Der ewige Antikapitalismus

Vortrag bei den 6. Karlsruher Verfassungsgesprächen
der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit
am 5. Juni 2009

Carlos A. Gebauer

I.

Die internationalen Turbulenzen der jüngsten Vergangenheit, die wir gemeinhin als „Finanzkrise“ bezeichnen, haben bestimmte Sprachregelungen für den öffentlichen Diskurs hervorgebracht. Zu diesen Sprachregelungen gehört nicht nur, von einem „Scheitern der Deregulierung“ zu sprechen oder über „wildgewordene Märkte“ zu philosophieren. Für das meist als „Marktversagen“ titulierte Geschehen werden in aller Regel „Banker“, gerne aber auch „Neoliberale“, verantwortlich gemacht, die die Welt mit ihrer „Gier“ und mit ihren „Spekulationen“ an den Börsen und mit ihren Profitinteressen an den Rand des Abgrundes geführt haben.

Im Kern dieser gesamten Rede steht allerdings der proklamierte rhetorische Triumph des politisch-ideologischen Kampfes gegen den „Kapitalismus“ schlechthin. Er sei es gewesen, der – oft in Gestalt eines wildgewordenen Casino-, Raubtier- oder Turbokapitalismus – nunmehr Staat und Politik nötige, mit den ungeheuerlichsten Sonderanstrengungen Rettungsmaßnahmen auszubringen. Wären die Finanzmärkte von Anbeginn an ordentlich reguliert gewesen, heißt es, wären uns Schutzschirme, Milliarden-, Billionen- und Billarden-Programme erspart geblieben.

Meine These gegen all dies ist, dass uns viele – wenn nicht gar alle – dieser Debatten erspart geblieben wären (und weiterhin erspart werden würden), hätten wir in unseren Schulen nicht verabsäumt, unsere Mitbürger von Anbeginn ihres ökonomischen und politischen Daseins über einige elementare Grundsätze sowohl der Wirtschaftens insgesamt, als auch über Sinn, Zweck, Inhalt und Bedeutung insbesondere des „Kapitalismus“ anhand seiner historischen Empirie zu unterrichten und aufzuklären. Dies hätte sie immunisiert gegen Verführungen aller Art.

Stattdessen haben wir aber – um es einmal in der Terminologie der 1970er Jahre zu sagen – die einschlägige Aufklärung der Straße überlassen. Das Unternehmerbild des Deutschen heute ist maßgeblich geprägt von seinen Erfahrungen mit J.R. Ewing aus Dallas; demnach gilt als richtig: Je rücksichtsloser, desto erfolgreicher. Und was uns J.R. nicht vermittelte, das lieferten die Geschichten beispielsweise aus der „Rappelkiste“ über den bösen Hauswart oder – bis heute – das alltägliche Trickfilmgeschehen für unsere Kinder auf allen Kanälen, das nicht einen einzigen fleißigen Unternehmer zeigt, sondern regelmäßig das Bild eines gerissenen, unfairen, auf unlautere Vorteile bedachten Chefs, hämisches Grinsen inklusive.

Währenddessen jagt für Erwachsene ein Wissensquiz im TV das andere. Die „Knoff-Hoff-Show“, die „Welt der Wunder“ und wie sie alle heißen, entführen in ferne Galaxien, in prähistorische Zeiten und in die bestaunten Innereien eines Atomkernes; doch unterlassen sie alle eine verständliche Auseinandersetzung mit unserem eigenen Portemonnaie, dem eigenen Konto und mit der Frage, wie es dort um unser Wissen steht. Über den vereinzelten Rat an den kritischen Verbraucher kommt keines dieser Formate hinaus. Wäre es aber nicht spannend, einmal im öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrag die Frage zu besprechen, warum der Gesetzgeber verbindliche „Mindestlöhne“ für möglich hält, gleichzeitig aber keine Obergrenzen für den Benzinpreis verfügen mag?

Gleichwohl weiß jeder Theater- oder Kabarettbesucher: Kein Schauspiel ohne implizite Kapitalismuskritik; elaboriert, entwickelt und vorgetragen von – pardon! – Kulturbetriebswirten ohne einschlägige Ausbildung, sorglos alimentiert aus den Töpfen und Trögen einer subventionierten Kulturpolitikindustrie. Kann es wundern, wenn auf diesem Humus Äußerungen wie die beispielsweise Richard David Prechts erwachsen, Lafontaine versuche doch nur, die soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhards zu retten? Noch immer glauben viele Meinungsführer unseres Landes offenbar ernsthaft, „Neoliberalismus“ wäre eine Neuauflage des klassischen „laissez faire“; sie wissen gar nichts von seinen gemeinsamen Wurzeln mit dem Ordoliberalismus und der sozialen Marktwirtschaft. Auch sie also: Opfer der fehlenden Debatten.

Infolge dieser volkspädagogischen Versäumnisse und medienpraktischen Besonderheiten herrschen in breiten und breitesten Bevölkerungskreisen also ganz zwangsläufig manifest unrichtige Vorstellungen darüber vor, was denn Kapitalismus überhaupt ist. Folglich kann nicht wundern, wenn der Feld-, Wald- und Wiesenbürger unseres Landes ökonomisch immer wieder in wirtschaftliche – und ideologische – Fallen läuft (bis hin in die legislativ sorgsam auswattierte Sackgasse namens Privatinsolvenz).

Besonders aber kann nicht wunden, wenn nun – in der ausgebrochenen Krise des Geldes und des Wirtschaftens – gerade diese verbreitete kollektive Unkenntnis denk- und merkwürdige Fehlvorstellungen hervorbringt, an denen sich die öffentliche Auseinandersetzung ebenso ziel- wie hilflos abarbeitet. Und wenige erst haben bislang den Mechanismus dieser Ignoranz der Vielen unter dem Organigramm einiger weniger verstanden, den Reinhard K. Sprenger kürzlich auf die Formel verdichtete: „Je hilfloser die Menschen, desto mehr können Politiker verteilen und regulieren. Vor allem auch zu ihren eigenen Gunsten. Deshalb etikettieren sie ihre eigenen Interessen als Gemeinwohl“.

Fragen wir also offen: Was ist überhaupt „Kapitalismus“? Ist es dasjenige Phänomen, von dem die Graffitis an den Wänden unserer Städte künden, es töte?

II.

Üblicherweise nähert man sich einem Phänomen am besten und ehesten über seinen Namen. Doch eine solche begriffliche Annäherung ist just hier sehr schwierig. Zum einen ist das Wort vom „Kapitalismus“ etymologisch wenig fruchtbringend; denn mit dem ‚caput‘ hat er wenig zu tun. Zum anderen mag auch eine Exegese der Begriffsgeschichte nicht zu rasch greifbaren Ergebnissen führen; denn ein Begriff, der dermaßen politisch umstritten ist wie der des Kapitalismus, lässt sich nach Verklärungen hier und Verdammungen dort kaum noch ‚begreifen‘.

Ein alternativer Ansatz in derartigen Fällen ist, zunächst das Gegenteil einer Sache zu betrachten, um dann – gleichsam im Spiegel – die eigentlich gesuchten Konturen zu erkennen. Fragen wir also: Was sagen die Gegner des Kapitalismus über ihn? Was genau kritisieren und bekämpfen sie? Was missfällt ihnen, was wollen sie beseitigen?

Für Marx waren bekanntlich zuallererst die vermögenden, „reichen“ Kapitalisten der Klassenfeind schlechthin. Ihn und sein bürgerlich-privates Eigentum an Produktionsmitteln galt es zu bekämpfen und zu beseitigen. Dies allerdings sollte nach Marx‘ Einschätzung in einem historisch unausweichlichen Prozess von alleine geschehen.

Sein Schüler Lenin wurde nicht nur weitaus deutlicher, sondern vor allem praktischer; er forderte von Beginn der Russischen Revolution an die „Säuberung der russischen Erde von allem Ungeziefer, Flöhen, Wanzen – den Reichen usw.“. Der Historiker Robert Gellately fasst zusammen: „Die Kommunisten hatten die Absicht, den Privatbesitz abzuschaffen, Höfe zu kollektivieren, die Industrie und das Bankwesen zu verstaatlichen und jegliche Religion zu eliminieren.“

Lenins Nachfolger Stalin wollte mit seinen Fünfjahresplänen sämtliche Aspekte der Gesellschaft und der Wirtschaft regulieren, um dadurch „den Zugang der Menschen zu höherer Bildung, bessere Gesundheitsfürsorge und soziale Absicherung“ zu erreichen; er schrieb im November 1928: „Wir haben die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder hinsichtlich der Errichtung einer neuen politischen Ordnung, der Sowjetordnung, eingeholt und überholt. Das ist gut. Aber das genügt nicht. Um den endgültigen Sieg des Sozialismus zu erringen … müssen wir diese Länder auch in technisch-ökonomischer Hisicht einholen und überholen“. Im Juli 1932 beklagte sich Stalin in diesem Zusammenhang über die „Profiteure“, die sich seinem umverteilenden Kampf entgegenstellten: „Wir müssen diesen Abschaum ausmerzen“ und „aktive Agitatoren“ in Konzentrationslager schicken.

Zur gleichen Zeit wetterte in Deutschland Hitler gegen den „Börsenkapitalismus“. Die NSDAP stehe zwar „auf dem Boden des Privateigentums“ erklärte er am 13. April 1928, behalte sich aber die „unentgeltliche Enteignung“ von solchem Grundbesitz vor, der „nicht nach den Gesichtspunkten des Volkswohls verwaltet wird“. Auf dem Parteitag der NSDAP 1929 stellte Hitler seine Auffassung dar, dass Deutschland seit 1918 „im Namen des Sozialismus … der internationalen Hochfinanz“ ausgeliefert werde. Und nach dem Desaster von Stalingrad End 1942 sagte er seiner Sekretärin, Traudl Junge: “Wir werden diesen Krieg gewinnen, denn wir kämpfen für eine Idee und nicht für den jüdischen Kapitalismus“.

Längst hatte der Kampf gegen privates Eigentum, Vermögen und Grundbesitz 1932 auch das ferne China erreicht. Jung Chang fasst zusammen: „Die sowjetische Führung … hatte die chinesische KP angewiesen, sich um die Bauern zu kümmern. … Das hieß, man sollte die chinesischen Bauern auf Grundlage ihres Vermögens in verschiedene Klassen einteilen und die Armen gegen die Wohlhabenderen aufhetzen. … Unter Mao brachte das Schulungsinstitut für Bauern Agitatoren hervor, die in die Dörfer gingen, die Armen gegen die Reichen aufhetzten und sie in ‚Bauernvereinigungen‘ organisierten“. Und: „Mao sagte seinen Soldaten: ‚Wenn die Massen nicht verstehen, was ‚tyrannische Grundbesitzer‘ bedeutet, könnt ihr ihnen sagen, es heißt ‚die mit Geld oder die Reichen‘.“.

Eigentum an Produktionsmitteln durfte demnach also unter keinen Umständen privat besessen oder verwaltet sein. Alle Reichtümer der Erde sollten vielmehr (in Weiterführung dieser nationalen wie internationalen sozialistischen Ideen weit über die Ära der zitierten Massenmörder hinaus) Gemeingüter sein, die mit staatlichen Maßnahmen klug – und sozial gerecht – so unter jedermann zu verteilen seien, dass alle Menschen an ihnen gleichermaßen teilhaben können. Naturbedingte, schicksalhafte und lokale Schwankungen des Kollektivwohlstandes sind demgemäß, bis heute, aperiodisch durch politische Interventionen einer klugen Regierung auszugleichen.

Diese (häufig dezidiert im Namen humanistischer Ideale ins Werk gesetzte) ideologische Rebellion der posttheologischen Ära gegen Schicksalsschläge im Allgemeinen und im Besonderen machte konsequenterweise bald auch nicht mehr Halt vor dem uns Menschen unbestreitbar vorgegebenen Phänomen von Zeit.

Wo ein Mangel in der Zeit herrscht, da sei es legitim, künftigen Reichtum durch antizipierten Konsum in die Phase des Mangels vorzuziehen. John Maynard Keynes lieferte mit dem Begriff des „deficit spending“ das akademische Instrumentarium hierzu, also eine Art des Essens von Äpfeln im Frühlings-Hunger des Jahres, in dessen Herbst sie erst würden geerntet werden können.

Faktische Widerstände gegen derlei hochtrabend-intellektuelle Problemlösungsstrategien (die in Wahrheit nur Rebellionen gegen das Realitätsprinzip sind, worauf zurückzukommen sein wird) ließen sich dann auch tatsächlich durch einen konsequent durchsetzungswilligen Interventionsstaat brechen. Die Geschichte liefert hierzu ein mannigfaltiges Arsenal an Belegen. Kurz gesagt: Einem wahrhaft starken Staat ist nichts zu schwer.

Es ist allerdings nicht so, dass niemand diese Gefahren rechtzeitig gesehen und beschrieben hätte. Der amerikanische Ökonom Henry C. Simons beispielsweise warf Keynes bereits im Jahre 1936 im Hinblick auf dessen „Grand Theory“ und die Idee des „deficit spending“ vor, gute Chancen zu haben das „akademische Idol unserer schlimmsten Irren und Scharlatane zu werden – um nicht von der Aussicht des Buches zu sprechen, die ökonomische Bibel einer faschistischen Bewegung zu werden“ [Plickert S. 84].

Eine Schülerin John Maynard Keynes‘, Joan Robinson, äußerte sich in Bezug auf den deutschen Vier-Jahres-Plan zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit vom 1. Mai 1933 rückblickend sogar tatsächlich wörtlich dahin, „Hitler hatte bereits herausgefunden, wie man Arbeitslosigkeit kurierte, bevor Keynes mit der Erklärung fertig war, warum sie eintrat“.

Aus einem Umkehrschluß zu diesen interventionsstaatlichen Überzeugungen lässt sich demnach der Kapitalismus jedenfalls als dies definieren: Er erlaubt und gestattet private Kapitalbildung, indem er individuelles Eigentum staatlich respektiert und unangetastet lässt. Und er erlaubt die freie unternehmerische Betätigung der Eigentümer mit ihrem Eigentum.

Ein staatlich-zwangsweiser und von der Regierung gezielt geplanter Umverteilungszugriff auf privates Eigentum (in der Gestalt sowohl von enteignenden Wegnahmen, als auch durch mehr oder minder zwangsweise Steuerungen) ist unter kapitalistischen Bedingungen unmöglich. Was mir gehört, ist mir sicher und was Dir gehört ist Dir sicher. Es gibt im Kapitalismus keinen Rechtsanspruch auf das Eigentum eines anderen; hingegen gibt es eine insbesondere theologisch klar ausgesprochene, deutliche moralische Pflicht, das eigene Eigentum so zu verwenden, als sei es das Eigentum aller (so auch: Papst Pius XI. in Quadragesimo Anno unter Berufung auf die Enzyklika Rerum Novarum von Papst Leo XIII.].

Mit anderen Worten beschreibt Erich Weede genau dieses Zusammenspiel: Jede Gesellschaft braucht unabdingbar auch Nicht-Markt-Institutionen, wie z.B. die Familie; das aber heißt nicht, dass diese anderen Institutionen ausgerechnet Zuständigkeitsterrains für einen Zwangsmonopolisten Staat sein müssten.

III.

Auf Basis dieses Vorbemerkungen haben wir nun folgerichtig zu fragen:

  1. Leben wir heute in Deutschland (und andernorts) „im Kapitalismus“?
  2. Und falls nein:

  3. Was genau ist eigentlich „gescheitert“, wenn nicht „der
    Kapitalismus“?

Beide Antworten sind für eine überwiegende Mehrheit sicher erstaunlich:

Zum einen müssen wir feststellen, dass es eine wirkliche private Kapitalbildung schon unter heutigen Bedingungen praktisch nicht mehr gibt. Denn:

  1. Wir leben mit absichtsvoll politisch interventionstauglichem,
    inflationierendem, staatlichem Papiergeld („fiat money“). Sparen
    nützt also nichts. Es bildet kein Kapital. Zusammen mit –
    selbstverständlich wieder steuerpflichtigen – Zinserträgen
    schwindet seine Kaufkraft von Jahr zu Jahr. Meine in Geld
    ausgedrückte und angesammelte Arbeitskraft schmilzt unter der Sonne
    einer staatlichen Geldmengenpolitik dahin. Der Geldsparer kann kein
    „Kapitalist“ werden.
  2. Wir haben darüber hinaus staatliche Zinsvorgaben. Nicht Du und ich
    bestimmen den Preis von Geld und Kapital auf der Zeitachse, sondern
    die staatlichen Zentralbanken tun es. Sie heben und senken den
    Leitzins je nach eigener Einschätzung der Lage. Und sie tun dies
    gezielt, um unser Geld für uns billig oder teuer zu machen. Auch
    hier kann „Kapital“ nicht frei entstehen. Im Gegenteil:
    Allenfalls das falsche Scheinkapital namens Papiergeld kann, durch
    pfiffige Investition oder Spekulation, zu noch mehr Schein
    aufsteigen. Ebenso schnell löste es sich bisweilen in Nichts auf.
    Das ist kein kapitalistisches Kapital.
  3. Wir haben des weiteren das Teilreserveprivileg der staatlich
    konzessionierten Banken. Ihnen ist erlaubt, was keinem Normalbürger
    gestattet wäre. Sie verwahren einerseits unser Sparer-Geld, doch sie
    geben es andererseits zur gleichen Zeit wieder an Dritte heraus. Ihre
    Eigenkapitalquote ist daher homöopathisch gering. Würden alle
    Sparer ihre Einlage gleichzeitig zur Auszahlung verlangen, wären sie
    in derselben Sekunde (ohne künstliche staatliche Garantien)
    zahlungsunfähig. Dies ist die wahre Ursünde aller undurchsichtigen
    Derivatgeschäfte, nichts anderes. Die ahnungslosen Sparer wähnen
    sich reich, doch sie sind es gar nicht. Am allerwenigsten sind sie
    „Kapitalisten“. Ihnen hat nur in der ganzen Breite noch niemand
    verraten, was ein „bank run“ ist.
  4. Wir haben darüber hinaus – zunehmend – ein System der
    Wertzerschlagung von Unternehmenskontexten mit dem Tode des
    Unternehmers; denn die einschlägigen Modifikationen des Erbrechtes
    machen unmöglich, den wertschöpfenden Sachwert „Unternehmen“
    privatautonom in Folgegenerationen weiterzugeben. Auch hier also:
    Kein Kapitalist im eigentlichen Sinne weit und breit.
  5. Zusammenfassend müssen wir uns demnach gestehen: Das, was wir da
    leben, ist mitnichten „Kapitalismus“. Privates, rechtssicheres
    „kapitalistisches“ Eigentum von irgend maßgeblichem Umfang gibt
    es nicht. Gegenständliches Eigentum an Sachen kann stets dem
    staatlichen Zugriff unterliegen; Eigentum an Geld als staatlichem
    Zahlungsmittel sichert keine Kaufkraft; über den Tod einer Person
    hinaus existiert kein überindividueller, unbesteuerbarer Besitz an
    Kapital. Alles private Wirtschaften vollzieht sich auf dem unsicheren
    Boden staatlicher Gestattung. Es ist ein System des
    Als-Ob-Kapitalismus; eine Konstruktion, die privates Eigentum und
    seine Verfügbarkeit an der juristischen Oberfläche garantiert, die
    aber jeden Zugriff der Regierung auf seine Nutzung und seine Substanz
    vorbehält.

IV.

Dieses (!) System ist also gescheitert, nicht „der Kapitalismus“. Dieses System war weder maßvoll, noch nachhaltig, noch sinnvoll allokierend, noch dezentral-erzeugernah, noch gar wirklich geldgedeckt. Es war (und ist!!) ein Blasensystem, dessen Charakteristikum neben den skizzierten Eingriffsvorbehalten zentral darin besteht, uns mit Papiergeld mehr Tauschmittel – also: Mittel zum Tausch – zur Verfügung zu stellen, als es Güter zum Tauschen gibt.

Paradoxerweise wird der politische Kampf gegen die Gier derzeit just dadurch geführt, dass der Gegenstand genau dieser Gier, nämlich das Geld, wüst vermehrt wird. Die eingangs beschriebene Öffentlichkeit hat dieses Paradox noch nicht gesehen.

André Glucksmann hingegen schreibt bereits: [In einem Geldsystem auf Papierbasis, statt auf Deckungsbasis] „gründet die Wirklichkeit in der Rede, während im Normalfall die Rede in der Wirklichkeit gründet … Analog dazu wird die Finanzblase, indem sie Kredit auf Kredit anhäuft, zu einer Verkörperung der Selbstaffirmation. Sie ist gefangen in dieser Selbstbeziehung, die sie eben zu einer Blase macht. So wird das Realitätsprinzip schrittweise ausgehebelt; nichts anderes gilt mehr als die durch meine Investments erfundenen Finanzprodukte“.

Warum machen wir es nicht einfach anders? Warum führen wir nicht wieder unmanipulierbare, am besten miteinander konkurrierende Warengeldstandards ein, Gold, Silber etc. pp.? Damit würden allen bösen Banken ihre gierigen Hände sofort maßgeblich gebunden!

Die Antwort ist: Wir machen es nicht anders, weil dann auch unsere Politik sich selbst die Hände bände! Das systematische Axiom „fiat money“ – es werde Geld! – soll (nach derzeitigem politischen Willen) unangetastet bleiben; es soll nur für den Staat noch beherrschbarer werden. Kontrolle statt Vernunft. Der Baum namens Geldwesen wird also nicht auf ein gesundes wertgedecktes Axiom umgesetzt, sondern auf seinem falschen, ungedeckten Ort belassen; stattdessen müssen immer neue und immer gigantischere manipulierende Eingriffe an Ästen, Zweigen und Blättern seine Versetzung in eine geldpolitisch gesunde Umgebung fingieren. Schon wieder also: Eine neue, kontrafaktische Fiktion!

Darf man aber überhaupt realistisch hoffen, dass es anders wird, wenn die Aufsichtsräte der ‚systemrelevanten‘ Banken selbst personenidentisch sind mit einflussreichen Politikern und politisierten Gewerkschaftern diverser Provenienzen? Wer z.B. einen Blick wirft auf den Verwaltungsrat der Kreditanstalt für Wiederaufbau, der findet eine faszinierende Vielzahl von Männern und Frauen, denen es eigentlich schon alleine wegen ihrer dortigen Position versagt wäre, öffentlich Banken- und Kapitalismusschelte zu treiben. Derartige Zusammenhänge findet man indes nicht. Es soll Bürger gegeben haben, die in Anbetracht der dortigen Kapitalvernichtungen gefordert haben, die KfW zu verstaatlichen.

Bitter klingen angesichts dessen die Worte Michael Stürmers: „Der Idee, Staat und Politiker, wenn man sie nur ließe, könnten alles richten, haben die deutschen Landesbanken, denen es an Politik-Aufsicht nicht fehlte, den Boden entzogen“.

Wenn und wo also z.B. der DGB-Chef und KfW-Verwaltungsrat Michael Sommer am 1. Mai 2009 ebenso wortgewaltig wie erwartungsgemäß Banken und Banker, Kapitalisten und Profiteure für die Krise verantwortlich machte, da vergaß er, seine eigene Rolle zu thematisieren. Die chinesische Tradition kennt die List, den Sack zu schlagen, doch den Esel zu meinen. Ob Sommer sich selber meinte, wird man sicher bezweifeln können. Und auch ob dem KfW-Verwaltungsrat Peer Steinbrück bewusst ist, dass seine militärischen Drohungen gegen die Schweiz im Kern nur Ausfluss der eigenen Hochsteuerpolitik sind, mag man bezweifeln.

Vielleicht haben beide Herren aber auch längst Warren Nutters Rede zu den ökonomischen Problemen des Ostblocks aus dem Jahre 1974 gelesen, wo dieser sagte: „Die sowjetischen Führer von heute sind mit dem Dilemma des Zaren konfrontiert. Wie die Zaren wissen sie, dass die Wirtschaft krank ist, aber sie fürchten, ebenso wie die Zaren, dass eine Heilung des Patienten den Doktor töten wird“.

V.

Mit Blick auf die verfassungsrechtlichen Dimensionen all dessen fällt eines dem Juristen besonders irritierend ins Auge: Geld ist heute ein rechtsfreier Raum!

Dies mag den juristischen Laien zunächst erstaunen, in der Sache ist es leider exakt so. Die Tatsache, dass wir unsere Schulden – namentlich unsere staatlichen Steuern und sonstigen Abgaben – mit Geld als dem, wie es heißt, „gesetzlichen Zahlungsmittel“ zu erbringen haben, vermag bei genauer Betrachtung darüber nicht hinwegzutäuschen. Was dieses gesetzliche Zahlungsmittel „Geld“ nämlich überhaupt ist, hat der Gesetzgeber an keiner einzigen Stelle definiert. Gesetzlich ist vielmehr nur dasjenige Zahlungsmittel, das der Gesetzgeber uns – in ganzer Konsequenz des Zirkelschlusses – als solches gesetzlich vorgibt. Und dies wiederum ist ‚unsere‘ (zwischen- oder über-)staatliche, derzeitige Währung namens „Euro“.

Diese Währung aber kann der Geldschöpfer – die staatliche Zentralbank – frei von juristischen „Belästigungen“ seitens der Staatsbürger nach eigenem Gusto herstellen. Geldmengenpolitik ist Politik. Geldmengenpolitik ist nicht Geldmengenrecht. Kein Bürger hat ein subjektiv-öffentliches Recht auf Geldwertstabilität. Die Inflationierung von Geld, also die Herstellung und Verbreitung von relativ mehr Geld als der Herstellung von realwirtschaftlichen Gütern, unterliegt der grundrechtlich nicht überprüfbaren Einschätzungsprärogative der Regierung (bzw. ihrer unabhängigen Zentralbank).

Würden wir das Innehaben von Geld als wirkliches, kapitalistisch-privates Eigentum auffassen und seine wertmäßige Aushöhlung durch Inflationierung als Eingriff in subjektive (kapitalistische!) Eigentumsgrundrechte verstehen, unterläge der Gesetzgeber – anders als derzeit – den allgemeinen verfassungsrechtlichen Rechtfertigungszwängen. Inflationierungen, d.h. Geldmengenerhöhungen, könnten als Eigentumsverletzung und mithin als enteignende Eingriffe gewertet werden; mit allen daraus folgenden Konsequenzen.

Im Gegensatz zu dieser kapitalistisch-individualschützenden Eigentumstheorie stellt sich das heute geltende Geldsystem als reines makroökonomisches Manipulationsinstrumentarium dar. Für die Regierung wird der Geldwert flexibel gehalten, um die interventionistischen (also: non-kapitalistischen) Umverteilungsprozesse mit leichter Hand umsetzbar zu halten.

Wie schon gesagt: Der Staat bekämpft die diagnostizierte Gier mit der paradoxen Vermehrung des Gier-Gegenstandes, mit noch mehr Geld. Doch die Ursache seines diesbezüglichen Handelns ist nicht die intellektuelle Freude am logischen Widerspruch. Vielmehr treibt ihn seine blanke machtpolitische Angst eines generellen Kontrollverlustes. Über den Interventionsstaat, der seine nach rettenden Eingriffen jappenden Bürger behandelt wie ein schlechter Arzt einen Drogensüchtigen, statt mit Entzug und Entgiftung mit immer neuem Papiergeld, schreibt Michael Stürmer: „Regierungen fürchten finanzielle Schieflagen und ein Ende der sozialpolitischen Pallative, danach Unzufriedenheit, Unregierbarkeit und Krise der freiheitlichen Demokratie. Daher suchen sie die Beruhigungsdroge Geld, wo immer sie sie zu finden hoffen“.

Juristen mögen sich in Anbetracht dessen verfassungsrechtlich an Eigentumsgrundrechten abarbeiten und Halbteilungsgrundsätze u.a. proklamieren – alles umsonst! Wir glätten nur die Meeresoberfläche, während in den Tiefen ganz andere Kräfte walten und wüten. Alles, was wir verfassungsrechtlich denken, sagen und schreiben, wird schlicht an anderen Stellen des Systems unterlaufen und konterkariert. In Anlehnung an einen bösen Aphorismus mag man beinahe resigniert formulieren: Wir Juristen sind in diesen Kontexten derzeit allenfalls der Zuckerguß auf einem makroökonomisch-geldpolitischen Phänomen von gänzlich anderer Konsistenz.

VI.

Die hier eingangs beklagte kollektive Unkenntnis hinsichtlich dieser Umstände hat nicht nur Dallas-Fans oder Rappelkiste-Konsumenten erfasst. Sie ist vielmehr tief eingedrungen in unsere Gesellschaft. Auch in die Kreise unserer akademisch ausgebildeten Mitbürger.

Insbesondere unter Lehrern (die gleich dreifach von der fehlenden ökonomischen Informationsweitergabe abgeschnitten sind, als Schüler, Lehramtsstudenten und im dann eigenen Unterrichtsbetrieb) grassiert daher nach jüngsten Meinungsumfrage in Deutschland eine manifeste Interventionsbefürwortung; 65% aller Lehrer beabsichtigen, gezielt redistributive Parteien zu wählen – mit allen daraus wiederum folgenden Konsequenzen für den aktuellen Schulunterricht. Ökonomische Ignoranz erfährt einen Schneeballeffekt.

Man zeige einem Sozialkundelehrer einen Einhundert-Trillionen-Dollar-Schein aus Simbabwe und lasse sich erklären, wie es zu seiner Existenz hat kommen können: Warum nur sind ausgerechnet die kapitalistischen Unternehmer in Simbabwe so exzessiv und grenzenlos gierig, dass sie ihre Regierung zwingen, solche gigantischen Banknoten herzustellen? Es ist schwer, in Anbetracht des Leidens von Simbabwe nicht in heillosen Sarkasmus zu verfallen.

Doch es sind nicht nur die vielgescholtenen Lehrer, denen der ökonomische Überblick weithin fehlt. Auch und gerade professionelle Ökonomen haben sich augenscheinlich in ihre intrikaten Konstrukte dermaßen verrannt, dass ihnen jeder Überblick und Realitätsbezug abhanden gekommen war. Wenn selbst unser Bundespräsident – als vormaliger Chef des Internationalen Währungsfonds nun wahrlich kein Laie im Geschäft – einräumt, die Produktmonster des internationalen Finanzgeschehens nicht mehr verstanden zu haben, dann bestand Gefahr im Verzug.

Dies entlastet sicher auch Fachjournalisten, die 2009 einen Ökonomen in Davos anerkennend zum Propheten erkoren, der schon 2007 vor dem Crash gewarnt habe. In Wahrheit war er alles andere als ein Prophet; denn Friedrich August von Hayek hatte schon mehr als 30 Jahre zuvor vor dem geldpolitischen Wahnsinns-Axiom der Deckungslosigkeit gewarnt; zu einer Zeit also, als die beschriebenen Kapitalismuskritiker in anderen Zusammenhängen noch vor „Aufklärung auf der Straße“ warnten.

VII.

Es ist nach allem die Zeit gekommen, den ebenso verbreiteten wie ewigen Antikapitalismus zum Thema zu machen. Es ist die Zeit gekommen, wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Aufklärung zu betreiben. Es ist die Zeit gekommen, den noch immer bemerkenswert schweigsamen Ökonomen jene dringenden Fragen zu stellen, auf die wir alle bald – sehr bald – eine tragfähige Antwort brauchen.

Es fällt auf, dass die richtigen Fragen auch heute noch überwiegend von Nicht-Ökonomen gestellt werden. André Glucksmann ist Philosoph, Michael Stürmer ist Historiker. Und wenn Konrad Adam thematisiert, dass der „Währungsschnitt“ immer wahrscheinlicher werde, dann spricht mit ihm wieder kein Ökonom. Wo ist die Zivilcourage eines Wirtschafts- und Währungsexperten, der endlich ausspricht, was sich kaum länger noch verschweigen lässt? Ist das Tabu so groß? Gibt es – wie Jörg Guido Hülsmann kenntnisreich spottet – „heilige Dogmen der Geldpolitik“? Oder ist es die schlichte Verzweiflung über fehlende Auswege, die den Finanzexperten den Hals zuschnürt?

Was kann den Juristen berufen, sich zu diesem Thema zu äußern? Auf die Gefahr hin, überheblich zu klingen: In der mittelalterlichen Universität war der Jurist Mitglied der Höheren Fakultäten; der Arzt war zuständig für die körperliche und der Theologe für die seelische Gesundheit; dem Juristen kam zu, die Gesundheit der Gesellschaft zu betrachten. Finanz- und Geldfragen sind Fragen der gesellschaftlichen Gesundheit.

Wir Juristen haben augenscheinlich zu lange diese Fragen den Globalsteuerern, den Schuldenmachern, den Predigern der Stabilität und den Designern der „planification“ überlassen. Es ist Zeit, dass wir uns mit dem elaborierten Instrumentarium des Geisteswissenschaftlers aufmachen, zumindest die richtigen Fragen zu stellen, selbstbewusst, mutig und mit der nötigen Zivilcourage.

VIII.

Der Einzelne hat seine Würde. Er ist mehr als nur ein Schalter im Gesamtgetriebe der Makroökonomie. Die Gedankenwelt des Kapitalismus liefert Ansätze zu Antworten auf die drängenden Fragen der Gegenwart. Und es ist unsere Pflicht, die Stimme gegen den Antikapitalismus zu erheben, der sich aus allzu durchsichtigen Gründen seine rhetorischen Pfründe gesichert hat. Obschon er in diesen Darstellungen machtvoll und einflussreich erscheint, so wird er doch aus unterschiedlichsten Richtungen bemerkenswert einmütig bekämpft.

Frank A. Meyer zitierte jüngst wieder Keynes mit seinem elitären Wort, der Kapitalismus beruhe auf der „merkwürdigen Überzeugung, dass widerwärtige Menschen aus widerwärtigen Motiven irgendwie für das gemeine Wohl sorgen werden“ und der bekennende Reaktionär Nicolás Gómez Dávila formulierte „Wir verwerfen den Kapitalismus nicht, weil er die Ungleichheit fördert, sondern weil er den Aufstieg von niedrigen Menschentypen begünstigt“.

Wer demgegenüber dem Menschen – jedem Menschen – eine unantastbare Würde garantiert und wer ihm mit einer grundlegenden Unschuldsvermutung begegnet, der wird ihn weder widerwärtig, noch auch niedrig erachten. Er wird ihm vielmehr den rechtlichen Anspruch zuweisen, sich vor der Welt und seinen Mitmenschen unter Beweis stellen zu können.

Der Jurist weiß, dass ein – bezeichnenderweise soeben wieder von dem Alt-Keynesianer Peter Bofinger proklamierter – „starker Staat“ auf eines komplementär angewiesen ist: Auf einen schwachen Bürger. Doch der Mensch der Moderne kann, darf und soll eben gerade dies nicht mehr sein. Im Gegenteil. Das Mittelalter ist vorbei! Die Moderne, der Liberalismus, der Rechtsstaat und die Demokratie sind auf einen Typus Mensch unabweisbar angewiesen: Auf den starken Bürger. Auf den selbstbewussten Bürger. Auf einen Bürger, der sich selbst und seine Mitmenschen annimmt. Auf einen Bürger, der Bürgersinn hat und der ihn praktiziert. Auf einen Bürger also, der nicht Untertan ist. Auf einen Bürger, der sich nicht hilflos in die Arme eines „starken Staates“ fallen lässt und damit – „in the long run“ – das ganze Gemeinwesen gefährdet.

IX.

Historisch wissen wir: Prosperierende Gemeinschaften gedeihen überproportional wahrscheinlich in politischen Machtvakuen, dort also, wo Minderheiten mit Herrschaftsambitionen weitgehend unmöglich gemacht ist, ihre Mitmenschen zu gängeln. Die sogenannten „Wirtschaftswunder“(die in Wahrheit keine Wunder sind, sondern natürliche Folge von Umständen, die es Bürgern ermöglichen, frei auf der Basis sicheren Privateigentumes zu handeln) gingen vonstatten in den Umbruchzeiten des europäischen 19. Jahrhunderts, in denen es den vormaligen Herrschaftsstrukturen immer weniger gelang, ihre Untertanen zu bevormunden; sie ereigneten sich in den bürokratiefreien Sphären amerikanischer Siedler, die nach Westen zogen; sie gelangen in der Sondersituation des deutschen Trizonesiens, das nach außen durch die pax americana und nach innen durch Ludwig Erhard vor politischer Gewalt geschützt war; und sie gelangen in der ähnlich staatsvergessenen Situation Hong Kongs, das zwar zunächst bitter arm, aber auch von der Kolonialmacht vergessen war. Überall dort vermochten verantwortlich handelnde Bürger frei zu handeln (im doppelten Sinne des Wortes!) und dadurch Wohlstand zu schaffen.

In dieser Kenntnis muss es die Aufgabe des Juristen sein, vergleichbare „Machtvakuen“ für seine Mitbürger zu schaffen, interventionsfreie Bereiche, in denen sie – von robusten und unverrückbaren Grundrechten geschützt – ihr Leben leben und ihr Glück gestalten können. Die Unverrückbarkeit dieser Prinzipien von rechtlich unantastbarem Eigentum und staatlich respektiertem bürgerlichen Vertragshandeln – bezogen auch auf unser Geld, einschließlich vernünftigerweise wohl auch einer Neujustierung des Bankenwesens ohne Teilreserveprivileg – hat eine Dimension, die weit über das Leben und Schicksal eines einzelnen hinausgeht. Von ihr hängt vielmehr sogar insgesamt ab, ob eine Gemeinschaft dauerhaft Bestand haben kann. Denn überall dort, wo der einmal geschaffene Wohlstand zu der Nachlässigkeit reizt, moralische Teilhabevorstellungen zu juristischen Teilhaberechten umzugestalten, da erodieren die verlässlichen Fundamente der vormals prosperierenden Gesellschaft.

Erich Weede schreibt: „Möglicherweise untergräbt der unternehmerische Kapitalismus, gerade dort, wo er erfolgreich dabei gewesen ist, Massenwohlstand statt der von den Marxisten erwarteten Verelendung zu produzieren, seine eigene psychologische Basis, die Akzeptanz des Leistungsprinzips“.

Insofern wäre der Kapitalismus also – an ideologisch unvermuteter Stelle – doch noch ein Selbstzerstörungsmodell? Im Gegenteil: Es ist nicht der Kapitalismus, der sich selbst zerstört; sondern es ist der Kapitalismus, der mit seinen wohlstandsschaffenden Kräften breitesten Kreisen jene Bequemlichkeit ermöglicht, auch ohne übermenschliche Anstrengung passabel leben zu können. Tritt aber in dieser Situation der generellen Behaglichkeit ein Rechtssystem hinzu, das dem Gefühl der Bequemlichkeit auch noch durch juristische Umverteilungsansprüche auf fremdes Eigentum Nahrung verschafft, dann gerät eine Gemeinschaft zwangsläufig auf die schiefe Bahn, an deren Ende Elend und Chaos aufscheinen.

Folglich ist es die verfassungsrechtliche Aufgabe des Juristen, die Bedingung der Möglichkeit von rechtlicher Umverteilung durch felsenfeste kapitalistische Eigentumsgrundrechte auszuschließen. Wer glaubt, fremde Schokolade dort verteilen zu dürfen, wo das eigene Backen von Schwarzbrot gefordert ist, der versündigt sich an der Gesellschaft. Und damit zeigt sich zuletzt, was der so lautstark propagierte Antikapitalismus seit jeher ist: Das Schwachreden des Privaten und das Starkreden des staatlichen Herrschenwollens; das honigsüße, sirenengleiche Versprechen, allgemeinen Wohlstand durch ein individuelles Recht auf Untätigkeit und Komfort herbeiregieren zu können. Wo aber wollte man lieber leben: Unter den segensreichen Versprechungen Simbabwes oder in der staatlichen Wohlfahrtswüste namens Hong Kong?

X.

Eine Lüge, sagte jemand, wird nicht dadurch wahr, dass man sie ständig wiederholt; aber die Lüge wird durch ihre ständige Wiederholung zur Tatsache. Dies ist mindestens ebenso gefährlich. Ein Jurist, dem an der Gesundheit seiner Rechtsordnung liegt, muss hier reden. Ohne Zivilcourage und ohne ein Eintreten gegen die falschen Tatsachenbehauptungen werden wir nichts ändern. Mit den Strategien des Appeasement ist unser friedlicher Wohlstand gegen die antikapitalistischen Umverteiler nicht zu retten. Prinzipien brauchen Menschen, die sie vertreten. Rechtsprinzipien brauchen Juristen, die sie verteidigen. Kennt jemand einen guten Anwalt?


Literatur:

Jörg Guido Hülsmann:
Die Ethik der Geldproduktion, Waltrop 2007
Erich Weede:
Unternehmerische Freiheit und Sozialstaat, Berlin 2008
Frank A. Meyer:
Das Nichts als Produkt, Cicero Juni 2009
Reinhard K. Sprenger:
Interview Schweizer Monatshefte März/April 2009
Jung Chang & Jon Halliday:
Mao, München 2005
Robert Gellately:
Lenin, Stalin und Hitler, Bergisch Gladbach 2009
Philipp Plickert:
Wandlungen des Neoliberalismus, Stuttgart 2008
Konrad Adam:
Der kurze Traum vom ewigen Leben, Waltrop 2009
André Glucksmann:
Bürgerliche Blasenwirtschaft, Schweizer Monatshefte, Mai/Juni 2009
Michael Stürmer:
Bürgerliches Trauerspiel, Schweizer Monatshefte, Mai/Juni 2009

Public Health and Private Sickness

The Law of Governing Bodies, Administrative Corpses and Ailing Citizens

– Illustrations from Germany –

Bodrum Turkey, 22nd of May 2009 Forth Annual Meeting of the

Property and Freedom Society

Carlos A. Gebauer

I.

The older we get – and, of course, the more we study – we learn a lot about the world we live in. Step by step we understand more about our nature. And we discover its secrets, the ways things work. Within this process, one day, we often find that there are mighty powers behind all different appearances. And some of us even believe in the existence of an almighty creator who has foreseen all this and who has planned all incidents, all factors, all details working one for each other, forming the wonderful unit of this miraculous earth. And in addition to this, we realize as well the functions namely of our own bodies. We are amazed at seeing the perfection of its organ’s cooperation and interplay, the intelligence of a central nerve system for example – or the meritorious strength of a liver. At one point the most of us feel a great humbleness, no matter if they think all this was made by god or by accident.

In comparison with these impressions it really brings us down to take a look at the system of public health care in Germany, because its components and modes of operation perform in a definitely different way. We see a system that claims to be made perfectly and we see political and administrative people improving it from day to day. But in the end it is nothing but a very, very expensive bureaucratic chaos that is paid by innocent and unsuspecting citizens and that delivers far less medical service than could be if it was organized by the people themselves. Let’s take a closer look at the system’s details to see how destructive the deadly socialist ideas have influenced the structures this “public health”.

II.

Within the last four decades the legislator has written 12 books of social law in Germany. The first of these 12 “social law books” formulates the chief aim of them all, right in its section Nr. 1: The first and foremost task and mission of all book is to bring “social justice” to all citizens (which, by the way, was the same determination of value in the preamble of GDR’s constitution of October 7th, 1949).

The fifth of this impressive social dozen is the book that deals with the health and with the holding ready of medical care for the insured. Here we find the tragic mixture of economic aspects on the one hand and medical treatments on the other that constantly misguides its insured and its economic conditions over all into heavy indebtedness.

III.

According to this law each and every resident of the republic who signs a contract of employment instantly becomes a compulsory member of the public health insurance. His principal also takes part in this legal construction. He is not allowed to pay the whole wage directly to his employee. Instead of this he has to deduct 15.5% of the employee’s wage and he then has to transfer this sum immediately – at the end of each month – to the health insurance company that his employee has chosen to be responsible for his health.

At this point we should take a closer look at four characteristics of the system before we go an. These four interim remarks are those: (1) We should look at the term “health insurance company”. We should (2) make clear what it means to say that this company is “responsible” for the employee’s (respectively: insured’s) health. We ought to become (3) aware of that system not being a real, truthful insurance. And we have to face the fact (4) that even these roundabout 250 public health insurances at least from the beginning of the year 2009 are nothing else than remote-controlled financial units of a new giant administrative masterpiece called “Health Fund”.

  1. A health insurance company in Germany is not a “company” in the
    sense of a free and private corporation. It is nothing else but a
    government body. It has sovereign powers over its members and
    consequently the right to issue administrative acts. In case a
    principal decides not to transfer the monthly contribution of the
    mentioned 15.5% he will suffer punishment according to criminal law,
    even if his employee agreed to do so. The punishment laid down by law
    for this crime, by the way, equals the punishment laid down for the
    procuration of women under the use of arms. (Obviously, we do not
    have to ask for the first time in history, why a system that is said
    to be as glorious as this, needs to take people under its wings by
    the thread of force). Regarding all that, we can conceive that this
    system, so to say, is dead serious about really collecting in all the
    contributions of its insured.
  2. Saying that the system is “responsible” for the health of its
    insured is not only a euphemistic wording. Again, this is – at
    times in the bitter and double sense of its meaning – meant deadly
    serious. In the first section of the fifth social law book we read
    that an insured is “jointly responsible” for his health. This
    means in an argumentum e contrario (so to say regarded from the other
    side of the mirror) that the insured no longer is responsible for his
    body himself. He is only one out of a group of responsible persons
    and bodies who care for his own health, body and life.
  3. This brings us to the third interim remark. This public health
    insurance system is not a health system equal to seriously calculated
    actuarial theory. The risk of getting sick is not being set into
    relation to the amount of one’s insurance premium. Instead of this
    the size of a contribution only depends upon the income bracket. This
    again simulates poor people not facing major hazards to human health
    whereas those insured with higher incomes are fictitious bad risks.
    One does not have to be a specialist in the arts of actuarial theory
    to understand that this construction gives a funny bunch of stimulus
    and incentives to all compulsory members. And within this dimension
    it is probably the hour of birth of the war on corruption that eats
    up so much resources of the system.
  4. As I said, the latest administrative masterpiece of German
    health policy is a so called “Health Fund”. Imagine all public
    health insurances collecting in all contributions from all insured –
    via their principals – and them all again being bound by law to
    pass on all that money to this one and only, gigantic general health
    fund. This is not an administrative nightmare – it is law in force
    in Germany since the 1st
    of January 2009. And it is the executed reality in my country that
    this general health fund subsequently pays out these collected sums –
    according, of course, to certain quota allocations that guarantee
    social justice coming into being – to each single public insurance
    company again. (I suppose, a lot of specialized experts will have to
    travel to an awful lot of meetings throughout the country again and
    again, to find the right mathematical formula for the real
    social-justice-cash-flow. And I am rather convinced they will also
    have a lot of fun doing this…).

However, a system such as this speaks of “public health”, but it creates – and this is my thesis – nothing else but private sickness. It sets back the individual into the loneliness and isolation of his own body. It falls back into the undeniable fact that physical pain and grief are strictly personal occurrences. The intellectual misconception of a public that could be kept healthy by authoritarian political and administrative arrangements without asking for the will of each and every individual, leads inevitably astray. Why is that so? Because the public simply has no body! It’s as easy as this. You can’t shake hands with the public, you can’t look into the public’s eyes and the public cannot catch a cold. Only human beings can, because only human beings have their bodies. So, if you make a policy for the health of a subject (named “public”) that has not body, you can’t at the same time make a proper policy for those who really do have bodies.

All these public health ideas simply got on the wrong intellectual track. And it is not my subject today to deal with the question if those who personally profit from that lost their orientations either by mistake or willfully. But the German health system sets an example for the symptoms and functional disturbances of any public health system that is simply based on such sort of incorrect axioms. Let me proof this by describing the ways the German system searches and finds the adequate therapy for a sick and suffering individual.

IV.

Since you are not asked basically and in general whether you want to be insured within this system, it is no wonder that you are – as well – not asked what kind of therapy you want to receive, in case your own body does not work properly any longer. The system has its answers for you. The system cares for you. Remember: You are only “jointly responsible” for yourself. Consequently, you are not the only owner of your body. Your co-owners want to exercise their co-determination rights concerning your body to constitute the mentioned fiction of a “public body” that shall be cared for.

The priority legal technique to make sure that a patient is not to be asked about what kind of treatment he wishes is, of course, the construction of it all being put into public – and not into private or civil – law. None of the members of this system is invited to express his views or opinions on the proceedings. Everyone is simply forced to participate in it by law.

Now, if an insured is under medical treatment he has – consequently – no right and no chance to close any private contract with his medical doctor concerning the contents of the proceeding. The doctor on the one side is participating in a health insurance plan. He himself is compulsory member of a special chamber of doctors. This chamber of doctors again is constituted as an administrative body under public law with sovereign rights in relation to every single doctor. And the patient on the other side is – as mentioned – only part of the administrative body called “public health insurance”. Both, neither the patient nor the doctor are asked about what they personally and individually think to be the right way of medical treatment in each single case. Instead of any private agreement between these two parties simply the written law of our fifth social law book and the supplementary implementing regulations (that are invented by the administration to fill the many gaps) rule the courses of events inside every doctor’s room. The patient does not get what he wants. He gets what the experts and specialists of his public health insurance – and, of course, the mighty general health fund in the background – find to be “necessary”.

The necessity of a treatment is defined as (a) economically efficient, (b) adequate and (c) expedient. These are the three constituent facts that make a good and necessary treatment. Unfortunately, the standards of these constituent components which might lead to a treatment you wish are defined objectively or – to use another, maybe more precise word – they are particularized “disinterested”. That means that you personally, as a subject, might have been interested and willing to spend more money to get a certain treatment different to the average standards. A treatment so to say that is somewhat objectively inadequate. But – sorry! – the system can, of course, not take such extravagances into consideration. It has to keep in mind that all insured parties have to get their medical part of social justice as well. Even if you have paid thousands and thousands of Euros into the system over years this does not keep you away from having to pay your own special treatment once you need it.

All these theoretical thoughts and ideas are realized by a sheer unimaginable bureaucratic force. Between every single medical doctor and every single patient we find a kind of giant administrative vault, a modern dome of priceless public servants doing their indefatigable jobs – and being paid of course from the public purse of the system’s compulsory members.

Once a patient gets sick, it is –as mentioned – after all not the doctor who has to find and to describe the adequate therapy. It is the employee of the social insurance institution called “health insurance” who selects among the possible treatments. But since this employee never in his life has studied medicine he has to obtain specialist’s advice to do his job. To make sure he can find that advice our legislator has created another administrative body called the “Medical Service of Health Insurance Institutions”. Inside this highly specialized government subdivision you’ll find medical doctors who have the status of a public official. They decide about your therapy, unfortunately without ever having seen you personally. But: They read your medical bulletins very carefully. And they adjust your case with the standards that are given by another – even higher specialized – government body, called the “Advisory Committee of Common Interests” within the health system.

In those cases in which not even this Advisory Committee knows what is wrong and what is right, they can ask another administrative body called the “Institute of Quality and Good Efficiency inside the Health System”. This Institute recently founded another Foundation under Private Law (!) which helps to carry out all the work that has to be done. For example, the fifth social law book allows these institutions – as well as the Ministry of Health itself! – to entrust external specialists to give their expert opinions in writing.

If your medical standpoint is not the one of these bureaucrats, you still have the right to file your case to court. The guarantee of access to the courts can even bring you to the constitutional courts. And what they think about all that might be the subject of another lecture, in case we find a couple of hours to deal with that.

We all have to pay very dearly for that. But, as our politicians say: Isn’t health somewhat invaluable?

V.

In the end we find a through and through astonishing result of all these health politic and health administrative efforts: When the German health system was invented at the end of the 19th century, its founders aimed at a certain conception. They wanted to end the era of poor people being thrown upon acts of clemency, grace and mercy in case of illness. They wanted to enforce the poor with suable rights on the health sector.

What has come out now is a system of simply unclear fundamental-principle rights of people against their public health insurances that indeed give “necessary” medical protection. But the contents of these “rights” are indefinite, unascertained and – namely with regard to the medicine according to the position of liquid assets within the system – completely indeterminable. If you as a patient have not the means to pay for a treatment you really need and all these impressive administrative bodies within the public dome of social justice are not willing to officially approve your therapy you have no other chance than to simply beg for treatment! So this again throws people down to depend on acts of clemency just like it used to be in the 19th century. In other words: We have reached the same point again, from which we started 130 years ago!

In effect, the whole speaking of “social justice” inside a public health system has become (1) nothing else than a camouflage-term for medical unsteadiness and uncertainty; (2) a self-service system for those who enrich themselves by pretending to be able to perfectly define absolute adequate treatment-standards; and (3) a welcome method of political ruling in post-religious, modern times.

VI.

Right in the middle of our bodies there is an organ called “spleen”. I think God – or whoever is responsible for us being here – must have had a certain idea when he invented that tool for our lives. Because: If you get hurt and you lose this organ, you do not have to die (at least not for that reason). The other organs inside our body take upon the duties of that lost spleen. So in the end I can promise you this: We can learn from nature that a public health system is probably nothing else but a spleen. If we clear it away from the earth’s surface, the whole human society can live on without any damages, each and every single human being will be healthier than they are today – and: health will be far cheaper and in the consequence affordable for everyone.

Weniger ist mehr!

Von der Kontrollwirtschaft zur Vertrauenskultur

am 20. Juni 2008 anläßlich des „Querdenker-Frühstücks“ der Novartis Pharma GmbH, Berlin

Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren,

ich danke herzlich für die freundliche Einladung, vor Ihnen und mit Ihnen über unser deutsches Gesundheitswesen reden zu dürfen. Es gibt zu diesem Thema bekanntlich aus allen Fakultäten Mannigfaltiges beizutragen. Ich will mich aber heute – nicht zuletzt in Anbetracht unserer bunten Zusammenkunft aus den verschiedensten Disziplinen – wesentlich auf philosophische Gesichtspunkte konzentrieren. Mein Heimatgebiet der Juristerei stelle ich daher vorerst zurück. Zur Sache:

1.) Ihnen allen sind die vier klassischen Grunddisziplinen der Philosophie bekannt: Anthropologie, Ontologie, Gnoseologie und Praxeologie. Auch sind Ihnen sicher die gedanklichen Ansätze der sogenannten Subjekt-Objekt-Spaltung bereits begegnet. Auch wenn diese Felder einem schon mindestens begrifflich-terminologisch hohen Respekt einflößen, so gehen sie doch allesamt auf eine eher einfache Grundidee zurück. Diese lautet in etwa: Was immer ein Mensch betrachtet, er steht dem Gegenstand seines Interesses stets unausweichlich irgendwie gegenüber. Die Welt „da draußen“ muß erst in seinen Kopf, um sie zu begreifen.

Egal also, was der Mensch betrachtet: Immer muß das „Objekt“ des Interesses in das Hirn des Menschen (also in das Hirn des „Subjektes“) hinein. In Ansehung dieser Grundkonstellation stellte Aristoteles fest, „Wahrheit“ sei demnach die adaequatio rei et intellectus. Nur wenn das, was „da draußen“ in der Welt – außerhalb unseres Hirns – ist, eine getreue Abbildung in dem findet, was wir in unserem Hirn darüber denken, kann von Wahrheit ausgegangen werden.

Das hört sich im Ansatz einfach an, wird aber recht bald zum Problem. Denn der liebe Herrgott (oder wer immer dafür verantwortlich ist, daß es uns hier gibt) hat uns nur fünf Sinne mit auf unseren Lebensweg gegeben. Diese bilden gleichsam die Eingangstore für Welterkenntnis. Nur das, was durch diese Tore aus der Welt in unser Hirn hineinkommt, können wir auch wissen. Was nicht durch diese Tore passt, bleibt draußen. Wenn aber etwas draußen bleibt, dann kann es auch keine Wahrheit geben. Denn zwischen dem, was in der Welt ist, und dem, was in unserem Kopf ist, herrscht ja dann keine Entsprechung.

Diesem Erkenntnisprobleme widmet sich die so genannte Gnoseologie (oder Epistemologie oder Erkenntnistheorie). Und zuletzt muß der Mensch sich – als Subjekt – in diesem Abenteuergarten namens objektiver Welt auch noch angepasst verhalten können. Wie er das am besten anstellt, ist die Kernfrage der Praxeologie, deren Unterdisziplin „Ethik“ wohl die bekannteste von allen ist.

Für unseren Zusammenhang des Gesundheitswesens sind aus diesen allgemeinen Vorbemerkungen jetzt besonders zwei Fragen interessant: Wie erlangen wir Wissen über die Welt? Und: Wie reagieren wir auf diese Umwelt? Das erste ist demnach die erkenntnistheoretische und das zweite die praktische Dimension unseres menschlichen Verhaltens. Ich werde zeigen, daß es genau jene Grundherausforderungen zwischen Mensch bzw. System einerseits und Welt bzw. Wirklichkeit andererseits sind, die uns in dem gegebenen System so erhebliche Probleme bereiten.

Mit alledem habe ich den ersten (begrifflichen) Teil meiner heutigen Einleitung abgearbeitet. Damit komme ich zu einer Zwischenbemerkung:

2.) Unser Gesundheitssystem ist bekanntlich inzwischen in einer Weise komplex, die kaum noch möglich macht, eine sinnvolle Verständigung auf kurzen Wegen zu erreichen. Folglich muß man – nach meiner Überzeugung – stets sehr ausufernde Einleitungen vorschalten, um anschließend auch nur hoffen zu dürfen, überhaupt verstanden zu werden. An meine begrifflichen Vorbemerkungen schließe ich daher nun noch einige geradezu spieltheoretische Klarstellungen an. Sie mögen das Instrumentarium der philosophischen Grunddisziplinen weiter verdeutlichen.

a.) Nehmen wir zunächst an, ein einzelner Mensch habe sich in einer großen Stadt zurechtzufinden. Dies stellt zunächst seinen Erkenntnisapparat vor gewisse Herausforderungen. Er muß sehen, wo er ist. Er muß Gefahren erkennen (heranbrausende Straßenbahnen etc.), sein Ziel definieren und dann seine Reise durch die fremde Stadt entsprechend der Erkenntnisse umsetzen. Er muß angepasst handeln.

Das ist für einen gesunden Erwachsenen in seiner eigenen, vertrauten Stadt scheinbar simpel. Wie schwierig diese Aufgabe der zielgerichteten Welterkenntnis und Wirklichkeitsanpassung aber tatsächlich ist, wird vielleicht erst klar, wenn man sich vorstellt, was es bedeuten würde, ohne Augenlicht auf einem Bein vom Bahnhof Friedrichstraße zum Hotel Adlon gelangen zu müssen. Wirklichkeitsanpassung ist eine echte Aufgabe und Herausforderung. Und es ist ein großes Glück, daß der Herrgott (oder, wie gesagt, wen immer Sie persönlich für unsere Lage für verantwortlich halten) die Kommunikationswege zwischen unseren Sinnen und dem Zentralrechner namens Hirn so kurz (und mithin relativ fehlerunempfindlich) ausgestaltet hat.

b.) Dies verdeutlicht besonders eine erste Ableitung von meinem Beispiel, in dem „nur“ ein Mensch die Anforderungen einer Großstadt bewältigen muß. Nehmen wir an, eine Mutter hat mit ihren beiden Kindern (zweieinhalb und vier Jahre alt) denselben Plan, durch eine Stadt zu laufen. Sie muß für zwei nicht angepasste Menschen mitbeobachten, mithören, mitdenken und mithandeln. Das kann sehr anstrengend sein. Insbesondere, wenn sie sodann auch noch gewährleisten muß, daß beide Kinder auch die richtigen Befehle zur Wirklichkeitsanpassung tatsächlich ausführen. Hier sind die Erkenntnis- und Kommunikationswege schon weitaus länger, als im „Grundfall“.

c.) Das Beispiel läßt sich ohne weiteres ausdehnen. Als zweite Ableitung bitte ich Sie, sich vorzustellen, was es heißt, zwanzig Kindergartenkinder durch eine Großstadt zu manövrieren; vom Kindergarten mit der Straßenbahn zum Zoo und zurück. Hier erlangen die Aufgaben einen Komplexitätsgrad, der sich mit „einer Mutter“ nicht mehr bewältigen läßt. Kindergärtnerinnen sind immer in der Mehrzahl unterwegs. Der Erkenntnisapparat jeder einzelnen Kindergärtnerin muß für alle Kinder mitarbeiten. Die gewonnenen Erkenntnisse müssen für sie selbst und für alle Kinder verarbeitet und in Handlungsanweisungen umgesetzt werden. Die effektive Durchführung aller Handlungsanweisungen bedarf der Gegenkontrolle. Nur so gelingt die Anpassung aller an die Wirklichkeit. Und: Anders als die eine Mutter alleine, die in ihrem einen Kopf alle Informationen verarbeiten kann, müssen die Kindergärtnerinnen auch noch miteinander kommunizieren, was ihr jeweiliges Bild von der Welt ist. Die adaequatio rei et intellectus einer jeden Aufpasserin muß auch auf ihre jeweilige Übereinstimmung mit der persönlichen adaequatio aller anderen Kindergärtnerinnen hin gegengeprüft werden. Kein Wunder, daß Mütter und Kindergärtnerinnen an solchen Abenden sehr müde sind.

Wir können also festhalten: Je mehr Menschen an einem gemeinschaftlichen System beteiligt sind und dessen zielgerichtete Steuerung gemeinsam betreiben, desto komplexer wird nicht nur das System. Insbesondere steigen die Anforderungen an Koordination, Kommunikation und Erfolgskontrollen ganz erheblich. Jeder einzelne ist mehr und mehr gefordert.

d.) So ist es nicht ohne Grund besonders das Militär, das sich mit der Massenträgheit solcher menschlicher Großsysteme zuerst besonders beschäftigen muß. Als dritte Ableitung meines Beispiel-Marathons blicke ich nun auf ein Heer, das – aus ungezählten einzelnen Menschen bestehend und einen gemeinsamen Oberzweck verfolgend – die Umwelt erkennen soll und sich in dieser angepasst (zieladäquat) verhalten will.

Die Sinne eines jeden einfachen Soldaten an ungezählten Stellen im Feld sind zugleich die Sinne des Großsystems Armee. Die Schaltzentrale aber (das Hirn) findet sich in Gestalt des Generals fernab dieser Sinnesorgane. Um überhaupt Erkenntnis gewinnen zu können und anschließend wirklichkeitsangepasst handeln zu können, müssen die Kommunikationswege sinngemäß denen eines biologischen Mechanismus angepaßt werden.

Was nützt es mir, wenn ich ein auf der Straße herannahendes Auto erkenne, der Verarbeitungsweg dieser Information aber so lang ist, daß ich schon überfahren bin, bevor der interne Impuls zum Weglaufen mein Hirn verlässt? Und: was nützt es mir, wenn die Erkenntnis früh genug kommt, der Befehl zum Laufen in den Beinen aber erst nach einer halben Stunde ankommt? Natürlich nichts!

Nicht anders muß eine Armee schnell reagieren, um sich in der Umgebung angepasst zu bewegen. Diese Erkenntnis führt auf der einen Seite zur Pflicht, immer und überall auf streng vorherbestimmten Wegen „Meldung“ zu machen. Und sie führt auf der anderen Seite dazu, daß der „Befehl“ ohne Wenn und Aber, ohne Gegenvorstellung und ohne vorherige Grundsatzdiskussion ausgeführt werden muß. Wo käme das System Heer oder Armee denn hin, wenn auf jeder Hierarchie-Ebene zunächst axiomatische Grundsatzkritiken erlaubt würden?

Der Militär-Apparat kann folglich nur dann in der Umgebung bestehen, wenn er sich selbst intern eine gewisse Starrheit verordnet. Klare Strukturen und abgesicherte Pfade geben dem System nach Innen den Halt, den es braucht, um außen bestehen zu können. Jedenfalls scheint es auf erstem Blick so. Daß die Dinge gegen diese erste Annahme jedoch anders liegen, werden wir sogleich noch im einzelnen sehen.

3.) Und damit bin ich nun – endlich! – bei meinem eigentlichen Thema angelangt. Bei unserem Gesundheitssystem. Auch dieses ist nämlich zunächst nichts anderes als ein System, das sich handelnd in der Wirklichkeit bewegt.

Mit seinen Millionen und Abermillionen von Teilnehmern ist es bekanntlich hochkomplex und nicht nur dem sozialversicherungsrechtlichen Laien nicht mehr ansatzweise durchschaubar oder verständlich.

Da die Größe und Komplexität des Systems faktisch jede menschliche Vorstellungskraft sprengt, behelfe ich mir immer gerne mit einem Bild: Stellen Sie sich vor, Sie fliegen mit dem Flugzeug über ein Ballungsgebiet (das Ruhrgebiet etwa, oder Berlin) und blicken Sie in die Tiefe. Alles, was Menschen dort unten tun und treiben muß zeitgleich erfaßt, verstanden, gespeichert, verarbeitet und geordnet werden. Dann müssen für jeden einzelnen in jeder Lage die richtigen Anweisungen erteilt und in ihrer tatsächlichen Durchführung überprüft werden. Nur wenn dies alles gelingt, stimmen zum Schluß die normativen Vorgaben der Gesetze mit den Tatsachen auf dem Boden überein. Nur dann bleibt das System im Gleichgewicht der sogenannten „Globaläquivalenz“, wie sie sich § 220 SGB V vorstellt. Daß dies geradezu traditionell nicht gelingt, wissen alle Eingeweihten längst.

Ich will hier nicht der weit verbreiteten Versuchung erliegen, nun weitere Details dieses Nichtfunktionierens zu beschreiben. Mein Thema bleibt, wie die Koordination von Informationen, deren Verarbeitung und der Anweisung zu bestimmten Handlungen zwischen dem Subjekt „Gesundheitssystem“ und dem Objekt Welt bzw. Wirklichkeit vonstatten geht.

4.) Bei meinem Beispiel von der Steuerung militärischer System hatte ich bereits aufgezeigt, warum derartige Großsysteme in ihrem Inneren zu gewissen Starrheiten neigen (müssen). Wenn das Riesensystem zu flexibel (böse gesagt: zu schwammig) ist, dann wird es zu träge, um die Herausforderung einer Anpassung an die Umgebungsbedingungen bewältigen zu können. In der Konsequenz dieser Schaffung interner Starrheiten liegt, daß die Teilnehmer derartiger Systeme eine Art „Blickwende“ vollziehen. Sie blicken mit ihren Sinnen nicht mehr ausschließlich oder überwiegend auf die Außenwelt, die sie vordergründig interessieren sollte, sondern sie schauen verstärkt und vermehrt auf das Innere ihres Systems; sie betreiben Introspektion.

In demselben Maße, in dem nun aber nicht mehr die Umwelt beobachtet wird, sondern die inneren Funktionsmechanismen des Systems wird eine Anpassung seiner Steuerung an Umweltveränderungen immer schwieriger. Das Systems reibt sich mehr und mehr an der objektiven Wirklichkeit. Innerhalb des Systems erwächst ein zunächst nur diffuses, dann aber immer bestimmteres Gefühl, daß „etwas“ nicht gut läuft. Dieses unbestimmte Gefühl des unrunden Ganges der Dinge löst einen Reaktionsimpuls aus. Üblicherweise mündet dieser in zwei Überzeugungen: Die eine lautet, wir müssen mehr Informationen über die

Wirklichkeit haben, um das „unrunde“ Funktionieren zu beseitigen; die zweite heißt, wir benötigen höhere Stringenz und festere Strukturen, damit schneller auf die künftig hoffentlich besser (das heißt genauer) erkannte Wirklichkeit reagiert werden kann.

Wie schon gesagt: Aristoteles wusste, daß Wahrheit die Übereinstimmung zwischen Tatsachen in der äußeren Welt und ihrer gedanklichen Erfassung innerhalb des erkennenden Subjektes erfordert. Wem die informationellen Sinne fehlen, die Welt zu erkennen, der scheitert an dieser Wahrheit ebenso wie der, der falsche Handlungsimpulse in die Wirklichkeit setzt.

5.) Ich komme noch einmal zurück auf meine Ableitungen eingangs, bei denen Kinder von ihrer Mutter oder Kindergärtnerin durch eine pulsierende Stadt geleitet werden mußten. Sie alle wissen: Wenn Kinder nicht mehr freiwillig den Befehlen der Erwachsenen gehorchen, dann ist Zeit für stringentere und strengere Botschaften. „Jetzt werden andere Saiten aufgezogen“ heißt es dann oder „Dir zeige ich, wo der Hammer hängt“ oder auch „Ihr werdet mich noch kennen lernen“.

Dieser Verzweiflungspädagogik gegen pubertierende Autonomiebestrebungen entspricht im Wehrstrafrecht die Verschärfung der Sanktionen im sogenannten „Verteidigungsfall“. Wenn es ernst wird, muß sichergestellt werden, daß alle Teile des Armeesystems unverzüglich und befehlsgerecht funktionieren. Dann ist keine Zeit mehr, Debattenkulturen im System zu pflegen. Dann muß gehandelt werden, notfalls gegen alle Zweifel und Widerstände.

6.) Im hochkomplexen Gesundheitssystem findet diese Verzweiflungspädagogik ihre Entsprechung in Phänomenen wie dem der Korruptionsbekämpfung oder der „Bekämpfung von Fehlverhalten“ überhaupt (vgl. §§ 81a, 197a SGB V). In Anbetracht einer augenscheinlich schwieriger (oder gar nicht mehr) zu beherrschenden Wirklichkeit werden die Methoden zur Sicherstellung des Gesetzesgehorsams ruppiger.

7.) Für den Kenner rechtsgeschichtlicher Vergleichsbeispiele sind derartige Maßnahmen im Inneren eines Systems Indiz seiner Agonie. Das vorangegangene planwirtschaftliche Großexperiment beispielsweise des sogenannten „Ostblocks“ kannte in großem Umfange das Phänomen des Saboteurs. Hier schließt sich – um noch einen anderen historischen Bezug aufzuzeigen – die monarchistische Überzeugung vom „The King can do no wrong“ nahtlos an die Allwissenheit des Gesamtplaners an: Wenn etwas nicht funktioniert, so kann es selbstverständlich nicht an fehlerhafter Planung liegen, sondern allenfalls an Saboteuren, die das Funktionieren hintertreiben.

Paul Watzlawick hat dies in einem bemerkenswerten Essay über die „Bausteine ideologischer Wirklichkeiten“ mit breiter Empirie unterlegt und nachgezeichnet. In einem seiner Beispiele berichtet er, wie ungarische Landwirtschaftsexperten sich dem Vorwurf der Sabotage ausgesetzt sahen, nachdem sie den zuständigen sozialistischen Sowjet Ungarns darauf hingewiesen hatten, daß entgegen seiner Vorstellung am Balaton Orangen nicht angebaut werden können. Weil die Parteiexperten jedoch zuvor Spanien besucht und topographische Ähnlichkeiten mit dem heimatlichen See entdeckt zu haben glaubten, ordneten sie derartigen Orangenanbau dennoch an. Als der wegen der Temperaturverhältnisse erwartungsgemäß scheiterte, wurden die Experten als vermeintliche Saboteure des guten Plans verantwortlich gehalten. Irgendeiner muß es ja schuld sein!

8.) Aus alledem läßt sich – grob gesprochen – folgende Faustregel herleiten: Je höher die Komplexität eines Systems ist, desto existenzgefährdender sind ihm Veränderungen der Umgebungsbedingungen. Aus genau diesem Grunde führen exogene Änderungen nicht selten zum katastrophischen Kollaps derartiger Großsysteme. Mindestens werfen sie ein System in seinem Fortschritt zurück. Auch dies erweist die Geschichte, auf die es sich stets lohnt, lernwillig zurückzublicken.

a.) Unter Historikern besteht durchaus Einigkeit, daß die sogenannte „kleine Eiszeit“ in Europa zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Reformation in ihren Auswirkungen beflügelt und bestärkt hat. Wenn infolge von klimabedingten Zusammenbrüchen der Versorgung mit Nahrungsmitteln das Vertrauen in eine bestehende Ordnung allgemein schwindet, dann wächst umgekehrt die allgemeine Bereitschaft, sich anderen Ordnungen gegenüber zu öffnen.

b.) Auch die französische Revolution von 1789 wurde zu nicht geringem Teil von Engpässen in der Lebensmittelversorgung ausgelöst (die übrigens, am Rande bemerkt, ebensowenig mit Kohlendioxidbelastungen der Erdatmosphäre zu tun hatten, wie die der kleinen Eiszeit oder heute; aber das ist ein anderes Thema).

c.) Jung Chang beschreibt in ihrer beeindruckenden Biographie über Mao tse-Tung, wie dieser Ende der 1950-iger Jahre den „Großen Sprung nach vorne“ für die chinesische Stahlwirtschaft planen und machtvoll durchsetzen wollte. Nachdem er in nur drei Jahren die gesamte chinesische Infrastruktur von landwirtschaftlicher Produktion auf das Stahlkochen bis in das letzte Dorf umgestellt hatte und hierbei die drakonischsten Strafen gegen Saboteure verhängen ließ („Wer einen Nagel versteckt, der versteckt einen Konterrevolutionär“), genügte eine klimabedingte Missernte in weiten Teilen des Landes, um die schwerste Hungerkatastrophe der bekannten Menschheitsgeschichte auszulösen. Infolge Fehlplanung starben mindestens 38 Mio. Chinesen den Hungertod. Maos Karriere wurde kurzfristig zurückgeworfen. Auch hier hatte also die exogene Ursache „Hungersnot“ das machtvoll geplante Großprojekt „Stahlexport-Weltmeister“ gestoppt.

9.) Bevor ich wieder auf unser eigentliches Thema, nämlich die vielleicht eines Tages dann doch wieder mögliche Steuerung des deutschen Gesundheitssystems, zurückkomme, verweise ich auf einen anderen, kulturhistorisch bemerkenswerten Umstand: Quer durch alle Zeiten und unabhängig von allen kulturellen Besonderheiten läßt sich ein sehr interessantes Muster des Zusammenhangs zwischen kollabierenden Systemen und ihrer Architektur feststellen. Immer dann, wenn ein einstmals funktionierendes Großsystem seinen Zenit überschritten und in den Zustand des Vergehens übergegangen ist, entwickelt es eine geradezu unwiderstehliche Neigung, die imposantesten Bauwerke zu errichten.

Die größten Papstpaläste in Rom wurden gebaut von Päpsten, die schon nichts mehr zu sagen hatten. In dem großartigen Buckingham Palast zu London lebte nie ein König, der noch irgendetwas Substantielles zu sagen hatte. König Ludwig II. baute die Schlösser Neuschwanstein, Herrenchiemsee und Linderhof, während er zeitgleich seine Macht verlor. Die beeindruckende Stadt Neu-Delhi wurde als vorbildliche Hauptstadt für eine Kolonialverwaltung 1929 fertiggestellt, also in dem Jahr, in dem die indische Befreiungsbewegung den Sieg über England faktisch errungen hatte.

Northcote Parkinson, der britische Historiker und Ökonom, der diese Fakten 1957 in seinem Buch „Parkinsons Gesetz“ beschrieb, konnte denknotwendig nicht wissen, daß der neue Bonner Bundestag im Jahre 1992 fertiggestellt wurde, als Berlin bereits wieder Hauptstadt Deutschlands geworden war. Er konnte auch nicht wissen, daß das Bundeskanzleramt und das beeindruckende Abgeordnetenhaus in Berlin zu einem Zeitpunkt entstanden, als alle Gesetze schon zu 80% aus Brüssel kamen. Und er konnte nicht wissen, zu welchem Zeitpunkt das neue Gesundheitsministerium der Bundesrepublik Deutschland fertiggestellt wurde …

10.) Nach diesen breiten historischen Exkursen, die Sie mir als Ihrem eingeladenen „Querdenker“ bitte nachsehen mögen (diese Leute sind so), komme ich – endlich – wieder zurück zu unserem Gesundheitswesen.

Daß das System sich in den Umgebungsbedingungen der Wirklichkeit unwohl fühlt, weil „etwas“ nicht mehr rund läuft, hatte ich bereits beschrieben. Genau dieses Unwohlsein ist regelmäßig Anlaß zu immer neuen Reformen, die letztlich nichts anderes sind, als das Eingeständnis unzureichender Wirklichkeitsanpassung.

Neben der optimierten Datenbeschaffung interessiert das System daher nun – wie ebenfalls schon angesprochen – die Optimierung der Beherrschbarkeit aller Beteiligten. Anders als in militärischen Zusammenhängen, in denen Befehlswege stets Einbahnstraßen sind, stellte sich das „alte“ Modell der kassenärztlichen Versorgung beispielsweise nicht als ein solches Einbahnstraßensystem dar. Vielmehr wurden gesetzliche Anweisungen nur „von oben“ bis an die Grenze der kassenärztlichen Selbstverwaltung gegeben. Dort brandeten die Befehle des Gesetzgebers gegen die Klippen der basisdemokratisch „von unten“ legitimierten Vertragsärzteschaft.

In demselben Maße, in dem das Gesundheitssystem die eigenen Funktionsunfähigkeiten erkennt, neigt es nun dazu, jene vermeintlichen Saboteure in der basisdemokratischen Vertragsärzteschaft durch zunehmende Starrheit des Anordnungssystems in die Pflicht zu nehmen. Der Arzt wird zunehmend Befehlsempfänger eines die medizinischen Maßnahmen stringent anordnenden Systems. Nur so scheinen die Widerstände der Selbstverwaltung, die als ein wesentlicher Faktor der Funktionsschwäche ausgemacht sind, bekämpft werden zu können (eine Darstellung der anderen Leistungserbringerschaften jenseits der Kassenärzte mit ihren dort wachsenden Starrheiten erspare ich uns hier aus Zeitgründen; die Phänomene sind bekanntlich überall dieselben).

11.) Die Grundidee einer kassenärztlichen Vereinigung war allerdings nicht ursprünglich die eines basisdemokratischen Widerstandsnestes. Vielmehr sollte – ebenso wie beispielsweise in der gemeindlichen Selbstverwaltung des Kommunalrechtes – die größere räumliche Nähe zum Patienten „vor Ort“ dezentral zu sachangemessen(er)en Lösungen führen. Damit war zugleich ein weiteres systematisches Phänomen abgearbeitet: Ich nenne es das der „Dehnungsfuge“.

Was bedeutet in diesem Zusammenhang eine „Dehnungsfuge“? Wann immer Sie ein Haus bauen, eine Brücke errichten oder sonst ein System in eine Wirklichkeit einfügen, müssen Sie den Übergang zwischen System und Umwelt harmonisieren bzw. anpassen. Weil ein Haus mit seinen verschiedenen Materialien zwischen Hitze und Kälte, Wind und Wetter je anders „arbeitet“ als sein Fundament, müssen die mehreren Materialien des Systems sowohl zu diesem, als auch gegeneinander flexibel bleiben. Wer eine große Betonfläche gießt, ohne Dehnungsfugen einzubringen, der errichtet ein bald brüchiges Bauwerk.

Ebenso, wie jedes dieser Bauwerke „Toleranzen“ benötigt, muß auch ein Großsystem wie das des Gesundheitswesens Toleranzen zulassen. Wo sie fehlen, bricht das System. Dies wiederum sind diejenigen Augenblicke, in denen – wie vorstehend breit erklärt – Systeme insgesamt kollabieren. Jenes Kollabieren wird jedoch durch die Bekämpfung der Toleranz bzw. Flexibilität „vor Ort“ durch stringente und starre Anordnung gerade befördert.

12.) Was also kann insgesamt aus diesen systematischen Erwägungen für unser Gesundheitswesen gelernt werden?

a.) Zunächst ist eine deutliche Reduzierung seiner Komplexität erforderlich. Es bedarf einer deutlichen Verkürzung sowohl der Erkenntniswege des Systemsubjekts, als auch seiner Entscheidungswege in die objektive Umwelt. Dies läßt sich nur durch die konsequente Schaffung und Zulassung kleinerer Einheiten mit eigenen Entscheidungsbefugnissen bewerkstelligen. Es ist kein Zufall, daß – um ein letztes Mal militärische Parallelen zu bemühen – die sogenannten regulären Großarmeen stets die größten Schwierigkeiten haben, einen Gegner im Guerilla-Krieg zu besiegen. Die Guerilla agiert autonom und flexibel in kleinen Einheiten. Sie ist im weit höherem Maße in der Lage, eigenes Erkennen und Handeln in der Wirklichkeit abzustimmen als ein schwerfälliger Großapparat, der trotz gigantischen Aufwandes seine Ziele in der Welt nur suboptimal erreicht.

b.) Auch für diese „Herabzonung“ von Handlungsverantwortung auf kleinere Einheiten sowie für die erlaubte Flexibilisierung vor Ort gibt es deutliche historische Beispiele. Das Oktober-Edikt von Friedrich Wilhelm III. aus dem Jahre 1807 erlaubte ausdrücklich den freien Handel und befreiten Grundbesitz für Adel ebenso wie Bauern, Bürger und vormals „Unfreie“, weil die vorangegangenen Napoleonischen Kriege die gesamte Wirtschaft und Versorgungssituation in Preußen in eine katastrophale Lage gestürzt hatten. Friedrich Wilhelm III. erkannte, daß er mit hoheitlicher Gesamtplanung das Elend nicht erfolgreich bekämpfen konnte. Daher ließ er seinem Volk freie Hand. Deutschland und Preußen blühten danach bekanntlich auf.

In etwa zeitgleich ließ sich nichts anderes in den Vereinigten Staaten von Amerika beobachten. Die Siedler hatten mit den unfassbarsten Schwierigkeiten zu kämpfen. Naturgewalten stellten sich ihnen entgegen. Jede Infrastruktur fehlte. Gleichwohl gelang es, die USA auf lange Zeit hin zur größten Wirtschaftsmacht der Welt auszubauen. Die Ursache hierfür lag nicht zum wenigsten darin, daß die Siedler jedenfalls mit einem nicht kämpfen mußten: Mit Überregulierung, Bürokratie und Verwaltung.

c.) An einer Deregulierung (beinahe möchte man sagen: Demilitarisierung) des Gesundheitswesens führt daher dann kein Weg vorbei, wenn vor Ort wieder bezahlbare und qualitativ erfreuliche Medizin geleistet werden soll. An die Stelle des Verwaltungszwanges und der gesetzgeberischen Einschnürungen muß daher die Schaffung flexibler dezentraler Einheiten in eigener Verantwortung treten. Dies wiederum erfordert Vertrauen in die Handelnden. Und genau dies ist die Essenz meiner hiesigen Ausführungen: Wir brauchen eine Vertrauenskultur im Gesundheitswesen, statt der heutigen Kontrollwirtschaft, die von Zwängen geprägt und dem Zusammenbruch geweiht ist.

d.) Der Weg in diese Vertrauenskultur führt jedoch nach meiner Einschätzung und Erwartung – insoweit bin ich Realist oder Skeptiker, je nachdem, was Sie lieber mögen – nicht über Einsicht und gezielte Umsteuerung. Vielmehr erwarte ich ein Kollaps-Szenario unseres notorisch lernresistenten Gesundheitssystems im Vollbild der skizzierten historischen Beispiele.

Wer also gutwillig ist und Interesse hat, eine Gesundheitsversorgung nach diesem Kollaps sicherzustellen, der muß heute beginnen, über Strukturen und Netzwerke für die Zeit danach nachzudenken.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!

Anonyme Alarmisten und ihre bequemen Unwahrheiten Betrachtungen über ein einflußreiches duo fatal

Gängelband des Jahres 2007 Laudatio

Stiftung Liberales Netzwerk

Potsdamer Platz 6a, 10117 Berlin

19. Oktober 2007

Carlos A. Gebauer

Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren,

die Stiftung Liberales Netzwerk verleiht das Gängelband des Jahres stets an eine Person, die eigene Interessen in herausragender Weise über das Interesse der Allgemeinheit stellt und hierdurch die persönliche Freiheit einzelner Bürger maßgeblich behindert.

Der Preis wird in diesem Jahr nicht – wie in der Vergangenheit üblich – an eine individualisierbare Person oder an eine bestimmte Institution verliehen. Die Stiftung hat statt dessen entschieden, einen Preisträger auszuzeichnen, der selber nur sehr schwer greifbar ist. Unser diesjähriger Preisträger ist nämlich einerseits überall, andererseits auch nirgendwo.

Dieser Umstand macht es nicht gerade einfach, ihm eine Preisrede zu widmen. Sie erfordert daher zunächst eine Vorbemerkung und dann noch drei weitere Zwischenbemerkungen, bevor zum eigentlichen Grund seiner Auszeichnung ausgeführt werden kann.

I.

Wer einen anderen Menschen „gängeln“ möchte, um die Interessen bestimmter Personen gegenüber dem Wohl der Allgemeinheit rücksichtslos durchzusetzen, der sieht sich zunächst vor eine rein technische Aufgabe gestellt. Diese lautet: Wie bewegt man Menschen zu Handlungen, zu denen sie aus eigenem Antrieb und aus eigener Veranlassung nicht bereit wären? Es stellt sich mit anderen Worten die ganz grundlegende Frage: Wie gängelt man möglichst effektiv?

1.) Die brachialste Form, einen anderen Menschen zu Handlungen zu zwingen, die er selbst eigentlich nicht vornehmen würde, besteht schlicht darin, Gewalt anzuwenden. Dies ist gleichsam die maoistische Variante des Gängelns, frei nach dem Motto: Die Macht kommt aus den Gewehrläufen.

Die Anwendung äußeren Zwanges (oder auch nur dessen glaubhafte Androhung) ist in der Regel ohne weiteres geeignet, andere Menschen zu bestimmten Handlungen zu bewegen. Auch hier gibt es allerdings verschiedene Schattierungen der Gewaltinstrumentalisierung. Sie reichen über den Einsatz des schon genannten militärischen Gewehres über den Bau antifaschistischer Schutzwälle bis hin zu feineren Methoden.

Aus dem Bereich der Gastronomie bekannt ist der Standard einer Schutzgelderpressung („Wenn Du nicht zahlst Luigi, dann bruzzeln in Deinem Laden demnächst nicht nur die Sardellen!“). Ein ähnlicher Mechanismus ist beispielsweise auf dem Gebiet der Sozialversicherung bekannt in der Gestalt von Versicherungspflichten nach dem Sozialgesetzbuch in Zusammenschau mit der gefängnisandrohenden Strafvorschrift des § 266a StGB.

2.) Eine demgegenüber im Ansatz weitaus freundlichere Methode, andere Menschen zu bestimmten Handlungen anzuhalten, besteht in der friedlicheren Variante des Bittens. Wer einen anderen um einen Gefallen bittet oder ihn um eine barmherzige Tätigkeit ersucht, der kann ebenfalls Handlungen erwirken, die dieser andere ohne entsprechende Aufforderung nicht sogleich vorgenommen hätte.

3.) Eine dritte Variante, fremdes Handeln zu bewirken, liegt in der Verbreitung von Fehlinformationen bzw. Lügen. Diese Methode ist nicht nur Heiratsschwindlern bekannt. Auch im politischen Bereich gibt es hierfür hinlänglich bekannte Beispiele: „Die Renten sind sicher“. Jedenfalls ist diese Technik aber nie völlig zu trennen von der Erkenntnis, daß Lügen kurze Beine haben (wobei dies ausdrücklich keinerlei Bezug zu der Körpergröße von Norbert Blüm hat!). Ein Merksatz für den Hausgebrauch in diesem Zusammenhang könnte in etwa sein: „Die Politologen, bis sich die Balken bogen“.

4.) Eine vierte – für unseren heutigen Zusammenhang besonders interessierende – Variante, andere Menschen zu Handlungen zu bewegen, die diese eigentlich nicht hatten vornehmen wollen, besteht in der Verbreitung von Angst. Dieser Mechanismus ist ebenso simpel wie effektiv. Nehmen Sie beispielsweise an, ich wollte sie bewegen, jetzt sofort den Saal zu verlassen. Ich müßte wahrscheinlich nur laut und panisch genug „Feuer!!!“ rufen. Mit einiger Überzeugungskraft würde mir dann bestimmt gelingen, Sie zum zügigen Verlassen dieses Raumes zu bewegen. Argumente bräuchte ich nicht.

5.) Gegenüber den drei erstgenannten Methoden hat diese letztgenannte ganz wesentliche Vorteile: Zum einen ist das Verbreiten von Ängsten (mit der daraus folgenden Handlung fremder Menschen) weitaus weniger aufwendig, als die Androhung oder gar Durchsetzung von Gewalt. Denn Panzer sind bekanntlich teuer und Zuchthäuser personalintensiv. Die Verbreitung einer Angst läßt sich kostengünstiger bewerkstelligen. Zudem ist sie in der Regel auch weitaus unblutiger, was sie auf ersten Blick sympathischer macht. Die Verbreitung von Ängsten ist nächstens verläßlicher, als das bloße Bitten um gewisse Handlungen anderer. Denn sie stellt den immer noch verbreiteten Eigennutz des anderen, gesund überleben zu wollen, zugleich in den Dienst der eigenen Zielvorstellungen. Schließlich aber ist die Verbreitung von Ängsten auch moralisch erheblich wertvoller, als das alternativ genannte Lügen. Der ertappte Lügner steht in der Regel vor der Gesellschaft schlecht dar. Sein Interesse sollte folglich stets sein, selbst wie ein Wohltäter zu erscheinen (jedenfalls, wenn er nicht nur kurzfristig, sondern längerfristig und nachhaltig gängeln möchte). Nicht zuletzt dies mag auch der Grund dafür gewesen sein, warum Maximilien de Robespierre nicht Mitglied einer „Bundeszentrale für das öffentliche Kopfabhacken“ o.ä. während der Französischen Revolution war, sondern (solange er seinen eigenen noch besaß) führender Kopf des „Comité de salut public“, zu gut deutsch: Des Wohlfahrtsausschusses. Auch dieser Wohlfahrtsausschuß ist später übrigens umgenannt worden in „Comité de sureté générale“. Auch hieran läßt sich ablesen, wie sehr Sicherheitsversprechen, Machtpositionen und Ängste miteinander ein enges Amalgam eingehen.

6.) Unter überwiegend friedlichen Umständen in einer Gesellschaft wird eine Regierung nach allem stets ein Interesse daran haben müssen, möglichst intensiv Ängste zu nutzen, um das von ihr angestrebte Verhalten der bürgerlichen Untertanen zu bewirken. Genau dies ist die Entstehungsvoraussetzung – und der politische Humus – für einen Typus, dem die heutige Laudatio und mithin unser diesjähriges Gängelband gewidmet sind. Preisträger des Jahres 2007 ist: Der anonyme Alarmist!

7.) Zwar hätten sich bei der Findung des Preisträgers durchaus viele einzelne, prominente Alarmisten ausfindig machen und benennen lassen können. Doch das wahrhaft Charakteristische an diesem Gängelband-Preisträger besteht nach Auffassung der Stiftung darin, daß gerade die Vielfalt seiner Erscheinung und die Vielfältigkeit seiner angstverbreitenden Alarme das Wesen seiner Existenz ganz besonders auszeichnen.

Nur wenn jeder Bürger jeden Tag mindestens je an einer komplett farbig plakatierten Hauswand mit Werbebotschaften von oder für Obdachlosenzeitungen und/oder Kriminalitätsopfer und/oder Pflegebedürftige und/oder Hungernde und/oder Dürstende und/oder Unfallverletzte und/oder Witwen und/oder Waisen und/oder hilfsweise Blinde vorbeigelaufen ist, erreicht der angestrebte Alarmstatus den nötigen Intensitätsgrad. Denn erst dann begründet das allgemeine Angstgefühl in der Bevölkerung den nötigen Lähmungseffekt gegen jedweden Mut zur selbstbewusst individuellen Handlung, den es – besonders zugunsten der Alarmprofiteure und ihrer Freunde – im Ergebnis zu vermeiden gilt. Nur so trägt nämlich das ständige Warnen und Hysterisieren für den anonymen Alarmisten seine eigentliche Frucht. Statt seine Dienste wie ein ehrlicher Händler oder Dienstleister den kritischen Märkten anzubieten, schürt er die Furcht und präsentiert sich dann – vermeintlich ganz uneigennützig – heldenhaft als Retter, alimentiert aus den Mitteln staatlich abgepresster Abgaben.

II.

Gestatten Sie mir nach dieser Vormerkung nun ankündigungsgemäß noch drei weitere Zwischenbemerkungen, die für das Verständnis des Nachfolgenden bedeutsam sind.

1.) Man muß nach allem also fragen, was genau einen erfolgreichen Alarmisten kennzeichnet. Der gute Alarmist verbreitet stets die maximal mögliche Angst. Ziel ist also eine Art globale Universalpsychose möglichst aller Menschen dieser Welt. Hierzu setzte der gute Alarmist am liebsten eine Art Breitspektrums-Anti-Sedativum ein. Es geht also darum, möglichst jede Art von Ruhe oder Selbstvertrauen in der Bevölkerung – individuell oder gemeinschaftlich, vorübergehend oder auf Dauer – zu vermeiden.

Ein passables Zwischenergebnis auf dem Weg zur perfekten Alarmistin hat vor einigen Jahren beispielsweise die amerikanische Publizistin Barbara Ehrenreich präsentiert, die ihr Buch mit dem Titel „Angst vor dem Absturz – Das Dilemma der Mittelklasse“ mit den Worten bewarb:

Das Kapital der Mittelklasse ist viel vergänglicher als Reichtum und jeder einzelne Angehörige dieser Klasse muß es sich stets aufs Neue mühsam erarbeiten. Keiner kommt darum herum, Selbstdisziplin zu üben … Diese Elite … ist also unsicher und zutiefst besorgt. Wie jede Klasse, die nicht im Geld schwimmt, lebt sie in ständiger Angst vor dem Schicksalsschlag, der zum gesellschaftlichen Abstieg führen könnte. Doch die Mittelklasse kennt noch eine weitere Angst – die Angst vor der inneren Schwäche, Angst davor, weich zu werden … Selbst der Wohlstand, so oft das Ziel all dieses Strebens, kann zur Bedrohung werden, könnte er doch zu Hedonismus und Hemmungslosigkeit führen. Ob die Mittelklasse hinunterschaut in die Welt der Entbehrungen oder hinauf ins Reich des Überflusses, die Angst vor dem Absturz verläßt sie nie.

Während der Rezensent der „newsweek“ dieses Buch im Jahre 1989 als ein Lektürevergnügen empfohlen haben soll, muß – unter unserem heutigen Blickwinkel – Frau Ehrenreich durchaus eine Rüge erteilt werden: Einem Mittelständler, der zum einen Angst hat, arm zu werden und zum anderen Angst, reich zu werden, fehlt erkennbar noch immer eine wesentliche Angst. Die Angst nämlich, daß sich nichts verändert! Ein wirklich guter Alarmist also hätte nicht verabsäumt, den beiden von Frau Ehrenreich beschriebenen zwei Ängsten noch die lückenfüllend-letzte, dritte hinzuzufügen, um die perfekte globale Universalangstpsychose zu generieren. Mit anderen Worten: Was schert mich ein Dilemma, wenn ich auch ein Trilemma haben kann?

2.) Die zweite Zwischenbemerkung, die mir angezeigt erscheint, befaßt sich mit der Frage: Wie geht der aufgeklärte Europäer des 21. Jahrhunderts mit derartigen anonymen Alarmisten um? Ich glaube, es gibt nur eine einzige Methode, auf diese Daueralarme zu antworten. Es ist dies die Technik der Entlarvung durch Offenlegung. Wer also gemeinsam mit unserer Stiftung diesen Weg der Offenlegung gehen möchte, der mag formulieren: „Wir sind die Menschen, vor denen Sie Ihr Kreistagsabgeordneter schon immer gewarnt hat!

3.) Betrachten Sie daher nun gemeinsam mit mir das alarmistische Werk unseres Preisträgers: Blicken wir auf das Alphabet des Grauens! Allerdings sollten wir uns vor der Bearbeitung dieser Phänomenologie noch, und dies ist meine dritte Zwischenbemerkung, jedenfalls über eines einig sein: Über „Kohlendioxid“ reden wir heute definitiv nicht! Dieses Thema ist – bei Gott – zu ernst, um derzeit kritisch durchleuchtet zu werden.

Bei allem, was folgt, gilt also: Kohlendioxid bleibt außen vor. Absolut. Denken wir statt dessen an die vielen, vielen emsigen anderweitigen Arbeiten des heute ausgezeichneten anonymen Alarmisten in den letzten Jahren.

III.

Nachdem wir alle an der Erzeugung von Atomkraft gestorben waren und Aids uns hingerafft hatte, wie Rock Hudson und Freddy Mercury, starben wir in dem Bewußtsein, lediglich einem sonst sicheren Tod durch Asbest oder Al Kaida zu entgehen. Diejenigen, die nicht Opfer von Anthrax-Attacken wurden, starben sogar in Gemeinschaft; sie wurden Teil des Artensterbens.

Einer der größten lebenden deutschen Artensterber ist bekanntlich Bundesumweltminister Sigmar Gabriel. Kürzlich wies er darauf hin, daß tagtäglich weltweit 150 Arten sterben und uns dadurch wertvolle DNA-Informationen auf ewig verlorengehen. Ob Sigmar Gabriel, der Mann neben Knut, dem Eisbären, bei alledem bedacht hat: Die Menschheit weißüberhaupt nicht, wie viele Arten es weltweit überhaupt gibt. Biologen wissen, daß die Untersuchung eines einzigen Astes im Regenwald ohne weiteres zur Entdeckung von rund 1000 neuen Arten führen kann. Gleichwohl sterben Arten. Und Sigmar Gabriel will es wissen. Das Aussterben der Art „Bundesumweltminister“ wird sich allerdings bis auf weiteres dadurch vermeiden lassen, daß gewisse Besuche bei bestimmten Eisbären nach zwischenzeitlichen Wachstumsprozessen des niedlichen Rackers eher unterlassen werden. Daß seine kompetenten Ministerialbeamten Sigmar Gabriel auf diese Gefahr hingewiesen haben, wollen wir unterstellen.

Viele Menschen, die an diesen unter „A“ genannten Gefahren gestorben waren, hatten zunächst noch Nudeln gegessen. Nudeln waren besonders gefährlich wegen der darin enthaltenen – Sie erinnern sich? – Bruteier. Manchmal überlagerten sich die Gefahren dieser Bruteier allerdings sogar mit denen aus BSE, das sich meist – unerkennbar und typisch spät auftretend – in den Fleischbeilagen zwischen den Nudeln befand. Die Gefahren eines Burnout waren demgegenüber weitaus greifbarer.

Unter der Gefahren-Klasse „C“ bearbeiten wir – wie angekündigt – ausdrücklich nicht das Thema CehOhZwei. Statt dessen blicken wir besorgt auf die Gefahr namens Creutzfeld-Jacob, die bekanntermaßen in keiner Relation stehen zu den Gefahren, die uns drohen aus Phänomenen wie Däubler-Gmelin, Engelen-Kefer, Matthäus-Maier, Kühn-Mengele, Wettig-Danielmeier oder Göhring-Eckhard. Die Inkubationszeit bei Creutzfeld-Jacob ist definitiv länger (allenfalls noch vergleichbar mit der von Claudi-Aroth). Die Angst dauert also an. Und das ist gut so.

Viele von uns starben durch Dioxine, andere durch Dreckige Bomben. Wir wollen zwar nicht über Erderwärmung oder Erdabkühlung reden, aber die Gefahren, die aus Ebola, Elitenbildung oder Elektrosmog resultieren müssen uns kümmern! Besonders gefährlich ist, einen Elektrosmog aussendenden Radiowecker neben dem Bett auf einem Nachttisch der Firma IKEA stehen zu haben. Denn nicht nur das Billy-Regal dieses Herstellers sonderte tödliches Formaldehyd ab (besonders wahrscheinlich, wenn es mit dem immer verbreiteteren Falschgeld gekauft worden war).

Ich persönlich bin mehrmals wegen FCKW unter einer fehlenden Atmosphäre gestorben, einige Male jedoch auch infolge von Feinstaubbelastungen. Insofern habe ich in meinem derzeitigen Leben mit Freude die kürzliche Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes zur Kenntnis genommen, daß jedermann nun gegen seine Gemeinde einen einklagbaren Anspruch auf Frischluft hat. Ich bereite daher derzeit für den kommenden Frühling eine Klage gegen meine Heimatstadt Duisburg vor, mich zu schützen vor dem äußerst aggressiven Pollenflug, der meine empfindlichen Bronchien in der Regel irritiert. Über die Ergebnisse dieser prozessualen Bemühungen werde ich gelegentlich berichten. In der Zwischenzeit warte ich einfach ab und bleibe dabei insbesondere auch körperlich so unglaublich untätig, daß der anonyme Alarmist mich sicher auf die Gefahren drohender Fettsucht hinweisen wird.

Nachdem Gentechnik unser Essen und Glykol unser Trinken gefährdet haben, hatte ich nicht nur über Geldwäsche, sondern auch viel über Grenzwertüberschreitungen nachgedacht, insbesondere wenn ich in den ortsansässigen Dönerläden Gammelfleisch-Burger aß. Dies ist natürlich eine unausweichliche Konsequenz der Gefahren aus der obwaltenden Globalisierung, auf die der Alarmist (mit dem noch nicht verlängerten Zeitvertrag) aus dem Gesundheitsamt besonders verweist.

Mit Flugzeugen kommen nicht nur ferne HIV-Gefahren zu uns, sondern auch H5N11, Hühnergrippe, Hedgefonds und Heuschrecken. Gerade letztgenannte Heuschrecken zeigen, wie erfolgreich anonyme Alarmisten altbekannte Topoi (beispielsweise aus der Bibel) nutzen, um Ängste zu verbreiten. Von geradezu biblischen Ausmaßen sind greifbar auch die Gefahren des häufig beschworenen Islamismus. Dieser überwiegt in seiner Aggressivität bei weitem noch die allgegenwärtigen Gefahren der Jugendkriminalität. Denn Jugendkriminalität ist ein weites Feld. Bekanntlich hat Gustave Flaubert ein sogenanntes „Wörterbuch der Gemeinplätze“ zusammengetragen, in dem er auf gerne formulierte Plattheiten des Alltages hinwies. Zahnärzte seien demnach immer reich, die Luft auf dem Lande immer frisch und Obst stets gesund. Für Jugendkriminalität würde Flaubert gesagt haben: Immer steigend!

Für viele von uns war es ein Segen, überhaupt „Jugendliche“ zu werden. Denn die meisten von uns starben schon als Kinder. Entweder, weil sie von Kampfhunden getötet oder von Kindertee vergiftet wurden. Die Gefahren des Kapitalismus jedenfalls führten häufig zu Kinderarmut. Niemand weiß zwar, was genau Kinderarmut ist. Nach einer Definition der Vereinten Nationen ist arm, wer pro Tag weniger als einen US-Dollar zur Verfügung hat. Nach dieser Definition wäre also kein einziger in Deutschland lebender Mensch überhaupt „arm“. Der anonyme Alarmist bedurfte daher für sein Thema anderer Definitionsansätze. Üblicherweise argumentierte er in den vergangenen Jahren damit, daß arm sei, wer weniger als 50% des Durchschnittseinkommens zur Verfügung habe. Da die Gruppe dieser modernen Aussätzigen aber für alarmrhetorische Zwecke schlichtweg zu klein geriet, modifizierte der Alarmist seine Definition. Nunmehr ist „arm“, wer weniger als 60% des durchschnittlich verfügbaren Einkommens besitzt. Damit ist endlich eine Millionenstärke der Gesellschaft erreicht, die für angstmachende Effekte hinreichend effizient eingesetzt werden kann2. Mich persönlich hat übrigens immer irritiert, Plakate zu sehen, auf denen es heißt, für nur € 2 täglich lasse sich für ein Kind in der sogenannten Dritten Welt ein Heim, eine Gesundheitsvorsorge und eine vernünftige Ausbildung finanzieren. Unter Armutsgesichtspunkten habe ich mich bisweilen gefragt: Warum geht das in meinem Land eigentlich nicht?

Eine weitere wichtige Botschaft des anonymen Alarmisten ist: Du entkommst Deinem Verderben nicht! Krankheiten werden bekämpft mit Medikamenten. Medikamente aber sind tödlich. Lipobay liefert dem Alarmisten das Beispiel. Wer also nicht vom Liberalismus dieser Welt getötet wird, den rafft Lipobay dahin. Ohne Lipobay stirbt man an Milzbrand, an Magersucht oder – neuerdings – an Malaria oder Monsterwellen. Ob diese allerdings infolge der Erdbeben unter der Meeresoberfläche ursächlich durch einen erhöhten Kohlendioxidwert in der Atmosphäre ausgelöst werden, ist streitig. Es bleibt dabei: Uns interessiert dies heute nicht. Wir blicken statt dessen auf die äußerst gefährlichen Phänomene aus Nitraten und Nitriten, aus Nationalismus und – natürlich – Neoliberalismus.

Wenn Sie, meine Damen und Herren, nach Verleihung des heutigen Gängelbandes mit einem Glas Wein auf die Terrasse heraustreten werden, um den herbstlichen Blick über den Berliner Tiergarten zu genießen, gebe ich Ihnen einen wesentlichen und wichtigen Rat: Nutzen Sie einen hohen Sonnenschutzfaktor! Denn das Ozonloch ist unerbittlich. Sonnenschutzfaktor 50 – auch bitte nachts – ist unausweichlich. Sobald Sie Ihr Glas ausgetrunken haben, sollten Sie – möglichst ohne jede körperliche Belastung – zügig wieder in den Innenraum zurückkehren. Denn Ozon ist für Ihre Atemwege ein gefährliches Gift. Organisierte Kriminalität ist nichts dagegen (sagt jedenfalls Luigi, Sie erinnern sich).

Hier in den Innenräumen drohen Ihnen wenigstens – vorläufig und soweit ersichtlich – keine Gefahren aus Pestiziden. Auch die neuentdeckten Gefahren des Passivrauchens sind hier eher noch beherrschbar. Gleiches gilt heute Abend für das bekanntlich fast immer unerträgliche Profitstreben. Über das Abschmelzen von Polkappen wollen wir ja – es bleibt dabei – nicht reden. Wenn Sie quer über den Pariser Platz schauen und das Hotel Adlon erblicken, denken Sie an den Ratschlag eines anderen anonymen Alarmisten: Bevor Sie ein Hotelzimmer beziehen, überprüfen Sie, ob Ihr Vorgänger nicht Polonium (hilfsweise die Pocken oder eine sonst aggressive Pandemie) im Raum vergessen hat. Derartige Gefahren häufen sich, wie gewöhnlich gut unterrichtete Kreise wissen, besonders in Parallelgesellschaften.

In guten Hotels sollte man zwar heute davon ausgehen können, daß das Qualitätsmanagement derartige radioaktive Verseuchungen erkennt und deren Beseitigung rechtzeitig vor Neubezug des Hotelzimmers anordnet. Dennoch: Unterschätzen Sie nicht die Gefahren aus Qualitätsmängeln wegen versagenden Qualitätsmanagements! Solange nicht der letzte Qualitätspfad ausgetreten und der kleinste Zertifizierer akkreditiert ist, bleiben immer noch unbeherrschbare Risiken.

Weil wir – ich sagte es wohl schon? – über die Gefahren der Kohlendioxidbelastung unserer Atmosphäre nicht reden wollen, schweigen wir auch über die tödlichen Gefahren der allgegenwärtigen Regenwaldrodung. Alleine in Brasilien werden bekanntlich seit Jahrzehnten jeden Tag Waldflächen von einer Größe der ehemaligen Sowjetunion auf ewig vernichtet3. Erfreuen Sie sich statt dessen Ihres Blicks über den Tiergarten (soweit er seinerseits noch nicht gerodet wurde), vergessen Sie für einen Augenblick die radioaktiven Gefahren des Hotels Adlon und betrachten Sie, wie ungezählte Reisebusse das Brandenburger Tor passieren. Jeder einzelne dieser Reisebusse ist eine tödliche Gefahr. Ich selber bin bereits bei fünf Butterfahrten von herabfallenden Heizdecken erschlagen worden. Denn Reisebusse sind (einschließlich ihrer Gepäcknetze) häufig nicht so gewartet, wie man es erwarten möchte. Die Rußpartikel, die hinten aus Reisebussen abgesondert werden, sind zwar für Passanten gefährlich. Für die Passagiere hingegen ist der Reisebus die eigentliche Gefahr, gefährlicher möglicherweise noch als der allgegenwärtige Rassismus jenseits der nichtzertifizierten Panoramascheiben.

Wenn Sie auch bislang nicht von Skinheads erschlagen wurden, dann werden Sie mindestens an Salmonellen sterben. Vielleicht erfrieren Sie auch in sozialer Kälte oder werden von einem Selbstmordattentäter (respektive einem erweckt-erwachten Schläfer) in die Luft gesprengt. Zyniker haben darauf hingewiesen, daß Politiker derzeit damit befaßt sind, das Weltklima zu stabilisieren, während dieselben Politiker andernorts nicht einmal in der Lage sind, die Beträge für die gesetzliche Krankenversicherung stabil zu halten. Ich persönlich frage mich namentlich im Hinblick auf maskulin-adoleszente Gewalt, ob nicht möglich sein müßte, das Phänomen der männlichen Glatze ganz grundsätzlich in den Griff zu bekommen. Denn die Faktoren, die zum männlichen Haarausfall führen, können auch nicht vielschichtiger sein, als die, die zu einer Erderwärmung (oder Erdabkühlung, je nach Standpunkt) führen. Ich bin wirklich froh, über dieses Thema heute Abend nicht reden zu müssen.

Das Übergehen dieser Fragen ermöglicht auch, über den Treibhauseffekt Stillschweigen bewahren zu können. Statt dessen blicken wir mit den anonymen Alarmisten auf die Gefahren von Turbokapitalismus und allgegenwärtig drohende Terroranschläge durch Terrorzellen.

Wenn Sie nicht an gesundheitssystematischer Unter-, Über- oder Fehlversorgung laborieren, dann könnten Sie immer noch an der Vogelgrippe sterben. Erinnern wir uns: Lange ist nicht her, daß Sie Teil des Waldsterbens wurden. Erst starb damals der Wald, dann starben wir. Das dahingeschiedene Holz pinselten Sie möglicherweise mit Xyladekor. Auch diese Gefahren unterschätzten wir. Ebenso wie die aus Xenophobie. Der anonyme Alarmist hingegen wußte stets: Das Leben ist ein Abenteuer. Und Sie werden es nicht überleben.

Betrachten wir für heute Abend wenigstens den Buchstaben „Y“ als einen ungefährlichen und wenden uns statt dessen noch kurz den Gefahren aus dem Flug von Zugvögeln oder sonstigen Zuwanderern zu. Waren das nicht herrliche Zeiten, als wir noch sorglos und fröhlich jedes Wochenende mit den Federn von Vogelkadavern spielten? Wenn Sie jetzt hingegen bei der Beobachtung von Zaunkönigen u.a. in der Natur durch Waldstücke und über Felder streifen, beachten Sie: Sie werden sterben. Denn auch Ihr Zeckenbiß ist von Gott schon vorherbestimmt.

IV.

Ich hoffe gezeigt zu haben, wie der anonyme Alarmist uns alphabetisch durch alle Ängste trieb und treibt. Wir stehen also – und dies mag für heute Abend das „Y“ symbolisieren – an einem Scheideweg. Entweder, wir entscheiden uns dafür, sicherer Erkenntnis zu folgen oder aber diffusen Ängsten und Glaubenssätzen den Vorzug zu geben. Der oppositionelle DDR-Theologe Ulrich Woronowicz hatte in seinem bemerkenswerten Buch vom „Sozialismus als Heilslehre“ vor vielen Jahren formuliert:

Warum lernen wir … so schwer aus der Geschichte? Wir sind doch der Wissenschaftlichkeit verbunden. Wissenschaftliche Wahrheit kommt … durch die Übereinstimmung unserer Erkenntnis mit der Realität zustande. Wissenschafter beweisen ihre Behauptungen.

Wenn uns also anonyme Alarmisten mit immer neuen Ängsten konfrontieren, ohne diese beweisen zu können, so müßten wir – eigentlich – nicht um unser Leben fürchten. Jedenfalls solange nicht, wie der Beweis nicht angetreten ist. Dennoch: Bei allen Toden, die wir – quer durch das Alphabet – gestorben sind, hat sich doch eine ganz bestimmte, erschütternde Befürchtung jedenfalls nicht verwirklicht. Es war dies eine Befürchtung, die der großartige Wolf Schneider vor rund 20 Jahren in die angstvollen Worte faßte:

Vielleicht wird noch in diesem Jahrtausend der Tag kommen, an dem eine Fernsehsammelschaltung vier Fünftel der Menschheit vor der Mattscheibe vereint – wenn es gut geht, einer Weltmeisterschaft oder einem Spaziergang auf dem Mars zu Liebe, wenn es schlecht geht, eines Propaganda-Auftritts vor den Vereinten Nationen wegen, bei dem ein Wortköder ausgelegt wird, auf den die ganze Menschheit anbeißen soll. … Wer die Macht des Definierens an sich reißt, ist Herr … der Seelen und nur mit Entsetzen können wir der Stunde entgegensehen, da ein großer Demagoge die Menschheit so am Bildschirm hängen hätte wie einst Goebbels die Deutschen am Volksempfänger.4

Wir alle wissen, daß diese Angst Wolf Schneiders absolut unbegründet war. Sie hat sich bisher nicht realisiert. Und sie wird sich auch in Zukunft nie realisieren. Sie kann sich nie realisieren. Denn es ist völlig ausgeschlossen, daß selbst der einflußreichste Weltbürger – und sei er Staatspräsident, Vorstand einer Weltfirma oder sonst berühmt – irgendeine allzumenschliche Urangst (zum Beispiel die uralte gallische Panik, uns könne der Himmel auf den Kopf fallen, oder ähnliches) reaktiviert. Es scheidet aus, daß ein solcher Mensch mit Freunden aus der Filmbranche einen hochemotionalen Film drehen könnte. Niemals würden wir, wir aufgeklärten Menschen des 21. Jahrhunderts, uns diesen Film auf allen Fernsehsendern ansehen. Nie würden größere Mengen in die Kinos strömen oder einen solchen Film auf DVD bzw. Video erwerben. Es ist abwegig, zu erwarten, ein solcher Film könne einen „Oscar“ erzielen. Es wäre auch ganz absurd, anzunehmen, ein solcher Alarmist könnte mit derartig neu aufgelegtem Druidenschmäh Bücher verkaufen oder gar einen Friedensnobelpreis erhalten. Freuen wir uns also, gegen diese von Wolf Schneider befürchtete Gefahr gemeinsam mit der gesamten Menschheit gewappnet zu sein. Es gibt Dinge, die nicht geschehen. An dieser Front wenigstens ist Alarm definitiv nicht angezeigt.

V.

Widmen wir uns nach all diesen Aufregungen zum Schluß einer gänzlich anderen Perspektive, die Richard Powell in seinem hübschen Roman „Die Kwimpers“ vor vielen Jahren beschrieb.

Mr. Kwimper, ein arbeitsloser Amerikaner, war mit seinem Auto über eine neu errichtete und noch nicht für die Allgemeinheit freigegebene Küstenstraße gefahren, vom Weg abgekommen und pannenbedingt „gestrandet“. Mit seinen Kindern richtete er sich daraufhin an der Küste ein und führte auf einem zum Ärger der Behörden legal angeeigneten Meergrundstück ein zivilisationsfernes, privates Leben. Natürlich dauerte nicht lange, bis die Leiterin der zuständigen Kreiswohlfahrtspflege bei ihm und seinen Kindern vorstellig wurde, um amtspflichtgemäß die Wohltaten eines modernen und vorsorglich-fürsorglichen Sozialstaates an ihm und seiner Familie zu exekutieren. Da Mr. Kwimper unwillig war, den Segnungen des Kreiswohlfahrtsamtes zu folgen und statt dessen lieber privat für sich vor Ort bleiben wollte, entspann sich folgender Dialog:

Aber nehmen Sie nun mal an, ein Wirbelsturm kommt und bläst Sie weg. Oder nehmen Sie an, fast alle Fische krepieren an einer Seuche. Oder nehmen Sie an, Sie haben eine langandauernde Krankheit. Hunderte von schlimmen Dingen könnte passieren.

Pop sagte: „Natürlich. Es könnten aber auch Hunderte von netten Dingen passieren.

Vielleicht ist dies – neben der eingangs genannten Entlarvung des anonymen Alarmisten – eine weitere schöne Strategie gegen das allgegenwärtige Angstmachen: Verweisen wir auf die einfachen Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung! Und stellen wir dann fest: Es können auch viele, viele nette Dinge passieren.

1 Einem Gerücht zufolge sollen russischer Hacker derzeit eine H5N2-Variante zum kostenlosen Herunterladen ins Internet gestellt haben. Man braucht nur windows NT oder höher, und schon lassen sich Massenedipemien weltweit in Szene setzen, was meines Erachtens schon für sich gesehen einen legitimen Grund für staatliche online-Durchsuchungen darstellt.

2 Nicht nur für diese Klärung danke ich Joffe, Maxeiner, Miersch und Broder ganz besonders! Ihr „Schöner denken“-Lexikon ist insgesamt äußerst lesenswert.

3 Der tropische Regenwald ist daher augenscheinlich hilfloser als das mitteleuropäische Unkraut, das aus unseren verrottenden Bürgersteigen wächst; da sieht man, wohin es unsere ökologische Respektlosigkeit schon gebracht hat!

4 Wolf Schneider: Wörter machen Leute, München, 1985, Seite 342

Warum die politische Verbandsarbeit in Deutschland jetzt erst richtig spannend wird

Carlos A. Gebauer1

Referat auf der Hauptversammlung des Freien Verbandes Deutscher Zahnärzte
e.V. in Halle (Saale) am 11. Oktober 2007

„Regierungen und Völker verhalten sich nicht immer vernünftig. Manchmal treffen sie verrückte Entscheidungen, oder es gibt Leute, die die Macht an sich reißen und alle anderen zwingen, ihrer Narrheit zu folgen. Doch so sehr wir versuchen, uns in andere hineinzuversetzen, wir geraten an Grenzen, wenn es um Denkweisen und Vorstellungen geht, zu denen die Vernunft keinen Zugang findet.“

Winston Churchill2

Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren,

ich danke herzlich für Ihre Einladung. In der Tat bin ich der Auffassung, daß die politische Verbandsarbeit für Zahnärzte – ebenso natürlich wie die für Ärzte – in Deutschland jetzt wirklich in eine entscheidende Phase eintritt. Die politische Verbandsarbeit wird damit aber nicht nur „spannend“, sondern sie wird durchaus existentiell bedeutsam für freiberuflich tätige Ärzte und Zahnärzte. Im Folgenden möchte ich dies – ganz traditionell im bewährten Dreisprung aus Einleitung, Hauptteil und Schluß – umreißen.

I.) Einleitung: Worum geht es?

Deutschland leistet sich den Luxus eines in vieler Hinsicht faszinierenden Gesundheitssystems. Seine einstmals von Bismarck zeitgeistkonform in Kraft gesetzten Prämissen haben sich uns seit der Kaiserzeit unverändert erhalten. Sie haben erst die Weimarer Republik, dann 1000 Jahre des nationalen Sozialismus, anschließend vier Jahre einer „Stunde Null“ und nun mehr als 58 Jahre grundgesetzlicher Bundesrepublik überdauert. Seither sind die Prämissen dieses Gesetzeswerks auch administrativ und judikativ Wirklichkeit geworden. Aus der Reichsversicherungsordnung wurde das bundesdeutsche Sozialgesetzbuch. Und das Verfassungsziel des Grundgesetzes vom „sozialen Staat“ hat bis heute 12 Bücher dieses Sozialgesetzes geboren, die allesamt – mit ihren imponierenden juristischen Konstruktionen nebst allen durchsetzenden Vollzugsorganen – das Leben der deutschen Einwohner bis in ihr kleinstes Detail „sozial gerecht“ gestalten, genau so, wie es § 1 Abs. 1 Satz 1 des Ersten Sozialgesetzbuchs grundlegend fordert3.

Was also könnte falsch sein? Wer könnte legitim Kritik an diesem Zustand erheben, ohne gleich als mitleidloser Sozialrambo zu erscheinen? Sind nicht insbesondere Sie, die hervorragend verdienenden Zahnärzte, schlicht unsolidarisch, wenn Sie den sozial Schwachen in unserem Land das Sachleistungs- und Solidarprinzip streitig machen? Bei Ihrem Jammern auf höchstem Niveau haben Sie vielleicht noch gar nicht begriffen, daß die Armen in unserem Land immer ärmer und Sie, die Reichen, immer reicher werden! Vielleicht ist das politische System des Sozialgesetzbuches in Wahrheit gar nicht so schlecht, wie Ihre Vertreter immer behaupten. Vielleicht erfordert des soziale Friede im Lande das Verbot privatrechtlicher medizinischer Strukturen, um Ihr sonst grenzenloses Profitstreben als Zahnärzte zum Wohle der Allgemeinheit einzuhegen.

So – oder allenfalls in Nuancen abweichend – wird, wie Sie wissen, das zum deutschen Sozialrecht ausgebaute und in alle gesellschaftlichen Bereiche metastasierte Bismarck’sche Armenrecht für gewöhnlich legitimiert. Und weil genau diese Legitimation falsch ist, stehe ich heute hier. Und weil genau dieser Legitimationsmangel demnächst Ihre Existenz kostet, haben wir allen Anlaß, hier und heute einige Worte miteinander zu sprechen. Und weil das Muster der absehbaren Ereignisse kein neues, sondern ein historisch und rechtsgeschichtlich bekanntes ist, haben Sie durchaus das (legitime!) Anrecht, sich auf die heraufziehende Periode vorzubereiten.

II. Hauptteil: Vom Scheitern prämissenkranker

Systeme

1.) Die bundesrepublikanische Gesetzgebung zur „Kostendämpfung im Gesundheitswesen“ geht auf das Jahr 1977 zurück. Damals merkte man: Es kostet zu viel. Zugleich aber sah man: Ärzte (und Zahnärzte) leben in diesem System außerordentlich komfortabel. Nicht zuletzt Berufsanfänger blickten begeistert auf die Verdienstmöglichkeiten in dieser Branche. So überfüllten sich bald die medizinischen Universitäten. Der Staat reagierte. Er schuf den numerus clausus. Das Angebot an Studienplätzen wurde gezielt verknappt. Das allerdings erhöhte nur den Reiz, in dieses künstlich geschaffene System von Bedarf und Versorgung einzusteigen.

Als ich 1984 mein Abitur machte, geschah um mich herum folgendes:

  • Freundin A. lernte wie besessen, um einen guten Notendurchschnitt zu
    erreichen. Es gelang ihr im wesentlichen. Mit nur wenigen
    zusätzlichen „Wartesemestern“ erlangte sie
    schließlich den begehrten Studienplatz.
  • Freund S. scheiterte am Notendurchschnitt. Doch er fand mit gewitzten Anwälten
    einen Weg, sich in das Traumstudium „einzuklagen“. In der
    Zwischenzeit begann er schon einmal, in Italien die ersten
    medizinischen Scheine zu erwerben.
  • Freund M. sah sich auch außer Standes, den „n.c.“ zu stemmen.
    Er wich daher pfiffig nach Belgien aus, um dort sein Physikum zu
    machen. Anschließend konnte auch er sich in eine deutsche
    Universität „einklagen“.
  • Freund W.
    hatte eine weithin unbekannte Quotenregel entdeckt. Ein gewisses
    Quorum an Studienplätzen musste an Abiturienten mit erbärmlichem
    Abitur vergeben werden. Er sorgte für ein jämmerliches
    Zeugnis und nahm anschließend sofort sein Medizinstudium auf.
  • Herr A.
    war glücklicher Besitzer eines nicht-deutschen Passes. Auch für
    ihn fand sich eine Sonderregel. Seine zeitweilige Idee, den
    angetretenen Platz dann an einen ernsthafter an diesem Studium
    interessierten Dritten zu veräußern, zerschlug sich
    allerdings.

Konkret wurde demgegenüber die Strategie meines Freundes A. Er begab sich nach Budapest, wo der kollabierende Staatssozialismus die medizinischen Universitätspforten für deutsche Studenten weit geöffnet hatte. Gegen einen gewissen Obulus wurde dort sogar in deutscher Sprache das Physikum ermöglicht.

Diese grenzenlose Kreativität meiner willensstarken Freunde, auch gegen staatliche Planung ihren Lebensweg zu gehen, fand in diesen bemerkenswerten Ausweichstrategien einen eloquenten Ausdruck. Sie ermöglichte bei allem auch mir, mit wenig Geld Europa reisend zu erkunden. Mit meinem Freund D. fuhr ich im späten September 1986 nach Budapest, um sowohl A. zu besuchen, als auch mich auf der Kettenbrücke fotografieren zu lassen.

Auf den Rückfahrt, irgendwo zwischen Wien und Linz, sprach dann mein Freund D. einen Satz, den ich seitdem nie vergessen habe. In Ansehung des Vergleiches zwischen ungarischem Verfall, den wir betrachtet hatten, und der prosperierenden Bundesrepublik, in die wir zurückreisten, sagte er: „Eigentlich doof: Unsere Eltern konnten Deutschland noch wie Architekten aufbauen und gestalten; wir haben nur die langweilige Aufgabe, das ganze wie Hausmeister sauber zu halten.“ Meine damalige Skepsis gegen diesen Satz hielt sich in Grenzen. Auch mir schien zu diesem Zeitpunkt jedenfalls noch möglich, daß D. recht hatte.

Welches System hat unsere Generation aber tatsächlich vorgefunden? Genügt der Hausmeisterblick auf die Strukturen, um während unserer Lebenszeit das Vorgefundene zu erhalten? Oder müssen wir selber auch als Baumeister tätig werden? Schauen wir auf das, was ist. Analysieren wir unser Fünftes Sozialgesetzbuch.

2.) Die wesentlichsten Weichenstellungen des SGB V heißen: Solidar- und Sachleistungsprinzip4. Hinter diesen Wortungetümen verbirgt sich schlicht das urmarxistische Glaubensbekenntnis: „Jeder nach seinen Fähigkeiten und jedem nach seinen Bedürfnissen.“ Eingezahlt wird nach dem Maßstab des jeweiligen Arbeitserfolges, entnommen nach den Maßstäben der je festgestellten Erkrankung. Beides hat – außer schierer Ideologie – nichts miteinander zu tun. An die Stelle zwischenmenschlicher Vereinbarungen treten die fremdbestimmte Verpflichtung zur Entrichtung eines bestimmten Prozentsatzes an die Sozialkasse sowie die fremddefinierte Zuweisung einer bestimmten medizinischen Leistung.

Daß ein solches System an allen Ecken und Enden Unzufriedenheit generieren muß, liegt auf der Hand. Spätestens mit dem Ende der Chance auf die gleichsam unbemerkte Finanzierung aller gewünschten Leistungen aus der geradezu unmerklich immer weiter wachsenden Wirtschaft einer prosperierenden Bundesrepublik mussten irgendwann die Fragen in den Raum gestellt werden: Was bekomme ich für meinen Beitrag? Und: Was verdiene ich für meine Arbeit?

Faszinierenderweise nämlich kostet dieselbe medizinische Dienstleistung beispielsweise eine Supermarkts-Halbtagskassiererin nur halb soviel, wie eine Supermarkts-Ganztagskassiererin. Und ebenso faszinierenderweise verdient [wenn auch bis zur Unkenntlichkeit hinter Abrechnungsmysterien der Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen verbrämt] der Leistende für wieder dieselbe, identische Dienstleistung bei der einen Kassiererpatientin nur die Hälfte, wie bei der anderen Kassiererpatientin.

Zum Maßstab wurde – „jedem nach seinen Bedürfnissen“ – bei allem die „Notwendigkeit“ der medizinischen Leistung. Was also, wie bei Bismarck definiert, nicht erforderlich war, um eine Not abzuwenden, das konnte nicht beansprucht werden. Mithin mussten diejenigen in das Zentrum der Kritik geraten, die Not und Nichtnot zu definieren hatten5. Nicht notwendig ist danach stets, was über den allgemein anerkennten Grundstandard hinaus dem bloß privaten Gefallen, der überobligatorischen Erfreulichkeit, dem individuellen Luxus zuzurechnen ist. Gegen die damit begründeten Abgrenzungsschwierigkeiten erscheint eine Schnecke geradezu als Wirbeltier.

Kann also wundern, wenn gerade darüber Streit entbrennt? Denn weil wir bekanntlich alle über fast jedes unterschiedliche Ansichten haben, muß auch die Antwort auf die Frage nach dem medizinisch Notabwendenden vielfach unterschiedlich beantwortet werden, es sei denn, man einigt sich auf das wirklich existentiell Minimale. Der 1972 aus der UdSSR geflohene russische Schriftsteller Lev Navrozov hat dieses Problem anschaulich beschrieben:

„Es ist offensichtlich, daß man jede Bequemlichkeit, jedes Vergnügen und jede Verschönerung des Lebens, die die Menschen in den vergangenen 6000 Jahren erfunden haben, als überflüssig bezeichnen kann, als bürgerliche private, künstlich geschaffene Bedürfnisse. Zu diesen Bedürfnissen gehört zum Beispiel auch ein neuer Anzug. Wozu braucht man ihn? Der Großvater meines Freundes, ein ukrainischer Bauer, hatte sich vor 1917 einen grünen, wollenen Anzug gekauft. Er war ein sparsamer Mann, schonte den Anzug und 1930 ließ sein Sohn, ein Drehbuchautor in Moskau, diesen Anzug wenden und trug ihn. Der Stoff war erstaunlich haltbar. Mein Freund – ein Enkel des Bauern – ließ den Anzug in den fünfziger Jahren wieder wenden, weil er auf der ursprünglichen Außenseite noch sehr gut war. … Mein Freund hatte also großes Glück gehabt. Man kann einen Anzug hundert Jahre tragen, wenn der Besitzer seinen fast unbegrenzten wert kennt und ihn mit fast unbegrenzter Sorgfalt behandelt. Das gilt praktisch für alles, außer für Lebensmittel und für Wasser. Deshalb brauchte der Begründer der sozialistischen Planung … nur eine Verbrauchsnorm für Wasser und Lebensmittel zu entwickeln“6

Mit der Reduktion von Lebensverhältnissen auf das allgemein geringste Notwendige war übrigens zugleich ein weiteres Problem geschaffen: Während die Barmherzigkeit üblicherweise den Ärmeren eine Möglichkeit gab, von weniger Armen ohne Rechtsanspruch eine Vergünstigung freigiebig zugewendet zu erhalten, wurde diese mitmenschliche Geste im neuen System der administrativ festgezurrten Verhältnisse zu etwas qualitativ gänzlich anderem: Wer etwas gab und gewährte, über das er verfügen konnte, ohne daß dem Empfänger ein plangerecht zugewiesener Anspruch hierauf zugebilligt war, der verhielt sich nun korrupt und illegal. So war die Nächstenliebe unversehens zum Straftatbestand verkommen. Stellen zur Bekämpfung von Korruption und Unregelmäßigkeiten mussten geschaffen werden. Statt gedeihlich miteinander zum Wohle aller kooperieren zu können, mußten die Menschen nun einander argwöhnisch beäugen und überwachen: Wer tut, was unerlaubt ist?

Zurück aber zur Autobahn 1986 zwischen Wien und Linz: Welches System hatte meine Generation vorgefunden? Ein Gesundheitssystem des Dissenses und der Überwachung! Ein System, das einvernehmliche Verträge und Vereinbarungen zwischen Menschen verbietet und statt dessen behördliche Erhebungen und Zuteilungen zum Maßstab aller Dinge macht. Mit anderen Worten: Die Prämisse dieses Systems heißt, bis heute: Der individuelle Wille der gesundheitssystematisch Beteiligten ist unbeachtlich, entscheidend ist nur und alleine, was überindividuell zum politisch-administrativ zentral definierten Wohl der Allgemeinheit „sozial gerecht“ ist7.

3.) Verlassen wir für einen Augenblick den vertrauten Bereich des Gesundheitssystems und blicken wir – sozusagen, um den Gefahren der Betriebsblindheit eines Eingeweihten in Ansehung des allzu präsenten Problemes zu begegnen – auf andere Felder menschlichen Handelns. Fragen wir, ob auch andernorts möglicherweise unzutreffende und falsche Prämissen oder die mangelnde Einfügung des Handlungsaxioms in die vorgegebenen Realitäten dieser Welt zu misslichen Folgeproblemen führen. Vielleicht läßt sich aus diesen Parallelbetrachtungen auch die ein oder andere fruchtbare Erkenntnis für unseren Zusammenhang gewinnen.

a.) In etwa zu der Zeit, als einige staats- und wirtschaftsphilosophische Theoretiker meinten, es müsse möglich sein, tatsächliche oder vermeintliche Mängel des Vertragsrechtes durch eine „bessere“ juristische Konstruktion (nämlich durch eben jenes behördliche Einsammeln und Verteilen von Gütern) zu ersetzen, geriet in einer ganz anderen Disziplin ebenfalls ein lange geübter Standard in die Diskussion. Während die Menschheit – wie wir heute wissen – seit der Jungsteinzeit Satteldächer auf ihre Häuser setzte (man denke auch an die frühen Pfahlbauten im Bodensee, wie sie jedermann aus seiner Schulzeit kennt), begannen Architekten jetzt, das Flachdach zu lieben. Vielleicht war es nur der banale Ärger eines Augenblicks, der den ersten Architekten bewog, wegen eines am Dachgebälk aufgeschlagenen Kopfes die konstruktive Revolution zu dieser anderen Dachgestalt mit größerer Kopffreiheit zu wählen. Es begann jedenfalls die Epoche der Flachdächer – mit anderen Worten: Die Epoche der undichten Dächer.

Als hätten die vorangegangenen Generationen der Menschheit sich nichts bei der Errichtung von schrägen Dächern gedacht, opferte man also im Häuserbau die sämtlichen Vorteile des Satteldaches um des Vorteiles der Ästhetik (oder bestenfalls des größeren nutzbaren Raumvolumens im Obergeschoß). Bis heute sind alle neuen Flachdächer undicht. Und in Ansehung selbst eines niedergewaschenen Gran Canyon kann es ja auch gar nicht anders sein. Die vermeintlich „gute Idee“ schüttet ihr Kind mit dem Bade aus.

b.) Nicht anders ging es uns mit den scheinbar so hochmodernen Flussbegradigungen. Auch hier wollten die Experten der Raum- und Wasserplanung der unvollkommenen Natur helfen, indem sie „bessere“ Bach- und Flussläufe schufen. Das Folgeproblem der Suche nach neuen Retentionsflächen folgte den revolutionären Schelmen auf den Füßen. Die „gute Idee“ in ihren verdrießlichen Folgen rückgängig zu machen, wird den Apparat noch lange beschäftigen.

c.) So erweist sich der scheinbar geniale Wurf der Modernisierer bei genauer Betrachtung nicht selten als bloße Ursache für unbedachte und unbeherrschbare Folgeprobleme, die völlig vermieden worden wären, hätten die Neuerer zunächst einmal sorgfältig untersucht, warum das von ihnen eilfertig Verworfene überhaupt die vorgefundene Gestalt hatte. Ein vorläufig letztes – gleichwohl aber besonders bezeichnendes – Beispiel mag dies erhellen.

Die führenden Köpfe der Französischen Revolution von 1789 wähnten sich bekanntlich als die einzig wahren Repräsentanten der menschlichen Vernunft schlechthin. Um dem von ihnen vertretenen wissenschaftlichen Weltbild allerorts den gehörigen Ausdruck zu verleihen, sahen sie daher auch als indiskutabel an, zu ihrer weiteren Zeitrechnung einen traditionell christlich geprägten Kalender zu nutzen. Sie schufen statt dessen ihren eigenen „Französischen Revolutionskalender“.

Gleich nach dem Sturm auf die Bastille ließen sie daher am 15. Juli 1789 das „1. Jahr der Freiheit“ beginnen. Damit stellte sich allerdings gleich die Frage, wann das „2. Jahr der Freiheit“ beginnen sollte. Man einigte sich auf den 1. Januar 1790, weswegen das erste Freiheitsjahr nur 5 ½ Monate dauerte. Doch schon am 10. August 1792 sah man Anlaß, die Sache neu zu gestalten. Denn der Sturm auf die Tuillerien an diesem Tag schien doch sehr, sehr einschneidend. Man entschied sich, noch am gleichen Tage das „1. Jahr der Gleichheit“ zu proklamieren. Doch schon knapp sechs Wochen später geschah wieder Unglaubliches: Die Monarchie wurde abgeschafft! Sogleich befand man, an diesem 22. September 1792 habe das „1. Jahr der Republik“ begonnen.

Natürlich konnte man bei der bloßen Neubenennung der Jahre nicht stehenbleiben. Tage und Monate bedurften selbstredend auch der Modernisierung. Der eigens hiermit befasste Nationalkonvent orientierte sich in seiner Sitzung vom 5. Oktober 1793 – ganz wissenschaftlich – an dem rationalen Dezimalsystem: Am 24. November 1793 trat (rückwirkend zum 22. September 1792!) der jetzt „Zweite Republikanische Kalender“ in Kraft. Jeder Monat hatte jetzt drei Wochen zu je zehn Tagen. Jeder Tag bestand aus zehn Stunden zu je hundert Minuten. Die Minute hatte nun 100 Sekunden. Damit war die neue Sekunde 14% kürzer als die alte, die Minute 44% länger und die Stunde 2,4 mal so lang wie die alte.

Es gehört zu den eher traurigeren Begebenheiten unserer jüngeren Menschheitsgeschichte, daß das französische Fernsehen damals noch nicht in der Lage war, die entscheidenden Bilder aufzuzeichnen. Gerne sähe man einen völlig übermüdeten Parlamentssprecher nach zähen Verhandlungen morgens um halbfünf vor die Kameras der wartenden Journalisten treten, um das Beratungsergebnis und die Beschlusslage zu verkünden. Würde der anchorman dieser Übertragung bei einer Liveschaltung in den Konvent gewagt haben, nach der weiteren Verwendbarkeit aller bis dahin gebauten Uhren zu fragen? Wie sollte es um die Schaltjahre stehen? Und nachdem die Monate nun Namen erhalten hatten, die auf typische Ereignisse des französischen Klimas Bezug nahmen (Weinlese, Nebel, Schnee, Keim, Blume, Wiese etc.): Wer würde nach einer diskriminierungsfreien Gleichstellung der Monatsnamen in den Kolonien gefragt haben?

Ich halte nach allem für naheliegend, daß die Rituale jener Zeit sich von den uns geläufigen Gremiensitzungen kaum unterschieden haben dürften. Und genau wie damals in Frankreich sinken die Rationalität und die Tragfähigkeit von Ratsbeschlüssen auch heute noch immer umgekehrt proportional zur Größe ihrer Teilnehmerzahl. Anders gesagt: Je mehr Menschen mitreden, desto schlechter wird die Qualität der Entscheidung8.

Der amerikanische Wissenschaftsjournalist Bill Bryson stellt fest, daß insbesondere französische Wissenschaftler des 18. Jahrhunderts sich ihre Sache „nur in den seltensten Fällen einfach machten, wenn es eine Alternative von absurder Schwierigkeit gab9. Mit Blick auf unser deutsches Sozialgesetzbuch und die Regelungen über Krankenkassen, über einen Medizinischen Dienst, einen Gemeinsamen Bundesausschuß, ein Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Medizin (und die von ihm beauftragten externen Sachverständigen), mit Blick auf ein Bundesgesundheitsministerium und sechzehn einzelne Landesgesundheitsministerien, auf Kassenärztliche Vereinigungen, auf RSA und Gesundheitsfonds, auf Stellen zur Korruptionsbekämpfung und DRGs, ICDs und OPS, Integrierte Versorgung, MVZs und und und – läßt sich nur feststellen: Deutsche Gesundheitspolitik macht sich ihre Sache nur in den seltensten Fällen einfach, wenn es eine Alternative von absurder Schwierigkeit gibt.

Und genau wie unsere französischen Nachbarn zum guten alten Kalender zurückkehrten, weil sich die Erde definitiv nicht dezimal um die Sonne dreht10, deswegen werden auch wir Deutschen gesundheitssystematisch wieder den Weg zurück aus den Dschungeln des Sachleistungsprinzips und des sogenannten Solidarprinzips, den Weg heraus aus der planwirtschaftlichen Schrebergärtnerei und breiigen Milchmädchenmystik in ein zivilrechtlich organisiertes System finden müssen, das alleine übersichtlich ist und also Menschenmaß hat.

d.) Bevor ich nun – nach diesen langen Bögen – zu meinem Thema zurückfinde, warum politische Verbandsarbeit jetzt erst richtig spannend und wichtig wird, schulde ich allerdings noch eine weitere Betrachtung. Es ist dies die Frage, inwieweit denn hier und heute bereits absehbar wäre, daß (und warum) unser sozialgesetzliches Versorgungssystem ebenso undicht ist wie ein Flachdach, ebenso überflutungsfördernd wie ein begradigter Fluß und – schließlich – ebenso uhren- und orientierungsvernichtend wie ein Französischer Revolutionskalender.

In der Tat gibt es Anzeichen der Agonie und Indizien des heraufziehenden Kollapses. Dabei ist mir eines besonders wichtig: Ich selbst lege Wert auf die Feststellung, den Zusammenbruch nicht herbeireden zu wollen. Ich sehe mich statt dessen nur als einen staunenden Chronisten desjenigen Selbstzerstörungsmechanismus, der von dem (schon im Keim todgeweiht gewesenen) System unausweichlich selber ins Werk gesetzt wird.

aa.) So fällt zunächst dies auf: Wer Menschen in ein System zwängt und zwingt, in dem sie „eigentlich“ – also aus eigenem freiwilligen Antrieb – nicht verbleiben würden, der muß Schranken gegen den Ausstieg und die Flucht errichten. Soldaten im Krieg erfahren dies z.B. durch die drakonischen Regelungen über Fahnenflucht und die DDR errichtete einen „antifaschistischen Schutzwall“. Im Umkehrschluß läßt sich daraus ableiten: Wer Versicherte mit – auch strafrechtlich flankierten!11 – sozialversicherungsrechtlichen Zwängen in das System holt und wer Kassenärzte von einem Ausstieg aus dem System unter der Androhung von Berufsverboten abhält, der setzt ein gewichtiges Indiz dafür, daß sein System freiwillig nicht trag- und überlebensfähig wäre.

bb.) Wer den finanziellen „input“ und den medizinischen „output“ aus diesem System über Jahrzehnte weder legislativ, noch administrativ unter eine Gleichgewichtskontrolle bringt, der liefert weiteren Beweis dafür, ein nicht lebensfähiges System zu betreiben.

cc.) Mit Schaudern müssen wir sehen, daß die Versicherten dieses Systems schon lange ohne Zuschüsse aus Steuermitteln ihre eigene medizinische Versorgung gar nicht mehr bezahlen könnten. Und als wäre dies nicht schon genug: Die Zuschüsse kommen auch noch aus einem selbst faktisch rettungslos überschuldeten Staatshaushalt. Alleine das Land Berlin hat heute – „arm aber sexy“ – ein Vielfaches der Staatsschulden, die weiland die gesamte kollabierende DDR aufwies12.

dd.) Der berühmte Northcote Parkinson wies vor rund fünfzig Jahren auf einen erschreckenden kulturhistorischen Umstand hin: Praktisch zeitgleich mit ihrem Ende neigen Gesellschaften dazu, sich noch einmal imposante architektonische Beweise ihrer Macht und Bedeutung zu errichten. Dieses Phänomen gelte zeit- und kulturübergreifend: „Es ist heute bekannt, daß eine Perfektion der Planung nur von jenen Institutionen erreicht wird, die sich am Rande des Ruins befinden. Dieser Schluß, so paradox er klingen mag, ist gegründet auf eine Unmenge archäologischer und historischer Untersuchungen13.

Parkinson verweist in diesem Zusammenhang auf die größten Paläste englischer Monarchen oder römischer Päpste, die allesamt von Männern errichtet wurden, die ihren Machtzenit längst überschritten hatten; er berichtet von Neu Delhi, das 1929 fertig gestellt wurde, als die britische Kolonialzeit durch die Bürgerrechtsbewegung praktisch beendet wurde; er zeigt auf den Völkerbundpalast, der 1937 fertiggestellt wurde, oder auf die berühmten Schlösser Neuschwanstein und Herrenchiemsee. Und sicher nur deswegen, weil er diese Betrachtungen schon in den 1950er Jahren beendete, spricht er nicht auch von unserem neuen Deutschen Bundestag in Bonn, der 1992 vollendet wurde, als Bonn schon seine Hauptstadtrolle verloren hatte, oder von den Berliner Prachtbauten zwischen Reichstag und Kanzlergärten, die bezogen wurden, als Brüssel schon die Macht an sich genommen hatte. Bauen wir nicht gerade ein neues – Bundesgesundheitsministerium?

ee.) Auch jenseits des bloßen, engeren staatlichen Gesundheitssystems mehren sich Zeichen, die Destabilitäten erweisen. Wie soll zuletzt die fußkranke gesetzliche Krankenversicherung noch im Lauf gehalten, werden, wenn das sie (noch) notorisch stützende Finanz- und Steuersystem seinerseits strauchelt? Haben wir nicht soeben unter dem Stichwort von der „amerikanischen Immobilienblase“ die Schaffung gigantischer neuer Geldmengen durch auch die Europäische Zentralbank gesehen? Machen wir uns wirklich bewusst, was es heißt, daß binnen weniger Tage 200 Milliarden Euro „Finanzspritzen“ in diese Systeme gepumpt werden, über Europa hinaus sogar 300 Milliarden Dollar aller Zentralbanken zusammen; in nur zwei Tagen14? Nur derjenige, der seinen Blick auf die bloßen Oberflächen richtet, kann sich derzeit daran freuen, daß der deutsche Staatshaushalt ausgeglichen wäre15. Seemänner wissen: Die wahren und mächtigen Bewegungen strömen unter der Meeresoberfläche.

ff.) Kurz: Sowohl das Gesundheitssystem im engeren Sinne, als auch das umgebende Finanzierungskonstrukt insgesamt stehen auf zunehmend wackelnden Beinen. Die Kunst, das fragile Gewerk im Lot zu halten, wird zunehmend anspruchsvoll. Eines Tages scheitert der Jongleur. Insbesondere dann, wenn Churchills Worte wieder wahr werden: „Wenn die großen Organisationen … zum Äußersten überspannt werden, dann bricht ihr innerer Halt oft an allen Punkten gleichzeitig zusammen.16 Es war noch immer so.

4.) Die bloße Tatsache, daß ein System kollabiert, besagt allerdings naturgemäß noch nichts darüber, wie wir uns angesichts dessen vernünftigerweise zu verhalten hätten.

Eine Möglichkeit wäre, darauf zu vertrauen, daß die Konstrukteure und Betreiber des vorgefundenen Systems nun eine Rettung konzipieren und zum Wohle aller durchsetzen.

Eine andere Möglichkeit bestünde vielleicht darin, daß die betroffenen Bürger – alle Macht geht ja vom Volke aus – ihr Schicksal selbst gestalten, statt auf Reparatur durch andere zu vertrauen.

Mein Zugang zur Lösung derartiger Probleme besteht häufig darin, die Geschichte als Ideenlieferanten zu nutzen. Der oppositionelle DDR-Pfarrer Ulrich Woronowicz hat dies mit den schönen Worten beschrieben: „Die Geschichte ist ein umfangreiches Protokoll über Experimente, man muß es nur unvoreingenommen lesen17.

Wer dergestalt in die Geschichte des 20. Jahrhunderts blickt, der stellt fest: Nach dem völligen Zusammenbruch Deutschlands im Jahre 1945 ist etwas Faszinierendes geschehen. Für gewöhnlich nennen wir es das „Wirtschaftswunder“. Sein traditionell als Vater anerkannter Wirtschafsminister, Ludwig Erhard, tat jedoch effektiv nichts anderes, als den Menschen die Chance zu bewahren, sich selbst zu bewähren. Daher war auch kein „Wunder“, was geschah. Es war vielmehr das reine Vertauen in die Kraft und Kreativität von Menschen, die selbst und unmittelbar das tun durften, was ihnen in ihrer Situation persönlich sinnvoll erschien. Sie wurden nicht – wie in der „SBZ“ – administrativ geführt und verwaltet. Sondern sie durften selbst in eigener Würde und Verantwortung agieren.

Nur zehn Jahre später war Deutschland „Exportweltmeister“ und ein deutscher Facharbeiter verdiente doppelt so viel wie sein Berufskollege in England18! Der Unterschied war: Die englischen Wähler hatten sich nach den Anstrengungen des langen Krieges in erster Linie Frieden, „soziale Sicherheit“ und einen „Wohlfahrtsstaat“ gewünscht. So wählten sie 194519.

Und damals wie heute war die Kritik an einer auf Freiheit individuellen Handelns ausgerichteten Kritik harsch. Die spätere „Zeit“-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff schrieb 1948: „Wenn Deutschland nicht schon eh ruiniert wäre, dieser Mann mit seinem absurden Plan, alle Bewirtschaftung aufzuheben, würde es gewiss fertig bringen. Gott schütze uns davor. … Das wäre nach Hitler und der Zerstückelung die dritte Katastrophe.20

Im Nachhinein erwies sich bekanntlich das englische Modell als das weit Katastrophalere. Noch 1976 war der erste britische Premierminister aus den Reihen der Gewerkschaften in seinen volkswirtschaftlich-steuernden Verantwortungen so verzweifelt, daß er seinem Kabinett erklärte, wenn er ein junger Mann wäre, würde er jetzt auswandern21.

Ludwig Erhard vertraute also auf das, was der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften des Jahres 1976, Friedrich August von Hayek, „spontane Ordnungen“ nannte. Im Ergebnis ist es nichts anderes, als das vertrauen darauf, daß Menschen unmittelbar – ohne bürokratische Fernsteuerung mittels legislativer Zuckerbrote und Peitschen – am besten erkennen, was den allgemeinen Fortschritt befördert. Auch dies ist übrigens mitnichten eine neue Idee der Geschichte des 20. Jahrhunderts. König Friedrich Wilhelm III bediente sich bei seinem „Edikt zur Bauernbefreiung“ vom 9. Oktober 1807 schlicht desselben Mechanismus22. Was also könnte (oder sollte) uns hindern, ebenso zu verfahren?

III. Schluß: Wie man sich solidarisch aus
dem Sumpf zieht

Die einzig sinnvolle Erkenntnis aus alledem kann nur sein: Befreien wir uns von der überbordenden Bürokratie im Gesundheitswesen! Nutzen Sie die bestehenden Netzwerke ihrer Verbände, um spontane Ordnungen zur politikfreien (oder zumindest politikfernen) Versorgung Ihrer Patienten zu schaffen! Die Zukunft wird denjenigen Verbänden gehören, die nicht mehr nur primär Einfluß auf fremde Entscheidungen von Politikern nehmen, sondern denen, die unmittelbare Entscheidungshilfen für selbständige und damit insbesondere untereinander solidarische Bürger geben. In der Gestaltung dieser freiberuflichen Zukunft liegen Chancen, die genutzt werden wollen.

Denken wir an meine Freunde aus dem Jahr 1984: Kann schwer fallen, sich vorzustellen, welche allgemein förderlichen Ergebnisse Menschen erzielen, wenn sie ihren bewiesenen Mut, ihren gezeigten Elan, ihre vorhandene Kraft und ihr praktiziertes Selbstvertrauen in fröhliche Experimente und waghalsige Lebensentwürfe stecken, die nicht nur der Umgehung staatlicher Fehlplanungen gewidmet sind?

Die Größe der heutigen Gesundheitsverwaltung hat kein Menschenmaß mehr. Sie führt sich selber ad absurdum. Sie erinnert an den von Paul Watzlawick berichteten Versuch, einen immer größeren Flugzeughangar gegen Witterungseinflüsse zu bauen, bei dem man schließlich feststellte, daß innerhalb des Hangars selbst nun ein eigenes Mikroklima entstanden war.

Betriebsblindheiten wie diese führen zu Babylonischen Turmbauten wie dem „Gesundheitsfonds“ oder der „Gesundheitskarte23. Zuletzt befasst sich die Verwaltung nur noch mit sich selbst. Der Psychologe Dietrich Dörner schreibt: „Wenn ich durch exzessives Planen und Informationssammeln jeden direkten Kontakt mit der Realität vermeide, so hat die Realität auch keine Gelegenheit, mir mitzuteilen, daß das, was ich mir da so ausgedacht habe, nicht funktioniert und grundfalsch ist.24

Anders als Bürokraten und Verwaltungsexperten findet sich bei Berufsverbänden indes noch immer Sachverstand und Realitätsnähe. Diese Pfunde gilt es zu nutzen und einzusetzen. Unser Selbstverständnis sollte heißen: Wir wollen mehr sein, als nur Hausmeister! Wir können Architekten sein! Dann wird unser deutsches Gesundheitssystem auch wieder auftauchen aus seinem bürokratischen Sumpf, zum Wohle aller!

1 Carlos A. Gebauer ist Rechtsanwalt in Duisburg

2 The Second World War, Band III, Buch II, Kap. 31

3§ 1 Abs. 1 SGB I ist insoweit übrigens identisch mit der DDR-Verfassung von 1949

4 Die „soziale Gerechtigkeit“ ist demgegenüber juristisch völlig konturenlos. Sie besagt nichts und alles. Jedermann kann rhetorisch in sie hineindeuten (und aus ihr herausdestillieren), was er mag. Nüchtern betrachtet, handelt es sich bei ihr um nichts anderes, als um eine parareligiöse Begriffs-Conditorei. Viel Sahne und Zucker versprechen dem Auge und der Zunge vordergründigen Genuß, während die ernährungsphysiologische Gesamtbilanz erschreckend ausfällt: Bei geringen Sättigungserfolgen steigen nur die körperlichen Risiken. Wäre es nicht stets eine Torte, die andere bezahlen, könnte man die Freude an ihr dem privaten Lebensglück zuordnen. Bezeichnenderweise wusste Edmund Burke nur ein Jah nach dem Sturm auf die Bastille bereits, daß es hier nicht um „Befreiung“ gehe, sondern um einen neuen „Religionskrieg“.

5 Merke: Das Gesetz des Dschungels ist: Fressen oder gefressen werden. Das Gesetz der Zivilisation lautet: Definieren oder definiert werden, wie ein weiser Psychiater erkannte

6 Lev Navrozov: Die Lehrjahre des Lev Navrozov, Müpnchen 1975, S. 279

7 Ich habe schon an anderen Stellen wiederholt darauf hingewiesen: Mich erstaunt über alle Maßen, daß meine Mitbürger diese allgemeine Zuweisung des „Notwendigen“ oder „Erforderlichen“ bislang so weitgehend klaglos akzeptieren. Niemand würde sich die notwendige Frisur behördlich zuweisen lassen, niemand würde akzeptieren, den erforderlichen Partner zugeteilt zu erhalten. Dennoch wird dies auf medizinischem Gebiet hingenommen? [vgl.bei www.make-love-not-law.com, „Lenin und der Kassenarzt“ u.a.]

8 Die betriebswirtschaftliche Organisationslehre kann zu dieser Erkenntnis vieles sagen!

9 Bill Bryson, Eine kurze Geschichte von fast allem, 5. Aufl. 2005, München, S. 63

10 mit dem 31. Dezember 1805 war dieser Spuk vorbei

11 vgl. § 266a StGB

12 man geht sicher kaum fehl in der Annahme, daß es die von Franz Josef Strauß vermittelten, umstrittenen Milliardenkredite an eben jene zahlungsunfähige DDR waren, die deren Zusammenbruch zu einem Zeitpunkt verhinderten, als ein friedliches Einschlafen der Sowjetunion noch keinesfalls gesichert war; aber das ist ein anderes Thema

13 Northcote Parkinson, Parkinsons Gesetz, Stuttgart 1958, S. 85

14 Roland Baader weist in der „Schweizerzeit“ (Nr. 24 vom 5.Oktober 2007) darauf hin, daß dies bedeutet: Jeder lebende Erdenbürger hat plötzlich – von jetzt auf gleich, nach zwei Tagen, ohne jede Wertschöpfung – rechnerisch 50 US-Dollar mehr zur Verfügung!

15 Damit noch bei weitem nicht genug: Mich erschüttert die Erkenntnis, daß niemand anderes als Mao Tse-tung im Jahr 1941 die chinesische Währung bianbi unbegrenzt nachdrucken ließ und dies mit den Worten verband: „Wenn [das Währungssystem] im der Zukunft zusammenbricht, dann ist es eben so.“ (vgl. Jung Chang und Jon Halliday: Mao, München 2005, S. 366). 1944 gab es dann dort so viel Geld, daß die Regierung begann, es einfach wieder „einzusammeln“ (a.a.O. S. 367).

16 Churchill in seiner „Weltkrisis“, op. cit. nach Christian Graf von Krockow, a.a.O. S. 231

17 Ulrich Woronowicz: Sozialismus als Heilslehre, Bergisch Gladbach 2000, S. 123

18 vgl. Christian Graf von Krockow: Churchill, Hamburg, 1999, S. 196

19 vgl. ebendort

20 Marion Gräfin Dönhoff, 1948, in: Wolfram Langer, Ohne Erhard sähe Deutschland anders aus; op. cit. nach Gerd Habermann, Vision und Tat – 2. Aufl. 2005, Bern, S. 26

21 vgl. Dominik Geppert: Thatchers konservative Revolution, München 2002, S. 177 m.w.N.; die keynsianischen Sozialdemokraten um Callaghan sagten, man könne jetzt nur noch versuchen, auf alle Knöpfe zu drücken, die zu finden seien, um zu sehen, was geschehe!

22 Vgl. Ulrich Woronowicz, a.a.O. S. 171ff.

23 zum verwandten Problem der sog. „Vorratsdatenspeicherung“ vgl. auch Gola u.a. in NJW 2007, 2599 ff. – die derzeitige staatliche Datensammelwut ist schwerlich verfassungskonform.

24 Dietrich Dörner, Die Logik des Misslingens, Hamburg 2003, S. 311

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