Gefahr und Panik, Verstand und Verfassungsrecht. Eine Tagebuchnotiz.

Verstand hilft bekanntlich, eine Gefahr zu überwinden, Panik vergrößert sie. Die erste Aufgabe guten Regierungshandelns ist daher, Risiken ebenso emotionslos wie weltanschaulich neutral zu erkennen. Die zweite Aufgabe ist, sie professionell zu beherrschen, und die dritte, den Regierten unbegründete Ängste zu nehmen. In einem Verfassungsstaat bieten Grundrechte dabei nicht nur Wertmaßstäbe für ausgewogenes politisches Tun. Eine ausgefeilte rechtliche Dogmatik weist darüber hinaus auch methodisch angemessene Wege aus der Krise. Wenn in einem Land über ein ganzes Jahr hinweg die Sorge über die Zuversicht dominiert, dann wird einer Gefahr nicht adäquat begegnet. Wenn die Schäden aus dem Risikomanagement sogar unabsehbar werden, dann ist das Abwehrhandeln nicht mehr zu verantworten. Je größer eine Gefahr ist, desto mehr Verstand ist vonnöten. Behält die Angst auf Dauer Oberhand, muss umgesteuert werden. Zuletzt ist es Aufgabe des Verfassungsrechtes, dem panischen Handeln Grenzen zu setzen. Denn wer bei der Gefahrbewältigung das Schutzgut selbst zerstört, der ist kein Beschützer mehr.

Fürchte Dich nicht – Benimm‘ Dich!

Furcht ist – in der Definition des Deutschen Wörterbuches von Jacob und Wilhelm Grimm – jene Seelenregung, die etwas Gefährliches fernhalten möchte. Sie motiviert den Fürchtenden, zu seiner eigenen Sicherheit von möglicherweise Schädlichem zurückzuweichen. Ein solch vorsichtiges Aus-dem-Weg-Gehen ist also nicht von Klugheit geprägt. Wer aus Furcht auf Abstand geht, der tut dies vielmehr in einem Zustand, in dem ihn eine Aufwühlung durchdringt. Er sehnt sich, verschreckt, nur noch nach rückwärts. So sehr, dass er keinen Schritt vorwärts mehr wagt und, wenn möglich, am liebsten noch hinter sich selbst zurückträte.

Von klein auf ist uns Menschen dieses Gefühl der furchtsamen Rückwärtswendung bekannt. Bei jedem Kind lässt sich beobachten, wie es die Welt tastend zu erkunden wagt. Schritt für Schritt zieht die Neugier es weg von den Eltern, bis zu dem Punkt, an dem ihm eine Unsicherheit spürbar wird. Die gibt ihm gleich Anlass, schnell zurück zu Mutter oder Vater zu laufen. Gelingt der Rückzug in vertraute Gefilde dann nicht sofort und hindernisfrei, verwandelt sich die erwachte Furcht in Schrecken. Aus Aufwühlung erwächst dann blankes Entsetzen.

Das vergangene Jahr 2020 hat weltweit Gelegenheit geboten, die Zusammenhänge zwischen einerseits der Furcht und andererseits der Kontrolle zu studieren: Auch Erwachsene verlieren augenscheinlich die Beherrschung über sich selbst, wenn sie von jener furchtsamen Aufwühlung durchdrungen sind. Es genügt, sie über die Schwelle zwischen Sicherheit und Schrecken in das Entsetzen zu führen, um diesen Effekt auszulösen. Spiegelbildlich kann also jener die kontrollierende Herrschaft über sie erlangen, sofern er nur ihre Furcht kontrolliert. Noch nie vor diesem Jahr 2020 habe ich selbst die elementar entwaffnende Kraft eines Imperatives verstanden, den ich doch mein ganzes Leben schon kenne. Er lautet: «Fürchte Dich nicht!»

Die Flucht des Furchtsamen zurück in vertraute Umgebung muss wohl als eine Art Urinstinkt verstanden werden: Ein angeborener Naturtrieb, um uns Leben und körperliche Integrität zu schützen. Erkennen wir eine Gefahr, weichen wir ihr auf diese Weise aus, ohne erst grübelnd zu zögern. Das Blut schießt in die Beine. Und die rennen los. Ein Teil unserer Aufmerksamkeit ist folglich stets auf die Beobachtung der Umwelt gerichtet, um entsprechende Risiken schon im Vorfeld zu erspüren.

Weit über unsere eigene Spezies hinaus nutzen Lebewesen den besonderen Vorteil, den es unter solchen Sicherheitsgesichtspunkten bietet, unter seinesgleichen zu sein. Wo könnte ein kleiner, zarter Vogel sich sicherer ausruhen und vielleicht sogar ein wenig die Augen zum Kräfteschöpfen schließen, als – umgeben von Massen seiner Artgenossen – in luftiger Höhe sitzend auf einem Hochspannungsmast? Die Nähe zum Mitgeschöpf hilft, dessen Aufmerksamkeit auch zum eigenen Selbsterhalt nutzen zu können. Droht Gefahr, schießt der ganze Schwarm tosend in die Höhe, weckt also den Dösenden, ermöglicht ihm die Flucht und erhält ihm so sein Leben. «Willst Du schnell vorankommen, dann geh alleine. Willst Du weit kommen, dann geh mit anderen», sagt ein afrikanisches Sprichwort weise.

In diesem Kontext wird das gleichsam Teuflische an einer Seuche, an einer Epidemie, an einer Pandemie, überdeutlich: Der Naturtrieb, unter seinesgleichen Schutz zu suchen, das Verlangen also, der Gefahr in Gemeinschaft mit Stärke zu trotzen, kann nicht erfüllt und befriedigt werden. Denn just genau da, wo wir üblicherweise in Sicherheit sind, bei und mit anderen, lauern nun plötzlich der Tod und das Verderben. Die natürliche Schutzschicht der sozialen Umgebung wandelt sich in einen Belagerungszustand: Von jedem Artgenossen gehen plötzlich kontinuierliche und – besonders tückisch – unmerkliche Lebensgefahren aus. Und damit nicht genug. Selbst der innersten Überzeugung, an gewissen, lange vertrauten Stellen eher in Sicherheit als in Gefahr zu sein, darf der einzelne plötzlich dann nicht mehr folgen, wenn und weil ein staatliches Gesetz ihm dieses Refugium entzieht. Nicht mehr nur der gewogene Mitmensch scheidet nun infektionsmedizinisch bedingt als Quelle und Ziel möglichen Schutzes aus. Sogar das Herbeirufen eines Polizisten kann heute plötzlich unerwartete Wendungen bringen: Statt mir, wie sonst, als Freund zu helfen, schickt er mich in Quarantäne.

Wie ein kleiner Vogel sitzt der Pandemiebürger dann mutterseelenallein auf einem infektionsschutzrechtlich definierten Abschnitt seiner Hochspannungsleitung: Abstand wahrend und müde über die Landschaft blickend krallt er sich einsam in den Draht, während er im zugigen Wintersturm frierend überlegt, welche Luft er wohl gerade atmet und wie weit er noch – distanzgehorsam – zur Seite rücken darf, um dem Nachbarn seitwärts sanktionslos ein leises «Hallo?» zuzurufen.

Seuchen sind daher nicht nur medizinisch eine Heimsuchung. Seuchen sind zudem wesentlich eine Krankheit für die Seelen. Hinter dem kalt-technischen Wort vom «Ansteckungsrisiko» verbirgt sich ein ganzes Programm der radikalen Entsozialisierung. Nähe ist jetzt nicht mehr Vertrautheit, sondern Gefahr. In der Epidemie kollabieren die Schutzbereiche. In der Erscheinungsform der Pandemie raubt sie den Menschen jeden denkbaren räumlichen Zufluchtsort um den ganzen Erdkreis. In ihrer vielleicht allergiftigsten Konsequenz tötet die Seuche darüber hinaus sogar den gedanklichen Austausch zwischen Menschen. Die Bereitschaft, einander zuzuhören, um Anderes, Neues zu erfahren, erlahmt. Die Sorge, Unerhörtes zu erfahren, das den eigenen Standpunkt überdenken machen könnte, gewinnt Oberhand. Das gute Miteinander des Dialoges entgleitet in ein furchtsames, schweigendes Abwenden vom anderen. In der entzweiten Gesellschaft fürchtet der einzelne am Ende sogar, mit fremden Überlegungen angesteckt zu werden. Sogar das Miteinanderreden erstirbt.

Nach Monaten des pandemiegefangenen Nachdenkens sehe ich nur einen einzigen Ausweg aus dieser verzweifelten Lage. Mir scheint, als könne jeder Mensch dieser perplex-fatalen Mischung aus Schutzbedarf und Fluchtinstinkt nur mit einer einzigen Methode entkommen. Ich glaube, dass jedem einzelnen von Rechts wegen freigestellt sein muss, seine ganz eigene, hochindividuelle, höchstpersönliche Balance zwischen Nähe und Abstand mit anderen zu finden. Das Dilemma der furchtsamen Seelen inmitten aller körperlichen Ansteckungssorgen lässt sich keinesfalls durch zusätzlich staatliche Strafandrohungen lösen. Ein so geschaffener, weiterer Druck presst die Seelen der Fürchtenden nur noch mehr.

Wo man sich gegenseitig zuruft: «Benimm‘ Dich!», da fordert man andere auf, sich mit Seinesgleichen ins Benehmen zu setzen. Und sich ins Benehmen zu setzen heißt nichts anderes, als sich mit anderen auf einen harmonischen modus vivendi zu einigen. Das Verhältnis von Nähe und Distanz wird einvernehmlich unter den Beteiligten ausgemacht. Körperlich und gedanklich. Und in der gemeinsamen Erfahrung aus ihrem Verhalten entwickelt sich eine gesellschaftliche Übung, die keine staatlichen Strafandrohungen aus der Ferne braucht, um die Furcht aller Beteiligten zu besiegen.

«Fürchte Dich nicht!» ist dabei kein Appell zur epidemiologischen Unvernunft. «Fürchte Dich nicht!» heisst nicht infektionsmedizinische Gefahren zu verkennen. «Fürchte Dich nicht!» heisst vielmehr, selber klug und verantwortungsbewusst abzuwägen, persönlich rational zu handeln, anderen gegenüber verständig zu sein und empathisch, statt gedankenlos von Aufwühlung durchdrungen, an der Grenze zum Entsetzen vor Realitäten zu fliehen. Also: Benimm‘ Dich und beherrsche Dich selbst! Sonst wirst Du von anderen beherrscht. Sonst wirst Du bezwungen und Dir wird befohlen. Das sollte Deine Sorge sein.

[Der Text wurde erstveröffentlicht auf dem Blog der Liechtenstein Academy (www.liechtenstein-academy.com)]

Gefahr essen Grundrechte auf – Kann Verfassungsrecht den nervösen Staat noch bändigen?

An den Beginn seiner soeben publizierten juristischen Habilitationsschrift über den „nervösen Staat“ setzt Tristan Barczak eine postum erschienene Erzählung Herman Melvilles aus der Zeit der napoleonischen Kriege: Kapitän Edward Vere lässt den nach seiner Überzeugung grundlos der Meuterei verdächtigten jungen Zwangsrekruten Billy Budd auf hoher See kurzerhand standgerichtlich zum Tode verurteilen, weil er fürchtet, bei jeder Verzögerung des Strafausspruches und selbst seiner Vollstreckung bis zum Zusammentreffen mit anderen Schiffen drohe die zeitgeistkonform revolutionäre Stimmung an Bord möglicherweise zu eskalieren. Später wird Barczak zur verwischten Demarkationslinie zwischen dem Strafrecht des Normalzustandes und den Gefahrabwehrmaßnahmen in Ausnahmelagen feststellen: „Zu berücksichtigen ist, dass Polizeirecht, materielles Strafrecht und Strafverfahrensrecht mittlerweile eng miteinander verzahnt sind und infolge einer zunehmenden Vorfeldpönalisierung ein immer dichteres Präventionsgeflecht bilden. Im Zuge dieser Verzahnung ist die Strafprozessordnung zu einem ‚Operativgesetz der Strafverfolgungsbehörden‘ geworden.“

Die hypernervöse Hinrichtung eines Menschen zur zweckprogrammierten Abwehr eines nur für wahrscheinlich gehaltenen Gefahrenverdachtes bildet den Extremfall derjenigen Grenzübertretung, die Barczak auf insgesamt 828 Seiten systematisch wie historisch detailliert beleuchtet: den Rechtsbruch zur Risikovermeidung. Überzeugend arbeitet er heraus, warum die ehemals simpel geglaubte Zweiheit von entweder Krieg oder Frieden, wie sie 1648 noch denkbar schien, heute nicht mehr existiert. In den Entgrenztheiten der globalisierten Welt mit ihrer Entterritorialisierung herrscht ein gleichsam ununterbrochener Belagerungszustand. Disruptionen sind jederzeit überall möglich. Zugleich jedoch fordert der Bürger – wohlstandsverwöhnt wie staatsgläubig – Stabilität und Schutz vor Veränderung. Beim Staat nachgefragt wird die totale Normalitätsproduktion zur Zähmung der Denormalisierungsangst. Die Sicherheitsgesellschaft mutiert somit konsequent zur hochneurotischen Maschine. Mit ihren Präventionsbedürfnissen schafft sie sich nicht nur eine fiebrige Demokratie, sondern eben auch jenen nervösen Staat, „der aus ständiger Angst, den kritischen Zeitpunkt rechtzeitigen Handelns zu verpassen, schon in der Normallage so handelt, als befinde er sich im Ausnahmezustand, der unentwegt Gefahren bekämpft, statt abzuwarten, der im Frieden Krieg spielt“.

Der Versuch, den Belagerungszustand zu veralltäglichen, und das Bestreben, in einer zerrissenen Gesellschaft durch den Anschein neutraler verwaltungspolizeilicher Routinen eine Entpolitisierung der Risikobeherrschung zu etablieren, müssen jedoch scheitern. Denn die permanente Koexistenz von Normalität und Ausnahme sind auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten. Ein Unsicherheitsdilemma prägt nicht nur die Gefühlslage der Gesellschaft, es schafft auch Unrecht: „Eine klassische Notstandsmaßnahme wie die Verhängung von Ausgangssperren mit weitläufigen Grundrechtsverkürzungen könnte danach auch nicht vorübergehend auf die allgemeine oder eine sonderpolizeiliche (zum Beispiel infektionsschutzrechtliche) Generalklausel gestützt werden.“

Der nervöse Staat handelt nicht mehr in der wirklichen Welt, sondern in einer Welt der Möglichkeiten. Er entwirft Bedrohungsszenarien, die es zu bewältigen gelte, er bringt sich gegen jedwedes Risiko in Stellung und er versinkt dabei in einen Zustand des permanenten Konjunktivs. So ist der Präventionsstaat in eine Falle getappt: Zum Schutz der Rechte seiner Bürger muss er diese Rechte suspendieren. In Zeiten der territorialen Entgrenztheit befinden sich die tatsächlichen Belagerer der Mauern also nicht mehr drüben, sondern die potenziellen Gegner stehen schon hüben. Anders als das mittelalterliche Martial Law in England, das für jedwede ausnahmsweise erteilte Sonderbefugnis der Krone noch eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr voraussetzte und eine nur befürchtete Bedrohung nicht ausreichen ließ, genügt dem so gefangenen Staat bald eine eigene Angstvorstellung als Erlaubnisnorm.

Seine Suche nach einer rechtsstaatlich klaren Trennlinie zwischen staatlichem Regelbetrieb und exzeptionellen Gefahrabwehrmaßnahmen führt Tristan Barczak zu dem Vorschlag, das deutsche Grundgesetz in Analogie zu den bestehenden Regeln über einen verteidigungspolitischen Spannungszustand um einen weiteren Artikel zu ergänzen. Dann, aber auch nur dann, wenn der Bundestag eine Krise prognostiziert habe, sollten in Gestalt einer besonderen „Gesetzesbereitschaft“ solche Ausnahmeregeln in Kraft treten, die unter gewöhnlichen Umständen keine Geltung haben. Diese Regeln wiederum könnten zuvor vorsorglich als „Schubladenregeln“ ohne Gesetzeskraft vorbereitet werden. Die vorübergehende Entsperrung des in Normalzeiten undenkbaren Ausnahmeregimes ende dann, wenn das Parlament den Krisenfall für ausgestanden erkläre. Auf diese Weise lasse sich die nötige Gleichzeitigkeit von Rigidität und Flexibilität des Regelwerkes insgesamt herstellen. Das Modell folge dem Begriff der „Resilienz“ aus der Werkstoffkunde: Ein geschundener Gegenstand finde nach Ende der Ausnahmebelastung wieder bestmöglich in seinen Ausgangsstatus zurück: „Resilienz signalisiert danach das Potential, nach einer Störung den Alltag zu reetablieren, zwar oftmals in veränderter Form, aber ohne einen Regimewechsel zu vollziehen, das heißt unter Aufrechterhaltung der grundlegenden Strukturen und Funktionen des Systems.“

Ob es eine solche juristische (und namentlich verfassungsrechtliche) Resilienz im Sinne einer garantiert unterbleibenden Wesensänderung der Gesamtstruktur geben kann, erscheint bei aller Sympathie für den klug konstruierten Vorschlag zweifelhaft. Die Habilitationsschrift Barczaks ist nämlich schon am 25. März 2020 einfachgesetzlich von der Realität überholt worden, als der Bundestag nicht nur Paragraph 5 des Infektionsschutzgesetzes neu gefasst hat, sondern zeitgleich von der sich dort selbst geschaffenen Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, einen Sonderzustand namens „Epidemische Lage von nationaler Tragweite“ auszurufen. Es mag jeder, der von diesem Ausnahmeregime inzwischen betroffen wurde, für sich selbst beurteilen, wie wahrscheinlich es ist, im pandemischen Nachhinein die alten Strukturen der vertraut gewesenen Normalität wiederzufinden. Und von den außergewöhnlichen, unkontrollierbaren Ereignissen, die Artikel 122 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union beschreibt, ist bei allem noch mit keinem Wort geredet.

Vielleicht liegt die Lösung des Dilemmas genau dort, wo die Verfassungslehre derzeit annimmt, der liberale Rechtsstaat sei „unbestreitbar von einem sozialen Rechtsstaat abgelöst worden“. Vielleicht ist es Zeit, von dieser Unbestreitbarkeit abzurücken. Denn dort, wo sich der Staat selbst zum unentbehrlich allzuständigen Steuermann einer Gesellschaft gemacht hat, die ohne ihn nicht mehr existieren könne und der genau deswegen niemals scheitern dürfe (Barczak zitiert Carl Schmitt: „Hier ist alles auf ungestörtes Funktionieren angelegt“), gerade dort verabsolutiert er sich selbst zum ultimativen Schutzgut seiner selbst. Gilt aber für handlungsleitende Prognosen im Krisenfall die Faustformel, „dass an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist“ und ist dem Vorsorgestaat das Scheitern verboten, so dürfte genau dies der „archimedische Punkt in seiner Funktionslogik“ sein, der „tendenziell totalitäre Züge“ aufweist und das Gesamtkonstrukt zuletzt aus seinen Angeln hebt.

Lebte Herman Melville noch, würde er mit Blick auf Rainer Werner Fassbinder vielleicht sagen: „Angst essen Seele auf. Aber Gefahr darf nicht Grundrechte aufessen!“

FAS, MOS, IUS und LEX – Eine Einführung nicht nur in die Rechtstheorie

Oft hören wir im Alltag Sätze wie: «Er handelte rechtmäßig» oder «Er hat gegen das Gesetz verstoßen». Und die Aussage «Man hat sich an Recht und Gesetz zu halten» geht vielen schnell über die Lippen. Wie ich immer wieder erstaunt feststelle, machen sich selbst professionelle Juristen in der Regel nur selten Gedanken darüber, wie alle diese Sätze zusammenhängen. Dabei ist es doch kein Problem, die Verknüpfungen schnell zu erkennen.

Viele Ursprünge unserer europäischen Rechtstraditionen liegen in der römischen Geschichte: Bevor die Römer auch nur annäherungsweise so etwas kannten wie ein geschriebenes Gesetz, hielten sie sich an Traditionen. Denn das, was die Vorfahren schon immer in einer bestimmten Weise gemacht hatten, konnte nicht falsch sein. Immerhin hatten sie ja offenkundig überlebt. Wer sich also an die Bräuche und Sitten einer Gemeinschaft hielt, der handelte richtig. Man konnte ihm keine Vorwürfe machen. Das lateinische Wort für Brauch und Sitte ist «mos».

Allerdings hatten die Römer früh verstanden, dass sich Bräuche und Sitten nicht beliebig nach menschlichen Tageslaunen ändern ließen. Die bloße Tatsache, dass sich alle in einer bestimmten Weise verhielten, bedeutete nicht schon für sich gesehen, dass auch richtig war, so zu handeln. Auch Massen von Menschen können schließlich irren. Der «mos» musste sich also offenbar auch seinerseits in einen größeren Funktionszusammenhang fügen. Und den nannten die Römer die «fas»: Die göttliche, heilige Regel.

In heutiger Terminologie könnte man in etwa sagen, jene heiligen Regeln namens «fas» entsprechen den Funktionsweisen der Naturgewalt. Wenn ein menschliches Verhalten den Göttern nicht gefällt, dann senden sie – oft zeitlich verzögert – ihre Sanktion. Und weil die Grenzen der heiligen Regeln meist nicht so gut und evident sichtbar sind wie die der Bräuche und Sitten, erhoben die Römer sie in die Sphären des Metaphysischen. Was sich der Verfügungskraft der Menschen entzieht, was nicht steuer- oder beherrschbar ist, das sind die Launen der Natur.

In diesem Kontext dürften auch die Tabus entstanden sein, gegen die niemand verstoßen soll, d.h. auch ohne zu wissen, warum eigentlich nicht: Man mag beispielsweise über Generationen keine Berichte gehört haben, dass auf einer bestimmten Wiese je Wasser stand. Dennoch baute man dort aus Furcht vor (priesterlich tradierten) Tabus keine Häuser. War dennoch einer so vorwitzig, sein Heim dort zu errichten, dann riss die nächste Jahrhundertflut seine Habseligkeiten hinfort. Die Götter hatten sich gerächt. Der Verstoß gegen das Tabu wurde bestraft. Die scheinbar unbegründbare Sitte, jene Senke nicht zu besiedeln, hatte plötzlich eine Erklärung. Sie blieb dann wieder so lange brauchbares allgemeines Wissen, bis alle, die das Drama gesehen oder gehört hatten, verstorben waren. Dass Menschen immer wieder vergessen, derartige heilige Regeln zu beachten, kann man nirgendwo besser als in Rom selbst sehen: Wer sein Haus wieder und wieder mitten in die Überflutungsgebiete des Tiber baute, schuf ungewollt die Grundlagen für spätere Ausgrabungen.

Hat man einmal verstanden, dass sich alle Sitten (mos) in den Grenzen der heiligen Regeln (fas) bewegen müssen, um das gemeinsame Überleben von Menschen auf der Welt sinnvoll organisieren zu können, stellt sich die nächste Frage: Welche der Bräuche sind von sehr großer Bedeutung und welche sind es nicht? Es mag heutzutage beispielsweise ein eingeschliffener Brauch sein, Karneval zu feiern oder sich an Halloween zu verkleiden und andere zu erschrecken. Wird aber einmal nicht Karneval gefeiert oder werden keine Süßigkeiten am Reformationstag verteilt, dann berührt dies nicht die vitalen Grundlagen der menschlichen Gemeinschaft. Ganz anders ist das, wenn man an die Regel denkt, andere nicht körperlich verletzen oder gar töten zu dürfen. Wurde gegen diese elementaren Sittenregeln für das Zusammenleben verstoßen, dann bedurfte es einer Sanktion, um die richtige Ordnung wieder herzustellen. Dies in die richtigen Wenn-Dann-Regeln zu fassen, wurde die Aufgabe der Juristen: Das «ius» war also geboren, das Recht.

Man kann festhalten: Diejenigen Regeln des sittengemäßen Zusammenlebens, die für die Ordnung der Gesellschaft von besonderem Gewicht waren, galten fortan nicht mehr nur als «mos», sondern als «ius». Das Recht ist also gleichsam eine Teilmenge der hergebrachten Bräuche. Ein Recht gegen die traditionellen Sitten kann es daher nicht geben. Zugleich kann das Recht aber auch nicht gegen göttliche Regeln verstoßen. Rechtsregeln, die den Naturgewalten widersprächen, können keine Wirksamkeit entfalten. Gegen ein solches «ius» kann man sich mit guten Gründen auf die «fas» berufen.

Damit sind die Verhältnisse zwischen fas, mos und ius geklärt. Was aber ist mit der «lex»? Wie verhält es sich um das geschriebene Gesetz? Die vielleicht eingängigste Erklärung für den Unterschied zwischen ius und lex liegt im Vergleich zwischen einer Uhr und der Zeit. Zeit ist immer gegenwärtig und Zeit verstreicht mit kontinuierlicher Konsequenz. Um die Zeit aber besser sichtbar zu machen, nutzen wir Uhren. Ebenso verhält es sich um Recht und Gesetz: Nicht immer ist ohne weiteres klar, wie die Rechtslage ist. Im besten Falle hat sie jemand als Gesetz aufgeschrieben und die Rechtslage kann durch Lektüre des Gesetzestextes erkannt werden. Um für alle ein gleichermaßen verbindliches und klares Bild zu zeichnen, haben sich die Menschen in Gemeinschaften darauf verständigt, wer in welchem Verfahren ihre Gesetze aufschreibt und wie er sie verkündet. Auf diese Weise können alle in das Gesetz schauen wie sie auf eine Uhr blicken, um ihr Verhalten verlässlich aufeinander abzustimmen.

Macht derjenige, der ein Gesetz aufschreibt, bei seiner Arbeit Fehler, dann können rechtswidrige Gesetze in die Welt kommen. Die juristische Uhr zeigt dann eine falsche Zeit an. Sie muß neu gestellt werden und das Gesetz also geändert. Hat man diese Umstände einmal gedanklich durchdrungen, dann versteht man auch, warum es so unzutreffend ist, von einem «Gesetzgeber» zu sprechen. Denn Gesetze kann man in Wahrheit nicht geben. Gesetze müssen – ebenso wie das Recht selbst – «erkannt» werden. Gerichtliche Urteile in Deutschland beginnen daher ausnahmslos mit dem Satz, dass das Gericht einen bestimmten Urteilsspruch «für Recht erkannt» hat. Was Recht ist und was Unrecht, muss man also erst einmal erforschen. Nur ein Gesetz zu lesen, reicht hierfür nicht, will man sorgfältig sein. Schließlich glaubt man einer Uhr auch nicht, wenn sie tagsüber Mitternacht anzeigt. Plausibilitätsüberlegungen wollen also hier wie dort stets angestellt sein.

Was nun geschieht, wenn ein niedergeschriebenes Gesetz durch Zeitablauf mit der tatsächlichen Überzeugung der Menschen nicht mehr übereinstimmt, soll uns an anderer Stelle beschäftigen. Nur so viel mag hier schon verraten sein: Ein Gesetz, das mit den Regeln der Natur und mit den Regeln der Sitte nicht übereinstimmt, verliert bald seine Geltungskraft. Wenn eine Gesellschaft begreift, dass sie mit falschen Gesetzen in die Irre geführt wird, verweigert sie diesen Gesetzen die Gefolgschaft. Das sieht dann auf den ersten Blick kurz gesetzeswidrig aus. Es ist aber vollkommen rechtmäßig.

[Der Text wurde erstveröffentlicht auf dem Blog der Liechtenstein Academy (www.liechtenstein-academy.com)]

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