Nachdem sich eine kritische Masse von Mitbürgerinnen und Mitbürgern in stalinistischen Vernichtungslagern zu Tode gearbeitet hatte, setzte bei den sensibleren Sozialisten unserer Welt ein behutsamer Umdenkungsprozeß ein. Während burschikosere Gemüter noch emsig auf einem (möglichst mit wohlbehauenen Steinen Frankfurter Bürgersteige gepflasterten) Ho-Chi-Minh-Pfand brüderlich zur Sonne marschieren mochten, propagierten diese Weiterdenker bereits eine neue Vision vom „Sozialismus mit einem menschlichen Antlitz“: Müßte nicht, fragten sie also sinngemäß, möglich sein, Menschen wenn schon nicht mit Hämmern und Sicheln, so doch wenigstens mit weicheren Gummiknüppeln und stumpferen Messern solidarisch in ihr Glück zu zwingen?
Doch gleich das erste europäische Experiment einer solchen freundlich-lächelnden Diktatur mit liebevollem Gesicht schlug schon bald grandios fehl. Einen Sozialismus mit menschlichem Gesicht nämlich hätten die Menschen des Prager Frühlings allenfalls dann sehen können, wäre Dubcek gestattet worden, die Panzerfronten der sowjetischen Brüder rechtzeitig entsprechend bemalen zu lassen. Das aber wurde – soweit ersichtlich – weder erlaubt, noch gar versucht. So mußte der Sozialismus also für alle intelligenten Sozialisten (ebenso für alle belesenen Analphabeten) bis auf weiteres wieder nur eine tolle Idee bleiben, deren praktische Umsetzung bislang lediglich aus im einzelnen noch unerforschten Gründen nicht sauber gelungen war.
Mit der zunehmenden Mobilität von Büchern, Zeitschriften, Rundfunkberichten, Fernsehbildern und auch Menschen verbreitete sich indes die Kunde, daß in einem fernen Land, tief im weisen und Glück verheißenden Osten, ein Herrscher aufgestanden war, um den endlich ultimativ perfekten, güldenen Sozialismus in seinen Grenzen lächelnd zu verwirklichen: Kim Il Sung rief, er gestalte in Nordkorea ein sozialistisches Paradies auf Erden. Und Luise Rinser, die christisch-sozialistisch-intellektuelle deutsche Schriftstellerin, Luise Rinser hörte seinen Ruf. Sie war Mitglied eines Internationalen Komitees für die friedliche Wiedervereinigung Koreas und sie beschloß, auf eine Reise zu gehen. Im Jahre 1980 brach sie also für mehrere Wochen auf zu einer politischen Erkundungsfahrt nach Nordkorea. Und im Jahre darauf, 1981, veröffentlichte sie ihr „Nordkoreanisches Reisetagebuch“.
Kann es sinnvoll sein, heute, 25 Jahre danach, dieses Buch zu lesen? Welchen Gewinn kann man ziehen? Um es vorweg zu sagen: Man kann es lesen und der Gewinn ist ein ungeahnter. Warum?
Das Selbstverständnis der Autorin war, wie sie eingangs beteuert, ein realitätsgetreues Bild der Verhältnisse von Nordkorea zu zeichnen. Anläßlich einer vorherigen Reise nach Südkorea im Jahre 1975 habe man dort versucht, sie zu Propagandazwecken zu mißbrauchen. Dieser Versuch aber sei gründlich fehlgeschlagen. Es sei ihr seinerzeit dort gelungen, „selbst den CIA zu täuschen, dort sah ich nicht nur brav das Erlaubte, das Schöne, sondern auch das Verbotene … die Slums … die Kinder mit den Hungerödemen, die armen bäuerlichen ‚Ami‘-Huren …“.
Im Anschluß an jene Reise habe sie ihre Eindrücke mit einem Aufsatz „im SPIEGEL“ geschildert. So wollte sie es auch in Nordkorea halten. Oder besser gesagt: So ähnlich. Denn: „Wenn es mir in Südkorea gelang, den Bewachern zu entschlüpfen, wird es mir auch in Nordkorea gelingen, oder etwa nicht? Aber warum bin ich so entsetzlich mißtrauisch? Warum diese Vorurteile? … Wer mit Vorurteilen ein Land betritt, der sieht NICHTS“. Dergestalt unvoreingenommen, ohne Arg und auf das Äußerste vorurteilslos schwebte Luise Rinser also mit ihrem Flugzeug, aus Moskau kommend, gen Pjöngyang: „Es wird immer heller, wir fliegen in den Morgen hinein, die Sonne geht auf.“
Eine Abordnung von lächelnden Funktionären in dunklen Anzügen empfing Luise Rinser am Flughafen. Sie empfand alle Nordkoreaner als natürlich und angstlos, gelassen und heiter. Als Grund mutmaßte sie, daß niemand dort von der Gesellschaft allein gelassen werde und sich deshalb hilflos fühlen müsse. Dies sei sicher auch der Unterschied zu den chinesischen Kommunisten, von denen sie wisse, daß manche Funktionäre sich dort unter erheblichen eigenen Druck setzten und sich sogar aus lauter Schuldbewußtsein – „ohne daß jemand ihnen die Schuld gab“ – das Leben nahmen, weil sie „meinten, nicht genug für die Revolution zu tun“. Daß diese Selbstentleibungen chinesischer Funktionäre in Wahrheit etwas mit der von Mao seit 1947 in Yenan etablierten Gedankenkontrolle seiner Umgebung hätten zu tun haben können, kam Luise Rinser nicht in den Sinn. Vielleicht kannte sie tatsächlich die dort etablierten Pflichten zum Tagebuchschreiben nicht und die „Korrekturkampagnen“ zur Umerziehung Abtrünniger oder Zweifler.
Dies eröffnet den eigentlich faszinierendsten Aspekt bei der Lektüre des Reisetagebuches: Obwohl die zu diesem Zeitpunkt beinahe 70 Jahre alte Autorin immer wieder betont, sich nicht in die Irre leiten zu wollen, ließ sie sich doch selbst konsequent die Verhältnisse schön reden und malte sie sich auch selbst das innig herbeigesehnte Traumbild des perfekten nordkoreanischen Sozialstaates.
Im Kinderpalast von Pjöngyang fand sie unbefangene Kinder, die es dort schlicht gut hätten: „Besser könnten sie es nicht haben. Sie haben ihre Ärztinnen, ihre Untersuchungen, ihre Pflegerinnen, ihre ausgebildeten Kindergärtnerinnen. … Ein kleines Mädchen spricht fließend frei wie eine Dozentin, aber mit tänzerischen Gesten, über die Agrarprodukte, ein Junge dozierte weiter … Jedoch: Ich glaube nicht, daß sie spontan reden … Lernen sie kritisch denken? … Gibt es hier nicht eine Art langfristiger, unauffälliger Gehirnwäsche?“
Anstelle der gebotenen, den eigenen kritischen Maßstäben gehorchenden Antwort auf diese selbst gestellte Frage weicht Luise Rinser sich aber offen selbst aus. Sage und schreibe formuliert sie unmittelbar weiter: „Aber wo gibt es die nicht. Nur die Inhalte sind verschieden. Wir im Westen werden indoktriniert mit dem Dogma vom Fortschritt, vom hohen Wert des Besitzes … Was wir tun dürfen und nicht tun dürfen, lehrt uns das Bürgerliche Gesetzbuch … Mir wird hier bewußt, wie sehr wir programmiert sind, so sehr, daß selbst ich das Gute, das ich hier mit eigenen Augen sehe, nur mit höchstem Mißtrauen betrachten kann“.
Schon nach dem Besuch des „Kinderpalastes“ also war dem nordkoreanischen Propaganda-Apparat augenscheinlich gelungen, jede ursprüngliche Absicht der Autorin, einen wahrhaft kritischen Blick auf die Verhältnisse zu werfen, in ein Nichts zu verwandeln. Alle weiteren Besuche und Berichte Luise Rinsers gleichen folglich einem lobpreisenden Hohelied des nordkoreanischen Sozialstaates, das jede zweifelnde Rückfrage schon im Keime erstickt.
Welcher Zauber mag Luise Rinser befallen haben, daß sie die ihr präsentierten und beschriebenen Verhältnisse blindlings glaubte? Wie konnten einer Verfolgten des Nationalsozialismus Formulierungen entgleiten, wie etwa die vom legitimen Führerkult: „Man kann tatsächlich in diesem Land nichts berichten, ohne zu sagen: Das hat der große Präsident gemacht. Man könnte das Prädikat ‚groß‘ weglassen, aber das würde wenig ändern. Selbst wer nur sagt ‚Kim Il Sung‘ oder ‚der Präsident‘, spricht das mit Respekt und Liebe aus. … Warum eigentlich nicht? In einer Zeit der rüden Respektlosigkeit von Mensch zu Mensch haben Gesten der Höflichkeit Zeichenwert und können formend wirken.“
25 Jahre vor Luise Rinser war Simone de Beauvoir bekanntlich ein vergleichbarer Lapsus unterlaufen. Nach einem ebenso sorgfältig propagandistisch vorbereiteten und begleiteten Besuch in China verglich die Französin Maos Machtumfang mit dem Roosevelts und sie protokollierte in ihrem 1958 hierüber erschienenen Werk zum „Langen Marsch“, die neue chinesische Verfassung mache unmöglich, „daß sich die Autorität in den Händen eines Mannes konzentriert“.
Doch während westliche Politiker wie Franklin D. Roosevelt, Francois Mitterand oder Pierre Trudeau sich aus größerem Abstand nicht zuletzt von eigenen Wunschvorstellungen und Fehlinformanten wie dem maofreundlichen Journalisten Edgar Snow blenden ließen, verabsäumte Luise Rinser greifbar, vor Ort nicht nur die naheliegendsten Fragen zu stellen, sondern auch die einfachsten Klarstellungen gegen Widersprüchlichkeiten zu erbitten. Nur von der dreifachen Mutter und Vize-Sozialministerin des Landes ließ sie sich die Räume der Frau erläutern: „Tatsächlich arbeiten fast alle Frauen beruflich. Die Männer haben das nicht gern … Es widerspricht der Tradition“, notiert sie und gleich darauf dann: „Müssen die Frauen arbeiten, weil das befohlen ist oder weil der Verdienst des Mannes nicht ausreicht? Aber nein! Wir WOLLEN einen Beruf haben, denn die Arbeit außer Haus ist die einzige Möglichkeit der Frau, sich selbst zu verwirklichen.“
So unkritisch also bereiste Luise Rinser Nordkorea, picknickte an Stauseen und blaugrünen Meeresklippen, besuchte Musikschulen, betrachtete eine Dorfklinik, in der Tuberkulose nicht mehr behandelt werden mußte, weil sie „durch gute Ernährung und Vorbeuge-Untersuchung“ ausgerottet war, sie traf auf rudernde Kinder und Montessori-Kindergärten sowie sogar auf eine schäbige Dorfschule, deren Kinder aber sangen, im Paradies zu leben und glücklich zu sein. Allüberall fand sie also Glück, Zufriedenheit und – vor allem – Gleichheit zwischen allen Menschen, denen Nordkorea nämlich die individuelle Last des Geldes genommen hatte: „Mir fällt auf, daß hier nie von Geld die Rede ist. … Jeder Einwohner bekommt vom Staat eine monatliche Rente. … Aber die Unterschiede sind nicht groß. … Die hohen Funktionäre und Universitätsprofessoren … haben ein Auto zur Verfügung, aber es gehört ihnen nicht. … So sparen wir Benzin und halten unsere Luft sauber.“
Den Höhepunkt aller Kapitel, denen fast ausnahmslos Auszüge von Plutarch über Lykurgs Herrschaft in Sparta vorangestellt sind, bildet indes Luise Rinsers Zusammentreffen mit Ihm selbst, mit dem großen Präsidenten Kim Il Sung. Er gewährt ihr eine „Audienz“, anschließend gehen beide noch gemeinsam essen. „Ich bin im Westen angesehen. Ich bin eine Sozialistin, wenn auch nicht marxistisch-leninistisch; aber eben das ist auch Kim Il Sung nicht.“ Noch einmal will sie kritisch sein, bohrend, politische Fragen stellen, „hochpolitische“ gar. Doch der Diktator bleibt heiter freundlich, ganz in sich ruhend, ohne Falschheit, ohne jedes Imponiergehabe, witzig und humorvoll, lächelnd, religionstolerant. Ein Mann! Ein Mensch! Sie glaubt ihm mit einer inzwischen unüberbietbaren Naivität, daß es in Nordkorea keine Diebe gebe, keine Räuber, keine Mörder. Sie glaubt, daß dieses Land keine Gefängnisse habe, sondern nur „Erziehungshäuser für Schwererziehbare“, in denen man aber (wegen der formenden Gesten des höflichen Respektes?) nie länger als 6 Monate verweile.
So also schließt sie ihr Reisetagebuch mit den in jeder Hinsicht bemerkenswerten Sätzen: „Der Sozialismus Nordkoreas ist der Sozialismus mit dem menschlichen Antlitz, wie in Dubcek für die Tchechoslowakei wollte und wie ihn die Sowjets niedergeschlagen haben. Aber Kim Il Sung führt ihn weiter. Seine Ideologie und seine Praxis, das ist die Alternative, das ist der Dritte Weg.“
Haben diese Ausführungen aber heute, 25 Jahre danach, noch irgendeine Relevanz? Weiß die Welt nicht längst von den Suppen aus Gras in Pjöngyang und von den hungernden und sterbenden Kindern Nordkoreas? Hat sich die Diskussion über all dies erübrigt, nachdem Luise Rinser 1984 nicht – wie von den „Grünen“ gewünscht – die erste Bundespräsidentin der Bundesrepublik Deutschland wurde, sondern Richard von Weizsäcker? Nein. Im Gegenteil. Die Diskussion geht weiter, mit unverminderter Kraft. Denn auch Tony Blair und Gerhard Schröder wollten und wollen noch immer diesen „Dritten Weg“! Die Suche nach einem segensspendenen Kompromiß zwischen statthabtem Ostblock-Sozialismus und vermeintlich kaltem Kapitalismus ist bis in die Gegenwart die Mission aller postmarxistischen und transleninistischen Gralsritter. Und die derzeitigen deutschen und europäischen Visionäre eines „aktivierenden Sozialstaates“ sind dabei vom Glanz ihrer Bürokratiepaläste nicht weniger verblendet, als es gerade noch Luise Rinser im Angesicht klimpernder Kinder an nordkoreanischen Orff-Zimbeln war.
Es ist hart, die Welt so sehen zu müssen wie sie ist, statt so, wie man sich wünscht, daß sie wäre. Aber zu diesem Blick gibt es keine Alternative. Denn selbst grüne Politiker dürften eine sozial gerechte Volksernährung mit nordkoreanischer Grassuppe nicht durchgängig befürworten. Oder?