Udo di Fabio: Die Kultur der Freiheit, München 2005, Verlag C.H. Beck

Die grundlegenden Ideale moderner westlicher Staates – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – kamen nicht aus dem Nichts. Sie wurden im Gegenteil gleichsam organisch geboren aus einer gewachsenen und wachsenden Kultur. Ordnungen und Traditionen der konkreten abendländischen Kultur gehen den rechtlichen und staatlichen Ideen des Westens also bereits zeitlich voran. Gesellschaftsrelevantes Handeln innerhalb dieser Gemeinschaften basiert aber zugleich auch systematisch unausweichlich stets auf den Werten genau dieser Kultur.

Was, fragt Udo di Fabio nun, geschieht mit einer Gesellschaft, wenn sie ihre kulturellen Wurzeln vergißt oder sie – im Ringen mit ihrer bisweilen auch tragisch fehlgedeuteten Geschichte – verleugnet? Haben eine Gemeinschaft und ihr Staat, im Inneren wie nach außen, noch eine Zukunft, wenn sie elementare kulturelle Grundvoraussetzungen ihres Zusammenlebens verkennen oder nur gering achten? Seine These, daß die Kultur einer Nation gleichsam die Folie ist, auf die jedwede juristischen Thesen erst geschrieben werden, reiht der Bundesverfassungsrichter di Fabio sowohl in historische wie völkerrechtliche Kontexte.

Auf ersten oberflächlichen Blick könnten seine Erörterungen als bloße Kritik an den Deutschland und Europa bis heute prägenden gesellschaftlichen Dekonstruktionen der ‚68er‘ erscheinen, die den autoritären Staat zu bekämpfen vorgaben, seine Herrschaftsansprüche jedoch im Ergebnis gerade intensivierten. Sein deutliches Eintreten für Ehe, Familie und insbesondere für Kinder als ebenso unverzichtbaren, wie positiven und elementaren Urzellen jedes menschlichen Zusammenlebens bürstet die obwaltende political correctness zudem ebenfalls heftig gegen den Strich. Aus ersten Schnellschußkommentaren war dann auch tatsächlich zu vernehmen, di Fabio wolle zurück in den behaupteten deutschen Muff und Mief der 1950er Jahre. Wer di Fabio indes so liest, hat ihn deutlich mißverstanden. Es geht ihm gerade nicht um das bloße Wiederaufkochen einzelner historischer Perioden, sondern im Gegenteil um eine selbstbewußte Fortentwicklung grundlegender Werte und Traditionen zur Schaffung einer neuen Bürgerlichkeit, die sich – in klarer Öffnung auch zu Lebensformen ohne jedes klassische Vorbild – in Vielfalt und Kraft ihre eigene weltoffene Zukunft erschließt.

Auf der Einsicht, daß kein noch so regelungseifriger Staat mit den anspruchsvollsten sozialmechanistischen Illusionen je denjenigen bürgerlichen Kitt wird schaffen können, der eine Gesellschaft auf Dauer in ihrem Innersten zusammenhält, beruht sein Plädoyer für eine kulturelle Wende sowohl in Deutschland, wie im Westen insgesamt. Was aber ist der zentrale kulturelle Gemeinschaftshorizont, der alles verbindet? Ist es der herrschende Egalitarismus im Ergebnis, der alle und alles gleichzumachen trachtet? Oder ist es die Freiheit des Individuums, die aus seiner Menschenwürde als der einzigen Quelle jeder westlichen Herrschaftslegitimation teils gesetzt, teils deduziert ist?

Di Fabio optiert für die Freiheit, und er tut es mit besten Gründen. Nicht nur, daß unsere geschriebene Verfassung die Freiheit systematisch noch vor die Gleichheit gesetzt hat, sondern insbesondere auch die Erwägung, daß der individuelle personale Achtungsanspruch eines jeden Menschen für sich selbst dessen generelle Vergesellschaftung praktisch verbietet, ist Ursache dieser Erkenntnis. Mehrfach weist di Fabio beispielsweise darauf hin, daß die Scheingleichheiten des unsäglichen ‚Antidiskriminierungsrechtes‘ in Wahrheit nichts anderes sind, als Fehldeutungen der Gleichheitsmaxime und tragische Rückfälle in vormoderne Entwicklungsstände. Nicht Gruppen von Menschen müssen gleich sein, sondern alleine einzelne Menschen mit ihrer jeweiligen individuellen Würde sind der Maßstab. Mit Verwunderung stellt di Fabio auch fest, wie leise die mediale Kritik an solcherlei Abwegen bislang ist, namentlich, wenn übernationale Instanzen vom Weg der Freiheit abirren. Es mag die Freiheit bisweilen ihre Härten haben, aber sie hat gerade auch eine unersetzbare Anziehungskraft. Die läßt sich nicht leugnen, sobald man die gewachsene Kultur als Voraussetzung des europäischen Menschenbildes verstanden hat und beachtet.

Mit seinem Einstehen für die Freiheit als dem zentralen Wert europäischer Staatlichkeit verbindet sich bei di Fabio allerdings mitnichten eine landläufig gerne als „soziale Kälte“ diffamierte Geisteshaltung. Vielmehr webt er seinen Freiheitsbegriff in ein System der individuell gewählten und effektiv gelebten Bindungen der Menschen untereinander. Denn nur derjenige, der die kulturelle und in lebensweltlicher Vernunft erprobte Gemeinsamkeit von Menschen erfaßt und erlebt hat, kann seine Traditionen beherrschen, um Freiheit zu gestalten. Nicht Umverteilung, sondern nachvollziehbare Gegenseitigkeit in Geben und Nehmen ist das Elexier, aus dem jede funktionsfähige Gemeinschaftlichkeit sich nährt. In diesen Zusammenhang fügen sich die deutlichen Hinweise, daß alles „Soziale“ seine Wurzel gerade nicht in der Gleichheit, sondern in der Brüderlichkeit findet und daß die geradezu essentiell gewordenen, immensen Erwartungshaltungen an den bundesdeutschen Staat schlicht das Symptom einer korrekturbedürftigen deutlichen Fehlleitung ihres kulturellen Systems sind. Dieser Korrekturbedarf folgt nach di Fabio nicht selten aus den von ihm vielfach skizzierten Paradoxien einzelner Theorieansätze. So gerät das durch alle Definitionen, Geschichten und Systeme allgegenwärtige Paradox gleichsam zum zweiten Leitmotiv seiner Darstellungen.

Es wäre – neben dem ungeheuer spannenden Projekt, das geltende deutsche Arbeitsrecht mit den Grundsätzen des von di Fabio beschriebenen Gegenseitigkeitsprinzips abzugleichen – von einigem Interesse, die greifbaren Parallelen im Denken einerseits Udo di Fabios und andererseits Hans-Hermann Hoppes oder Roland Baaders näher zu beleuchten. Denn auch deren konsequentes Eintreten für juristische Freiheit und ausgeweitetes Zivilrecht basiert bekanntlich maßgeblich auf traditionellen christlichen Werten. Nicht zuletzt aber die Feststellung, daß das Vertrauen auf Freiheiten mit Udo di Fabio einen Vertreter bei dem Bundesverfassungsgericht gefunden hat, stimmt vorsichtig zuversichtlich, daß die Ideale der Freiheit anstelle der Intensivierung allen Etatismus in Deutschland vielleicht doch noch nicht tot sind.

Mao Tse-tung

Man wird sich – als Deutscher und Europäer – in aller Regel nicht an die Lektüre einer Biographie über das Leben Mao Tse-tungs begeben, weil man glaubt, in ihr Informationen über das eigene Leben und die politische Situation der nächsten Gegenwart zu erhalten. Doch die von Jung Chang und Jon Halliday vorgelegte Biographie über das Leben Maos1 belehrt uns eines besseren. Die folgende kurze Zusammenfassung desWerkes mag hiervon eine erste Vorstellung geben. Und sie mag anregen,durch eigene Lektüre die Details jenes weltrevolutionären Abgrundes zu erforschen.

Mao wurde im Jahre 1893 in einfache, bäuerliche Verhältnisse geboren.Das Ende der Mandschu-Dynastie bedeutete für China den Beginn des gesellschaftlichen und politischen Wandels in die Moderne2. Aus seiner Anschauung des Zusammenbruches der alten Strukturen zogMao bald eine eigene weltanschauliche Konsequenz: Tod und Zerstörung müssten stets die Vorbedingung für neue Formen und Gestalten sein3. Es war dies der Boden, auf dem schon bald seine Maxime „Brennen,brennen, brennen! Töten, töten, töten!“ wachsen sollte4. Eher noch zufällig schloß er sich jedoch zunächst –27jährig – den chinesischen Kommunisten an5.

Innerhalb der kommunistischen Partei machte Mao bald – abgesehen von einigen Rückschlägen – kontinuierlich Karriere. Auf Veranlassung der sowjetischen Führung in Moskau unterteilten seine Agitatoren die chinesische Bevölkerung zunächst in unterschiedliche Klassen. Dann riefen sie die „Armen“ gegen die „Reichen“zum Aufstand auf6. Die Definition dessen, was genau eigentlich „Reichtum“ ausmache, hielt Mao dabei bewusst undeutlich. Ziel dieser Unbestimmtheit war, das allgemeine Terrorpotential zu steigern. So konnte beispielsweise ein Bauer, der einige Hennen besaß oder mehrere Liter Öl zum Kochen als „reich“ klassifiziert werden7. Später galten dann auch „aktive Verkäufer“ als reich und wurden so zum tauglichen Objekt von Verfolgungsmaßnahmen8. Das Spektrum der Kampfmaßnahmen gegen den Reichtum anderer umfasste bald auch die Todesstrafe, zu deren Begründung – in Anlehnung an stalinistische Erfahrungen – auf den Begriff des „reichen Bauern“ oder des „Kulaken“ zurückgegriffen wurde9.

Um dasWirtschaften im Sinne der kommunistischen Gerechtigkeitsideen neu zugestalten, verfügte Mao, dass die Mieten gesenkt und die Löhne erhöht werden mussten. Unter der Parole „Jeder der Landbesitzt, ist ein Tyrann“ kam es schon bald zu ersten Zusammenbrüchen der sozialen Ordnung10. Im Zuge seiner gewaltsamen Umverteilungsmaßnahmen von den Reichen an die Armen formulierte Mao dann erstmals am 7. April 1927 die Erkenntnis: „Die Macht kommt aus den Gewehrläufen“. Der zentrale Begriff jedweder Neugestaltung gesellschaftlicherVerhältnisse wurde nun ebenfalls geprägt; er lautete:„Reform11.

Um die Mitglieder seiner Requirierungstrupps bei ihrem alltäglichenRaub zum Nachteil der „reichen“ Bevölkerungsteile angemessen zu beteiligen (und somit auch deren Kampfmoral aufrecht zuerhalten, damit es nicht zu eigenmächtigen Plünderungen komme12), richtete er bei diesen sogenannte „Soldatenkomitees“ ein. Deren Aufgabe war, bei der Verteilung aller Beute die soldatischen Mitbestimmungsrechte geltend zu machen13. Im übrigen galt der strenge Grundsatz, dass alles requirierteGut unbedingt abgeliefert werden musste14.

Der entstehende kommunistische Staat betrachtete seine Bevölkerung bald als Lieferantin von Geld, Lebensmitteln, Arbeitskraft und Soldaten. Allerdings bereitete Schwierigkeiten, sowohl die Produktivität des Volkes aufrechtzuerhalten, als auch den gewaltsamen Kampf gegen bestehende Strukturen im Volk fortzusetzen15. Um den Widerspruch dieser beiden Zielstellungen aufzulösen, propagierte Mao nun die Gleichberechtigung der Frau. Diese Gleichberechtigung bedeutete Unabhängigkeit von ihrem Mann –und eigene Beteiligung an der Produktion16. Zur Sicherstellung der Produktion wurde demgemäß auch der schwere Arbeitsdienst für Frauen verpflichtend17.

Um jede Kritik gegen dieses Gleichheitsideal im Ansatz auszuschalten, gab Mao nun die Losung vom „absoluten Egalitarismus“ aus18. Damit war klargestellt: Nicht nur die Unterschiede zwischen arm und reich, sondern auch die zwischen Mann und Frau sollten durch konsequente faktische Gleichstellung beseitigt werden. Besonders Gleichstellungsmaßnahmen zwischen Mann und Frau hatten auch noch weitere, gewünschte Effekte: Nicht nur das der Besteuerung zugängliche Produktionsvolumen stieg; auch die persönlichen Bindungen innerhalb der Familie und zwischen den Familienmitgliedern wurden geschwächt, wodurch sich die „Säuberungen“ auf den Dörfern erheblich vereinfachten19.

Die Maschinisierung des gesamten Volkes durch einheitliche staatliche Bürokratie war damit eingeleitet. Diese Maßnahmen aus den späten 1920er Jahren sollten sich bei Mao dann bis zum Jahr 1962 zu dem Plan verdichten, ausnahmslos alle Facetten des menschlichenLebens zu politisieren: „Was er wollte, war eine Nation von Hirntoten, damit er seine große Säuberung durchführen konnte20.

Obwohl erden Menschen zunächst eine „Volksherrschaft“ versprochen hatte, organisierte er doch faktisch die Totalenteignung der Bevölkerung. Dasjenige Land, das er den „Armen“ erst durch „Reformen“ übereignet hatte, wurde nun in seinem Ertrag vollständig besteuert. Weil ihm jedoch die Einnahmen aus diesen Steuern noch immer nicht genügten, erhob erzusätzliche Sonderabgaben unter der Bezeichnung „Zwangsdarlehen“. Trotz ihrer Bezeichnung als Darlehen kam es jedoch nie zu einer Rückzahlung. Die „Armen“ kamen daher faktisch nie in den Genuß von Vorteilen aus dem ihnen übertragenen Land21.

Um die bürokratische Überwachung des Volkes sicherzustellen,ergriff Mao diverse flankierende Maßnahmen. An die Stelle persönlicher Freizügigkeit traten Passierscheine für jedermann und alles. Auf den Dörfern patrouillierten rund um die Uhr Wachen22.

Neben all diesen internen Maßnahmen auf dem von ihm bereits eroberten Gebiet führte Mao konsequent seinen Feldzug zur Eroberung der Macht im gesamten China fort. Auf dem legendären „LangenMarsch“ mit seiner Armee quer durch China zwang er ungezählte Menschen unter unwürdigen Bedingungen, Waffen und Gerät zu schleppen, während er selbst sich in einer Sänfte tragen ließ, in der er sich verschiedener Literatur widmete23. Absoluter Egalitarismus oder Regeldisziplin galten für ihn selbst nicht24. Nach einem Jahr des Marsches mit anfangs 80.000 Mann und einer Strecke von über 10.000 Kilometern hatte er jedenfalls die Führungsrolle der kommunistischen Partei weitgehend erobert.

Mit dieser Stellung war Mao nun nicht nur zum definitiven Hauptgegner Chiang Kai-sheks avanciert, sondern auch zum ernsten Ansprechpartner aller sowjetischen Interessen in China25. Stalin sah daher Anlaß, Maos Söhne vorsorglich als seine Geiseln nach Moskau zu holen; Mao war einverstanden, es diente seinenPlänen26. Während Deutschland und Japan im November 1936 den „Antikominternpakt“ abschlossen und damit für Stalin die mögliche Gefahr eines Zweifrontenkrieges begründeten,begann Mao einen Propaganda-Feldzug auf dem Weg zur angestrebten Weltbedeutung: Hierzu empfing er den ihm geneigten amerikanischen Journalisten Edgar Snow, der für Saturday Evening Post und New York Herald Tribune schrieb. Diesem unkritischen Zuhörer diktierte er praktisch alle Details seiner propagandistisch schöngefärbten Biographie, einschließlich der Behauptung, den „Langen Marsch“ selbst wie ein einfacher Soldat zu Fuß zurückgelegt zu haben. Im Winter 1937/38 erschient daraufhin Snows Buch „Roter Stern über China“, der im Westen zu einem positiven Stimmungsbild für Mao wesentlich beitrug27. Die Tatsache, dass auch Theodore Roosevelt jenen Edgar Snow kannte und ihm glaubte28, bewirkte das weitere. Der Mythos eines ‚tugendhaften Mönches in revolutionärer Reinheit29 begann sich zu entwickeln.

Unterdessen starben in China bereits weitere Menschen. Millionenfach. Der chinesisch-japanische Krieg kostete rund zwanzig Millionen Chinesen das Leben30. Um diesen Krieg zu beenden, versuchten sich die Japaner an psychologischer Kriegsführung. Sie erfanden die „Friedensbewegung“, um China zur Kapitulation zu bewegen,ohne Erfolg31. Innerhalb Chinas waren Chiang Kai-shek und Mao damit beschäftigt,Bürgerkrieg zu führen und Spekulationen darüber anzustellen, welche Rolle die Sowjetunion hierbei am besten spielen könne. Mao plante, Chiang Kai-shek mit 150.000 Soldaten anzugreifen, den Angriff jedoch vorsorglich als „präventive Gegenoffensive“ zu bezeichnen. Als Stalin Ende 1941 bat, Mao möge die Japaner mit kriegerischen Aktionen beschäftigen, damit er Hitlers Truppen von Moskau fernhalten könne, wies ihn Mao ab. Er behauptete, seine Truppen seien zu schwach, um gegen Japan anzugehen. Im übrigen empfahl er Stalin, gegen Hitler einen Guerillakrieg zu führen32. Mao wollte sich nicht „außenpolitisch“ verzetteln; er brauchte seine Kräfte für die Machtabsicherung im Inneren.

Im Frühjahr 1942 begann er in dem von ihm gewählten Stützpunkt Yenan ein gewaltiges Umerziehungsprojekt namens „Korrektur-Kampagne33. Um jeden intellektuellen Widerstand zu brechen, etablierte er ein System der gegenseitigen Überwachung und Kontrolle aller gegen alle. Geradezu ununterbrochen mussten sich die Menschen zu Versammlungen treffen, wurden sie verhört und zur Niederschrift und Veröffentlichung aller ihrer Gedanken genötigt. Wer nichts zu verbergen habe, der könne sich daran schließlich nicht stoßen, hieß es. Tagebücher mussten abgegeben werden, Humor wurde verboten. Der wohl gefährlichste Straftatbestand hieß „Sonderbare Dinge sagen34. Nicht sonderbar in diesem Sinne war allerdings, dass für Mao selbst – trotz alles absoluten Egalitarismus – die hervorstechendsten Privilegien galten: Einen von chinesischenWäschereiarbeitern in New York gespendeten Krankenwagen privatisierte Mao für seinen persönlichen Einsatz; Protest hiergegen war ebenso verboten, wie Kritik an dem „Parteibefehl“, dass Mao jeden Tag ein Hühnchen essen müsse35. Alle sozialen Beziehungen mussten im übrigen in Schriftform offengelegt werden, jede Privatheit war ausgeschlossen36.

So wurden es namentlich jene detaillierten Kenntnisse über jedermann, die Mao über die Jahre mehr und mehr ermöglichten, kraft Detailwissens Macht über seine Mitarbeiter und Untergebenen zu erlangen. Deren Angst vor Folter und jeder sonstigen Benachteiligung förderte den zugleich von Mao fortgeschriebenen Kult um seine eigene Person37. Die Kosten für den Personenkult und die exzessiv vorangetriebene Bürokratisierung allen Lebens in China uferten mehr und mehraus. Mao reagierte, indem er die Getreidesteuer verdoppelte und zusätzlich eine Steuer auf Pferdefutter erhob. Gegen die Unzufriedenheit der Bevölkerung ergriff er zwei Maßnahmen: Zum einen frisierte er die Bilanzen, zu anderen verkündete er, faktisch seien die Steuern gesenkt worden38.

Vorschläge, Armee und Verwaltung zu verkleinern, blieben nicht nur ungehört. Sie verstummten, nachdem deutlich wurde, dass derartige Anregungen als Anlaß zu politischer Anklage dienen konnten. Lediglich zu Propagandazwecken nahm Mao das Sprichwort vom verkleinerten Apparat auf39. Nachdem auch der Versuch, weitere Mittel durch den Anbau und Handel mit Opium zu beschaffen, gescheitert war, griff Mao auf geldpolitische Maßnahmen zurück. Im Juni 1941 ordnete eran, die lokale Währung in unbegrenzter Menge zu drucken. Die lokale Wirtschaft brach zusammen. Den inzwischen drogensüchtig gewordenen, verzweifelten Bauern versprach Mao, ihnen werde mit Medikamenten geholfen und „die Armen“ müssten für ihre Behandlung nichts bezahlen.

Nur selten zweifelte Mao an dem, was er tat. Anfang 1940 hatte er, offenbar müde von seinem politischen Kampf, seinen Söhnen geraten, sich von Politik generell fernzuhalten40. Schlechte Stimmung bei seinen Soldaten und antisowjetische Gefühle seiner Bevölkerung führten dann im November 1945 wieder zu einem Nervenzusammenbruch41, von dem er sich jedoch – nicht zuletzt wohl dank US-amerikanischer Hilfe im Kampf gegen Chiang Kai-shek – bald wieder erholte.

Mao entdeckte für sich weiter die Möglichkeiten der Propaganda– und die des Hungers. Um Waffen von Stalin zu erhalten, sandte er chinesische Lebensmittel in die Sowjetunion. Der eigenen, hungernden Bevölkerung erklärte er, deren Hunger sei Konsequenz des Krieges. Seine Mitarbeiter wies er an, den Begriff des „Klassenkampfes“ zu meiden und statt dessen zu propagieren, man kämpfe für die „Demokratie42. Der Hunger seiner eigenen Bevölkerung machte ihm diese zudem weiter gefügig. Wo Widerstand drohte, wurde er gezielt mit Hunger bekämpft. Millionen Menschen lebten in Angst. Der von Mao propagierte Kampf gegen ‚rechtsgerichtete Gedanken43 nahm mehr und mehr Gestalt an. Am 1. Oktober 1949 war es endlich soweit: Mao konnte in Peking die Volksrepublik China ausrufen.

Damit waren endgültig die Voraussetzungen für weitere, exzessivste Überwachungen der Bevölkerung durch Blockwarte, Ordnungskomitees, Gefängnisse und Arbeitslager geschaffen44. Ende 1951 begann die von Mao initiierte „Drei-Anti-Kampagne“ gegen Korruption, Verschwendung und Bürokratismus (verstanden als bürokratische Ineffektivität), die schon 1952 zu einer „Fünf-Anti-Kampagne“ umgewidmet wurde und sich nun gegen Bestechung, Steuerhinterziehung, Unterschlagung von Staatseigentum, Betrug und Diebstahl von Geschäftsgeheimnissen richtete45.

Während die amerikanische Journalistin Anna Louise Strong in Artikeln zu Ende der 1940er Jahre die Auffassung verbreitete, Maos Arbeit würde „höchstwahrscheinlich die späteren Regierungsformen in Teilen Europas“ beeinflussen46, warnte Winston Churchill im britischen Parlament bereits vor einem Appeasement gegenüber Mao47. Und in der Tat: Mao war entschlossen, China zur Supermacht umzugestalten.

Im Oktober 1950 marschierten chinesische Truppen in Korea ein, um dort –weil Stalin Mao keine Atombombe liefern wollte – mit „Menschenwellen“ die USA das militärische Fürchten zu lehren. Drei Millionen Chinesen standen gegen eine Million Amerikaner48. Nachdem dieser Krieg zu seinem Bedauern nicht die von Mao gewünschten Ergebnisse gebracht hatte, begann er sein wohl gigantischstesProjekt: Er beabsichtigte, China binnen 15 Jahren zu industrialisieren und auf diese Weise – im wesentlichen durch die Konzentration auf Rüstungsprogramme – eine Supermacht zu schaffen49.

Die Jahre seiner Regierung nach 1953 sind maßgeblich bestimmt von demVersuch, entweder die Sowjetunion zur Weitergabe von Atomwaffen an China zu bewegen, oder aber  irgend selbst diese Waffen herstellen zu können50. Und dies – im wahrsten und brutalsten Sinne – um jeden Preis.

Um das Wohlwollen Russlands und des Ostblocks zu erkaufen, versorgte Mao diese Länder im wesentlichen mit genau denjenigen von ihnen benötigten Lebensmitteln, die er seiner eigenen Bevölkerung raubte und vorenthielt51. Als der Staats- und Parteichef Walter Ulbricht der DDR im Jahre 1956 China besuchte, empfahl Mao ihm nicht nur den Bau einer „GroßenMauer“, um „Faschisten“ vom eigenen Territorium fernzuhalten; insbesondere führte der Kontakt zwischen beiden auch dazu, dass Ost-Berlin im Jahre 1958 die Rationierung von Lebensmitteln dank chinesischer Lieferungen aufheben konnte52.

Spiegelbildlich zu derartigen Lebensmittel-Exporten litten die chinesischen Bauern mehr und mehr Hunger. Bei der Beschlagnahme müsse brutaler vorgegangen werden, um effektiv sein zu können, meinte Mao: „DerMarxismus ist so brutal!53. Bauern erhielten das Verbot, den Beruf zu wechseln54 und wurden in Genossenschaften und sogenannten Volkskommunen kollektiviert, um in ihrer Arbeit besser überwacht werden zu können; Millionen von Haushalten waren praktisch nicht zu überprüfen gewesen, in Kollektiven war dies jedoch endlich möglich55.

Wenn es auch in den sozialistischen Bruderstaaten des Ostblocks trotz aller Kollektivierungen und Requirierungen, trotz aller Überwachung und trotz allen Bemühens auch nach Jahren noch nicht zu maßgeblichen Besserungen der Versorgungslagen gekommen war, so gab es für Mao nur eine einzige plausible Erklärung hierfür: „Das Grundproblem in einigen Ländern Osteuropas ist, dass sie nicht alle Konterrevolutionäre eliminierten … Osteuropa tötet einfach nicht in großem Stil. … Wir müssen töten. Und wir sagen, dass es gut ist,zu töten56.

Im Februar 1957 machte er sich folglich daran, mehr Konterrevolutionäre auch im eigenen Land zu finden. Hierzu propagierte er das Programm „Laßt hundert Blumen blühen!“. Die Menschen im Land wurden aufgefordert, freimütig ihre Kritik gegen die Partei zu äußern, damit – wie er sie glauben ließ – die Parteiarbeit kontrollierbar werde. In Wahrheit ging es darum, Kritiker ausfindig zu machen, um sie sodann gezielt zu töten57.

Bei der anschließenden Jagd nach „Rechtsabweichlern“ verließ er sich nicht auf den zufälligen Jagderfolg seiner Jäger.Vielmehr erfand er eine spezifische Quotenregelung: 550.000 Menschen– vornehmlich Gebildete und Intellektuelle – sollten gefunden und liquidiert werden58.

Im Mai 1958 dann brachte er endgültig seine ungeduldigsten Industrialisierungspläne voran. Hatte er zunächst noch geplant, innerhalb von 15 Jahren die westliche Industrie einzuholen, verkürzte er diese Zeit nun auf acht, sieben, fünf, oder „möglicherweise drei“ Jahre59. Als Namen für dieses Programm, das bis 1961 für knapp achtunddreißig Millionen Chinesen den Hungertod brachte60, wählte er den „Großen Sprung nach vorn61. Auch hier wieder setzte er willkürlich fiktive Quoten fest, anhand derer er seine Bauern besteuerte. Widersetzen sie sich denRequirierungen oder besaßen sie schlicht nicht, das was von ihnen herausverlangt wurde, sprach Mao ihnen die kommunistische Gesinnung ab. Aus Angst vor Strafe erfanden einige Parteichefs der Provinz aberwitzige Produktionssteigerungen und „Phantomernten62, die dann den vermeintlich nicht erfolgreichen entgegengehalten wurden.

Mao plante weiteres: „Später einmal werden wir das Weltkontrollkomitee einrichten und einen einheitlichen Plan für die Erde aufstellen.63. Und seinen Bauern erklärte er: „Ich bin der Ansicht, dass es gut ist, weniger zu essen.64. Denn zur Eroberung der Weltherrschaft brauchte er nach eigener Überzeugung Atomwaffen. Da die Sowjetunion sie ihm nicht lieferte, musste er eigene Testreihen durchführen. Seine Raketentests musste er mit Biotreibstoffen bewerkstelligen;  je Teststart wurden 10.000 Tonnen Getreide verbraucht65. Während der Bevölkerung dieses Getreide bei der Ernährung fehlte, begeisterte sich Walter Ulbricht für die beeindruckend dokumentierten Produktionssteigerungen und bat Mao am 11. Januar 1961 (auf der Höhe der chinesischen Hungersnot 1960/1961) um weitere Lebensmittel, damit die DDR es mit dem westdeutschen pro-Kopf-Fleischverbrauch von 80 kg im Jahr aufnehmen könne66.

Seine Ungeduld und fachliche Inkompetenz führten zu immer größeren Fehlentwicklungen. So propagierte er zur Zeitersparnis das Ideal der „Drei Gleichzeitigkeiten“, wonach seine Projekte stets gleichzeitig untersucht, geplant und ausgeführt werden sollten67. Mal befahl er, alle Spatzen zu töten, weil sie zu viele Getreidekörner äßen, dann wieder gab er Anweisung, alle Hunde zu töten, weil sie zu viel Futter verbrauchten. Der Versuch, die gesamte Produktion des Landes bis in jedes Dorf hinein auf Stahlproduktion umzustellen, damit Großbritannien nicht länger führend auf diesem Gebiete wäre, endete mit weit verbreiteter Obdachlosigkeit, weil Hütten und Dächer zum Befeuern der Öfen verheizt worden waren und mit Überschwemmungskatastrophen, weil ganze Bergkämme hatten abgeholzt werden müssen68. Als Gegenmittel gegen Engpässe und zum Anreiz, mehr zu leisten, inszenierte Mao nun unablässig „Wettbewerbs-Kampagnen69, während ihm zugleich ein bargeldlos funktionierendes Kasernen-System für alle vorschwebte70.

Die durch diesen „Großen Sprung“ zerstörte Lebensmittelversorgung der Bevölkerung führte in die größte Hungerkatastrophe der Menschheit. Mao jedoch ignorierte seinVersagen. Statt dessen erklärte er: „Wir glauben an dieDialektik, deswegen können wir nicht gegen den Tod sein.“ Und: „Die Toten sind nützlich. Sie können den Bodendüngen.71. Seine Zynismen blieben folgenlos. Der Maokult hatte ihn bereits unangreifbar gemacht.

Während der Hunger tobte und Säuberungsaktionen unvermindert anhielten, begann im Januar 1960 die Arbeit an der „Mao-Bibel“, mit der das „Mao-Tse-tung-Denken“ auf der ganzen Welt propagiert werden sollte72. Nach Simone de Beauvoir, die Maos Macht in die Fesseln einer chinesischen Verfassung gelegt sah73, vergewisserten sich auch der spätere französische Staatspräsident Francois Mitterrand, der kanadische Premier Pierre Trudeau und der britische Feldmarschall Montgomery, dass es inChina 1960 eine Hungersnot nicht gab74. Die Propaganda, die dann im Jahre 1968 zu der phantastischen Feststellung Jean-Paul Sartres führen sollte, Maos revolutionäre Gewalt sei „tief moralisch75, war mit Erfolg angelaufen.

Aus dem Hunger seines Volkes gewann Mao nunmehr diejenigen Exportüberschüsse, die ihm das Geld zur Finanzierung seines weltweiten Personenkultes einspielten. Er subventionierte nicht nur Ungarn, Algerien, Fidel Castros Kuba und Albanien, sondern insbesondere auch all jene westeuropäischen Gruppen, die sich zur Verbreitung des Maoismus bereit erklärten. In den einschlägigen Kreisen herrschte geradezu eine Art Goldgräberstimmung: Jeder Kommunist, der erklärte, statt Marx und Lenin nun Mao zu huldigen, hatte Aussicht auf Geld aus China. Sogar der niederländische Geheimdienst wurde – nach entsprechenden Legenden – von Mao subventioniert76.

Das Verhältnis zu der Sowjetunion wurde hierdurch nicht unkomplizierter. Fidel Castro machte sich diesen Dissens zueigen, als er eine auf Kuba gestürzte, moderne US-Trägerrakete kurzerhand zwischen beiden Ländern versteigerte77.

Allen innenpolitischen Erfolgen zum Trotz kam es im Jahre 1962 zu einer geringfügigen Einschränkung von Maos Machtpositionen, nachdem sich die „Nummer 2“ im Staate, Liu Shao-chi, für kurze Zeit unter Hinweis auf die Hungerkatastrophen des „Großen Sprunges“ parteiintern Gehör und Einfluß hatte verschaffen können. Die Landwirtschaft wurde weitgehend privatisiert und der Handel mit Lebensmitteln liberalisiert. In weniger als einem Jahr war der Hunger besiegt78. Die damit erzwungene Kursänderung währte jedoch nicht lange und sie markierte im Gegenteil nur die Ursache für die dann als „Kulturrevolution“ bekannt gewordenen, weiteren Säuberungen Maos79. Zunächst jedoch betrieb Mao sein Atombomben-Projekt weiter, das ihn am 16. Oktober 1964 endlich zu seinem Ziel brachte. Die erste chinesische Atombombe detonierte und Mao ließ zur Feier eine Oper aufführen: „Der Osten ist rot80. Jung Chang und Jon Halliday saldieren zwischen Hungertoten und Bombentoten mit den Worten: „Maos Bombe kostete hundertmal so viele Menschen das Leben wie die Bomben, die von den Amerikanern über Japan abgeworfen wurden.81.

Nunmehr im Besitz der Bombe, widmete sich Mao wieder verstärkt seinen innenpolitischen Reform-Projekten. Schon rund dreißig Jahre zuvor hatte er die These vertreten, ein Volk brauche nur so viel Bildung, wie erforderlich sei, um politische Propaganda-Maßnahmen zu verstehen82. Jetzt propagierte er offensiv eine „Haltet-die-Leute-dumm-Politik83. Zu dieser gehörte die „ernsthafte Reform“ der Künstler im Februar 1964. Statt sich künstlerisch zu betätigen, sollten diese – unter Androhung des Essens-Entzuges– ungewünschte historische Baudenkmäler abreißen. Der Personenkult um Mao erforderte als Komplementär-Phänomen die absolute Unpersönlichkeit aller seiner Untergebenen.

Im November 1965 hatte er seine innenpolitische Macht wieder so weit konsolidiert, dass er die Große Säuberung namens „Kulturrevolution“ in Angriff nehmen konnte. Im April 1966 veröffentlichte er Madame Maos Manifest zu „Tötung derKultur84. Im Mai 1966 richtete er eine neue Behörde für das Projekt ein. 1,2 Milliarden Mao-Portraits wurden gedruckt und alle Chinesen wurden verpflichtet, die kleine, rote Mao-Bibel jederzeit bei sich zu führen. Am 2. Juni 1966 nahmen die aus Jugendlichen in Peking gebildeten „Roten Garden“ ihren brutalen Auftrag zur Verfolgung von Lehrern und Verwaltungsbeamten in Angriff. Die Polizei erhielt Anweisung, nicht einzugreifen85.

Die Raubzüge der Roten Garden betrafen fast 34.000 Häuser. Das geraubte Gut musste – wie in der Vergangenheit – akribisch abgeliefert werden. Mitte September 1966 fokussierte die Behörde den Kampf gegen Kapitalisten und nicht linientreue Parteikader. Ziel war, die gesamte Führungsschicht der Partei auszumerzen, um mao-kritische Netzwerke zu zerschlagen. Zur Organisation dieses Projektes erfand Mao die sogenannten „Fallgruppen“: Für jeden Funktionär gab es eine solche „Fallgruppe“, um zu entscheiden, ob er – wegen Widerstandes – beseitigt werden musste86.

Um auch innerhalb des Militärapparates kooperationsbereite und widerstrebende Mitglieder voneinander trennen zu können, erfand Mao im Sommer 1967 eine besondere Sturmtruppe, die er „die Linke“ nannte. Deren Aufgabe war, „die Konservativen“aufzufinden und zu isolieren87. Die damit staatlich geförderten Tötungskampagnen, zu denen auch exemplarische, öffentliche „Tötungsvorführungen“ gehörten, erreichten 1968 ihren Höhepunkt. Unter der Parole „Ordnet die Klassen!“ sollten die Klassenfeinde aufgespürt werden88.

Um sicherzustellen, dass bei der Verfolgung von Klassenfeinden in den einzelnen Provinzen auch nicht der Verdacht nachlässigen Handelns aufkam, entwickelte der zuständige Chef der Provinz Anhui eine Art statistischer Hinrichtungsquote nach Vergleichgruppendurchschnitten. Er ließ ermitteln, wie viele Hinrichtungen pro Monat in den Provinzen Jiangsu und Zhejiang durchgeführt worden waren und ordnete an, nach dem Maßstab des Durchschnitts aus beiden Provinzen in Anhui hinzurichten89. Im Jahr 1969 waren alle mao-kritischen Parteimitglieder beseitigt. Die Kulturrevolution hatte ihren Zweck erfüllt.

Nachdem er seine Macht gerade in bis dahin ungekanntem Ausmaß abgesichert zu haben schien, wuchs bei Mao die Furcht vor einem sowjetischen Angriff. Diese Angst trieb ihn, weitere Kriegsvorbereitungen zu treffen – wiederum zu Lasten seines Volkes. Während das Pro-Kopf-Einkommen der Chinesen hinter das der Somalier zurückfiel90, trieb Mao sein Atomprogramm weiter an. In dieser Phase jedoch zerstritt er sich erstmals mit einem Mann, der jahrzehntelang sein enger Verbündeter gewesen war. Lin Biao fand die Kraft, sich den immerwährenden Intrigen zwischen allen Mitarbeitern Maos zu entziehen. Mit seinem Sohn und seiner Frau plante er die Flucht aus China. Auch wenn diese Flucht zuletzt dramatisch mit Lin Biaos Tod bei einem Flugzeugabsturz endete, so war sie doch untrügliches Indiz für den beginnenden Zusammenbruch der Machtstrukturen Maos91.

Mit Hilfe reaktivierter und rehabilitierter Kader versuchte Mao erneut, seine Macht abzusichern. Trotz erheblicher Anstrengungen gelang ihm jedoch nicht mehr, dem weltweiten Maokult nochmals maßgebliche neue Impulse zu geben. Versuche der Kooperation mit Castro und Nasser scheiterten; Mobuto hatte er nicht zu beseitigen vermocht92. Weil er merkte, die Dritte Welt nicht propagandistisch erobern zukönnen, verlegte sich Mao schließlich darauf, den amerikanischen Präsidenten Richard Nixon nach Peking einzuladen, was ihm gelang. Dies wertete Mao zwar als Gastgeber für vielerlei Gäste aus aller Welt nochmals auf. Zu belastbaren Allianzen über die Lieferung einiger Technik hinaus kam es indes nicht. Mit dem Sturz Nixons im Zusammenhang mit der Watergate-Affäre endeten Maos Träume von der Supermacht auch auf diesem Parkett93.

In den letzten beiden Jahren seines Lebens sah Mao die Opposition in Gestalt eines Netzwerkes um Deng Xiao-Peng erwachsen. Mit seiner aus der Kulturrevolution konstituierten „Viererbande“ versuchte er, Deng zu kontrollieren94. Doch Deng, der „kapitalistische Wegbereiter95 fand menschlichen Zugang zu Chou en-lai96, dem Mao kurz zuvor noch die medizinische Behandlung gegen seinen Krebs verweigert hatte97.

Mit diesem Bündnis verflüchtigte sich langsam die Fähigkeit Maos, Bündnisse unter seinen Führungskadern zu verhindern. Deng gab sich an das Werk, die wirtschaftlichen Schäden der Kulturrevolution zu beheben. Ein letzter Versuch Maos, Deng zu inhaftieren, scheiterte; Dengs Haft war nach nur drei Monaten beendet98. Indem Mao sich nun von Deng „drangsaliert“ fühlte, unternahm er einen letzten Versuch, noch einmal Weltführer zu werden. Doch es gelang ihm nicht mehr, sich als Vertreter der „Armen“ in der Welt zu positionieren99.

Zuletzt sah er sich dem gescheiterten Nixon menschlich nahe, trauerte er nach dessen Tod um seinen Gegner Chiang Kai-shek und ernannte er gezielt keinen offiziellen Nachfolger, um einen – bis zuletzt befürchteten– Staatsstreich zu verhindern. Am 9. September 1976 starb er in einem erdbebensicheren Hochsicherheitsgebäude. Zuvor hatte seine Politik siebzig Millionen Menschen das Leben gekostet.

1Jung Chang und Jon Halliday: „Mao – Das Leben eines Mannes, das Schicksal eines Volkes“, Originalausgabe London 2005, übersetzt von Ursel Schäfer, Heike Schlatterer und Werner Roller. Die hier folgenden Fußnoten „Mao S. …“ beziehen sich auf die 1. Auflage der deutschen Ausgabe, München 2005; das vorangestellte Zitat findet sich dort S. 536. Für den Sieg der kommunistischen Weltrevolution erklärte Mao im Mai 1957, sei er bereit, 300 Millionen Chinesen zu opfern; S. 575.
2 Mao S. 17, 22
3 Mao S. 32, 58
4 Mao S. 86
5 Mao S. 39; bei diesen blieb er dann – abgesehen von einem kurzen Intermezzo bei den chinesischen Nationalisten, S. 58, 65 – bis zu seinem Lebensende.
6 Mao S. 61f.
7 Mao S. 81
8 Mao S. 174
9 Mao S. 123
10 Mao S. 62
11 Mao S. 89, 412f., 425, 545, 637: Bodenreform, Landreform, Arbeitsreform, Reform des Denkens, Künstlerreform
12 Mao S. 167
13 Mao S. 82
14 Mao S. 148
15 Mao S. 125
16 Mao S. 36, 43
17 Mao S. 145
18 Mao S. 105
19 Mao S. 142, 81, 87
20 Mao S. 142, 637
21 Mao S. 144
22 Mao S. 148
23 Mao S. 186, 212
24 Mao S. 167, 212
25 obwohl er tatsächlich erst am 23. April 1945 „offiziell“ oberster Parteiführer, Vorsitzender des Politbüros und des Sekretariates wurde, Mao S. 336
26 Mao S. 236
27 Mao 253f.
28 Mao S. 306
29 Mao S. 758
30 Mao S. 268; zugleich haben durch diesen Krieg etwa 95 Millionen Menschen ihre Heimat verloren, Mao S. 373
31 Mao S. 292
32 Mao S. 312f.
33 Mao S. 318
34 Mao S. 325f.
35 Mao S. 316f.
36 Mao S. 328f.
37 Mao S. 350f., 353
38 Mao S. 360f.
39 Mao S. 362
40 Mao S. 305
41 Mao S. 380
42 Mao S. 392f.
43 Mao S. 416
44 Mao S. 426f.
45 Mao S. 429f.
46 Mao S. 440
47 Mao S. 454
48 Mao S. 477ff., 489
49 Mao S. 496
50 Wenn man keine Atombombe besitze, dann „hören einem die Menschen einfach nicht zu“, meinte Mao, S. 533
51 Mao S. 498-500
52 Mao S. 501
53 Mao S. 515
54 Mao S. 499
55 Mao S. 515, 568
56 Mao S. 544f.
57 Mao S. 545
58 Mao S. 548
59 Mao S. 557
60 Mao S. 574 – die 27 Millionen Toten aus Gefängnissen und Arbeitslagern nicht eingerechnet, Mao S. 426
61 Mao S. 557
62 Mao S. 588
63 Mao S. 558
64 Mao S. 559
65 Mao S. 561
66 Mao S. 582
67 Mao S. 562
68 Mao S. 564f.; Kleinhochöfen zur Stahlproduktion in allen Dörfern waren zu dieser Zeit Maos “Lieblingsprojekt“, S. 579
69 Mao S. 567
70 Mao S. 571
71 Mao S. 575
72 Mao S. 602
73 Mao S. 602
74 Mao S. 603
75 Mao S. 738
76 Mao S. 604f.; Tansania versprach er eine Eisenbahnlinie, S. 647, Pakistan bot er Hilfe beim Bau der Atombombe an, S. 648, in Indonesien versuchte er, die KP zu stützen, S. 649ff.
77 Mao S. 613
78 Mao S. 624
79 Mao S. 625
80 Mao S. 632f.
81 Mao S. 634
82 Mao S. 146
83 Mao S. 636
84 Mao S. 655, 664
85 Mao S. 668-674
86 Mao S. 682
87 Mao S. 703
88 Mao S. 706f.
89 Mao S. 708
90 Mao S. 715
91 Mao S. 727; die Tatsache, dass die sowjetische Führung in Gestalt Andropows und Breschnews die Leiche Lin Biaos von ihrem Geheimdienst aus dem gefrorenen Boden der Mongolei exhumieren ließ und die dann eigens ausgekochten Skelette Lin Biaos und seiner Frau nach Moskau schafften, um sich anhand alter medizinischer Unterlagen über deren Identität zu vergewissern, zeigt, wie nervös auch die Stimmung in Russland gewesen sein muß.
92 Mao S. 739
93 Mao S. 769; erste high-tech-Computer sollten China erst nach Maos Tod erreichen
94 Mao S. 791
95 Mao S. 788
96 Mao S. 790
97 Mao S. 764ff.
98 Mao S. 802f.
99 Mao S. 805

Fairbrecher am globalen Werk

Bescheidene Intelligenz mit unbescheidenem Machtanspruch

Der Carl Hanser Verlag hat unter dem Titel „Global Impact – Der Neue Weg zur globalen Verantwortung“ zu Ende des Jahres 2009 das Buch eines dreiköpfigen Autorenkollektivs aus Franz Josef Radermacher, Marianne Obermüller und Peter Spiegel vorgelegt, das in der Debatte um die Globalisierung nicht übersehen werden darf. Denn die Verfasser versprechen nicht weniger als „die absolut realistische Gestaltbarkeit atemberaubender Entwicklungsoptionen für jeden einzelnen Menschen dieses Planeten“.

Wer nach dieser ambitionierten Ankündigung zunächst noch unerschrocken die Lektüre des knapp 300seitigen Werkes aufnimmt, der findet allem voran ein wenig filigranes Jonglieren der Autoren mit den wahrlich beeindruckendsten Begrifflichkeiten der herannahenden, besseren Welt. Sofern der Leser das Werk nicht gleich kopfschüttelnd als sozialwissenschaftlichen Worthülsenfruchtsalat beiseitelegt, werden ihm dort die buntesten Vorstellungen von einer schöneren Weltzukunft präsentiert.

Unter dem Regime einer global-ökosozialen Klimagerechtigkeit sollen demnach bald allüberall ganzheitlich humane Prozesse möglich werden. Die epochemachende Idee eines „Social Business“ werde mit Hilfe von UN-Initiativen (und unter der Herrschaft eines natürlich fairen Weltvertrages mit zertifizierten, gemeinwohlorientierten Sozialstandards) endlich umgesetzt werden können. Auf Basis einer „Unified Earth Theory“ könne auch auf dem ganzen Planeten die Weltenergiefrage gelöst und ein soziales Wirtschaftswunder geschaffen werden, namentlich mit dem Einsatz von nicht-profitorientierten Investivspendern. Die Implementierung eines interkulturellen Humanismus mit weltdemokratischem Weltethos und die strukturbildende Entwicklung eines „Global Marshall Plan“ auf Institutionsseite werde nicht weniger bewirken als „die Welt zu retten“.

Doch mit alledem noch lange nicht genug: Ein globales Thema verleitet augenscheinlich zum Einsatz von Vokabeln, die ihrerseits tunlichst äquatorfüllend zu sein haben. Das Buch verspricht nämlich zugleich Aufklärung über nah-chaotische Prozesse und Phänomene der Autopoiesis, alles eingebettet in Balancen, Konsistenzen, Kompetenzen und globales Agenda-Setting, weiter angereichert noch um diverse Entgrenzungen und überfällige Revolutionen, Konzepte, Impulse und Innovationen. Kurz: Auch wenn die Autoren die Kultur eines ganzheitlichen globalen Reichtums erst als künftige Perspektive umreißen, so werfen alleine diese bloßen Chancen doch ihr gleißendes Licht schon ganz konkret auf das integrativ global-ökosoziale Vokabular dieses nach Hoffnung heischenden Buches. Denn den Verfassern geht es ganz radikal um die globale Förderung von „Teamkompetenz, Visionskompetenz, Lernkompetenz, Konfliktlösungskompetenz, unternehmerischer Kompetenz und vieles mehr“. Die Zeit für alles dies sei nun auch reif, da eine unteilbare Menschheit inzwischen verstanden habe, dass globalverantwortliches Handeln ein Bewusstsein „bis in die letzten Winkel der Erde und bis in noch so scheinbar kleine Fragen wie das Überleben von Tierarten“ erfordere.

Die Größe des Projektes, seine menschheitsgeschichtliche Einmaligkeit und die – in Anbetracht des sonst übrigens drohenden Weltunterganges – existentielle Bedeutung des Gelingenmüssens nötigen den aufmerksamen Leser dann indes, noch vor dem weiteren Aufstieg in die Gebirge der einzelnen Kapitel zu einem Blick auf das Personal, mit dem die somit abgesteckten alpinen Wortfelder erklommen werden sollen. Als Meilensteine des Literaturverzeichnisses imponieren neben Franz Alt, Kofi Annan und Ulrich Beck unter anderem die Herren Al Gore, John Maynard Keynes, Hans Küng, Barack Obama, John Rawls, Jeremy Rifkin, Paul A. Samuelson, Amartya Sen, Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeyer, George Soros und Muhammad Yunus.

Dass die Lektüre von ökonomischen Kalibern wie beispielsweise Paul A. Samuelsons regelmäßig nicht ohne Gefahren von statten geht, wissen Kenner der Szene. Samuelson war es bekanntlich, der in der 13. Auflage seines Lehrbuches „Economics“ noch im Jahre 1989 klargestellt hatte, die Sowjetökonomie sei „der Beweis, dass im Gegensatz zu dem, was viele Skeptiker früher geglaubt haben, eine sozialistische Kommandowirtschaft funktionieren und sogar blühen kann“. Kann mit dieser Mannschaft aus welterfahrenen Berühmtheiten gelingen, globalverantwortliches Handeln bis in den hintersten Winkel eines U-Bahnhofes und in scheinbar noch so kleine Räume wie öffentliche Kellertreppen zu tragen?

Wo ein Informatiker wie Franz Josef Radermacher, ein Soziologe wie Peter Spiegel und Marianne Obermüller, die einen web-Eintrag bei 123people hat, die Klimatheorien Al Gores mit den Konjunkturtheorien von Keynes und den Theologien von Alt und Küng vermischen, um die Gerechtigkeitsbegriffe von Rawls, Obama und Steinbrück mit den weltvergessenen Empirien von Samuelson zu harmonisieren, dort verspricht schon das Literaturverzeichnis ein Lektüreabenteuer der Extraklasse.

Und in der Tat: Die Reise über den „Neuen Weg zur globalen Verantwortung“ führt mitnichten in einen intellektuellen Himalaya, sondern sie erweist sich erst als steiler akademischer Niveauabstieg über allerlei begriffliches Gerümpel und gerät dann bald zu einem veritablen Höllenritt über erschreckende geistesgeschichtliche, juristische und staatsphilosophische Abgründe, wenn auch bisweilen mit manch‘ unfreiwilliger humoristischer Einlage durchsetzt. Das Titelbild, eine Müllhalde unter giftigem Qualm bis an den Horizont, erhält auf diese Weise ebenso wie der undeutlich schillernde Titel vom „Impact“ eine ganz eigene Semantik. Doch – eins nach dem anderen.

Die bei Lektüre schnell zutage tretende, extreme intellektuelle Orientierungslosigkeit des gesamten vorgelegten Weltentwurfes verbreitet sich gleichsam interdisziplinär über alle Themen- und Fachgebiete. Kaum ein Begriff wird auch nur ansatzweise akademisch-handwerklich sauber definiert, bevor die Autoren ihn schon durch die waghalsigsten Deklinationen jagen. Ungezählte Male appellieren sie, dass „Wir“ dieses und jenes zu tun hätten – sie verraten indes nicht ein einziges Mal konkret, wer genau denn eigentlich dieser „Wir“ sei; auch „man“ wird von ihnen in die Verantwortung genommen – ohne zu sagen, wer „man“ ist; wiederholt wird „die“ Wirtschaft kritisiert – der Leser erfährt aber nicht, welche; „der“ Staat jedenfalls sei immer gefordert – ohne zu klären, welcher.

All diese definitorischen Unbestimmtheiten erscheinen insbesondere deswegen misslich, weil es den schreibenden Weltstrukturierern andernorts beharrlich darum zu tun ist, für jedes globale Problem einen konkret zuständigen Politiker zu etablieren. Wie aussichtsreich mag dieser weltenbewegende Plan aber sein, wenn nicht einmal gelingt, auch nur dem einen Leser eines einzigen Buches stets konkret denjenigen zu nennen, von dem immer wieder mit Verve die Rede ist?

Nach alledem kann schon nicht mehr erstaunen, wie der für die Gesamtdarstellung so zentrale Begriff der „Verantwortung“ definiert wird, nämlich als „die Verpflichtung, immer weiter und immer neu nach anderen, besseren Antworten zur Lösung eines Problems und zur besseren Gestaltung der persönlichen und gesellschaftlichen Wirkweisen zu suchen“. Verantwortung findet also in dieser Weltsicht ausschließlich in der Zukunft statt. Dass Verantwortung jedoch zentral auf vorangegangenes Tun abstellt, weil für dieses und – insbesondere! – seine Folgen eingestanden werden muss, wird gänzlich übersehen. Immer der Sonne entgegen, doch nach mir die Sintflut?

Wie will die Verfassertrias die ökonomischen Aufgaben des Gesamtglobus in der Zukunft bewältigen? Mit einer Mischung aus ökosozialer und ordoliberal regulierter Wirtschaft. Denn nur ein Kompromiss aus Markt und Plan sei – „seit dem Ende des Sozialismus“ – für dieses Problem als Lösungsansatz erfolgversprechend. Dass mit diesem Rahmen zum schlicht ungezählt weiteren Mal das politökonomische Lied von einem „dritten Weg“ gesungen wird, scheint den Konstrukteuren unbekannt. Jedenfalls thematisieren sie es mit keinem Wort. Wesentlich ist ihnen allerdings, dass jedenfalls „der Staat“ die Geldmenge kontrollieren müsse: „Das Ziel der Politik ist es, die Inflation gering zu halten“. Deswegen sei eine Notenbank „ein wichtiges Thema“. Dennoch wird dieses Thema mit keinem spezifizierenden Wort mehr ausgeführt.

Wesentlicher scheint den Verfassern die terminologische und emotionale Abgrenzung von der „Ideologie“ des freien Marktes, die durchaus umfänglich ausfällt. Jedenfalls findet sich zu dieser weltanschaulichen Klarstellung ein durchaus beeindruckendes Wortfeld, das dem einschlägigen Publikum potentieller Buchkäufer die geßlerhutartig geschuldeten Reizworte liefert: Giergetriebenheit, Partikularinteressen, Brasilianisierung, Markt als Ersatzreligion, Turbokapitalismus, Neofeudalismus, Marktfundamentalismus, Freihandelseuphoriker, Marktdesaster, Steuerflucht, Steuerparadies, brutal-grausamer Innovationsprozess und Tarnstaaten – alles vollständig da und vorhanden.

Unter dem Gesichtspunkt argumentativer Kohärenz allerdings versagt die Darstellung erstaunlicherweise gerade auch in diesem zentralen Punkt. Während im Kontext der Marktkritik der „Megatrend Freiheit“ als absurdes Theaterversprechen interessierter Kreise entlarvt wird, scheint jedenfalls der Mitautor Peter Spiegel insoweit einen entweder differenzierten oder ambivalenten Blick auf individuelle Freiheitspotentiale zu haben. Er nämlich meint, Wirtschaftspolitik und Unternehmensstrategie könnten niemals intelligenter sein, als jedem Menschen „die besten Entfaltungsmöglichkeiten seiner Potentiale zu bieten“ und ihm zu erlauben, durch eine „hohe Freiheit“ die besten Wirkungen aus der Wirklichkeit abzurufen. Auch eine autonome, kreative, visionäre und erfolgreiche „Selbstführung in Lebensunternehmerschaft“ erscheint in diesem Kontext als von gewissem Wert, wiewohl sie sich in der „Orientierung auf das Wohl der menschlichen und natürlichen Gemeinschaft“ zu erschöpfen habe.

Es kann für den hiesigen Zusammenhang dahinstehen, ob es in dem Autorenkreis unterschiedliche Freiheitsverständnisse gegeben hat oder nicht. Jedenfalls bleibt das kolportierte Verständnis von Eigentumsrechten als individuellen Freiheitspositionen bei allen Autoren juristisch erschreckend unbedarft. Der Kerngedanke des Eigentumsrechtes, absolut gegenüber jedermann zu sein, wird insgesamt verkannt. Stattdessen handelt das Werk mehrfach von „Eigentumsrechten“ im Plural, was stets schon für sich gesehen ein terminologischer Warnhinweis auf rechtlich verweichlichte und verschwommene Eigentumsvorstellungen ist. Tatsächlich sollen „Staaten“ (welche und wie, erfährt der Leser nicht) „mit je einer bestimmten Rechtemenge ausgestattet“ werden (von wem, erfährt der Leser ebenfalls nicht), die sie sodann auf ihrem Staatsgebiet irgendwie ökosozialfairgerecht auf wirkliche Menschen zu distribuieren haben. Klimagerechte Atmosphärenverschmutzungsbefugnisse verleihen diesem Verfahren naturgemäß Modellcharakter.

Undefiniert bleibt in diesem Rahmen auch, wer überhaupt legitim als Ausstatter mit jenen Verschmutzungsrechten auftreten können sollte. Denn die Atmosphäre der Erde wird als „Weltgemeingut“ definiert. Wenn aber alle die „gleichen Rechte an einem Weltgemeingut“ haben, das – einer anderen Definition zufolge – niemandem gehört, dann bleibt unklar, woher dieser Rechteausstatter seine Ausstattungsbefugnis nehmen könnte.

Es kann folglich auch nicht wundern, dass aus derlei Begriffshalden und Gedankenzwischenlagern keine irgend substantiell wertvolle kritische Auseinandersetzung mit den juristischen und staatstheoretischen Fragestellungen zum Thema erwächst. Alle Weltpolitik soll sich am „Gemeinwohl“ orientieren. Was aber ist überhaupt „das“ Gemeinwohl aller Menschen auf diesem Planeten? Wer kennt es? Wer definiert es? Wer bemerkt, wenn es sich ändert? Auch hier bewegen sich die Verfasser in handfester Unkenntnis ihres Sujets. Wo bleibt beispielsweise die Diskussion des altbekannten Dilemmas, dass alles, was „gemein“ ist, schon kein „Gut“ mehr sein kann, wie es Nietzsche auf den Punkt gebracht hatte? Wer Gemeinwohl sagt, ohne wenigstens andeutungsweise die zweitausendjährige Antworttradition des europäischen Rechtes zu erwägen, der tanzt nur blind um ein funkelndes Kalb.

Und was soll man von Diskussionsteilnehmern denken, die eine „Wende zur globalen Klimavernunft“ fordern, zugleich aber erklären, im Weltklimarat IPCC akkumuliere sich einerseits die „geballte wissenschaftliche Arbeit von mehr als 1000 Klimaexperten“, wohingegen andererseits nur eine abseitige kleine Schar von Kritikern Zweifel an einer anthropogen verursachten Klimakatastrophe hege? Mehr noch: „Kein einziger dieser kleinen Schar von Kritikern schaffte es, die sehr niedrigen und rein formal-wissenschaftlichen Voraussetzungen zu erfüllen, um Aufnahme in den offenen und seriösen Weltdiskurs des Weltklimarats zu finden“, heißt es vollmundig in der Einleitung des Werkes, die ihre Formulierung augenscheinlich noch vor den inzwischen wiederholt seriositätssprengenden Manipulationsenthüllungen seit „Climategate“ Ende 2009 erfahren hat.

Würde die Weltjuristenzunft demjenigen (rein formal-wissenschaftlich) den Zutritt zu staatsrechtlichen Diskussionen (auf sehr einfachem Niveau) gewähren, wenn sie von ihm läse, das Bundesverfassungsgericht habe in einer – so wörtlich – „bahnbrechenden“ Entscheidung festgestellt, dass Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden müsse? Bei dieser Formel handelt es sich um Erstsemesterstoff für Jurastudenten, nicht aber um bahnbrechende Verfassungsjudikatur. Auch hier scheitern die Autoren an ihrem eigenen Wortbombast.

Der Weg des „Global Impact“ zur Gesamtweltverantwortung bleibt bei diesen noch eher harmlos-breiigen Soziologenjargons mit ihren diffus angedeuteten Weltverbesserungsvorschlägen nicht stehen. Die Forderungen der Autoren werden im Laufe ihrer Darstellungen zunehmend massiver – und erschreckender.

Obwohl sie erkennen, dass das Fragen „der Grundschlüssel zum Lernen“ ist, stellen die Autoren bei ihrer Verantwortung erheischenden Suche nach ökosozialer Weltfairness und bei ihrem Kampf gegen das „unfaire globale Design“ beispielsweise die staatliche Geldmaschinerie und Geldkontrolle nicht ansatzweise in Frage. Ihre Kritik fokussiert sich dort ohne alle weiter konkrete Substanz praktisch allein auf private Banken als Staatsfinanzierer (wobei pikanterweise ausgerechnet die inzwischen von dem Staat für den Staat enteignete Hypo Real Estate als „private“ Bank beschrieben wird). Die gegenwärtige Lage der Weltfinanzkrise sei zwar „hochriskant“ aber dann doch wieder nur ein „eher technisches Thema“. Trotz der Schaffung von immer neuem Geld „quasi aus dem Nichts“ drohe nämlich keine Hyperinflation.

Wichtig sei nur, sich auf eine weltweit einheitliche und gerechte Besteuerung zu konzentrieren, die alle globalen Finanztransaktionen mit Hilfe von Tobin-Abgabe und „Mehrgeldsteuern“ endlich effektiv abschöpfe. Dazu gehöre die „adäquate Besteuerung aller grenzüberschreitenden Wertschöpfungsprozesse und die Einhegung der sogenannten Steuerparadiese“. Die Einrichtung einer „Weltsteuerbehörde“ und die internationale Harmonisierung der Besteuerung auf globaler Ebene seien daher unausweichlich notwendig.

Rechtsfreie Räume müssten „ein Ende haben“. Steuerparadies-Staaten sollten folglich als „Tarnstaaten“ erkannt und ihre Staatsqualität prinzipiell infrage gestellt werden. „Das Ausweichen irgendwohin“ müsse künftig unmöglich gemacht werden. Anstelle einer Hyperinflation solle politisch ein machtvoller Währungsschnitt gesetzt werden, der – Globalgerechtigkeit hin, Weltvertrag her – auch akzeptiert werden müsse: „Alle werden daher miteinander verstehen, dass die Stabilität des Systems noch wichtiger ist als die volle Bedienung alter Schulden.“ Als vorbildlich gelten den Weltverantwortern daher auch „die jüngsten Aktionen er USA“ gegen Liechtenstein und gegen das Schweizer Bankgeheimnis. „Die Schweiz, Österreich und Luxemburg, in denen Hunderte Milliarden Euro an unversteuertem Geld aus dem Ausland vermutet werden“ liefen mit Recht Gefahr „auf die schwarze Liste zu geraten“.

Und dann werden die Autoren noch deutlicher, was den Währungsschnitt mit anschließender Globalbesteuerung anstelle der Gefahr einer Hyperinflation angeht: „Die Staaten einigen sich zum Beispiel auf die Abwertung ihrer Schuldverschreibungen, beispielsweise auf die Hälfte oder ein Drittel. Im Besonderen die USA werden das Nötige tun, wenn es ernst wird. Und wer in der Welt würde sich ernsthaft dagegen wehren? Gegen die US-Armee wird keiner versuchen, Eigentumsrechte irgendwo auf diesem Globus durchzusetzen“.

Damit wird unverhohlen der militärischen Drohung gegen Eigentumsrechte das Wort geredet. Kritik an solcher Rambo-Mentalität aber bleibt vollends aus. Denn wer auf die schwarze Liste gerät, ist gleichsam vogelfrei, besonders wohl „Tarnstaaten“, die nicht als Staaten gelten dürfen. Steuerhinterziehung sei nämlich nicht nur eine Straftat gegen die Allgemeinheit, sie steht für die Verfasser sogar auf einer Stufe mit Kinderarbeit. Überwachung, Kontrolle und Verfolgung sind ihnen daher auch stets legitime Mittel zur Durchsetzung des globalen Gemeinwohls. Dazu fordern sie für Bankgeschäfte – mit Helmut Schmidt – ein gesetzlich festgelegtes Eigenkapital-Minimum und – mit Dirk Solte – eine gesetzlich bestimmte Maximalreserve. So einfach also zwingt man das Wirtschaften an klimatisch ökohumane Globalketten? Das ist die ganzheitlich ordo-bio-kulturelle Marktwirtschaft, die planetenweit real werden soll?

Neben solcherlei „unkonventionellen Methoden“ zur Vermeidung einer Hyperinflation propagieren die Verfasser jedoch noch andere, durchaus gewaltsame Durchsetzungen für ihren Weltenplan. Nachdem sie Muhammed Yunus mit seiner Erkenntnis zitieren „Die Frage ist nicht, ob die armen Menschen kreditwürdig sind, sondern ob die Banken menschenwürdig sind“, skizzieren sie als systemische Voraussetzung für globalen Wohlstand das Vorhandensein von exzellent ausgebildeten und – so wörtlich – „geeignet orientierten“ Menschen. Anders gesagt: Wer nicht „geeignet orientiert“ ist (was wohl durchaus als Euphemismus für ein indoktriniertes Marionettendasein an den Kommandofäden eines allmächtigen Weltzentralregimes verstanden werden darf), der läuft Gefahr, auf schwarzen Listen zu landen und auf Basis ökosozialer Globalgerechtigkeit massiven militärischen Zwängen zur Systemstabilisierung unterworfen zu werden. Alle werden daher miteinander verstehen, dass gewisse Maßnahmen des weltweiten Ordnungsregimes zur Weltrettung unabdingbar nötig sind?

Bei der Darstellung seiner „Steuerungsmechanismen für eine balancierte Welt“ bleibt Franz Josef Radermacher nicht bei militärischen Aktionen, bei Bankenregulierungen und Strafexpeditionen gegen Steuersparer stehen. In seiner Prognose für die Welt sieht er – augenscheinlich unter übergeordneten Weltenrettungsgesichtspunkten – die massiven Gefahren der Überbevölkerung, namentlich in den rasant wachsenden Entwicklungsländern. Im Jahre 2050 nimmt er eine Weltbevölkerung von 10 Milliarden Menschen an. Dieses Plateau müsse dann aber – so wörtlich – „abschmelzen“, um die Welt in 70 Jahren zehnmal so reich machen zu können, wie sie heute ist: „Die soziale Balance ist der Schlüssel für ein adäquates reproduktives Verhalten. Die Ressourcenknappheit wird in den diskutierten Zukunftsszenarien durch entsprechende Rechtezuordnungen, Preisentwicklungen, neue Technologien und resultierende veränderte Lebensstile bewältigt.“ Und Peter Spiegel sekundiert: „Wir sind zu viele, die zu viel wollen, für das, was wir können, und das, was der Globus aushält. Das ist nun mittlerweile so ziemlich jedem klar.“ Und weiter: „Die Letztfunktion der Kultur ist das Setzen von Grenzen in kritischen Bereichen, an denen das Biotop diese Grenzen nicht setzt.“ Wehe dem, der sich mit seiner Familie diesem Reproduktionsquotienten zur allgemeinen Weltbereicherung und der globaldemokratisch adäquat balancierten Sozialabschmelze widersetzt?

Aus alledem spricht durchaus unverbrämt die Bereitschaft zum wohl exzessivsten, globalen und generationsübergreifenden Menschenexperiment, das diese Welt je gesehen hat. Der Wille, aus „Denkgefängnissen“ auszubrechen, die Grenzen der Realität zu sprengen und Biotopgrenzen kulturell zu ersetzen, findet hier seinen schriftstellerischen Niederschlag. Er fordert die „überfällige Systemdiskussion“ zur Kreation neuer Menschen mit neuen Begriffen in neuem Denken für eine neue Welt. Wörtlich: Wir brauchen „nichts Geringeres als eine neue Kultur“. Wir unterliegen zudem „Gedankenbeschränkungen, die wir uns durch unser Verständnis von ‚sozial‘ auferlegt haben“. Das neue Denken „verändert das Verständnis von dem, was ‚sozial‘ ist, tiefgreifend“ und „unser Verständnis von dem, was wir mit dem Begriff ‚Wirtschaft‘ assoziieren“. Auch der Begriff vom Unternehmer „muss neu gefasst werden“. Die „vorglobalen Zeiten“ seien vorbei, nun gelte es, mit neuen gedanklichen Rahmen auf Basis weltweiter Wähler-Cluster überall demokratische Prinzipien durchzusetzen. Ein UN-Parlament mit 300 Sitzen böte den Chinesen 65 Stimmen und Deutschland vier, „für Belgien, Österreich und die Schweiz könnte es noch für einen Platz reichen“.

Über hunderte von Seiten bleibt die Frage, ob die Verfasser dieses Buches jene Verwirrungspropaganda zur Destruktion praktisch aller bekannten und vertrauten Begriffe gezielt instrumentalisieren, um ihre höchst individuellen Interessen zu propagieren oder ob sie schlicht das Ungeheuerliche ihrer kulturbrechenden Überlegungen selbst nicht erfassen. Sind die Autoren in einem solchen Übermaß blauäugig autoritätsgläubig, dass sie den von ihnen herbeigesungenen weltstaatlichen Totalitarismus nicht erkennen? Haben sie gar nicht verstanden, dass Gewaltenteilung in Staatswesen das erste, wesentlichste und zentrale Element gegen jeden Machtmissbrauch überhaupt ist?

Wer – wie die Autoren – sieht und sogar ausspricht, dass die Märkte auf dieser Welt nie frei waren (!), der müsste sich bei Interesse an intellektueller Redlichkeit doch naheliegenderweise mit der Frage auseinandersetzen, warum es dann zu sogenannten „Marktdesastern“ kam. Er gibt sich bei allem auch selbst bereits weitläufig Antwort auf die Frage, warum „Wirtschaft“ kein Schulfach ist: Weil Schüler nämlich diesenfalls wohl bald damit anfingen, die richtigen Fragen gegen politische Handlungsschranken und über staatlich verordnete Geldpolitik zu stellen!

Eine Reihe von Indizien spricht dafür, dass sich die Autoren überhaupt nicht der Tatsache bewusst sind, mit ihren radikalen Darlegungen gegen alle überkommenen Denktraditionen (und ohne detailliert durchdachte, konkret-individuelle Alternativmodelle) einer totalitäten und diktatorischen Weltregierung („Der immer so gescholtene Staat wird wieder zum entscheidenden Akteur. Die Krise ist die Stunde der Exekutive“) in die Hände zu spielen. Der unzulängliche wissenschaftliche Ansatz, mit Begriffen zu operieren, die nicht definiert werden, deutet in diese Richtung.

Die diversen inneren Widersprüche der Darstellung in sich und die Unkenntnis von bereits existierenden, klassischen Konfliktlösungsstrategien in der Literatur lassen ebenfalls an einem intelligenten, aber bösen Impetus zweifeln. Offenbar ernst gemeint, führt Peter Spiegel aus, es nehme sich „die Obama-Administration zurück und betont die Notwendigkeit gleicher Augenhöhe sowie hohen Respekts vor den Meinungen und Interessen der Partner“ – solange sie nur nicht als Tarnstaaten ein Interesse an einem Bankgeheimnis haben und über schwarze Listen auf die militärische Interventionsagenda des US-Militärs gesetzt werden müssen?

Derartige Paradoxa finden sich, bis in den Bereich der Groteske gesteigert, an mehreren Stellen: Seitenweise wird das destruktive Wirken von Lobbygruppen gegeißelt (die sogar Gesetzesvorlagen durch eigene Anwaltskanzleien hätten schreiben lassen), um dann in der Idee zu münden, dass ein „Gleichziehen mit der Lobbymacht“ und die eigene Ausarbeitung von Gesetzesvorlagen der Königsweg für ein „Gemeinwohllobbying“ sei! In einem Plädoyer für den Bau von Aufwindkraftwerken versteigt sich der One-World-Sympathisant Radermacher dann sogar zu der geradezu nationalistischen Warnung, „dass man nicht zu sehr in Abhängigkeit vom Ausland kommen darf, unter anderem, um nicht zu viele Devisen zu verlieren“.

Umgekehrt begegnen dem Leser allerdings diverse Anhaltspunkte dafür, dass hier durchaus auch ein raffiniert konstruiertes Machtergreifungskonzept vorliegen könnte. In diesem Falle müssten die mannigfaltigen intellektuellen Unzulänglichkeiten als Teil einer gezielten Irreführungsstrategie gewertet werden. Für diese Deutung könnten die Persönlichkeiten der Autoren und ihre Lebensläufe bzw. sonstigen Aktivitäten sprechen.

Wenn der „Global Impact“ beispielsweise immer wieder auf eine Kommission zur Demokratisierung der UNO zu sprechen kommt, dann redet er von einem Verein, dessen stellvertretender Vorsitzender niemand anderes als der Mitautor Peter Spiegel ist. Auch das wieder und wieder als vorbildlich vordenkend angeführte „Genisis Institute for Social Business and Impact Studies“ hat einen Gründer: Peter Spiegel – sowie eine Academy-Leiterin: Marianne Obermüller. Peter Spiegel ist auch Ehrenvorsitzender des Vereins „Terra One World Network“, so dass sich beinahe der Eindruck einstellt, er gründe jährlich neue Initiativen mit Namen, die wirken, als seien sie von der gesamten Menschheit mit überwältigendem Mehrheitsbeschluss initiiert.

Michael Gorbatschow, Rita Süssmuth, Butros Butros-Ghali, Franz Alt, Peter Ustinov, Richard von Weizsäcker, Hans-Dietrich Genscher, Lothar Späth und Muhammad Yunus sind die Kontakte, derer sich Peter Spiegel berühmt. Und sie überschneiden sich augenfällig mit dem Kreis von Menschen, der auf globaler UN-Ebene unter der Bezeichnung „Global Elders“ deutliche Einflüsse nimmt. Auch Maurice Strong, den der „Global Impact“ als unbeirrbaren Streiter für die Klimagerechtigkeit vorführt, hat bekanntlich über seine Kontakte zu Al Gore und Kofi Annan Beträchtliches geleistet, um globale Klimapanik und Weltuntergangsstimmung zu – nebenbei lukrativen – Quellen der Etablierung einer Weltregierung zu machen. Dessen Bestreben, den Norden der Erde konjunkturpolitisch über Umweltauflagen einzubremsen und den Süden zum Erwerb nördlicher Ökotechnik zu führen, damit dort attraktiv weitere, abschöpfbare Kaufkraft entstehe, ist legendär. Dass dies die Aktivitäten des Coautors Franz Josef Radermacher als Mitstreiter der Global Marshall Plan Initiative, als Kuratoriumsvorsitzendem der Stiftung Weltvertrag und Mitglied im Nachhaltigkeitsbeirat Baden-Württemberg attraktiv arrondiert, liegt auf der Hand. Was immer im Glanze des Lichtes einer Weltregierung blühen werde, Lehrstühle sind es allemal.

Nach allem wird jedoch jedenfalls zwangslos davon ausgegangen werden müssen, dass die gesamten Gedankengänge des „Global Impact“ schlicht eine erschreckende Zustandsbeschreibung des aktuellen Diskussionsstandes um eine zu etablierende Weltregierung und seiner intellektuellen Kapazitäten sind. Unausgegorene, ahistorische und unsystematische Versatzstücke ökologischer, soziologischer, klimatologischer, juristischer und finanzwissenschaftlicher Einzelüberlegungen werden dort offenbar von einer Gilde diskursiver Hasardeure für ein leichtgläubiges Weltpublikum zu einer wirren Melange verkocht, die vor lauter blindem Aktivismus und handlungsnervösem Gutmenschentum die zerstörerischen Konsequenzen solcher Rede nicht absieht.

Aus diesen Unübersichtlichkeiten erwächst mindestens die Gefahr, dass ruchlose Akteure sich das intellektuelle Chaos zunutze machen und – „die Krise ist die Stunde der Exekutive“ – mit starker Hand den dann scheinbar einzig noch weltrettenden Weg der notverordnenden Zwänge beschreiten. Die Autoren des Global Impact meinen offenbar, die „G 20“ wären bereits der Beginn einer solchen weltrettenden Instanz. Die Alternative, die sie aufstellen, ist klar: „Vielleicht können sie die Probleme lösen. Wenn nicht, droht in weniger als zehn Jahren der finale GAU.“

Vielleicht ist es aber auch ganz anders. Vielleicht ist gerade eine monistische Weltregierung der „finale GAU“. Und vielleicht müssen zur Rettung menschlicher Freiheiten nun Menschen überall auf der Welt die Initiative ergreifen, um an die Stelle einer politisch hypertroph angemaßten Weltverantwortung die humane Eigenverantwortung ganz konkreter Menschen für sich und ihre Nächsten zu setzen. Damit das unverstehbare Reden der Großmannssüchtigen ein Ende habe. Zum Wohle aller.

Liberalismus statt Neoliberalismus?

Eine Besprechung und Zusammenfassung der Studie „Wandlungen des Neoliberalismus“ des F.A.Z.- Wirtschaftsredakteurs Philip Plickert, Stuttgart, 2008

Wer verstehen möchte, was Liberalismus ist, der muß sich mit seiner Geschichte auseinandersetzen. Insbesondere die diversen Ausprägungen des sogenannten Neoliberalismus lassen sich nur erfassen, wenn man die Entwicklung des Liberalismus in einem weiteren historischen Kontext betrachtet. Die Erforschung dieses Aspektes der Menschheitsgeschichte kommt seit dem Jahr 2008 an einem Werk nicht vorbei: Philip Plickert hat mit seiner Studie zu den „Wandlungen des Neoliberalismus“ nicht nur ein detailfreudiges und quellenmächtiges Werk vorgelegt, sondern insbesondere in großer Nüchternheit wirtschafthistorisches Faktenmaterial zur Sache zusammengetragen. An die Stelle von vielerlei Kommentierungen oder umschreibenden Wertungen setzt Plickert auf die blanke Abbildung des tatsächlich Geschehenen. Der Gewinn für den Leser kann größer nicht sein.

Der Titel des Buches – „Wandlungen des Neoliberalismus“ – gibt den Duktus der Darstellung vor. Zunächst erklärt Plickert, was Liberalismus ist und aus welchen historischen Quellen er herrührt, bevor er sich dann dem Phänomen „Neoliberalismus“ nach dessen Entstehung und Entwicklung widmet. Daß es sich bei alledem um menschliche Ideengeschichte handelt, wird nicht zuletzt deswegen deutlich, weil – gleichsam als rotem Faden – die intellektuellen Auseinandersetzungen namentlich der Mont Pèlerin Society den Hintergrund der gesamten Studie bilden.

Getreu seiner Darstellungslogik zeichnet Plickert zunächst nach, wie es historisch überhaupt zum Aufkommen des klassischen Liberalismus kommen konnte. Dessen Wurzeln in der Industriellen Revolution und in der Befreiung des Individuums von den absolutistischen und merkantilistisch-interventionistischen Wirtschaften der vorindustriellen Epochen wird geistesgeschichtlich umrissen. Die noch in mittelalterlichen Vorstellungen befangen gewesenen Ordnungsgedanken, aller Reichtum auf Erden bestehe in fest gefügten Quantitäten und was des einen Gewinn sei, müsse des anderen Verlust werden, prägten dieses Bild. Erst Adam Smith stellte dieser Auffassung die Erkenntnis entgegen, daß schöpferische Arbeit des Menschen völlig neuen Reichtum schaffen und mehren könne. Damit wurde eine wirtschaftlich völlig neue Dimension eröffnet, die allerdings schon kurz danach mit den Theoretikern der Französischen Revolution wieder eine maßgebliche Einschränkung erfuhr. Während einerseits in Amerika Benjamin Franklin die Einmischung der Regierung in den Handel beenden wollte und auch in Deutschland der Freiherr von Hardenberg die Fesseln der Bürokratie zu Gunsten eines Aufschwungs menschlicher Tätigkeit zerbrechen wollte, träumten die französischen Jakobiner bereits von einer Umgestaltung der Gesellschaft nach technischen Plänen auf dem Reißbrett.

Im Gefolge dieser Umbrüche und der daraus folgenden Freiheiten für den einzelnen entwickelte sich das gesamte 19. Jahrhundert zunächst zu einer Zeit des permanenten wirtschaftlichen Wachstums. Zeitgleich erlebten jedoch viele Menschen, die vor dem Hunger auf dem Land zu den Arbeitsmöglichkeiten in den Metropolen flüchteten, den Verlust ihrer vorherigen familiären und gesellschaftlichen Bindungen. Es entstand in der Folge das, was Plickert die „Sehnsucht nach neuer Geborgenheit“ nennt.

Zur Befriedigung dieses Bedürfnisses nach Geborgenheit und Sicherheit schwangen sich interventionistische Theorien auf. Sie erklärten, dem einzelnen nicht nur seine neu gewonnene Freiheit zu belassen, sondern sie ihm durch Zuteilung weiteren fremden Vermögens erst substantiell zu ermöglichen. Analog zu den unbestreitbaren technischen Fortschritten aus rationalem menschlichen Handeln wurde jetzt versprochen, die gesamte Gesellschaft nach derartigen wissenschaftlichen Kriterien auch wirtschaftlich und sozial zu ordnen, um die Sehnsucht nach Geborgenheit und Sicherheit befriedigen zu können. Selbst in den USA, die planwirtschaftlichen Experimenten bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts traditionell skeptisch gegenüber standen, gewann diese Art des wirtschaftlichen Interventionismus zügig an Einfluß. Während in Europa der Terminus der „Wissenschaftlichkeit“ staatlichen Eingriffen zunehmend zur Legitimation diente, wählten die interventionistischen Vordenker Amerikas den Begriff des „Liberalen“ zum Vortrieb progressiver und korporativer Wirtschaftsmodelle. Ebenso wie zuvor der Freiheitsbegriff wurde also nun der Begriff des Liberalen terminologisch in sein Gegenteil verkehrt; Freiheit sollte erst als Ableitung von staatlicher Aktivität möglich werden und liberal sollte erst diejenige Politik sein, die menschliches Wirtschaften steuernd beherrschte.

Obwohl in Europa Ludwig von Mises den sozialistischen Planungsphantasien bereits 1920 eine intellektuell gleichsam vernichtende logische Kritik entgegensetzte, fand John Maynard Keynes mit seinen populären Thesen über ein staatlich gesteuertes „demand management“ dort zunehmend Gehör. Der Staat nahm mehr und mehr Einfluß auf wirtschaftliche Strukturen und Dynamiken. In den späten 1920iger Jahren indes wurde das internationale Finanz- und Währungssystem zunehmend instabil. Es entbrannte zwischen den verschiedenen Meinungsrichtungen in der Folge ein erbitterter Streit darüber, was die Ursache des Weltwirtschaftszusammenbruches von 1929 gewesen sei: Zuviel staatlicher, inflationärer Interventionismus (namentlich durch die 1913 gegründete amerikanische Zentralbank „Fed“) oder aber die Vorstellung des Interventionismus, Märkte könnten „verrückt spielen“.

In der Diskussion siegte zunächst John Maynard Keynes mit seiner 1936 vorgestellten Theorie über ein „Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung“. Nach seiner Auffassung mußte der Staat notfalls Arbeitslose Löcher graben und anschließend wieder zuschaufeln lassen, um die Wirtschaft zu beleben. Das, was Keynes in der Theorie darlegte, lebte das nationalsozialistische Deutschland seit dem 1. Mai 1933 bereits praktisch vor. Adolf Hitler verkündete an diesem Tag einen Vier-Jahres-Plan zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit. „Subventionen zur Renovierung und zum Umbau von Häusern wurden gewährt, ebenso staatliche Familiengründungskredite und neue Sozialleistungen eingeführt … nochmals mehrere 100.000 Arbeitslose zog die Regierung zum propagandistisch überhöhten Ausbau der Autobahnen heran. … Finanziert wurde diese Aufrüstung mit verdeckter Kreditaufnahme …, später vermehrt auch über die Guthaben von Privatleuten bei Sparkassen, Geschäftsbanken und Versicherungen, die zwangsweise angezapft wurden.

Eine Schülerin von John Maynard Keynes, Joan Robinson, bewunderte diese Wirtschaftspolitik Adolf Hitlers: „Hitler hatte bereits herausgefunden, wie man Arbeitslosigkeit kurierte, bevor Keynes mit der Erklärung fertig war, warum sie eintrat“. Diese ideologische Verwandtheit zwischen Hitlers nationalem Sozialismus und den Interventionstheorien von Keynes‘ veranlasste Henry C. Simons im Jahre 1936 zu der Polemik, Keynes laufe Gefahr, mit seiner Theorie „die ökonomische Bibel einer faschistischen Bewegung“ geliefert zu haben. Bald jedoch wurde schon deutlich, daß der Weg zum totalitären deutschen Staat insbesondere von denjenigen gut gepflastert worden war, die der Staatsgewalt schon vor 1933 immer weitere Interventionsinstrumentarien zur Verfügung gestellt hatten.

In der generellen Rezeption war zu diesem Zeitpunkt praktisch in der gesamten entwickelten Welt nach 1929 die Auffassung vorherrschend, es müsse die Aufgabe des Staates sein, wirtschaftliche Aktivitäten so zu lenken und zu kontrollieren, daß es nicht zu – andernfalls unvermeidlichen – wirtschaftlichen Zusammenbrüchen komme.

Der hierdurch weithin in die argumentative Defensive getriebene Liberalismus mußte sich folglich argumentativ neu konstituieren. Im Abrücken von einem klassisch liberalen „Laissez-faire“ begründete Alexander Rüstow im September 1932 den Gedanken von einer „dritten Möglichkeit“ zwischen planwirtschaftlicher Steuerung einerseits und wirtschaftlichem Laissez-faire andererseits; er forderte einen „liberalen Interventionismus“. Schon zu diesem Zeitpunkt – 1932 – allerdings wurde klar, daß diese staatlichen Interventionen in das gesellschaftliche Wirtschaften zu einem tragischen „Verflechtungsprozeß von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft“ einmünden müssen. Und Walter Eucken warnte, daß ein totaler Wirtschaftsstaat zwangsläufig ein schwacher Staat sein müsse. Wer es allen recht machen will, der kann zuletzt niemandem mehr gerecht werden. Trotz dieser intellektuellen Warnungen nahm weltweit der staatliche Interventionismus zu. In den USA setzte Franklin Delanoe Roosevelt seinen „New Deal“ um. Zugleich blickten amerikanische Intellektuelle wirtschaftlich neidvoll nicht nur – wie die Keynes-Schülerin Joan Robinson – auf faschistische Sozialmaschinen, sondern auch auf das vermeintliche sowjetische Produktionswunder. Langsam nur erwachte in Kreisen kritischer Ökonomen der Zweifel, ob diese eingeschlagenen Wege interventionistischen und kollektivistischen Wirtschaftens der Königsweg sein könnten. Gerade weil planwirtschaftliche Gesellschaften abgeschlossene Territorien bevorzugen, sah man die Gefahr, daß der Traum von einem internationalen Sozialismus dem Albtraum eines nationalen Sozialismus würde weichen können.

Im August 1938 trafen daher 26 Journalisten, Ökonomen und Unternehmer zu einem Kolloquium zusammen, um das Buch „The Good Society“ des Journalisten Walter Lippmann zu diskutieren. Dieses Buch war eine Streitschrift gegen den Totalitarismus und gleichzeitig eine Kampfschrift gegen den „graduellen Kollektivismus“ des New Deal in den USA. Alle dort Versammelten gingen jedoch im wesentliche davon aus, daß der Liberalismus Abschied vom Laissez-Faire nehmen müsse; erforderlich sei etwas „gänzlich Neues“, für das man sich schließlich auf den Begriff des „Neoliberalismus“ einigte. Dieser sollte ein positives Programm gegen die marktfeindliche, kollektivistische Rebellion darstellen. Die Bezeichnung „Liberalismus“ wurde zu diesem Zeitpunkt überwiegend für nicht mehr zeitgemäß erachtet.

Das Kolloquium Walter Lippmann eröffnete damit gleichsam die Diskussion zwischen den Vertretern verschiedener Schattierungen jenes „Dritten Weges“ namens Neoliberalismus, der eine Art Synthese zwischen Laissez-Faire und Interventionismus schaffen wollte. In jenen Diskussionen liegen nicht nur die Wurzeln des sogenannten „Ordoliberalismus“ der Freiburger Schule begründet, sondern auch die Konzeption der „Sozialen Marktwirtschaft“, die nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland von Bedeutung werden sollte. Den Unterschied zwischen Ordoliberalismus einerseits und sozialer Marktwirtschaft andererseits hat Michael von Prollius dahin charakterisiert, daß ersterer eher „regelorientiert“ sei, während die soziale Marktwirtschaft „zielorientiert“ ausgerichtet werde.

Der Zweite Weltkrieg brachte die intellektuelle Diskussion über den Neoliberalismus praktisch völlig zum Erliegen. Erst im April 1947 trafen wiederum Intellektuelle zusammen, um das weitere wirtschaftliche Schicksal ihrer Welt zu diskutieren. Das Treffen am Fuße des Schweizer Berges Mont Pèlerin markierte den Beginn einer jahrzehntelangen, intellektuell anspruchsvollen Diskussion. Maßgeblichen Anteil an dieser Entwicklungslinie hatten die Gedanken Friedrich August von Hayeks, der im Markt eine spontane Ordnung entdeckte, die eine Koordinierung all jenes Wissens erlaube, das niemals konzentriert einem einzigen Entscheider zur Verfügung stehe, sondern stets über Millionen von Individuen verstreut liege. Diesen Kräften gelte es den Vorrang vor staatlichen Planungsspiralen einzuräumen. Die Diskutanten fanden sich in stringenter historischer Entwicklung namentlich zu den Warnungen Tocquevilles, der bereits mehr als 100 Jahre zuvor prophetisch vor einem sich ausbreitenden Versorgungsstaat gewarnt hatte, der nicht nur eine milde und friedliche Knechtschaft entwickeln werde. Dieses Gefahrbewußtsein hatte zum damaligen Zeitpunkt – nach dem Zweiten Weltkrieg – auch einzelne Politiker bereits erreicht. Churchill warnte 1945 zur britischen Unterhauswahl – wörtlich – vor einer „Vergottung des Staates“. Das in die Diskussion geführte Argument für einen „Dritten Weg“ schien Hayek nicht überzeugend. Er plädierte für den Mut, die alten Ideale des klassischen Liberalismus und Individualismus anzuerkennen und zu verteidigen. Das politische Klima für die Schaffung von Strukturen nach diesen Einsichten war jedoch direkt nach dem Zweiten Weltkrieg denkbar schlecht. Die kriegsmüden Völker entschieden sich für einen scharfen Linksruck ihrer Politik. Friedrich August von Hayek entschied daher, die Arbeit der Mont Pèlerin Society nicht primär auf das politische Tagesgeschäft zu konzentrieren, sondern – gleichsam als Vorbereitungsmaßnahme – die intellektuelle Herrschaft unter den besten Köpfen für Freiheit und gegen Interventionismus zu gewinnen. Gleichwohl wußte Hayek, daß es ein fataler Fehler des Liberalismus im 19. Jahrhundert gewesen war, die Politik zu ignorieren. In Anerkennung dieser Zwangsläufigkeiten tendierte Hayek zu dieser Zeit zu dem Konzept eines Ordoliberalismus. Nahrung fanden diese Überlegungen nicht zuletzt in den Sozialenzykliken der katholischen Kirche aus den Jahren 1891 und 1931, die zwar einen Ausbau staatlicher Sozialprogramme befürworteten, die kapitalistische Wirtschaftsweise aber als „in sich nicht schlecht“ bezeichneten.

In den folgenden Jahren trafen Politiker und Wissenschaftler in zunehmender Häufigkeit, zuletzt jedes Jahr, weltweit zu Treffen zusammen. Die Idee einer positiven liberalen Utopie, die gegenüber Meinungseliten mutig vertreten werde, gewann an Boden. Gleichzeitig entwickelten sich unterschiedliche Strömungen innerhalb der Mont Pèlerin Society. Während die einen eher regelorientiert staatliche Maßstäbe setzen mochten, entwickelte sich eine andere, vornehmlich amerikanische Fraktion an den puristischen Ideen Ludwig von Mises. In ihrem Selbstverständnis mußte das Wirtschaften stets den Vorrang vor dem Politischen haben. Dies markierte ihren libertären, puristisch-marktwirtschaftlichen Standpunkt.

Über das intellektuelle Niveau, auf dem in der Mont Pèlerin Society der „Neoliberalismus“ und seine verschiedenen Schattierungen diskutiert wurden, geben verschiedene Gradmesser eloquent Auskunft. So hatten die Ökonomen der Gesellschaft mehr als zwei Jahrzehnte vor dem Auftreten des Phänomens der sogenannten „Stagflation“ deren Herannahen befürchtet und vor ihm gewarnt. Als Folge einer ununterbrochenen keynesianischen Vollbeschäftigungspolitik erschien dieses Phänomen unausweichlich. Grundlegend für die Arbeit war eine Verständigung darüber, was überhaupt „Markt“ sei und wie dieser wettbewerbspolitisch in Konkurrenz und Dezentralisierung als normativen Zielen sichergestellt werden könne. Die Diskussionen über die Rolle des Staates in Anbetracht dieser Marktmodelle trugen über Jahre und Jahrzehnte Früchte. Gleichwohl wurde der intellektuelle interne Kampf um den richtigen Weg hart geführt. Nachdem zunächst Hayek eine faktische Führerposition innerhalb des intellektuellen Zirkels der Mont Pèlerin Society gehabt hatte, war es anschließend maßgeblich Milton Friedman, der die informelle Führerschaft der Gesellschaft übernahm. Ihm kam die Rolle zu, den – wie man annahm – orthodoxen Keynesianismus ein für alle mal umzuwerfen. Im Nachhinein wundert, daß es rund ein Jahrzehnt dauerte, bis sich die Erkenntnis eines proportionalen Zusammenhanges zwischen Geldmengenexpansion und Geldwertverminderung in das allgemeine politische Bewusstsein durchsetzte. Die Frage wurde zunehmend, welches das richtige Geldsystem sei, um eine Wirtschaft auf Dauer zu stabilisieren. Puristische Liberale wie Ludwig von Mises vertraten fest den Standpunkt, es sei einzig der Goldstandard, der diese Sicherheit verschaffe. Insbesondere das zwischenzeitlich etablierte System von Bretton-Woods sei nicht geeignet, die Wiederholung von Währungskatastrophen zu verhindern.

Friedman vertrat die These, neoliberale Sozialpolitik müsse sich nicht als Gegensatz zur Marktwirtschaft verstehen, sondern als deren Ergänzung. Auf diese Weise lasse sich auch das Stigma überwinden, liberale Politik sei „unsozial“. Eine Endideologiesierung der Arbeiterbewegung erfordere Aufklärungsarbeit. Ein Mensch habe seine personale Würde nur dann, wenn er frei sei, Entscheidungen zu fällen; Massenfürsorgebetriebe entwürdigten den Menschen zu einem „schweifwedelnden Haustier“ formulierte Röpke. Den Befürwortern interventionistischen Wirtschaftens hielten dessen Kritiker entgegen, die Organisationsform einer jeden Planwirtschaft sei auf Dauer stets eine Diktatur.

Bei der Auseinandersetzung mit den Gefahren der Plandiktatur geriet mehr und mehr das fürsorgestaatliche Vokabular des „Sozialen“ in den Mittelpunkt des Interesses. Es legte sich wie ein „goldener Nebel“ (Hayek) über alle Debatten. Der Wunsch nach „sozialer“ Korrektur der Ergebnisse marktwirtschaftlichen Tauschens gefährdete jedoch nach den hellsichtigen Prophezeiungen nicht nur Hayeks im Kern den gesamten Rechtsstaat. Insbesondere für die Altersvorsorge sah Hayek bereits 1960 das kommende bundesrepublikanische Chaos voraus; Plickert formuliert: „Äußerst negativ beurteilte Hayek die Entwicklung der staatlichen Altersfürsorge in westlichen Ländern. Erst zerstöre der Staat durch inflationistische Politik die Möglichkeiten einer eigenverantwortlichen Kapitalbildung für das Pensionsalter. Dann degradiere er die Bezieher umlagefinanzierter Renten zu Geschenkempfängern, deren Ansprüche unsicher seien.

Spätestens seit der „Rentenreform“ des Jahres 1957 ahnten die Neoliberalen, daß der Weg des Wohlfahrtsstaates eine Einbahnstraße sein werde. Der damit zugleich begründete Bürokratieapparat werde sich als äußerst beseitigungsresistent erweisen. Die Warnungen dieser Jahre blieben jedoch im Konzert der internationalen Diskussion ungehört. Der schwedische Sozialist Gunnar Myrdal formulierte 1956, daß die zentrale Planung als erste Vorbedingung für allen Fortschritt empfehlenswert sei. Hierbei stützte er sich insbesondere auf die Erfolgsmeldungen Moskauer Statistiken zum Sowjetstaat, die er als richtig unterstellte.

Wilhelm Röpke unterdessen sah zeitgleich bereits die Gefahren einer Überbürokratisierung der gerade beginnenden europäischen Gemeinschaft. Bereits im Hinblick auf die Montanunion warnte er, hier entstünden administrative Vorstufen zu einem – so wörtlich – „Superstaat“. Tatsächlich wurde bald offenbar, daß die paradoxen Verflechtungen des überall eingreifenden Interventionsstaates widerstreitende nationale Interessen in groteske Situationen brachten. Harmonisierungsphantasien innerhalb Europas führten unter anderem dazu, daß aus Frankreich die Forderung erhoben wurde, die boomende westdeutsche Wirtschaft müsse durch eine Verkürzung von Arbeitszeiten und einer Verlängerung von Jahresurlauben für deutsche Arbeitnehmer so eingebremst werden, daß sie die französische Wirtschaft nicht dauerhaft überhole. Diese Kollisionen der 1950er Jahre nahmen vorweg, was auf geldpolitischem Gebiet in den 1980er Jahren den Streit zwischen einerseits Frankreich und Italien und andererseits Deutschland prägte; Plickert formuliert: „Da Paris und Rom die ökonomisch gebotene Abwertung von Franc und Lira aus politischen Gründen zu vermeiden suchten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich effektiv der auf Währungsstabilität bedachten Geldpolitik der deutschen Zentralbank anzuschließen. Sie sahen dies als demütigende Unterwerfung, entsprechend unbeliebt war die Bundesbank bei vielen europäischen Konkurrenten“.

Die Spätwirkungen der nationalen sozialistischen Währungspolitik bis 1945 hatten Ludwig Erhard 1948 gezwungen, eine „massive Reduzierung des monetären Überhangs“ vorzunehmen. Durch die Währungsreform des 20. Juni 1948 erhielt jeder Bürger ein Kopfgeld von DM 40,–; darüber hinaus aber machte die Reform 90% der alten Barbestände und rund 93,5% der Bankguthaben auf Reichsmark mit einem Schlag ungültig. Der Vordenker der katholischen Soziallehre in Deutschland, Oswald von Nell-Breuning, stimmte dieser Vorgehensweise zu, weil eine marktwirtschaftliche Ordnung eher der menschlichen Moral entspreche. Systeme der Zwangsverwaltungswirtschaft zwängen Menschen, ihren eigenen Interessen zuwiderzuhandeln. Dies gelte es zu verhindern.

Kurz nachdem die spätere „Zeit“-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff formuliert hatte, Gott möge Deutschland davor schützen, daß Ludwig Erhard Wirtschaftsminister werde, weil dies „nach Hitler und der Zerstückelung Deutschlands die dritte Katastrophe“ wäre, zog die Produktion innerhalb Westdeutschlands binnen eines halben Jahres um 50% an. Die Erkenntnisse dieser Zeit befruchteten innerhalb der SPD die Schaffung des „Godesberger Programmes“ von 1959, mit dem Wirtschaftssenator Karl Schiller den „dritten Weg in eine sozialistische Marktwirtschaft“ beschreiten wollte.

Gleichwohl verging sich die westdeutsche Politik in Ansehung des wirtschaftlichen Aufschwunges zunehmend an allen wirtschaftspolitischen Rationalitäten. Die Rentenreform des Jahres 1957 brachte Rentensteigerungen zwischen 65% und 72%. Kritiker sahen hierin „das Ende der sozialen Marktwirtschaft“. Eine ähnliche radikale Steigerung von Bezügen sollte Deutschland unter der Regierung Willy Brandt zwischen 1970 und 1972 wieder erleben, als die effektiven Einkommen je Beschäftigten um rund 40% stiegen. Konsequenz dessen sollte sein, daß die Teuerungsrate 1972 in Deutschland über dem Durchschnitt der gesamten industrialisierten Welt lag. Doch die Verlockungen für Politik und Bürokratie, sich geneigte demokratische Mehrheiten durch umverteilende Wohltaten zu erkaufen, waren größer, als jede mathematische Beherrschung und alle wirtschaftliche Vernunft.

Frankreich entwickelte unter den militärischen Vorstellungen De Gaulles eine starke zentrale Planung unter dem Begriff der „indikativen Planung“, die – anstelle der sowjetischen Vorgehensweise – keinen Zwang, sondern Anreize und sanften Druck ausüben wollte. Auch in Großbritannien war die Wirtschaftspolitik nach 1945 davon geprägt, dem allgemeinen Wunsch nach sozialer Sicherheit, nach ökonomischer Teilhabe und größerer Gleichheit durch materielle Umverteilung nachzukommen. England orientierte sich hierbei weniger an den westdeutschen Vorbildern, als vielmehr an Frankreich. Auch die USA beschritten unter der Präsidentschaft John F. Kennedys den Weg des Keynesianismus. Erst als auch die USA die unausweichlichen wirtschaftlichen Auswirkungen derartiger Politik schmerzhaft zu spüren begannen, gelang es unter anderem Ronald Reagan, sich für Freiheit statt Totalitarismus Gehör zu verschaffen. Reagan erklärte: „Es gibt nur ein Aufwärts oder ein Abwärts: Aufwärts zum uralten Traum des Menschen, zur endgültigen individuellen Freiheit im Einklang mit Recht und Ordnung – oder abwärts zum Ameisenhaufen des Totalitarismus.

Während die intellektuellen Vordenker des Neoliberalismus zunehmenden Konsens über ihre Vorgehensweise gewonnen hatten, bildeten einerseits Frankreich und anderseits Westdeutschland auch empirischen Beleg für die Richtigkeit ihrer Plädoyers für Marktbefreiungen. In den späten 60er Jahren beschlossen daher die Mitglieder der Mont Pèlerin Society, den Diskurs offensiver zu eröffnen. Überrascht allerdings waren sie von den Revolten der 1968er, deren Freiheitsverständnis von merkwürdigen Ambivalenzen und Widersprüchen geprägt waren. Plickert schreibt: „Zwar zeigten die Wortführer der Studentenbewegung eine ostentative Abneigung gegen den Staat und seine Institutionen, gleichzeitig aber forderten sie soziale ‚Rechte‘, also wohlfahrtsstaatliche Versorgungsansprüche … Bedeutend … war, daß der bislang außerhalb linksradikaler intellektueller Zirkel geltende antikommunistische Konsens aufzuweichen begann.

Trotz der unbestreitbaren Erfolge der Wirtschaftspolitik Ludwig Erhards schwenkte die westdeutsche Politik Ende der 1960er Jahre um zum Keynesianismus. Die Zauberbegriffe lauteten „Globalsteuerung“ und „Konvergenztheorie“. In jenem Zirkel glaubte man, die östlichen Planwirtschaftssysteme und die westlichen, freiheitlicheren Systeme ließen sich auf Dauer „einebenen“. Der niederländische Ökonom Jan Tinbergen meinte gar, es könne keine kapitalistische und sozialistische Wirtschaftstheorie geben, weil es ‚für Ost und West auch nur eine Physik gibt“.

Während sich in den USA auch Präsident Richard Nixon bald als Keynesianer bezeichnete, brach die keynesianische Wirtschaft in Großbritannien zunehmend zusammen. Intellektuelle liberale Vordenker in England kehrten daher zurück zur Forderung einer „Marktwirtschaft ohne Adjektiv“. Sie erklärten, die Rede vom „sozialen Markt“ sei letztlich ein Unglück gewesen. Die Arbeit dieser Vordenker in Großbritannien blieb nicht ohne Erfolg. Die keynesianische Regierung der Labour Party wurde bei den Wahlen am 3. Mai 1979 – wie Plickert formuliert – „regelrecht weggespült“. Die anschließend organisierte Streikwelle der britischen Gewerkschaften stürzte das Land in eine tiefe Krise. Gleichwohl bestand Margaret Thatcher auch diese. Sie schrieb in ihren Erinnerungen: „Was die Streikniederlage klarstellte war, daß Britannien nicht unregierbar gemacht werden konnte durch eine faschistische Linke.

Innerhalb der Mont Pèlerin Society setzte sich zunehmend die Erkenntnis durch, daß es falsch sei, wenn Regierungen die Ergebnisse von freiwilligen Tauschakten am Markt – aus vermeintlich sozialen Gründen – zu modifizieren trachteten. Es wurde auch klargestellt, daß eine „Marktmacht“ etwas sei, wovon man zwar reden könne, was es aber in der wirklichen Welt nicht gebe. Denn im Wirtschaftsleben entsteht keine Machtposition, es sei denn, der Staat delegiert seine tatsächliche Macht an wirtschaftliche Agenten. In verständlicher Sprache sollte nunmehr ein „Marketing für den Markt“ umgesetzt werden. Margaret Thatcher proklamierte den Beginn der Ära eines „Volkskapitalismus“. Über die Auswirkungen ihrer liberalen Befreiungspolitik geben diverse volkswirtschaftliche Kennzahlen beeindruckend Auskunft. So fiel die britische Arbeitslosenquote auch noch nach dem Ende der Ära Thatcher bis zur Jahrtausendwende auf nur noch 3%. Damit war erstmals seit Jahrzehnten inflationsfreie Vollbeschäftigung erreicht.

Auch in den USA brach sich unter der Präsidentschaft Ronald Reagons die Erkenntnis Bahn, daß niedrige Steuern Wachstumsschübe auslösen, die sogar ein entgleistes Verhältnis von Geld zu Gütermenge wieder heilen konnten. Problematisch allerdings blieb, daß eine derartige Marktwirtschaft keine Politiker benötigt. Problematisch blieb weiterhin, daß ein Staat das Geld, das er einmal eingenommen hat, stets auch sofort gerne wieder ausgeben möchte. Die Verlockungen, „sozial“ sein zu wollen, sind für einen Staat in dieser Situation offenbar unwiderstehlich. Plickert zitiert den amerikanischen intellektuellen George Gilder: „Indem man die materiellen Umstände randständiger Gruppen durch staatliche Fürsorge erleichtere, werde zugleich deren Wille zur Selbsthilfe gelähmt. Die Empfänger von Sozialleistungen … würden gar Opfer der guten Absicht handelnder Sozialbürokratie“.

Trotz dieser Erkenntnisse blieb die Schwerkraft gegen politische Korrekturen erheblich. Die staatsfixierte französische politische Klasse setzte nach dem Triumph Francois Mitterands’ 1981 zunächst wiederum auf staatliche Interventionen, die erst nach erheblichen Abstürzen der eigenen Währung korrigiert wurden. Sein Nachfolger, Jacques Chirac, erkannte den Begriff der sozialen Gerechtigkeit schließlich als ein „trojanisches Pferd“. Auch in Deutschland drängte die Opposition des Jahres 1981 massiv auf Kurskorrekturen, nachdem die deutsche Staatsquote sich seit Antritt der sozialliberalen Koalition in gut 10 Jahren von 38% auf über 48% erhöht hatte. Die Versuche der Regierung Kohl, das Ruder herumzureißen, blieben jedoch halbherzig. Insbesondere im Zusammenhang mit dem Beitritt der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik kam es zu weiteren Exzessen staatlicher Umverteilung. „Etwa jede dritte Mark, die der Osten ausgab, stammte aus dem Westen – erneut eine Widerlegung der keynesianischen Theorie“ schreibt Plickert.

Bundeskanzler Helmut Kohl, der dieses Scheitern seiner Wiedervereinigungspolitik zu verstehen begann, wandte sich mehr und mehr der Europapolitik zu. Auch dort jedoch überwogen bereits wieder bürokratisch-interventionistische Theorien alle wirtschaftliche Vernunft. Die Genfer Ökonomin Victoria Curzon-Price warnte, der fundamentale Irrtum vieler Europapolitiker sei, eine Angleichung der wirtschaftlichen und rechtlichen Verhältnisse als Vorbedingung für einen funktionierenden Wettbewerb zu sehen. „Wir sind Zeuge einer erstaunlichen Rückkehr der überholten, diskreditierten, langweiligen Philosophie des umverteilenden Wohlfahrtsstaates, gekleidet in ‚europäische‘ Tücher: Vielleicht kann man es ‚Euro-Sozialismus‘ nennen.“ Wer an diesem Euro-Sozialismus Kritik wage, werde anschließend sogleich als „anti-europäisch“ diffamiert. Tatsächlich blieben auch Geistesgrößen wie Karl Popper weithin ungehört, wenn sie beispielsweise den europäischen Vertrag von Maastricht als „ein schreckliches Dokument“ brandmarkten.

Die Vorstellungen vieler westlicher Ökonomen, es könne mittelfristig zu einem Verschmelzen westlicher und östlicher Ökonomien kommen, basierten wesentlich auf massiv falschen Vorstellungen des Westens über östliche Produktionskapazitäten. Die propagandistisch gefärbten Wirtschaftsstatistiken des Ostblocks hatten wenig Realitätsbezug. Dies wurde von keynesianischen Theoretikern des Westens gemeinhin übersehen. Plickert dokumentiert in der durchgehend nüchternen Art seiner Zusammenstellung auch diese Fehleinschätzung schonungslos: „Dagegen hatte ein Großteil der westlichen Intellektuellen und Experten den geschönten Statistiken der sozialistischen Staaten über Jahrzehnte geglaubt. Im Lehrbuch ‚Economics‘ von Nobelpreisträger Paul Samuelson war noch in der Auflage von 1989 zu lesen, ‚die Sowjetökonomie ist der Beweis, daß im Gegensatz zu dem, was viele Skeptiker früher geglaubt hatten, eine sozialistische Kommandowirtschaft funktionieren und sogar blühen kann‘ … ‚Die Sowjetunion ist weder jetzt noch wird sie im nächsten Jahrzehnt in den Fängen einer echten systematischen Krise sein, da sie sich enormer ungenutzter Reserven politischer und sozialer Stabilität rühmen kann, die ausreichen, um die größten Schwierigkeiten auszuhalten‘ erklärte Seweryn Bialer, ein bekannter Professor der Universität Columbia … Noch 1989 sagte Lester Thurow … über die Sowjetunion: ‚Sie ist heute ein Land, dessen wirtschaftliche Leistungen einen Vergleich mit denen der Vereinigten Staaten aushalten‘.“

Daß im Kern stets nur Politik und Staat wirtschaftlich versagen können, nie aber der Markt, blieb eine Erkenntnis der Debatten, die nur schwer intellektuelles Gewicht gegen eine staatlich-bürokratische Übermacht der Interventionisten gewinnen konnte. Bereits 1981 hatte der Kölner Ökonom Christian Watrin gewarnt, sobald das Ideal der Gleichheit und des unbeschränkten Volkswillens über den Wert der Freiheit des einzelnen gestellt werde, schlage ein System der Mehrheitsherrschaft in Tyrannei um. Das Wachstum eines zum „Leviathan“ degenerierten Wohlfahrtsstaates müsse auch die westlichen demokratischen Länder beunruhigen; hier sei eine Überdehnung und Überlastung des öffentlichen Sektors zu beobachten, bis der Staat zuletzt unter seinem eigenen Gewicht zu kollabieren drohe.

Die Erkenntnisse, die aus den Archiven des zusammengebrochenen Ostblockes gewonnen werden konnten, zeigten nicht zuletzt für Friedrich August von Hayek dies: Der Ausflug der Liberalen weg vom Laissez-Faire hin zu einer dritten Lösung nahe des Interventionismus, jenes Experiment namens „Neoliberalismus“, durfte in weiten Teilen als gescheitert angesehen werden. Hayek kehrte mit seinen Positionen wieder zurück zu denen Ludwig von Mises’. Als die unverzichtbaren Institutionen einer freien Gesellschaft erkannte er Privateigentum und Familie. Beide Säulen sah er „schwer beschädigt“. Staatlich besoldete Sozialarbeiter können die von diesen Schäden gerissenen Lücken niemals angemessen füllen.

Plickert resümiert über Hayeks späten Wandel: „In seinen späten Schriften beschrieb Hayek den Marktprozeß als ein Spiel, in dessen Verlauf wohlstandssteigernde Lösungen entdeckt würden. Allerdings funktioniere das Spiel nur, wenn man nicht am Ende die Regeln … willkürlich ändere oder aufhebe, indem die Ergebnisse des freien Tausches entsprechend einer egalitären Auffassung von Gerechtigkeit korrigiert würden.

Nach Abschluß einer internationalen, 70-jährigen Debatte dürfte daher heute feststehen: Der Neoliberalismus hat sich überholt. Es lebe der Liberalismus.

Eine Selbstdemontage

Karl Lauterbach: „Der Zweiklassenstaat – Wie die Privilegierten Deutschland ruinieren“
1. Auflage, Berlin 2007
Eine Rezension von Carlos A. Gebauer in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. Juni 2007, S. 12

Karl Lauterbach enttäuscht mit
einer Polemik über den „Zweiklassenstaat“

Nur wenige Bücher werden schon vor ihrem Erscheinen intensiv öffentlich diskutiert. Dem Buch des Bundestagsabgeordneten Karl Lauterbach über den „Zweiklassenstaat“ wurde dieses Privileg soeben zuteil. Mithin wollte scheinen, als sei Lauterbach gelungen, Mängel unseres Sozialstaates wissenschaftlich fundiert darzulegen, sie detailliert zu kritisieren und substantielle Alternativen aufzuzeigen. Immerhin galt Professor Lauterbach vielen bislang als akademisch ausgewiesener Kenner insbesondere des deutschen Gesundheitssystems. Bei genauer Lektüre müssen indes sowohl seine Auffassungen, als auch die Bereitschaft, ihnen medialen Raum zu geben, irritieren.

Lauterbach widmet den Bereichen Bildung, Medizin, Rente und Pflege je ein eigenes Kapitel. Dann resümiert er, wie „die Privilegierten“ das Land systematisch ruinierten. Seine Analysen bleiben allerdings insgesamt erstaunlich unsystematisch, die Reformansätze bruchstückhaft und konzeptlos. Zugleich sind die Radikalität seiner „Kampfansage an die bestehenden Strukturen“ und die Vielzahl von Widersprüchen bemerkenswert.

Zunächst beschreibt er Beamte als Profiteure des Bildungswesens. Sie sorgten dafür, daß ihre „Gewinnerkinder“ von (meist türkischen) Verlierern des Schulsystems ferngehalten würden. Aufgabe des Staates müsse sein, den verwerflichen Bevorzugungswillen von Eltern per Gesetz zu brechen und zugunsten der Armen ein moralisches Bildungssystem zu etablieren. Erstes Mittel hierzu sei die Einführung einer kostenlosen Zwangsganztagsvorschule für alle. Ohne diese sei der „sozialen Lotterie“ um gesellschaftliche Chancen nicht beizukommen. Ein entgegenstehender Elternwille müsse wie Kindesmisshandlung gewertet werden. Der Staat habe „jedes seiner Kinder“ wie einen Rohstoff zu behandeln, den es gegen die Gefahren der Globalisierung einzusetzen gelte. Ziel sei, den späterhin mit dem Rentensystem vollendeten „Zyklus der vererbten Chancenlosigkeit“ zu durchbrechen. „Gastarbeiter haben Deutschland meist verehrt“, nun aber gewinne der Haß gegen den Sozialstaat die Überhand.

Zur Finanzierung eines solchen bildungspolitischen Großprojektes hält Lauterbach die Erhöhung von Erbschafts- und Einkommensteuer für unumgänglich, obwohl er zugesteht, daß höhere Abgaben „Gift für den Arbeitsmarkt“ sind. Der Widerspruch bleibt indes ebenso ungelöst wie der, daß noch mehr Staat im Bildungswesen zwangsläufig weitere beamtete Systemprofiteure schaffen muß.

Von denselben Widersprüchen und Halbheiten sind die Darlegungen zum Gesundheitssystem geprägt. Die Erwartungen an seine hier vermutete Kompetenz werden deutlich untertroffen. Wer gesetzlich krankenversichert sei, bleibe häufig „auf der Strecke“, nur der Privatversicherte können medizinisch „shoppen gehen“, der Kassenpatient werde also diskriminiert. Statt aber dem gesetzlich Versicherten den Aufstieg in die Klasse der privatversicherten Privilegierten zu ermöglichen, empfiehlt Lauterbach das exakte Gegenteil: Die Privilegien der Gewinner müssten abgebaut werden. Hier schlägt wohl die im Vorwort angekündigte „Stunde der Politik“. Denn Konsens sei nicht möglich.

Mit seiner variierend formulierten Behauptung, privat Versicherte trügen „nicht einen einzigen Euro“ zur medizinischen Versorgung aller bei, übersieht Lauterbach die eigentlich unbestreitbare Tatsache der Steuerfinanzierung von Krankenhausbauten in der dualen Finanzierung. Gleiches gilt für die aus Steuern gespeisten Zuschüsse in die gesetzliche Krankenversicherung. Von einem Gesundheitsökonomen, der persönlich an jüngeren Gesetzesreformen beteiligt war, wäre zu erwarten, daß er diese Geldflüsse kennt. Auch hätte man erwartet, daß ihm die legislativ in Gang gesetzte Aufweichung der Sektorengrenze zwischen ambulantem und stationärem Bereich bekannt ist. Er beleuchtet aber weder sie, noch die Therapierestriktionen durch den Gemeinsamen Bundesausschuß, die er pauschal – anders übrigens als das Bundesverfassungsgericht – für „sehr vernünftig“ hält.

Sein gesamter Therapievorschlag zur Gesundung des maroden Systems beschränkt sich nach allem auf erstaunlich knappe zehn Denkanstöße, deren Kerngehalt ist: Gleicher Lohn für gleiche medizinische Arbeit an gleichen bürgerversicherten Patienten unter stärkerer behördlicher Kontrolle von möglichst nur noch 30 bis 50 „Kassen“. Ein auch nur näherungsweise schlüssiges Konzept für die propagierte allgemeine Zwangsverwaltung im Gesundheitswesen läßt sich darin erkennbar nicht ausmachen. Auch der Laie wird angesichts solcher „Reformvorschläge für Qualität und Wirtschaftlichkeit“ die fachliche Exzellenz des Verfassers sicher neu überdenken.

Lauterbach formuliert bei alledem mitnichten akademisch. Er redet statt dessen von parasitären Verhältnissen, Melkkühen und habilitierten Mietmäulern, von Pharmamülleimern und balkanisierten Strukturen und über Politiker, die sich von einer unsauberen Industrie einseifen ließen. Dies läßt durchaus Schlüsse auf den adressierten Leserkreis zu. Denn es ist eher auszuschließen, daß es sich hierbei um Entgleisungen handelt. Genau dort nämlich, wo er gesteht, selbst Privatpatient zu sein, verbirgt sich der mehrfache Ich-Erzähler Lauterbach gezielt hinter der Formulierung von „diesem Autor“. Ersichtlich lotet Lauterbach die Grenzen des terminologisch Machbaren meist sorgfältig aus, wobei er allerdings nach Auffassung des Landgerichtes Hamburg vom 12. Juni 2007 gegenüber dem Internet-Forum „facharzt.de“ teilweise rechtswidrig überzogen habe.

Weniger sorgfältig ist sein Blick auf das deutsche Rentensystem. Hier glaubt er, es genieße „hohes Ansehen in der Bevölkerung“. Gleichwohl sei es ungerecht, weil früh ablebende Geringverdiener langlebende Wohlhabende subventionierten. Dem vermeinten Prinzip „Wer hat, dem wird gegeben“, müsse also auch hier staatlich entgegnet werden. Am besten gelinge dies durch eine Grundrente für alle aus Kapitalstöcken bei Rentenbehörden, gebildet durch höhere Steueranteile. Faszinierend an seinem nur kurzen Kapitel über die Rente bleibt neben einer „Pflicht zur Riester-Rente für alle“ insgesamt dies: Während er selbst altmarxistische Klassenausbeutungsphilosophien reanimiert, „Herkunftseliten“ bekämpfen möchte und sich ausdrücklich von der „sanften Gangart“ verabschiedet, bezeichnet er das Aussprechen von Interessengegensätzen zwischen Generationen als beschämendes Aufhetzen gegeneinander.

Nach allem ist nur konsequent, wenn Lauterbach auch in der Pflege eine Vielzahl von Ungerechtigkeiten ortet. Seine Klage aber, Ungebildete litten mangels geistiger Herausforderungen eher unter Demenz und erführen dann – weil lebenslang arm geblieben – die staatsüblich mangelhafte Pflege, rutscht zuletzt vollends ab in ein diffuses Hadern mit allerlei Unzulänglichkeiten des Lebens. Die dann einerseits pauschalen Vorwürfe gegen „den Staat“ und der andererseits gleichzeitige Schrei nach Herbeiführung von Gerechtigkeit durch eben diesen reduzieren den bisherigen Gesundheitsexperten auf ein durchaus schlichtes Maß.

Das Buch ist jedoch nicht nur Selbstdemontage. Es hat auch eine durchaus amüsante Komponente, an der sich zu erfreuen leider den Lesern der Erstausgabe vorbehalten bleiben wird. In einer Zwischenüberschrift zur Schulreform schenkt Lauterbach uns noch diese wahre Einsicht aus der Tiefe seiner Seele: „Die Bildungsreform ist teuer, aber unbezahlbar“.

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