Das Wunder von Lern

Carlos A. Gebauer

Seinerzeit war es entsetzlich. Es hatte viel Unsicherheit geherrscht und niemand wußte wirklich, wie er sich verhalten sollte. Wer damals nicht dabei gewesen ist, kann es sich heute gar nicht mehr vorstellen. Am 28. Juni 2004 aber war es dann – endlich – vorbei: Das Bundesgesetzblatt wurde ausgegeben und sie lag vor, die „Verordnung über die Berufsausbildung zur Sonnenschutzmechatronikerin“.

Julia F. kann nun – staatlich anerkannt und in ordentlich reformierter Rechtschreibung beschrieben – „Rollläden“ qualifiziert beruflich herstellen, sobald sie den Ausbildungsberuf verordnungskonform erlernt hat. Was aber muß Julia F. lernen, um die erforderlichen Fertigkeiten und Kenntnisse zu beherrschen?

An erster Stelle nennt das Gesetz die Kenntnis von „Arbeits- und Tarifrecht“. Ein befreundeter Zyniker spottete, danach bleibe also die Terrasse eines Kunden so lange ein sonniges Plätzchen, wie der Sonnenschutzmechatroniker sein Tarifrecht noch nicht kenne. Doch auch der schon zum Arbeitsrechtsexperten erzogene Auszubildende greift dann noch lange nicht zu Stoff und Schraube. Sicherheit bei der Arbeit, Umweltschutz und der Umgang mit Kommunikationstechniken müssen zuvor mit dem Lehrherren besprochen werden. So will es das Gesetz. Erst dann geht es – an zehnter Stelle des Ausbildungsplanes – an das Herstellen von Rollpanzern, Steuerungskomponenten und Fensterkombinationen.

So schleppt sich die Ausbildung des Sonnenschützers und Rollladenmechatronikers über die sechsunddreißigmonatige Zeit und durch das dokumentierende Berichtsheft, bis eines Tages – an siebzehnter Stelle des Lehrplanes – auch für Julia F. eine weitere Dimension des künftigen Broterwerbes aufscheint: Die Faszination, Arbeiten kundenorientiert durchzuführen, Kundenwünsche mit dem betrieblichen Leistungsspektrum zu vergleichen und fertiggestellte Arbeiten an den Kunden zu übergeben.

Wer um das Wohlergehen von Julia F. besorgt ist, fragt sich allerdings, warum die Ausbildungsverordnung nicht nochmals gesondert hinweist auf die Lastenhandhabungsverordnung. Eine schwere Unterlassung des Gesetzgebers. Denn wer könnte Zweifeln, daß gerade ein unhandliches Sonnenschutzrollo aufgrund seiner ungünstigen ergonomischen Bedingungen für die angehende Sonnenschutzmechatronikerin eine erhebliche Gefährdung für ihre Lendenwirbelsäule birgt? Gerade dann, wenn bei dem Kunden der in vertikaler Richtung zur Verfügung stehende Platz eingeschränkt ist und die zu erwartende Luftgeschwindigkeit Gesundheitsgefahren birgt, ist der Anwendungsbereich dieser Arbeitsschutzverordnung bekanntlich weit eröffnet.

Der Lehrherr von Julia F., Manfred L., sieht die bevorstehende Ausbildungszeit gelassen. Seine feste Absicht ist, sich nicht an die Verordnung zu halten und Julia F. schlicht erst einmal das beizubringen, was sie für das Leben als Sonnenschutzmechatronikerin am wesentlichsten braucht: Wissen, was der Kunde will und wissen, ob man es ihm bauen kann. Papier, sagt Manfred L., ist geduldig, Kunden sind es nicht. Zwar träumen sie alle von einem Platz an der Sonne. Aber wenn die Wolken weichen, wollen sie schnell ein schattiges Plätzchen. Das jedenfalls hat ihn die Praxis gelehrt. Allen Verordnungen zum Trotz. Vielleicht, sagt Manfred L., wird auch der Gesetzgeber eines Tages lernen, was im Leben noch wichtiger ist, als Tarifrecht oder die Beziehungen zu Wirtschaftsorganisationen und Gewerkschaften. Es ist: Sein Handwerk beherrschen und den Kunden verstehen. Das will er Julia F. zeigen. Denn das ist sein Wunder von Lern.

Wenn der Uterus zur Allmende wird

Warum die staatliche Beeinflussung der Geburtenrate tragisch ist

Wenn unsere Vorfahren ein Grundstück in der Mitte ihres Dorfes gemeinschaftlich nutzen wollten, dann behandelten sie es bekanntlich als sogenanntes „Allmendegut“ – es gehörte niemandem alleine, sondern allen zusammen. So alt wie diese Allmende selbst ist hierbei allerdings zugleich ihr charakteristisches Problem, das in der einschlägigen Literatur unter dem Stichwort „Tragik der Allmende“ beschrieben wird: Will ein Mitglied der anonymen Miteigentümergemeinschaft zunächst noch warten, bis er seine Schafe zum Weiden auf die Allmende treibt, damit die Wiese sich vom vorherigen Grasen anderer erhole, dann riskiert er, dass ein dritter Dorfbauer ihm zuvorkommt. Da diesenfalls für seine Tiere gar nichts mehr zu fressen bliebe, muss er also unverzüglich handeln. Die Übernutzung der Allmende durch alle ist somit die Regel. Zuletzt bleibt karge Ödnis und für alle nichts mehr zu ernten. Anders gesagt: Die Tragödie aller Gemeingüter ist, dass das, was gemein ist, nie lange ein Gut bleibt.

Indem nun – mit dem Saarland voran – nicht mehr nur die Schul-, sondern auch die Kindergartenpflicht zum gesetzlichen Regelfall unseres Landes zu werden droht, gerät die Rolle der Frau als Mutter in einen wieder völlig neuen Kontext. Ihr Uterus wird gleichsam zur Allmende. Und dies kommt so:

In wohl allen traditionellen Kulturen gehört zum Selbsteigentum der Frau an ihrem Körper auch ihr individuelles Nutzungs- und Verfügungsrecht über den eigenen Uterus. Jedenfalls in unserem eigenen Kulturkreis ist dies mit Blick sowohl auf verbotene Zwangsehen, die Strafbarkeit von Vergewaltigung und die weitgehende Erlaubnis zum Schwangerschaftsabbruch eine breit konsentierte Selbstverständlichkeit. In dem Maße jedoch, in dem die sogenannten kollektiven Sicherungssysteme – namentlich das der kollektivierten Altersversorgung im reinen Umlageverfahren – auf das Nachkommen weiterer Generationen existentiell angewiesen sind, kann die Entscheidung über das Ob und Wieviel von Nachkommen nicht mehr nur der individuellen Frau und ihrem individuellen Mann überlassen werden. Das Gemeineigentum an der Verfügungsmasse „Rentenbeitrag“ erfordert, dass auch die Ursachen dieses Beitrages – seine Einzahler – gemeinschaftlich verwaltet werden.

Dies nun erklärt das politische Interesse an der Generierung einer möglichst stabilen Bevölkerungszahl; sinkt die sogenannte Geburtenrate, entsteht administrativer Handlungsbedarf. Es müssen Anreize geschaffen werden, dass möglichst viele Frauen ihren Uterus wieder hinreichend gemeinschaftsdienlich einsetzen; sie sollen also Kinder gebären. Das intrauterine Geschehen wird so zur Sache auch der Allgemeinheit.

Der zunächst sanfteste Druck zum Einsatz des Uterus wird durch die üblichen finanziellen Anreize geschaffen: Frauen, die Kinder gebären, erhalten diverse staatliche Subventionen. Merken die Verwalter des Gemeininteresses jedoch, dass dieser erste Anreiz nicht hinreicht, um die zum Systemerhalt nötigen Nachkommen zu erzeugen, muss an anderen Stellschrauben des Gesamtkonstrukts gedreht werden. Weil die Mutter, die ihr eigenes Kind selbst betreut und erzieht, als Einzahlerin in die Sozialversicherungstöpfe bis auf weiteres ausscheidet, entsteht für die Sozialverwaltung ein Motiv, sie von dieser Tätigkeit zu entbinden. Im Idealfall für das Umlageverfahren gibt sie ihr Kind dann nämlich in die kostenpflichtige Betreuung Dritter und widmet sich selbst (wieder) ihrer vormaligen sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit. Auf diese Weise bleibt sie dem Rententopf erstens selbst als Einzahlerin erhalten; zweitens zahlt sie das seinerseits sozialversicherungspflichtige Entgelt für ihre professionellen Betreuer; und – natürlich – drittens hat sie in der Gestalt ihres Kindes dem Verfahren einen weiteren künftigen Einzahler geboren.

Je früher es einer solchen Rentenallmende gelingt, die nachgeborenen Kinder dergestalt in sozialversicherungspflichtige Fremdbetreuung zu überführen, desto größer ist der systemerhaltende Nutzen des Konstrukts. Die Vorverlagerung der Schulpflicht in Form der Kindergartenpflicht auch auf das Klein- und Kleinstkindalter gerät so zur unmittelbaren Einnahmesteigerung für den allgemeinen Topf. Ergänzt um eine möglichst noch verkürzte Schulpflicht am Ende der Schulzeit und eine weitere Verkürzung der Studienzeiten durch Einführung entsprechend kürzerer Studiengänge, werden die Sozialkassen nochmals – diesmal schon in der Person und an der Person des Nachkommens – weiter bereichert.

Jenseits der diversen gesamtgesellschaftlichen Änderungen seelischer Art für alle Betroffenen kommt es bei alledem jedoch auch hier wieder zu der eingangs skizzierten „Tragik der Allmende“: Ausgerechnet all diejenigen Frauen, die infolge ihrer höchstpersönlichen Lebenssituation keine Chance haben, sozialversicherungspflichtig an dem allgemeinen Produktionsprozess ihrer Gesellschaft teilnehmen zu können, sehen in den vielerorts geleisteten staatlichen Subventionen für und an Kinder eine Möglichkeit, ihre eigene finanzielle Situation positiv zu beeinflussen. Bei ihnen kommt es zu einer – im Vergleich zum unbeeinflussten Ausgangszustand einer interventionsfreien Gesellschaft – überdurchschnittlichen Geburtenrate. Die Tragik der Allmende gebiert somit die Tragödie einer zunehmend ausgegrenzten Bevölkerungsgruppe.

Rechtschreibungsrecht

von Carlos A. Gebauer

Es gibt Themen, zu denen ist alles gesagt. Die Reform der deutschen Rechtschreibung gehört – scheinbar – dazu. Gerade diese Reform hat uns aber unbemerkt auch ganz neue rechtsstaatliche Erkenntnisse darüber verschafft, was wahre Folgerichtigkeit ist.

So hieß es zunächst, daß folgerichtig sei, dem Känguruh sein „h“ zu nehmen, damit es – sozusagen von hinten – aussehe wie ein Gnu. Zugleich aber wurde der Kuh ihr „h“ gelassen. Früher hätte man das nicht folgerichtig genannt. Jetzt ist das anders: Eine kleine Stange ist kein Stengel mehr, sondern ein frecher Stängel. Trotzdem soll der Redner Sprache sprechen, nicht sprächen.

Mit dem nötigen politischen Willen also kann der totale Rechtsstaat seine juristischen Gesetze federleicht über die Gesetze der Logik erheben. Und weil bekanntlich gerade Ausnahmen stets die Regel bestätigen, läßt sich auch jede noch so offenliegende Inkonsequenz als heiligende Bestätigung der Regel feiern. Streng logisch.

In ähnlich rasant-argumentativer Logik verteidigte zuletzt ein Namenloser die Rechtschreibungsreform deswegen als bestandswürdig, weil sie doch eigentlich nur für Behörden und Schulen verbindlich sei. Jeder andere könne weiterhin orthographisch treiben, was er wolle. Bis dahin war mir unbekannt, daß die Geltung einer Regel damit verteidigt werden kann, im Grunde gelte sie eigentlich kaum.

Spätestens mit diesem Satz wurde aber die kulturell-ästhetische Diskussion auch zu einer manifest juristischen. Denn: Was ist eigentlich, wenn ein Schüler im Diktat ein „Känguru greulich“ findet und genau deswegen sitzenbleibt?

Wenn nicht mehr die Menschen einer Kulturgemeinschaft selbst über ihre Buchstaben entscheiden, sondern ihr Gesetzgeber, dann können wir eines sicher als nächstes erwarten: Ein Staat, der alle seine Gesetze leidenschaftlich gerne ändert, anpaßt, modifiziert und modernisiert, der wird selbstverständlich absehbar versucht sein, auch die Schreibweisen unserer Worte Jahr um Jahr neu zu justieren. Parteien werden nächtelang um Kompromisse ringen, wenn es gilt, die ausländerfreundlichste Variante des Wortes „Haimorrhoide“ zu bestimmen und die „Oberschine“ kann deutsch-französische Diplomantenkorps wochenlang beschäftigen. Jahr für Jahr werden dann neue Gesetzblätter und hieraus destillierte Duden Schulen neu diktieren, was in dieser Saison wie zu schreiben ist.

So grotesk oder absurd diese Spekulationen wirken mögen, eines sind sie: Folgerichtig! Warum? Ganz einfach. Kein Berufsstand beherrscht unsere Parlamente mehr, als der des Lehrers. Für jeden dieser Lehrer ist es geradezu eine Solidaritätspflicht gegenüber anderen Berufen, bald – genau wie Juristen – jedes Jahr neu nach der einschlägigen Vorschrift fahnden zu müssen.

Man halte jede Wette: Der gesetzlich verordnete Zwang zum jährlichen Dudenkauf wird zuletzt noch als beschäftigungspolitisch wertvoller Beitrag für die Buchindustrie gewertet werden. Spätestens dann wird wirklich alles zum Thema Rechtschreibung gesagt sein. Und das Parlament kann sich endlich anderen drängenden Gesetzesvorhaben widmen. Vielleicht dem Betonungs- und Aussprachegesetz. Oder der Verordnung über den Gebrauch von Eßbesteck. Oder einem Runderlaß über das wechselseitige Entkleiden zur Vorbereitung eines Geschlechtsverkehrs.

Der Arzt und die Mehrheit

„Umverteilung ist die Belohnung,
die Gewinnerkoalitionen für die
Ermächtigung einer bestimmten
Regierung erhalten.“

Anthony de Jasay

Demokratie heißt: Die Mehrheit entscheidet. Das ist schön – solange man zur Mehrheit gehört. Was aber geschieht, wenn die eigene Zugehörigkeit zu einer Minderheit zu einem Dauerzustand wird? Was, wenn man ständig überstimmt wird?

Demokratietheoretiker haben dieses Problem selbstverständlich gesehen. Und sie haben Instrumente entwickelt, um den einzelnen vor dieser Gefahr zu schützen. Eines dieser Instrumente heißt: Grundrechte. Grundrechte sind nichts anderes als Inseln für den einzelnen inmitten eines Ozeans aus anderen, abweichenden gesellschaftlichen Mehrheiten. Auf diese sicheren Inseln soll sich jedermann zurückziehen können, ohne daß ihn die Mehrheit dorthin verfolgt, my home is my castle. Auf dem Papier schien die Sache damit geklärt. Das Individuum ist durch Menschen- und Bürgerrechte vor Eingriffen der Mehrheit in seine grundrechtlichen Sphären geschützt. Wer aber schützt das Papier vor der Mehrheit?

Hans-Hermann Hoppe stellte kürzlich eine spannende Frage: Angenommen, am nächsten Sonntag wären Weltwahlen – was wäre deren Ergebnis? Wir bekämen eine chinesisch-indische Koalitionsregierung! Denn „die“ sind einfach die meisten. Was wäre das weitere absehbare Ergebnis dieser Regierungsbildung? Um wiedergewählt zu werden, würde diese Regierung – wie man zwanglos annehmen darf – bestrebt sein, ‚soziale Gerechtigkeit durch Umverteilung vorhandener Güter‘ zu erreichen. Die erste Analyse dieser Regierung erwiese: Der Westen hat viele, andere Regionen der Erde haben weniger Güter in ihrem Besitz – China beispielsweise oder Indien. Also würde die Minderheit des Westens im Wege staatlicher Solidaritätszuschläge absehbar zur Herausgabe ihrer Reichtümer an die weniger begüterten östlichen Wählermehrheiten veranlaßt.

Was bei dieser Fiktion einer Weltwahl unmittelbar einleuchtet, läßt sich – wiederum nach Hans-Hermann Hoppe – auf ein einfaches Muster reduzieren: Wenn A und B etwas besitzen möchten, was nur C innehat, dann können sie sich entweder anstrengen und dieses etwas selber erwerben, oder sie stimmen demokratisch über das Recht zum Besitz am begehrten Gut ab. Kaum aber haben sie C überstimmt, schon sind sie die neuen Besitzer. Ganz demokratisch.

Nach diesem Muster funktionieren demokratische Staaten in ihrem Inneren seit langem. Immer konstituieren sich gewisse Mehrheiten und überstimmen zu ihren eigenen Gunsten Minderheiten. Das erklärt die Arbeitnehmerpolitik zu Lasten der Minderheit von Arbeitgebern ebenso, wie die Verbraucherschutzpolitik zu Lasten der Minderheit von Unternehmern. Es erklärt auch – auf der demokratischen Suche nach der möglichst absolutesten aller Mehrheiten – die aktuelle Herausbildung von Klimaschutzpolitiken (wer kann schon für Umweltverschmutzung sein?), von Kriegen gegen den Terror (wer würde für Terror das Wort ergreifen?) und von Kriegen gegen den Hunger (wer möchte für Hunger in der Welt eintreten?). Es erklärt schließlich, den stets umgehend lautstarken Protest aller Sozialisten gegen jedes irgendwie positiv aufkeimende patriotische Gefühl, weil die bloße Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen patria regelmäßig die Gefahr birgt, eine Wählergruppe zu konstituieren, die noch größer ist, als die Masse der Elenden, Benachteiligten, Zukurzgekommenen und aller, die ihr Herabsinken in diese Kaste potentiell befürchten. Es mag schließlich hierzulande auch die Ursache dafür sein, daß sich im gleichheitsverliebten Deutschland mit seiner immer willigen Bereitschaft, irgendwelche herausgehobenen Kleingruppen aus sozialen Gerechtigkeitsgründen niederzustimmen, das Skatspiel von A, B und C einer so eminenten Beliebtheit erfreut: Wer es wagt, die anderen auf Grundlage seines glücklichen Blattes risikolustig zu „reizen“, der wird sodann von den beiden anderen gemeinsam bekämpft.

Was hat nun all dies mit Ärzten und Patienten zu tun? Ganz einfach: Ärzte sind gegenüber der übrigen Bevölkerung in der Unterzahl. Wer also die Mehrheit der Nichtärzte gegen die Minderheit der Mediziner zu einer Einheit verbindet, der erwirkt für sich politisch einen strategischen Vorteil. Damit nicht genug. Wenn es ihm zusätzlich – beispielsweise – gelingt, die „gesetzlich Versicherten“ gegenüber den privat Versicherten in die Mehrheitsposition zu bringen, der hat einen doppelten strategischen Vorteil. Er kann gesundheitspolitisch schalten und walten, wie es ihm beliebt.

Bieten aber nicht unsere Grundrechte Schutz gegen solche Eingriffe? Auf dem Papier ja, in der Wirklichkeit – leider – nein. Denn die Definitionshoheit darüber, was der Schutzbereich eines Grundrechtes sei, liegt im Ergebnis bei niemandem anderen, als bei der Mehrheit. Das aber ist schlecht. Für Ärzte ebenso, wie für privat Versicherte. Daß bei solcher Politik nämlich zuletzt kein Arzt mehr übrig bleibt, der noch betriebswirtschaftlich sinnvoll handeln kann und daß die letzte Chance der Mediziner, über Privatliquidationen ihren monatlich-persönlichen break even point zu erreichen, das wird der selbstverliebten Mehrheit von ihren zuständigen Gesundheitspolitikern nicht erklärt. Schade.

Sind die genannten Minderheiten und jeder Restbestand an gesundheitspolitischer Rationalität unter der Geltung der Mehrheitsregel also gänzlich schutz- und wehrlos? Nein! Und: Die Rettung läßt sich sogar formulieren: Es gibt mehr Patienten und Ärzte, als Gesundheitspolitiker. Brechen wir also auf und überstimmen wir diese Leute einfach! Ganz demokratisch.

Das HWS-Miet-Pkw-Drama

von Carlos A. Gebauer

Das Schicksal der Gisela F. ist in einer Weise tragisch, daß ihr Name bereits geändert war, noch bevor die Redaktion es tun konnte.

Gisela F. hat eine Schwäche: Sie mag sportliche, schwarze Autos mit auskömmlicher Motorkraft. Mit einem solchen befuhr sie eines Tages die sanft geschwungenen, malerischen Landstraßen des Moseltales. An einer Engstelle hinter einer unübersichtlichen Kurve mußte sie wegen eines emsig werkelnden Landwirtes anhalten, um auf den Parkplatz des Landgasthofes Moselglück zu gelangen. Sekundenbruchteile später verspürte sie einen deftigen Schlag auf ihr Fahrzeugheck. Ein anderer Tourist war – von der lieblichen Architektur des Gasthauses abgelenkt – mit seinem robusten Kombi in ihr Fahrzeugheck hineingedroschen.

Die Regulierung der Schäden mit dem Versicherer des Gegners gelang zunächst flüssig. Dann allerdings schälten sich zwei neuralgische Schadenspositionen aus den allseitigen Aktendeckeln. Gisela F. nämlich erklärte zum einen, ein „Halswirbelschleudertrauma“ erlitten zu haben, im Fachjargon liebevoll genannt: HWS. Zum anderen hatte sie unbedarft das Angebot eines örtlichen Autovermieters akzeptiert, ihr schnellstens einen Ersatzwagen anzudienen. Die Preisgestaltung auf dem flugs unterzeichneten Vertrag als „Unfallersatztarif“ schien ihr besonders sinnvoll.

Die Versicherung aber mochte ein Schmerzensgeld für die unangenehmen Nackenbeschwerden nicht zahlen. Denn sie zweifelte, daß Gisela F. tatsächlich ein „HWS“ erlitten hatte. Hintergrund dieses Zweifels ist, daß in Deutschland derzeit gleichsam Folklore ist, nach Auffahrunfällen HWS-Beschwerden anzugeben. Tatsächlich ist der menschliche Rückenschmerz in etwa so unerforscht, wie das Liebesspiel pubertierender Brontosaurier. Und ob einer wirklich Schmerzen hat, läßt sich regelmäßig nicht sicher feststellen. Weder von Hausärzten, noch auch von Orthopäden, Neurologen, Radiologen oder gar Psychologen. Entweder man glaubt es, oder nicht. Die Glaubensfrage klärte auch ein 45seitges interdisziplinäres Sachverständigengutachten nicht, das von dem angerufenen Gericht eingeholt wurde. Gisela F. schulterte es mit Fassung und augenzwinkerte, vielleicht hätte man eher ein theologisches Gutachten gebraucht.

Weitaus ärgerlicher fand sie, daß die immensen Kosten für den Unfallersatz-Mietwagen ihr nur teilweise ersetzt wurden. Hier sah sie sich als das Kollateral-Opfer eines Grabenkrieges zwischen Versicherung und Vermiet-Firma. So haben Pkw-Vermieter für die Geschädigten von Pkw-Unfällen einen besonderen Tarif ersonnen. Den zeichnet aus, daß der Preis nicht mit dem Kunden verhandelt wird, sondern dem gegnerischen Haftpflichtversicherer einfach diktiert wird. Weil der Geschädigte zu Marktforschungen nicht verpflichtet ist, darf er demnach jeden Preis akzeptieren. Das freut den Vermieter, der die üblichen Preise gerne verdoppelt oder verdrei- oder vervierfacht. Erst neuerdings berichtigt die Rechtsprechung diese Art der Abrechnungstradition zu Lasten der Vermieter. Im Falle von Gisela F. wurde dergestalt berichtigt – und ihre Klage abgewiesen.

Auf dem Gerichtsgang richtete Gisela F. noch kurz einige Worte an den Mann, der wie stets mit messerscharfem Verstand, tadellosen Umgangsformen und brillanter Rhetorik für die Versicherung prozessiert hatte: „Besuchen Sie doch mal den Landgasthof Moselglück – am besten Sie fahren gleich mit Ihrem Auto hin!“

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