Ulrich Woronowicz, Sozialismus als Heilslehre, Bergisch Gladbach 2000
Eigentlich war Gott schon tot. Der moderne Mensch hatte ihn – mit allerlei Theorie und Gerät – Stück für Stück ausgemendelt. Besonders der nach eigenem Bekenntnis ganz wissenschaftliche Sozialismus keulte seine positivistischen Erkenntnisse fortschrittsfreudig in die Welt. Am anderen Ende des Bewußtseins schrumpften die Territorien göttlicher Reiche, Tag für Tag. Die neuen Führer predigten den postklerikalen Atheismus. Wissen wurde Macht und Glaube Opium. Der Papst selbst flüchtete sich vor Eisenbahn und Blitzableiter in die eigene Unfehlbarkeit. Doch es nützte ihm nichts. Nietzsches Diagnose vom Tode Gottes war gestellt.
Mitten in diese zunehmend gottvergessende Geisteshaltung formulierte nun Ludwig von Mises im Jahre 2 der Russischen Revolution Irritierendes:
„ Der moderne Sozialismus … ist eine wirtschaftspolitische Partei, die sich als Heilslehre nach Art der Religionen gibt. … Für die große Masse seiner Bekenner ist er Heilslehre … Wer dem Sozialisten dieses Schlages mit vernunftgemäßen Einwänden kommt, findet dasselbe Unverständnis, dem rationalistische Kritik der Glaubenslehren beim gläubigen Christen begegnet. In diesem Sinne ist es durchaus berechtigt, den Sozialismus mit dem Christentum zu vergleichen. Doch das Reich Christi ist nicht von dieser Welt; der Sozialismus hingegen will das Reich des Heils auf Erden errichten. Darin liegt seine Kraft, darin aber auch seine Schwäche, an der er einst ebenso schnell, wie er gesiegt hat, zugrunde gehen wird. … Wenn der Sozialismus Wirklichkeit geworden ist, wird man erkennen müssen, dass eine Religion, die nicht auf das jenseitige Leben hinweist, ein Unding ist.“
War es am Ende tatsächlich das? Sollte der Sozialismus nur eine neue Form des christlichen Heilsversprechens sein? Ein verrücktes Paradies, verschoben auf der Zeitleiste t vom Punkt t(y) im Jenseits auf einen Punkt t(x) im Diesseits?
Welche Gefahren ein allzu unbedachtsam antezipiertes Heilsversprechen in demagogietechnischer Hinsicht birgt, war niemandem so bewusst, wie dem Führer der ruhmreichen Russischen Revolution höchstselbst. Lenin wies deswegen vorsorglich gerne darauf hin, dass jedenfalls während seiner Lebenszeit noch nicht mit einem wirklichen Sieg des Sozialismus gerechnet werden könne. Am 8. April 1920 beispielsweise formulierte er: „Neue Formen der gesellschaftlichen Bindung … zu schaffen, das ist eine Aufgabe von vielen Jahren und Jahrzehnten.“
Damit war für die Priester des Sozialismus zunächst eine Atempause von einigen Jahrzehnten für die weitere Theoriebildung gewonnen. Das Thema musste bis auf weiteres nicht vertieft werden. Und es bestand sogar die Hoffnung, daß die Problematik sich durch Zeitablauf – unter einer möglichst sinnreich gestalteten Bildungspolitik – von selbst erledige. Denn wo keiner mehr ist, der schwierige Fragen stellt, da verschwindet bekanntermaßen automatisch auch das Problem der fehlenden Antwort.
So verstrich ein gutes halbes Jahrhundert, ohne daß Lenin oder seine Jünger wieder ernsthaft mit der bohrenden Frage nach der tatsächlichen Heilsverwirklichung belästigt wurden. Dann aber geschah ausgerechnet im Mutterlande Marxens was die Großplaner in aller Welt stets zur Verzweiflung treibt und was das Christentum gerne unter den schönen Begriff des Wunders subsumiert: Es ergab sich das Unerwartete! Mitten im realsten DDR-Sozialismus lebte ein Mann mit messerscharfem Verstand, mit profunden theologischen Kenntnissen, mit bohrendem Blick auf die politischen Verhältnisse seines Staates und – vor allem – mit der nötigen Zivilcourage, seine Gedanken niederzulegen. Der protestantische Pfarrer Ulrich Woronowicz schrieb das Buch „Sozialismus als Heilslehre“.
Die Falsifizierungsbereitschaft des wissenschaftlichen Sozialismus war naturgemäß nicht groß genug, um das Werk zeitgleich mit der Existenz eines antifaschistischen Schutzwalles zum Bestseller werden zu lassen. Es fand in der DDR nicht viele Freunde. Als Ulrich Woronowicz es 1984 fertiggestellt hatte, legte er es seinem zuständigen Bischof vor. Die daraufhin fällige Kritik zum Werk formulierte der spätere Ministerpräsident des Bundeslandes Brandenburg und Toll-Collect-Minister Manfred Stolpe in seiner damaligen Rolle als Konsistorialpräsident dem Autor gegenüber mit den freundlich-diplomatischen Worten: ‚Theologische Kritik am Sozialismus ist nicht erlaubt!’. Gerade dies aber erweist sich bei Lektüre des faszinierenden Buches von Ulrich Woronowicz als – milde gesprochen – schade. Ohne Zugang zu freien Bibliotheken, beschränkt auf die wenige Literatur, derer er in der DDR habhaft werden konnte, einschließlich einiger ‚eingeschmuggelter’ Lektüre, entstand eine brillante Analyse der Zusammenhänge zwischen einerseits theologischen Erkenntnissen und andererseits sozialistischen Realitäten. Umgeben von ungezählten Gegnern, von Systemfreunden und zahlreichen „IMs“ blieb Woronowicz der klare, eigene und interdisziplinäre Blick auf die weltliche Heilslehre Ost-Berlins:
„Grundlegender Unterschied zwischen der christlichen Theologie und der orthodoxen sozialistischen Lehre ist, daß in der Theologie von einer dem Menschen unverfügbaren Kraft ausgegangen wird. Der Heilige Geist ist durch den Menschen nicht manipulierbar … Der Sozialismus versteht sich selbst als ein wirksames, die Welt nicht nur ‚anders interpretierendes, sondern wirklich veränderndes’ Instrument. … In der Rolle und Bedeutung des Kollektivs für die Herausbildung des … sozialistischen Menschen wird die ganze Überschätzung der Gemeinschaft gegenüber dem einzelnen deutlich. Weil es Gott nicht mehr gibt, ist das Gute im Kollektiv aufgehoben, es wird geglaubt, daß aus jedem Kollektiv sich schließlich das Richtige herausbilden muß … Die Partei beansprucht für sich das höchste Gut, die Verwaltung des Heils.“
Aufgabe der sozialistischen Partei ist demnach, Menschen zu schaffen, die nicht mehr hilfsbereit sind, weil sie hierzu einen wohltätigen Impetus verspüren, sondern weil sie aus zwangsläufiger proletarischer Solidarität helfen. Erst wenn es den einzelnen Menschen als Individuum nicht mehr gibt, das habsüchtig auf Geld als Zahlungsmittel im arbeitsteiligen Tausch blickt, erst dann ist das Kollektiv in dieser Vorstellung ohne Entfremdung wieder zu sich selbst geführt.
Mit Blick auf die weltweiten historischen Gewaltexzesse des Sozialismus fragt Woronowicz: „Warum lernen wir … so schwer aus der Geschichte? Wir sind doch der Wissenschaftlichkeit verbunden. … Wissenschaftler beweisen ihre Behauptungen mit Experimenten. Die Geschichte ist ein umfangreiches Protokoll über Experimente, man muß es nur unvoreingenommen lesen.“ Die Verteufelung des Geldes und der individuellen Freiheit des einzelnen haben im Sozialismus eben kein Heil gespendet. Sie haben auch keine Freiheit geschaffen. Im Gegenteil, argumentiert Woronowicz: Erst mit der Zuerkennung von individuellem, privatem Eigentum werden Freiheit und Verantwortung für den Menschen überhaupt möglich. Deren Ersetzung durch Befehle des Kollektivs führt zu Gewalt und Verderben: „Wer kommandieren darf, braucht nicht zu überzeugen, und umgekehrt: Wer überzeugt, unterlässt das Kommandieren. Spätestens hier erkennen wir, … daß Moral und Kapital nicht verschiedenen Welten angehören, sondern den gleichen Strukturgesetzen unterworfen sind. Eigenverantwortlichkeit und sinnvolles, situationsadäquates Verhalten sind die Ideale, die auch die Marktwirtschaft von der Planwirtschaft unterscheiden.“
Wer dieses tiefe und gedanklich weit verzweigte Buch heute liest, den müssen die fast prophetisch anmutenden Sätze dieses Autoren über die inzwischen weiteren Entwicklungen des bundesrepublikanischen Sozialstaates geradezu entsetzen. Wie konnte ein Theologe in der DDR Ende der 1970er Jahre vorausahnen, daß hier derzeit unter dem Gesetzesbegriff der sogenannten Wettbewerbsstärkung zunehmende Restriktionen gegen Freiberufler und deren Eigentum in Kraft gesetzt werden? „So kehrt … unter dem Deckmantel des Fortschritts die Leibeigenschaft zurück“, schreibt Woronowicz.
Als das Buch um die Jahreswende 1999/2000 endlich gedruckt an das offene Licht der Welt treten konnte, hat Ulrich Woronowicz es um eine Einleitung ergänzt. In der heißt es: „Gerade für die Altbundesbürger ist es aber wichtig, zu erkennen, daß durch die ‚Achtundsechziger’ viele Elemente des Sozialismus auch zu ihnen gelangt sind. Nichts ist also überholt, nichts überwunden, alles steckt noch drin in den Köpfen der Mitteleuropäer.“ Und schon in der Ursprungsfassung seines Werkes mahnte er auch alle Nichtgläubigen, die Kräfte der kommunistischen Heilslehre zu verstehen: „Ein primitiver Antikommunismus [kann] nichts zur wirklichen Auseinandersetzung mit dieser Ideologie beitragen.“
Nach allem muß jedem eines klar sein, der die Hoffnung auf eine Abwendung des sich wieder einmal entwickelnden sozialsozialistischen Unterganges nicht fahren lassen will: Auch mit allen intellektuell brillanten und genialen Einwendungen ist die reine Vernunft dem Sozialismus bislang mit nachhaltigem Erfolg nicht beigekommen. Man wird also zu erwägen haben, welche Konsequenzen aus der Erkenntnis seines Charakters als Religion zu ziehen sind. Das sicher weise Buch von Ulrich Woronowicz gehört somit zur Pflichtlektüre aller heutigen Intellektuellen.