neuen „Kassen“sind nur ihre eigenen Versicherten, etwa als Aktionäre. Wer eine andere Versicherung für besser hält, verkauft seine Aktie und wechselt mitsamt seiner Altersrückstellung frei zu der neuen. Das schafft Anreize für alle, besser zu sein.

Ärztenachrichtendienst: Was machen Menschen, die sich nicht leisten können, solche Beiträge zu zahlen?

Gebauer: Versicherungsnehmer, die es sich nicht leisten können, ihre Beiträge selbst zu zahlen, erhalten diese aus allgemeinen Steuermitteln finanziert. Ob es sich einer leisten kann, Beiträge zu zahlen, weiß das Finanzamt. Dort sind seine finanzielle Situation und die Gesellschaft, bei der er krankenversichert ist, bekannt.

Ärztenachrichtendienst: Es könnte Menschen geben, die versuchen, sich diesem System zu entziehen.

Gebauer: Wer pflichtwidrig keinen Versicherungsvertrag unterhält, der muß eine Geldbuße an das Finanzamt bezahlen, die etwas teurer ist, als es sein eigener Versicherungsbeitrag gewesen wäre.

Ärztenachrichtendienst: Wie wollen Sie bestimmen, in welchem Umfang Versicherungsschutz besteht?

Gebauer: In erster Linie bestimme diesen Umfang weder ich, noch ein sonst Außenstehender oder gar ein Politiker. Den Umfang bestimmen vielmehr die Partner des Versicherungsvertrages selbst. Allerdings muß die Versicherung ihrerseits dem Staat gegenüber garantieren, dass ihre eigenen Versicherten nicht mangels hinreichenden Deckungsschutzes zur medizinischen Behandlung auf staatliche Sozialhilfe angewiesen sind.

Ärztenachrichtendienst: Was passiert in solchen Fällen?

Gebauer: In solchen Fällen kann das Sozialamt bei der Versicherung für die aufgewendeten Kosten Rückgriff nehmen. Damit wird die Versuchung für die Versicherung beseitigt, mehr Versicherte durch allzu niedrige Beiträge anzulocken. Umgekehrt profitieren die Versicherten davon, wenn ihre eigene Gesellschaft gut wirtschaftet; denn als deren Aktionäre partizipieren sie an deren Überschüssen. Hat die Gesellschafterversammlung hingegen zu „geizig“ projektiert und muß dem Staat gegenüber gehaftet werden, steigt der Beitrag.

Ärztenachrichtendienst: Ist dieses System denn mit unserem Grundgesetz zu vereinbaren?

Gebauer: Selbstverständlich. Mehr wahre Demokratie und soziale Verantwortung des Eigentums sind in der Krankenversicherung schwerlich denkbar. Die Patienten bestimmen nämlich mit Mehrheit selbst über ihr eigenes Schicksal. Staatliche Zwangseingriffe und Zentralplanungen kennt dieses selbststeuernde System nicht mehr. Dem Kranken wird geholfen und dem Armen sein Beitrag aus Steuermitteln finanziert. Dieses System ist mithin gleich zweifach „solidarisch“ – nur in einem weit funktionsfähigeren Sinne, als das alte.

Ärztenachrichtendienst: Welche Rolle hat dann noch der Staat?

Gebauer: Die medizinischen Sicherheitsbedürfnisse der Patienten und ihre wirtschaftlichen Interessen als Eigentümer der Versicherungsgesellschaft sind in meinem Modell unmittelbar gegeneinander ausbalanciert. Die Rolle des  ausgleichenden und schützenden Staates ist daher darauf beschränkt, den allgemeinen mittleren Versicherungsbeitrag der Branche festzustellen. Genau dieser Betrag wird dann von dem Finanzamt unmittelbar an die ihm von dem Bedürftigen benannte Versicherung überwiesen. Wenn die Welt dann sieht, wie im deutschen Gesundheitswesen gleichzeitig die Preise fallen und die Qualität wieder steigt, dann wird der Exportweltmeister auch zum allseits bewunderten Gesundheitsweltmeister.

Ärztenachrichtendienst: Würden damit also auch die Kassenärztlichen Vereinigungen in ihrer heutigen Form überflüssig?

Gebauer: In ihrer derzeitigen Form sicher. Denn anders als in dem heutigen System wird auch wieder möglich, dass Arzt und Patient direkt in vertragliche Beziehung miteinander treten. Die unsäglichen Exzesse von Zulassungs- und Genehmigungsbescheiden, von Rechtsbehelfsbelehrungen, Widerspruchsverfahren, Ausschussberatungen, Anfechtungsklagen, EBM und Fallgruppen etc. werden ein Ende haben. Die heute dort verlorenen Mittel müssen für Medizin frei werden.

Ärztenachrichtendienst: Es gibt Ärzte, die fürchten, in diesem Fall niemals ihren Vergütungsanspruch gegen Patienten durchsetzen zu können.

Gebauer: Die Befürchtung vieler Ärzte,ihre Leistungen nicht vergütet zu erhalten, weil dieVersicherung an den Patienten bezahlt und der mit dem Geld ausbüchst, ist tatsächlich unbegründet. Arzt und Patient können –und werden – stets die Versicherung unwiderruflich anweisen, Zahlung unmittelbar an den Arzt zu erbringen.

Ärztenachrichtendienst: Müßten Patienten nicht häufig auch mit hohen Beträgen in Vorleistung treten, bis ihre eigene Versicherung ihnen den Rechnungsbetrag erstattet?

Gebauer: Dies Befürchtung ist unbegründet.Ebenso, wie schon heute in anderen Versicherungsfällen, wird der Arzt hinlängliche Zahlungsfristen setzen, innerhalb derer dann der Patient seine Versicherung anweist, an den Arzt zu zahlen.

Ärztenachrichtendienst: Wie soll der Patient wissen, was er tatsächlich bezahlen muß? Er ist schließlich kein Mediziner und dem Arzt insofern ausgeliefert.

Gebauer: Da die Versicherungsgesellschaften ein eigenes Interesse haben, keine übermäßigen Arztrechnungen zu akzeptieren, stellen sie ihren Versicherten die eigene sachverständige Kompetenz bei der Rechnungsprüfung zur Verfügung.

Ärztenachrichtendienst: Sind dann aber nicht umgekehrt die Ärzte den mächtigen Versicherungen hilflos ausgeliefert?

Gebauer: Nein, sind sie nicht. Denn zum einen muß sich ein seriös abrechnender Arzt vor keiner Rechnungsprüfung fürchten. Zum anderen werden sich Ärzte bald zu eigenen Gemeinschaften zusammenfinden, um selbst effektiv und effizient abrechnen zu können. Am besten zu zivilrechtlichen Gesellschaften, die ihnen selbst gehören und in denen alles demokratisch abgestimmt werden muß. Hochkompetente Spezialisten für die Arbeit sind dann auf dem Markt auch vorhanden. Alle diejenigen nämlich, die heute noch bei den alten Kassenärztlichen Vereinigungen arbeiten, werden hier ihre Dienste erfolgreich anbieten. Schwierig kann es allenfalls für diejenigen werden, die in der Vergangenheit durch die Gängelung von Kassenärzten unangenehm aufgefallen sind.

Ärztenachrichtendienst: Möchten Sie selbst eigentlich einmal Gesundheitsminister werden?

Gebauer: Nein. Denn Gesunde brauchen überhaupt kein Ministerium.

Das Interview führte für den Ärztenachrichtendienst, Hamburg, dessen stv. Chefredakteurin,Britta Loehr.

Carlos A. Gebauer mit Britta Loehr des ÄND

Carlos A. Gebauer mit Britta Loehr, stv. Chefredakteurin des Ärztenachrichtendienstes

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