Der Sozialstaat als Religion

Ulrich Woronowicz, Sozialismus als Heilslehre, Bergisch Gladbach 2000

Eigentlich war Gott schon tot. Der moderne Mensch hatte ihn – mit allerlei Theorie und Gerät – Stück für Stück ausgemendelt. Besonders der nach eigenem Bekenntnis ganz wissenschaftliche Sozialismus keulte seine positivistischen Erkenntnisse fortschrittsfreudig in die Welt. Am anderen Ende des Bewußtseins schrumpften die Territorien göttlicher Reiche, Tag für Tag. Die neuen Führer predigten den postklerikalen Atheismus. Wissen wurde Macht und Glaube Opium. Der Papst selbst flüchtete sich vor Eisenbahn und Blitzableiter in die eigene Unfehlbarkeit. Doch es nützte ihm nichts. Nietzsches Diagnose vom Tode Gottes war gestellt.

Mitten in diese zunehmend gottvergessende Geisteshaltung formulierte nun Ludwig von Mises im Jahre 2 der Russischen Revolution Irritierendes:

„ Der moderne Sozialismus … ist eine wirtschaftspolitische Partei, die sich als Heilslehre nach Art der Religionen gibt. … Für die große Masse seiner Bekenner ist er Heilslehre … Wer dem Sozialisten dieses Schlages mit vernunftgemäßen Einwänden kommt, findet dasselbe Unverständnis, dem rationalistische Kritik der Glaubenslehren beim gläubigen Christen begegnet. In diesem Sinne ist es durchaus berechtigt, den Sozialismus mit dem Christentum zu vergleichen. Doch das Reich Christi ist nicht von dieser Welt; der Sozialismus hingegen will das Reich des Heils auf Erden errichten. Darin liegt seine Kraft, darin aber auch seine Schwäche, an der er einst ebenso schnell, wie er gesiegt hat, zugrunde gehen wird. … Wenn der Sozialismus Wirklichkeit geworden ist, wird man erkennen müssen, dass eine Religion, die nicht auf das jenseitige Leben hinweist, ein Unding ist.“

War es am Ende tatsächlich das? Sollte der Sozialismus nur eine neue Form des christlichen Heilsversprechens sein? Ein verrücktes Paradies, verschoben auf der Zeitleiste t vom Punkt t(y) im Jenseits auf einen Punkt t(x) im Diesseits?

Welche Gefahren ein allzu unbedachtsam antezipiertes Heilsversprechen in demagogietechnischer Hinsicht birgt, war niemandem so bewusst, wie dem Führer der ruhmreichen Russischen Revolution höchstselbst. Lenin wies deswegen vorsorglich gerne darauf hin, dass jedenfalls während seiner Lebenszeit noch nicht mit einem wirklichen Sieg des Sozialismus gerechnet werden könne. Am 8. April 1920 beispielsweise formulierte er: „Neue Formen der gesellschaftlichen Bindung … zu schaffen, das ist eine Aufgabe von vielen Jahren und Jahrzehnten.“

Damit war für die Priester des Sozialismus zunächst eine Atempause von einigen Jahrzehnten für die weitere Theoriebildung gewonnen. Das Thema musste bis auf weiteres nicht vertieft werden. Und es bestand sogar die Hoffnung, daß die Problematik sich durch Zeitablauf – unter einer möglichst sinnreich gestalteten Bildungspolitik – von selbst erledige. Denn wo keiner mehr ist, der schwierige Fragen stellt, da verschwindet bekanntermaßen automatisch auch das Problem der fehlenden Antwort.

So verstrich ein gutes halbes Jahrhundert, ohne daß Lenin oder seine Jünger wieder ernsthaft mit der bohrenden Frage nach der tatsächlichen Heilsverwirklichung belästigt wurden. Dann aber geschah ausgerechnet im Mutterlande Marxens was die Großplaner in aller Welt stets zur Verzweiflung treibt und was das Christentum gerne unter den schönen Begriff des Wunders subsumiert: Es ergab sich das Unerwartete! Mitten im realsten DDR-Sozialismus lebte ein Mann mit messerscharfem Verstand, mit profunden theologischen Kenntnissen, mit bohrendem Blick auf die politischen Verhältnisse seines Staates und – vor allem – mit der nötigen Zivilcourage, seine Gedanken niederzulegen. Der protestantische Pfarrer Ulrich Woronowicz schrieb das Buch „Sozialismus als Heilslehre“.

Die Falsifizierungsbereitschaft des wissenschaftlichen Sozialismus war naturgemäß nicht groß genug, um das Werk zeitgleich mit der Existenz eines antifaschistischen Schutzwalles zum Bestseller werden zu lassen. Es fand in der DDR nicht viele Freunde. Als Ulrich Woronowicz es 1984 fertiggestellt hatte, legte er es seinem zuständigen Bischof vor. Die daraufhin fällige Kritik zum Werk formulierte der spätere Ministerpräsident des Bundeslandes Brandenburg und Toll-Collect-Minister Manfred Stolpe in seiner damaligen Rolle als Konsistorialpräsident dem Autor gegenüber mit den freundlich-diplomatischen Worten: ‚Theologische Kritik am Sozialismus ist nicht erlaubt!’. Gerade dies aber erweist sich bei Lektüre des faszinierenden Buches von Ulrich Woronowicz als – milde gesprochen – schade. Ohne Zugang zu freien Bibliotheken, beschränkt auf die wenige Literatur, derer er in der DDR habhaft werden konnte, einschließlich einiger ‚eingeschmuggelter’ Lektüre, entstand eine brillante Analyse der Zusammenhänge zwischen einerseits theologischen Erkenntnissen und andererseits sozialistischen Realitäten. Umgeben von ungezählten Gegnern, von Systemfreunden und zahlreichen „IMs“ blieb Woronowicz der klare, eigene und interdisziplinäre Blick auf die weltliche Heilslehre Ost-Berlins:

„Grundlegender Unterschied zwischen der christlichen Theologie und der orthodoxen sozialistischen Lehre ist, daß in der Theologie von einer dem Menschen unverfügbaren Kraft ausgegangen wird. Der Heilige Geist ist durch den Menschen nicht manipulierbar … Der Sozialismus versteht sich selbst als ein wirksames, die Welt nicht nur ‚anders interpretierendes, sondern wirklich veränderndes’ Instrument. … In der Rolle und Bedeutung des Kollektivs für die Herausbildung des … sozialistischen Menschen wird die ganze Überschätzung der Gemeinschaft gegenüber dem einzelnen deutlich. Weil es Gott nicht mehr gibt, ist das Gute im Kollektiv aufgehoben, es wird geglaubt, daß aus jedem Kollektiv sich schließlich das Richtige herausbilden muß … Die Partei beansprucht für sich das höchste Gut, die Verwaltung des Heils.“

Aufgabe der sozialistischen Partei ist demnach, Menschen zu schaffen, die nicht mehr hilfsbereit sind, weil sie hierzu einen wohltätigen Impetus verspüren, sondern weil sie aus zwangsläufiger proletarischer Solidarität helfen. Erst wenn es den einzelnen Menschen als Individuum nicht mehr gibt, das habsüchtig auf Geld als Zahlungsmittel im arbeitsteiligen Tausch blickt, erst dann ist das Kollektiv in dieser Vorstellung ohne Entfremdung wieder zu sich selbst geführt.

Mit Blick auf die weltweiten historischen Gewaltexzesse des Sozialismus fragt Woronowicz: „Warum lernen wir … so schwer aus der Geschichte? Wir sind doch der Wissenschaftlichkeit verbunden. … Wissenschaftler beweisen ihre Behauptungen mit Experimenten. Die Geschichte ist ein umfangreiches Protokoll über Experimente, man muß es nur unvoreingenommen lesen.“ Die Verteufelung des Geldes und der individuellen Freiheit des einzelnen haben im Sozialismus eben kein Heil gespendet. Sie haben auch keine Freiheit geschaffen. Im Gegenteil, argumentiert Woronowicz: Erst mit der Zuerkennung von individuellem, privatem Eigentum werden Freiheit und Verantwortung für den Menschen überhaupt möglich. Deren Ersetzung durch Befehle des Kollektivs führt zu Gewalt und Verderben: „Wer kommandieren darf, braucht nicht zu überzeugen, und umgekehrt: Wer überzeugt, unterlässt das Kommandieren. Spätestens hier erkennen wir, … daß Moral und Kapital nicht verschiedenen Welten angehören, sondern den gleichen Strukturgesetzen unterworfen sind. Eigenverantwortlichkeit und sinnvolles, situationsadäquates Verhalten sind die Ideale, die auch die Marktwirtschaft von der Planwirtschaft unterscheiden.

Wer dieses tiefe und gedanklich weit verzweigte Buch heute liest, den müssen die fast prophetisch anmutenden Sätze dieses Autoren über die inzwischen weiteren Entwicklungen des bundesrepublikanischen Sozialstaates geradezu entsetzen. Wie konnte ein Theologe in der DDR Ende der 1970er Jahre vorausahnen, daß hier derzeit unter dem Gesetzesbegriff der sogenannten Wettbewerbsstärkung zunehmende Restriktionen gegen Freiberufler und deren Eigentum in Kraft gesetzt werden? „So kehrt … unter dem Deckmantel des Fortschritts die Leibeigenschaft zurück“, schreibt Woronowicz.

Als das Buch um die Jahreswende 1999/2000 endlich gedruckt an das offene Licht der Welt treten konnte, hat Ulrich Woronowicz es um eine Einleitung ergänzt. In der heißt es: „Gerade für die Altbundesbürger ist es aber wichtig, zu erkennen, daß durch die ‚Achtundsechziger’ viele Elemente des Sozialismus auch zu ihnen gelangt sind. Nichts ist also überholt, nichts überwunden, alles steckt noch drin in den Köpfen der Mitteleuropäer.“ Und schon in der Ursprungsfassung seines Werkes mahnte er auch alle Nichtgläubigen, die Kräfte der kommunistischen Heilslehre zu verstehen: „Ein primitiver Antikommunismus [kann] nichts zur wirklichen Auseinandersetzung mit dieser Ideologie beitragen.

Nach allem muß jedem eines klar sein, der die Hoffnung auf eine Abwendung des sich wieder einmal entwickelnden sozialsozialistischen Unterganges nicht fahren lassen will: Auch mit allen intellektuell brillanten und genialen Einwendungen ist die reine Vernunft dem Sozialismus bislang mit nachhaltigem Erfolg nicht beigekommen. Man wird also zu erwägen haben, welche Konsequenzen aus der Erkenntnis seines Charakters als Religion zu ziehen sind. Das sicher weise Buch von Ulrich Woronowicz gehört somit zur Pflichtlektüre aller heutigen Intellektuellen.

Grüne Intelligenz im nordkoreanischen Paradies

Nachdem sich eine kritische Masse von Mitbürgerinnen und Mitbürgern in stalinistischen Vernichtungslagern zu Tode gearbeitet hatte, setzte bei den sensibleren Sozialisten unserer Welt ein behutsamer Umdenkungsprozeß ein. Während burschikosere Gemüter noch emsig auf einem (möglichst mit wohlbehauenen Steinen Frankfurter Bürgersteige gepflasterten) Ho-Chi-Minh-Pfand brüderlich zur Sonne marschieren mochten, propagierten diese Weiterdenker bereits eine neue Vision vom „Sozialismus mit einem menschlichen Antlitz“: Müßte nicht, fragten sie also sinngemäß, möglich sein, Menschen wenn schon nicht mit Hämmern und Sicheln, so doch wenigstens mit weicheren Gummiknüppeln und stumpferen Messern solidarisch in ihr Glück zu zwingen?

Doch gleich das erste europäische Experiment einer solchen freundlich-lächelnden Diktatur mit liebevollem Gesicht schlug schon bald grandios fehl. Einen Sozialismus mit menschlichem Gesicht nämlich hätten die Menschen des Prager Frühlings allenfalls dann sehen können, wäre Dubcek gestattet worden, die Panzerfronten der sowjetischen Brüder rechtzeitig entsprechend bemalen zu lassen. Das aber wurde – soweit ersichtlich – weder erlaubt, noch gar versucht. So mußte der Sozialismus also für alle intelligenten Sozialisten (ebenso für alle belesenen Analphabeten) bis auf weiteres wieder nur eine tolle Idee bleiben, deren praktische Umsetzung bislang lediglich aus im einzelnen noch unerforschten Gründen nicht sauber gelungen war.

Mit der zunehmenden Mobilität von Büchern, Zeitschriften, Rundfunkberichten, Fernsehbildern und auch Menschen verbreitete sich indes die Kunde, daß in einem fernen Land, tief im weisen und Glück verheißenden Osten, ein Herrscher aufgestanden war, um den endlich ultimativ perfekten, güldenen Sozialismus in seinen Grenzen lächelnd zu verwirklichen: Kim Il Sung rief, er gestalte in Nordkorea ein sozialistisches Paradies auf Erden. Und Luise Rinser, die christisch-sozialistisch-intellektuelle deutsche Schriftstellerin, Luise Rinser hörte seinen Ruf. Sie war Mitglied eines Internationalen Komitees für die friedliche Wiedervereinigung Koreas und sie beschloß, auf eine Reise zu gehen. Im Jahre 1980 brach sie also für mehrere Wochen auf zu einer politischen Erkundungsfahrt nach Nordkorea. Und im Jahre darauf, 1981, veröffentlichte sie ihr „Nordkoreanisches Reisetagebuch“.

Kann es sinnvoll sein, heute, 25 Jahre danach, dieses Buch zu lesen? Welchen Gewinn kann man ziehen? Um es vorweg zu sagen: Man kann es lesen und der Gewinn ist ein ungeahnter. Warum?

Das Selbstverständnis der Autorin war, wie sie eingangs beteuert, ein realitätsgetreues Bild der Verhältnisse von Nordkorea zu zeichnen. Anläßlich einer vorherigen Reise nach Südkorea im Jahre 1975 habe man dort versucht, sie zu Propagandazwecken zu mißbrauchen. Dieser Versuch aber sei gründlich fehlgeschlagen. Es sei ihr seinerzeit dort gelungen, „selbst den CIA zu täuschen, dort sah ich nicht nur brav das Erlaubte, das Schöne, sondern auch das Verbotene … die Slums … die Kinder mit den Hungerödemen, die armen bäuerlichen ‚Ami‘-Huren …“.

Im Anschluß an jene Reise habe sie ihre Eindrücke mit einem Aufsatz „im SPIEGEL“ geschildert. So wollte sie es auch in Nordkorea halten. Oder besser gesagt: So ähnlich. Denn: „Wenn es mir in Südkorea gelang, den Bewachern zu entschlüpfen, wird es mir auch in Nordkorea gelingen, oder etwa nicht? Aber warum bin ich so entsetzlich mißtrauisch? Warum diese Vorurteile? … Wer mit Vorurteilen ein Land betritt, der sieht NICHTS“. Dergestalt unvoreingenommen, ohne Arg und auf das Äußerste vorurteilslos schwebte Luise Rinser also mit ihrem Flugzeug, aus Moskau kommend, gen Pjöngyang: „Es wird immer heller, wir fliegen in den Morgen hinein, die Sonne geht auf.

Eine Abordnung von lächelnden Funktionären in dunklen Anzügen empfing Luise Rinser am Flughafen. Sie empfand alle Nordkoreaner als natürlich und angstlos, gelassen und heiter. Als Grund mutmaßte sie, daß niemand dort von der Gesellschaft allein gelassen werde und sich deshalb hilflos fühlen müsse. Dies sei sicher auch der Unterschied zu den chinesischen Kommunisten, von denen sie wisse, daß manche Funktionäre sich dort unter erheblichen eigenen Druck setzten und sich sogar aus lauter Schuldbewußtsein – „ohne daß jemand ihnen die Schuld gab“ – das Leben nahmen, weil sie „meinten, nicht genug für die Revolution zu tun“. Daß diese Selbstentleibungen chinesischer Funktionäre in Wahrheit etwas mit der von Mao seit 1947 in Yenan etablierten Gedankenkontrolle seiner Umgebung hätten zu tun haben können, kam Luise Rinser nicht in den Sinn. Vielleicht kannte sie tatsächlich die dort etablierten Pflichten zum Tagebuchschreiben nicht und die „Korrekturkampagnen“ zur Umerziehung Abtrünniger oder Zweifler.

Dies eröffnet den eigentlich faszinierendsten Aspekt bei der Lektüre des Reisetagebuches: Obwohl die zu diesem Zeitpunkt beinahe 70 Jahre alte Autorin immer wieder betont, sich nicht in die Irre leiten zu wollen, ließ sie sich doch selbst konsequent die Verhältnisse schön reden und malte sie sich auch selbst das innig herbeigesehnte Traumbild des perfekten nordkoreanischen Sozialstaates.

Im Kinderpalast von Pjöngyang fand sie unbefangene Kinder, die es dort schlicht gut hätten: „Besser könnten sie es nicht haben. Sie haben ihre Ärztinnen, ihre Untersuchungen, ihre Pflegerinnen, ihre ausgebildeten Kindergärtnerinnen. … Ein kleines Mädchen spricht fließend frei wie eine Dozentin, aber mit tänzerischen Gesten, über die Agrarprodukte, ein Junge dozierte weiter … Jedoch: Ich glaube nicht, daß sie spontan reden … Lernen sie kritisch denken? … Gibt es hier nicht eine Art langfristiger, unauffälliger Gehirnwäsche?

Anstelle der gebotenen, den eigenen kritischen Maßstäben gehorchenden Antwort auf diese selbst gestellte Frage weicht Luise Rinser sich aber offen selbst aus. Sage und schreibe formuliert sie unmittelbar weiter: „Aber wo gibt es die nicht. Nur die Inhalte sind verschieden. Wir im Westen werden indoktriniert mit dem Dogma vom Fortschritt, vom hohen Wert des Besitzes … Was wir tun dürfen und nicht tun dürfen, lehrt uns das Bürgerliche Gesetzbuch … Mir wird hier bewußt, wie sehr wir programmiert sind, so sehr, daß selbst ich das Gute, das ich hier mit eigenen Augen sehe, nur mit höchstem Mißtrauen betrachten kann“.

Schon nach dem Besuch des „Kinderpalastes“ also war dem nordkoreanischen Propaganda-Apparat augenscheinlich gelungen, jede ursprüngliche Absicht der Autorin, einen wahrhaft kritischen Blick auf die Verhältnisse zu werfen, in ein Nichts zu verwandeln. Alle weiteren Besuche und Berichte Luise Rinsers gleichen folglich einem lobpreisenden Hohelied des nordkoreanischen Sozialstaates, das jede zweifelnde Rückfrage schon im Keime erstickt.

Welcher Zauber mag Luise Rinser befallen haben, daß sie die ihr präsentierten und beschriebenen Verhältnisse blindlings glaubte? Wie konnten einer Verfolgten des Nationalsozialismus Formulierungen entgleiten, wie etwa die vom legitimen Führerkult: „Man kann tatsächlich in diesem Land nichts berichten, ohne zu sagen: Das hat der große Präsident gemacht. Man könnte das Prädikat ‚groß‘ weglassen, aber das würde wenig ändern. Selbst wer nur sagt ‚Kim Il Sung‘ oder ‚der Präsident‘, spricht das mit Respekt und Liebe aus. … Warum eigentlich nicht? In einer Zeit der rüden Respektlosigkeit von Mensch zu Mensch haben Gesten der Höflichkeit Zeichenwert und können formend wirken.“

25 Jahre vor Luise Rinser war Simone de Beauvoir bekanntlich ein vergleichbarer Lapsus unterlaufen. Nach einem ebenso sorgfältig propagandistisch vorbereiteten und begleiteten Besuch in China verglich die Französin Maos Machtumfang mit dem Roosevelts und sie protokollierte in ihrem 1958 hierüber erschienenen Werk zum „Langen Marsch“, die neue chinesische Verfassung mache unmöglich, „daß sich die Autorität in den Händen eines Mannes konzentriert“.

Doch während westliche Politiker wie Franklin D. Roosevelt, Francois Mitterand oder Pierre Trudeau sich aus größerem Abstand nicht zuletzt von eigenen Wunschvorstellungen und Fehlinformanten wie dem maofreundlichen Journalisten Edgar Snow blenden ließen, verabsäumte Luise Rinser greifbar, vor Ort nicht nur die naheliegendsten Fragen zu stellen, sondern auch die einfachsten Klarstellungen gegen Widersprüchlichkeiten zu erbitten. Nur von der dreifachen Mutter und Vize-Sozialministerin des Landes ließ sie sich die Räume der Frau erläutern: „Tatsächlich arbeiten fast alle Frauen beruflich. Die Männer haben das nicht gern … Es widerspricht der Tradition“, notiert sie und gleich darauf dann: „Müssen die Frauen arbeiten, weil das befohlen ist oder weil der Verdienst des Mannes nicht ausreicht? Aber nein! Wir WOLLEN einen Beruf haben, denn die Arbeit außer Haus ist die einzige Möglichkeit der Frau, sich selbst zu verwirklichen.

So unkritisch also bereiste Luise Rinser Nordkorea, picknickte an Stauseen und blaugrünen Meeresklippen, besuchte Musikschulen, betrachtete eine Dorfklinik, in der Tuberkulose nicht mehr behandelt werden mußte, weil sie „durch gute Ernährung und Vorbeuge-Untersuchung“ ausgerottet war, sie traf auf rudernde Kinder und Montessori-Kindergärten sowie sogar auf eine schäbige Dorfschule, deren Kinder aber sangen, im Paradies zu leben und glücklich zu sein. Allüberall fand sie also Glück, Zufriedenheit und – vor allem – Gleichheit zwischen allen Menschen, denen Nordkorea nämlich die individuelle Last des Geldes genommen hatte: „Mir fällt auf, daß hier nie von Geld die Rede ist. … Jeder Einwohner bekommt vom Staat eine monatliche Rente. … Aber die Unterschiede sind nicht groß. … Die hohen Funktionäre und Universitätsprofessoren … haben ein Auto zur Verfügung, aber es gehört ihnen nicht. … So sparen wir Benzin und halten unsere Luft sauber.

Den Höhepunkt aller Kapitel, denen fast ausnahmslos Auszüge von Plutarch über Lykurgs Herrschaft in Sparta vorangestellt sind, bildet indes Luise Rinsers Zusammentreffen mit Ihm selbst, mit dem großen Präsidenten Kim Il Sung. Er gewährt ihr eine „Audienz“, anschließend gehen beide noch gemeinsam essen. „Ich bin im Westen angesehen. Ich bin eine Sozialistin, wenn auch nicht marxistisch-leninistisch; aber eben das ist auch Kim Il Sung nicht.“ Noch einmal will sie kritisch sein, bohrend, politische Fragen stellen, „hochpolitische“ gar. Doch der Diktator bleibt heiter freundlich, ganz in sich ruhend, ohne Falschheit, ohne jedes Imponiergehabe, witzig und humorvoll, lächelnd, religionstolerant. Ein Mann! Ein Mensch! Sie glaubt ihm mit einer inzwischen unüberbietbaren Naivität, daß es in Nordkorea keine Diebe gebe, keine Räuber, keine Mörder. Sie glaubt, daß dieses Land keine Gefängnisse habe, sondern nur „Erziehungshäuser für Schwererziehbare“, in denen man aber (wegen der formenden Gesten des höflichen Respektes?) nie länger als 6 Monate verweile.

So also schließt sie ihr Reisetagebuch mit den in jeder Hinsicht bemerkenswerten Sätzen: „Der Sozialismus Nordkoreas ist der Sozialismus mit dem menschlichen Antlitz, wie in Dubcek für die Tchechoslowakei wollte und wie ihn die Sowjets niedergeschlagen haben. Aber Kim Il Sung führt ihn weiter. Seine Ideologie und seine Praxis, das ist die Alternative, das ist der Dritte Weg.

Haben diese Ausführungen aber heute, 25 Jahre danach, noch irgendeine Relevanz? Weiß die Welt nicht längst von den Suppen aus Gras in Pjöngyang und von den hungernden und sterbenden Kindern Nordkoreas? Hat sich die Diskussion über all dies erübrigt, nachdem Luise Rinser 1984 nicht – wie von den „Grünen“ gewünscht – die erste Bundespräsidentin der Bundesrepublik Deutschland wurde, sondern Richard von Weizsäcker? Nein. Im Gegenteil. Die Diskussion geht weiter, mit unverminderter Kraft. Denn auch Tony Blair und Gerhard Schröder wollten und wollen noch immer diesen „Dritten Weg“! Die Suche nach einem segensspendenen Kompromiß zwischen statthabtem Ostblock-Sozialismus und vermeintlich kaltem Kapitalismus ist bis in die Gegenwart die Mission aller postmarxistischen und transleninistischen Gralsritter. Und die derzeitigen deutschen und europäischen Visionäre eines „aktivierenden Sozialstaates“ sind dabei vom Glanz ihrer Bürokratiepaläste nicht weniger verblendet, als es gerade noch Luise Rinser im Angesicht klimpernder Kinder an nordkoreanischen Orff-Zimbeln war.

Es ist hart, die Welt so sehen zu müssen wie sie ist, statt so, wie man sich wünscht, daß sie wäre. Aber zu diesem Blick gibt es keine Alternative. Denn selbst grüne Politiker dürften eine sozial gerechte Volksernährung mit nordkoreanischer Grassuppe nicht durchgängig befürworten. Oder?

Das Tagebuch der Eva H.

Pflichtlektüre für Qualitätsjournalisten

Carlos A. Gebauer über das soeben erschienene Buch „Die Wahrheit und ihr Preis“ von Eva Herman

Als ich vor gut 25 Jahren Wolf Schneiders Buch über „unsere tägliche Desinformation“ las, wollte ich glauben, es handele sich um die Kritik an einem Randphänomen in Presse und Rundfunk. Fehlinformationen, Falschmeldungen und Unrichtigkeiten, so war ich überzeugt, schlichen sich eben unvermeidlich immer wieder ein und würden dann, sobald entdeckt, gleich sorgfältig berichtigt. Dass ein haltloses Gerücht, eine von Beginn an unzutreffende Darstellung und die Behauptung unrichtiger Zusammenhänge in meiner bundesrepublikanischen Presse auch nur eine Woche würden überleben können, schien mir schlicht unvorstellbar. Qualitätsjournalismus in Leitmedien und aus öffentlich-rechtlichen Anstalten, so meinte ich, garantierten getreue Abbildungen der tatsächlichen Vorgänge, insbesondere im Unterschied zur Presse der DDR, die Wolf Scheider damals, 1984, kontrastierend thematisierte.

Inzwischen bin ich ein Vieteljahrhundert älter und habe ich viel über Medien gelernt. Damit einher ging die Erkenntnis, dass der Aktualitätsgott dem Berichtigungsgott in medialen Welten machthierarchisch übergeordnet ist. Klatsch & Tratsch von gestern bedürfen in dieser Denkungsart wohl jedenfalls dann keiner heutigen Richtigstellung, wenn es gilt, eine andere, morgen hochbrisante Neuigkeit zu jagen. So weit, so schlecht. Man mag es hinnehmen, vielleicht im Sinne der Grönemeyer’schen Weltsicht: Der Mensch heißt Mensch, weil er vergisst; heute schreiben sie dies, morgen das – wen kümmert es?

Dann aber brach der „Fall“ Eva Herman über uns Zeitungsleser und Fernseher herein. Es hätte wohl kaum weniger Aufregung geherrscht, wäre offenbar geworden, dass die leibhaftige Enkelin des Satans jahrzehntelang die Tagesschau gelesen hatte. Kein Wort war mehr zu scharf, kein Vergleich zu heftig, um sie, die gerade noch Deutschlands beliebteste Moderatorin gewesen war, zu kritisieren, zu beschimpfen, zu ächten. Arne Hoffmann nannte es eine Hexenjagd, und wahrscheinlich wäre Eva Herman tatsächlich auf einem Scheiterhaufen gelandet, hätte nicht der Geist unserer europäischen Aufklärung dieses mittelalterliche Ritual schon überwunden gehabt. Doch, an genau diesem Geist der Aufklärung, der uns gelehrt hat, die Welt nüchtern, rational und mit wissenschaftlichem Anspruch zu betrachten, musste jeder sorgfältige Mediennutzer zweifeln, wenn er die veröffentlichte Diskussion um Eva Hermans – wie es stets hieß – „umstrittene Thesen“ sah, las und hörte. Wer ihre Kernaussagen kannte (oder sich gezielt diese Kenntnis verschaffte, was durch einfache Blicke in verfügbare Literatur möglich war), der konnte den Aufschrei schon zügig nicht mehr nachvollziehen. Wurde da nicht ganz offenkundig ein Phantom gejagt?

Zum Frühlingsanfang 2010 hat Eva Herman nun selbst einen detaillierten Bericht über die schrecklichen Ereignisse seit ihrer vieldiskutierten Pressekonferenz vom 6. September 2007 vorgelegt; jene Pressekonferenz, die sie praktisch ihre gesamten Jobs und beinahe auch ihre ganze bürgerliche Existenz gekostet hätte. Mit mustergültiger journalistischer Akribie öffnet sie ihr Tagebuch und zeichnet sie nach, wann sie wo genau was gesagt und geschrieben hatte, was exakt sie nicht gesagt und wovon sie sich expressis verbis im Vorhinein bereits mehrfach deutlich distanziert hatte.

Obwohl sie selbst fast durchgängig das subjektiv erzählende Zentrum ihres Buches bleibt, tritt sie mit ihrem gesellschaftlichen Schicksal für den Leser doch schon bald in den Hintergrund des eigentlichen Geschehens. Ihre Rolle reduziert sich im Verlauf gleichsam auf die eines Thermometers inmitten des brodelnden Skandals, wenn auch immer wieder sehr persönlich und wiederholt äußerst anrührend. Das wahre Thema ihres Buches ist ein ganz anderes: Es geht um die von Wolf Schneider dereinst auf den Namen „Desinformation“ getaufte Frage, was wir Mediennutzer von unserer Presse und unserem Rundfunk, von unseren Qualitätsjournalisten und Leitmedien, aus unseren privaten und öffentlich-rechtlichen Quellen in Wahrheit zu erwarten haben.

Denn Fehler passieren zwar überall. Das Gegenteil zu erwarten, wäre anmaßend. Wie aber gehen mediale Profis mit ihren eigenen Fehlleistungen um, wenn eben nicht nur Marginalien von gestern, belangloser Klatsch und liederlicher Tratsch in Rede stehen? Folgen verantwortungsbewusste Journalisten und Redakteure dann herdentriebhaft dem Gerüchteschwarm? Oder recherchieren sie noch einmal sorgsam, bevor sie zur millionenfach gedruckten und gesendeten Botschaft schreiten? Forschen sie nach, oder schreiben sie blind ab von dem, der ihnen Leitmedium scheint? Stehen sie souverän in der eigenen Redaktion, oder unterwerfen sie sich einem diffus gefühlten Gruppenzwang? Ist argumentativer Diskurs ihr Geschäft oder das manipulative Schüren von tagespolitisch modischen Emotionen?

Eva Herman belegt nicht nur zum wiederholten Male ihre seit jeher ununterbrochene, unverbrüchliche und tatsächlich stets klare Distanz zu politischen Extremisten. Sie tritt darüber hinaus jetzt den bemerkenswerten Beweis dafür an, dass ihre zentralen Gegenspieler jener Jahre sie greifbar gezielt und bewusst haben missverstehen wollen. Mit anderen, juristischen Worten: Ihre Gegner waren „bösgläubig“. Denn sie hatten durch die rechtzeitige Zurverfügungstellung allen notwendigen Materials unausweichlich Kenntnis davon, dass Eva Herman das, was ihr gerüchteweise in den Mund gelegt worden war, niemals wirklich selbst geäußert hatte. Selbst wenn sie die ihnen unterbreiteten Fakten aber pflichtwidrig nicht zur Kenntnis genommen haben sollten, so hätten sie die maßgebenden Tatsachen doch ohne weiteres kennen müssen.

In einer minutiösen Chronologie schildert Eva Herman also nun, was genau wo und wie geschah. Wann sie was schrieb und wem sie wann was sagte. Paradoxerweise erledigt sie damit genau diejenige Arbeit, die – sorgfältige mediale Arbeit vorausgesetzt – ein jeder publizierender Qualitätsjournalist seinerseits schon vor Jahren selbst hätte erledigen müssen. Über die Gründe dieses Unterlassens mag man noch spekulieren; über seine Auswirkungen ist man auf Hypothesen aber nicht angewiesen. In den Köpfen vieler Menschen wird Eva Herman seither mit zwei Kernbotschaften in Verbindung gebracht, die beide definitiv nicht von ihr stammen: Weder hat sie je erklärt, Mütter gehörten in die Küche, noch hat sie je faschistische Politik gutgeheißen. Beides ist nur und ausschließlich eine inhaltlich unrichtige, fiktive massenmediale Zuschreibung.

Zwar kann niemand ernsthaft erwarten, dass ihre politischen GegenspielerInnen den hochemotionalisierten, inhaltlichen Streit und die geistige Auseinandersetzung um die Rolle der Frau in einer Weise führen, wie sie beispielsweise das Bundesverfassungsgericht versteht, als offenes und der Wahrheit verpflichtetes, gesellschaftliches Suchen in einer unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung schlechthin konstituierenden Ehrenhaftigkeit. Und mögen Streiterinnen wie die von Eva Herman nun detailliert vorgestellten und zitierten Protagonisten Alice Schwarzer, Thea Dorn oder Barbara Möller auch klassenkämpferische Grundeinstellungen haben – die Habermas’schen Mahnungen zu einem fairen, herrschaftsfreien Diskurs scheinen deren Attitüde nicht zu sein. Zu brisant ist es wohl, eine politische Gegnerin mit 97%igem Bekanntheitsgrad in der Bevölkerung bezwingen zu sollen. Je aussichtsloser die Gefechtssituation, desto rücksichtsloser die Methoden?

Was aber bleibt, ist der Blick auf die Nonkombattanten des eigentlichen Disputes: Was kann einen nach seinem Berufsethos zu Neutralität verpflichteten Journalisten geritten haben, wenn er wider besseres Wissen, zumindest wider besseres Wissenkönnen, Eva Herman in politisch fragwürdige Kontexte rückte? Die mannigfaltigen Zitate bekannter und berühmter Figuren aus der deutschen Medienszene lassen erschaudern ob deren leichtfüßiger Bereitschaft zur gnadenlosen Niederwalkung der Verfehmten. Selbst der immer so freundlich blickende Friedrich Nowottny muss nun von ihr mit wenig erbaulichen Worten zitiert werden; und er ist beileibe nicht der einzige. Hanns-Dieter Hüsch würde wohl zu manch‘ bekanntem Gesicht formuliert haben: Du kommst auch ‘drin vor!

Die bis auf weiteres wohl schlechteste Figur macht aber insbesondere Johannes B. Kerner, dessen legendäre Sendung vom 9. Oktober 2007 Eva Herman einer geradezu mikroskopischen Analyse unterzieht, nicht nur im Hinblick auf die personellen Konstellationen in deren Hintergrund. Kein Zuschauer konnte an jenem Tage wissen, dass sie bis zur Aufzeichnung von allen übrigen Talkgästen getrennt empfangen und gehalten worden war. Niemand konnte ahnen, dass der als Historik-Experte präsentierte Studiogast Wippermann ihr mit blankem Überraschungseffekt entgegengesetzt wurde; Kerner hatte ihr gegenüber nichts von dessen Gegenwart erwähnt – bis er ihn plötzlich hervorbat.

Was weder das Studiopublikum, noch auch die Fernsehzuschauer wissen konnten, ja, was die breitere Öffentlichkeit erst jetzt erfährt, ist zu alledem auch noch dies: Johannes B. Kerner war von Eva Herman schon vor der Sendung mit einem detaillierten sprachwissenschaftlichen Gutachten darauf hingewiesen worden, dass sie selbst niemals – auch nicht anlässlich der wieder und wieder zitierten Pressekonferenz vom 6. September 2007 – objektiv etwas ansatzweise politisch Unkorrektes gesagt hatte. Kerner aber ignorierte dies. Die linguistische Analyse liegt nun auch für alle Leser vor. Zusammen mit vielen Auszügen aus anwaltlichen Schriftsätzen und gerichtlichen Pressemitteilungen lässt sich ein konturenscharfes Bild der in Rede stehenden Ereignisse zeichnen. Mag die Schilderung der Kerner-Sendung bisweilen auch quälend detailliert erscheinen, das ganze intellektuelle Elend jenes Tribunals erschließt sich auf diesem Wege ohne verbleibende Zweifel.

Sie wolle keine Rache und sie habe allen ihren Angreifern inzwischen vergeben, stellt Eva Herman zu Beginn ihres Buches klar. Doch ebenso sicher ist, dass sie mit der jetzigen Offenlegung ihrer Tagebuch-Chronologien wenigstens einen moralischen Anspruch auf endlich rationale Befassung der Medien mit dem Fall hat. Denn an der Richtigkeit ihrer Darstellungen lässt sich ernsthaft nicht zweifeln. Im Gegenteil: Die aus Schaden klug Gewordene hat jeden einzelnen ihrer Sätze justiziabel formuliert und ein jeder wird aller seriösen gerichtlichen Überprüfung standhalten. Immerhin war es – von einer einzigen, gleichwohl umso bemerkenswerteren arbeitsrechtlichen Ausnahme abgesehen – die funktionierende deutsche Justiz, die Eva Herman inzwischen vielfach Schutz bot gegen das stattgefundene Medienversagen.

Die offenliegenden Fehlleistungen eben jener Qualitätsmedien nötigen nach dieser minutiösen Klageerwiderung nun jeden Journalisten, der sich des Themas in den letzten Jahren angenommen hatte, zu einer berufsethisch einwandfreien Revision seiner eigenen Leistungen. Nun kann niemand mehr behaupten, er kenne nicht alle Fakten. Nun ist aller Recherche der Weg bereitet. Die verurteilt haben, müssen wieder reden, wollen sie seriöse Journalisten sein. Wer über das Offenliegende schweigt, disqualifiziert sich selbst und entzieht sich damit den Achtungsanspruch, sorgfältig zu arbeiten; vielleicht am langen Ende sogar den privilegierten Existenzanspruch, gebührenfinanziert arbeiten und eine norddeutsche Tagesschau produzieren zu dürfen. Wer sich berühmt, die „vierte Gewalt“ sein zu wollen, der muss wenigstens die Standards der dritten erreichen. Und wer glaubt, noch immer Vorwürfe erheben zu dürfen, der steht nun also in schwerer Darlegungs- und Beweislast. Der Ball jedenfalls liegt wieder im Feld.

Die Wahl des Verlages für ihr Buch hat Eva Herman jedenfalls mit großer strategischer Finesse getroffen. Jochen Kopp ist nämlich der wohl derzeit erfolgreichste Verleger Deutschlands. Mag sein unternehmerisches Ziel, Schwächeren und Minderheiten Gehör zu verschaffen, auch bisweilen belächelt worden sein; der überwältigende Erfolg gibt ihm auf geradezu basisdemokratische Weise Recht. Auf die Frage, ob das Buch Eva Hermans wohlmöglich von der erschrocken-betroffenen Medienszene totgeschwiegen werden könne, lächelt er mild und blickt entspannt in die Frühlingssonne. In weniger 24 Stunden, sagt er, wird mehr als eine halbe Million Menschen in Deutschland das Titelbild des Buches aus dem eigenen Briefkasten gefischt haben. Da gibt es journalistischen Erklärungsbedarf. Wie immer bei vorangegangenen Desinformationen.

Eva Herman: „Die Wahrheit und ihr Preis – Meinung, Macht und Medien“, Rottenburg, 2010, (ISBN 978-3-942016-28-5)

Ellis im Wunderland

von Carlos A. Gebauer

Ellis Huber ist Mediziner und Funktonär im Gesundheitssystem. Erst als Ärztekammerpräsident, dann als Vorstand einer Krankenkasse. Derzeit wagt er sich literarisch in die Sphäre der politökonomischen Gestaltung. In seinem jüngsten Buch fordert er „die Gesundheitsrevolution“.

Daß nun ein Arzt Politik, Ökonomie und Juristerei betreibt, müßte im Grunde nicht weiter bekümmern. Auch könnte – beispielsweise – ein Anwalt chirurgische Tips zur pfiffigen Naht an einem Milzriß geben oder revolutionär über orthopädische Dampfbügeleisen-Therapien durch nackte Haut veröffentlichen. Der Unterschied wäre nur: Jener Anwalt ließe sich sofort zwanglos als harmloser Spinner entlarven, der von dem, was er schreibt, keine Ahnung hat. Bei einem etablierten Gesundheitsfunktionär liegen die Dinge anders. Was der sagt, das hat für das breite Publikum Gewicht, selbst wenn es fachkundigen Ökonomen und Juristen den Angstschweiß aus der Haut treibt. Aus Journalistenkreisen verlautet sogar, daß man ausgerech-net jenen Ellis Huber gerne konsultiere, wenn Fragen der Gesundheitsversorgung zu diskutieren sind.

Was aber besagt die Huber’sche „Gesundheitsrevolution“? Der Leser taucht nicht nur ab in die – sinngemäß – noch behagliche Darstellung, nett sein zueinander halte Menschen gesund. Hinter diesen zuweilen sogar wissenschaftlich befußnoteten Thesen lauern die kältesten Tiefen eines schäumenden Meeres von massiven Fehleinschätzungen. Gemeinsam mit Kurt Langbein führt Huber seinen Leser zwang- und gliederungslos mal durch medizinische Statistiken, mal durch Einzelfallschilderungen, mal durch therapeutische Kritiken, um sodann hieraus die bemerkenswertesten Schlüsse zu ziehen. Wir Laien lernen erstaunt „Gesundheit läßt sich nicht verordnen“ und hören den Ruf nach einer „anderen Rationalität“. Wie genau die allerdings aussähe, das wird – abgesehen etwa von der Forderung nach „Tanzkursen“ in Krankenhäusern – nicht ansatzweise konkret mitgeteilt. Statt Handfestes zu beschreiben, wird wortwolkig mal eine „ökosoziale“ Erneuerung des Systems gefordert, mal eine „biopsychosoziale Medizin“ – was immer das eine oder das andere im einzelnen sein sollten. In Begeisterung für megabehördlich ferngesteuerte – trotzdem aber „souveräne“ – Patienten brennen die Autoren ein grelles Feuerwerk der sagenhaftesten Widersprüchlichkeiten ab: Schlecht sei einerseits, daß die „Krankheitsindustrie die Regeln der Marktwirtschaft völlig auf den Kopf “ stelle, andererseits aber, daß ein „Turbo-Kapitalismus“ Wunden schlage. Dann wieder fordern die Verfasser eine „Abkehr von der Egomanie“, um gleich im nächsten Absatz einer „Authentizität der eigenen Persönlichkeit“ zu huldigen. Wenn ihre argumentativen Perversionen über die „Reanimation des Sozialen“ schließlich soweit gediehen sind, daß sie wegen schädlicher „Nebenwirkungen von ungewollten Schwangerschaften“ (Kind?) über die verbesserte Finanzierung von Abtrei-bungen sinnieren, dann spätestens werden sich die meisten Leser, die nicht durch die Abgründe des deutschen Gesundheitswesens schon endgültig jede intellektuelle Orientierung verloren haben, aus diesem Werk verabschieden. Die wenigsten Leser werden daher bemerken, daß Huber zu allem Überfluß – gleichsam zum Beleg seiner welthistorischen Unbedarftheit – für die Gesundheitsversorgung auch noch eine „Kulturrevolution“ fordert. Wenn solche Ärzte weiter Gesellschaftspolitik betreiben, werden Anwälte bald wirklich selbst operieren müssen.

Friedrich Merz entknotet die Gesundheitsfrage

Am Beginn jeder seriösen Therapie stehen Anamnese und Diagnose. Für die Heilung eines multimorbiden Gesundheitssystems kann anderes nicht gelten. Friedrich Merz hat daher 22 Autoren aus unterschiedlichen Perspektiven gebeten, das monströse Knäuel des deutschen Gesundheitswesens zu entwirren. Die hierbei präsentierten einzelnen Fäden schaffen in der Tat erfreulich deutliche Ein- und Übersichten.

Geradezu erwartungsgemäß resultieren die größten Erkenntnisgewinne jener Diagnostik jedoch nicht aus den politischen Fakultäten. Denn deren Hauptaugenmerk liegt allzu gerne – wie Bert Rürup mit dem Blick des Eingeweihten schonungslos offenbart – in der Konstruktion unverbindlicher „black boxes“, deren politischer Wert ihre Unangreifbarkeit gegen Kritik sei.

Herausgearbeitet wird vielmehr quer durch alle Beiträge das Widerstreiten von mechanischer Naturwissenschaft einerseits und technisch nicht beschreibbarer Heilkunst andererseits. Die eine Linie der Fortentwicklung des Systems konzentriert sich daher nur folgerichtig auf die gleichsam tayloristische Dimension der Standardisierung von medizinischen Abläufen. Eine andere betont Zuwendungsaspekte, historisch verortet bei Paracelsus, der die Liebe des Arztes zum Patienten in den Mittepunkt des Heilens stellte. Welcher Weg ist nun richtig, welcher besser?

Unter dem Gesichtspunkt ökonomischer Beherrschbarkeit kann nicht erstaunen, daß qualitätssichernde Flussschemata die „Industrialisierung des Krankenhauses“ einleiten und ihr als Königsweg erscheinen. Der Gefahr einer Entmenschlichung wirke, meint Eugen Münch, die „Sicherheit aus Professionalität“ entgegen. Frei entfesselte Heilkünstler müssen in dieser Weltsicht geradezu zwangsläufig in den wirtschaftlichen Ruin führen. Umgekehrt kann die strikte Einbindung des jeweiligen Behandlungsgeschehens in starre Normvorgaben ebenfalls keine Rettung verheißen. Denn der administrative Aufwand ihrer Verwirklichung verschlingt genau die Ressourcen, derer die Medizin selbst bedarf. Jörg-Dietrich Hoppe reklamiert daher Niederlassungsfreiheit, freie Wahl des Arztes und Therapiefreiheit. Einen jeden Patienten wird es freuen.

In blitzgescheiten Beiträgen und mit dankenswert klaren Worten geißeln Erik Händeler und Reinhard Bauer quasireligiöse Erlösungserwartungen an den Staat ebenso wie die sozialromantischen Opferrituale unserer Politik auf den Altären tagespolitischer Opportunitäten. Cornelia Yzer erläutert, warum zunehmend unkalkulierbare politische Reformschritte das pharmazeutische Unternehmertum in Deutschland zu einem Lotteriespiel machen und Günter Dibbern erklärt anschaulich die gezielte wirtschaftliche Auszehrung der privaten Krankenversicherung, sofern nicht endlich der Mut gefunden werde, wieder „die richtigen Schritte zu gehen“. Warum gute Medizin auch rationale wirtschaftliche Rahmenbedingungen braucht, legen Heinrich M. Schulte und Rolf Günther nüchtern dar. Konrad Adam entzaubert den Glauben an bürokratisch sichergestellte Volksgesundheit mit Blicken nicht nur auf die schon gescheiterte britische Bürgerversicherung.

Rechtspolitisch unkommentiert referieren Alexander P. Ehlers, Horst Bitter, Simone von Hardenberg, Thorsten Ebermann und Antje-Katrin Heinemann diverse Stände des derzeitigen Gesundheitsrechtes. Eine verfassungsrechtliche Wertung beispielsweise des Umstandes, daß die Anstellung eines Arztes im vertragsärztlichen Bereich der behördlichen Genehmigung bedarf, und eine Stellungnahme zum Verständnis der eigenen gesundheitlichen Prävention als „gesellschaftlicher Pflicht“ hätten diese Beiträge allerdings abgerundet. Dabei hat doch gerade dieses Pflichtverständnis des Einzelnen gegenüber der Allgemeinheit durchaus einen „ambivalenten Charakter“, wie Peter Oberender und Jürgen Zerth eher noch vorsichtig formulieren.

Die Verwirrungen und Unsicherheiten zwischen den Extremen ärztlicher Liebe hier und Zwangsverwaltungswirtschaft dort finden sich nämlich zwangsläufig auch in der konkreten Betrachtung der jüngsten Gesetzesänderungen. Entwickelt sich vor unseren Augen ein mehr privatisiertes System oder dringt „mehr Staat“ ein? Interessanterweise fürchtet Herbert Rebscher beides, wiewohl er ein „Erwachsenwerden der Krankenkassen“ zu begrüßen scheint. In seiner Doppelfurcht spiegelt sich jedoch ganz symptomatisch auch die Fragwürdigkeit der gegenwärtigen Gesetzgebung insgesamt. Können Behörden überhaupt miteinander in Wettbewerb treten? Und sind sie legitime „player“, wie Rebscher meint, mit der Gesundheit ihrer Mitglieder? Nicht zuletzt derartige grundsätzliche Desorientierungen seiner Protagonisten machen es der Politik bislang so leicht, einzelne Argumentationsstränge in ihrer „black box“ zu undurchsichtigen Bündeln zu schnüren.

In seiner Schlussbetrachtung zeichnet Matthias Horx die Schreckensvision einer Renaissance des Totalitären. Eine „Oberste Health Behörde“ zwingt den einzelnen mit „knallharter Sanktion“ zu gesellschaftsdienlicher Prävention an seinem Körper. Ihr stellt er eine Fusionsmedizin gegenüber, die Brücken schlägt zwischen Technik und Seele, für die Zeit nach dem finanziellen Kollaps des gehabten Systems. Denn die Zukunft liegt nicht da, wo man seiner Krankenkasse rechenschaftspflichtig ist, sondern dort, wo jeder einzelne „gesundheitsklüger“ geworden sein wird.

Dem fast ausnahmslos lesenswerten Werk ist weithin Gehör zu wünschen. Denn die Zeit, in der – mit den Worten Reinhard Bauers – „die Zahl der Ideologen leider größer als die der Experten“ ist, muß zügig ein Ende finden, um an die Diagnostik eine kluge Therapie anzuschließen.

Rezension
von Carlos A. Gebauer, Rechtsanwalt in Duisburg

Friedrich Merz (Hrsg.)Wachstumsmotor Gesundheit: Die Zukunft unseres Gesundheitswesens Carl Hanser Verlag München, 2008, 406 Seiten, € 19,90 ISBN 978-3-446-41456-3

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