von Carlos A. Gebauer
Es gibt Menschen, die wollen nicht nur das Gute. Sie wollen das Beste. Um es zu erreichen, sind sie zu allem bereit. So reicht ihr Einsatzwille bis hin zum gemeinschaftlichen Abbrennen von Haushaltskerzen – für den guten Zweck! Und genau da beginnt das nächste Problem: Aus dem Docht solcher Kerzen nämlich steigen oftmals Dämpfe auf, die giftig sind. Brauchen wir also eine Feinstaub-Regelung für Demonstrationskerzen? Oder erscheint eine Pflicht zum Tragen von Gasmasken als das geeignetere Mittel?
Kritiker werden einwenden, dass jedes Maskentragen mit den bekannten versammlungsrechtlichen Regeln über das Vermummungsverbot kollidiert. Aber: Drohen Gewalttaten aus einer anonymen Gruppe kerzenhaltender Philanthropen, wenn diese sich – klischeekonform – vor einer Kirche versammeln? Eher werden doch katholische Demonstranten ihrerseits des weiteren staatlichen Schutzes durch Umweltgesetze bedürfen, wenn erst öffentlich die Feinstaub-Risiken des liturgischen Weihrauch-Einsatzes zur Diskussion gestellt sind. Haben nicht asthmatische Gläubige ein Anrecht auf die rauchfreie Kirche?
Vor einiger Zeit war ich Zeuge eines Konfirmationsgottesdienstes, in dem der Pfarrer seine Aufforderung, sich zum Gebet zu erheben, stets sofort mit der Ergänzung verband „… sofern Sie hierzu gesundheitlich in der Lage sind“. Nur konsequent, bot er auch anwesenden anonymen Alkoholikern an, ihm bei der Abendmahlfeier einen „dezenten Wink“ zu geben; dann werde anstelle des Weines – selbstverständlich vorgehaltener – Traubensaft gereicht.
Rücksichtnahme schmückt also. Sie ist politisch korrekt! Und so ist nur ein kleiner Schritt zur atemluft-optimierten Andacht, wenn erst die Mittelgänge katholischer Kirchen zur weihrauchfreien Zone erklärt würden. In Analogie zu jener medial berühmt gewordenen Düsseldorfer Hauptverkehrsstraße ließen sich die Gänge aller Gotteshäuser „Corneliusstraße“ nennen. Und das am besten gleich konfessions- und glaubensübergreifend. Denn eine einzelne Leitkultur alleine wäre ja bekanntlich alles andere als – politisch korrekt!
Im Gegenteil. Durch den Respekt vor fremden Religionen erweist sich erst wahrhaft, ob wir es mit dem Willen zu bedingungsloser politischer Korrektheit auch wirklich ganz erst meinen. Gerade uns Deutschen ist vor dem Hintergrund unserer besonderen Vergangenheit hier großer Ernst abverlangt. Unvergessen etwa ist: Joschka Fischer, der Professor aus Princeton, erwies sich als ein Beherrscher des schwierigsten Parketts, als er in das Gedenkbuch von Jad Waschem die mahnenden Worte Richards von Weizsäcker schrieb „Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart“. Der SPIEGEL stimmte ihm zu und zitierte seine Worte in der Ausgabe vom 2. Juni 2002 wörtlich (Heft 23/2002, S. 36). Alles schien ganz politisch korrekt.
Doch pikanterweise hatten weder das Auswärtige Amt, noch auch die Redaktion des SPIEGEL beachtet, dass just dieser Satz Richards von Weizsäcker bei einem führenden Vertreter der amerikanischen Juden wenige Jahre zuvor auf den schärfsten Protest gestoßen war. Alan M. Dershowitz, der Strafverteidiger und Professor aus Harvard, hatte – wie er in seiner schon 1995 erschienenen Autobiographie mit dem Titel „Chuzpe“ berichtet – alle Anstrengungen unternommen, die Verleihung der Ehrendoktorwürde an Richard von Weizsäcker in Harvard zu verhindern. Wortmächtig warf er ihm dabei gerade diesen von Fischer zitierten Satz und den Umstand vor, seinen Vater in den Nürnberger Prozessen verteidigt zu haben.
Dem Betrachter drängt sich angesichts dessen die bohrende Vermutung auf: Der Versuch, um alles in der Welt stets nur das abgesichert politisch Korrekte sagen zu wollen, scheint in Anbetracht der schieren Masse von berücksichtigungsfähigen Kriterien schlechterdings immer zum Scheitern verurteilt. Die Totalrücksichtnahme gleicht dem Bestreben, es allen recht machen zu wollen – und also einem in Wahrheit unmöglichen Unterfangen. Selbst Alan M. Dershowitz könnte sich fragen lassen müssen: War weiland die strafrechtliche Mitverteidigung von O.J. Simpson unter wirklich allen Gesichtspunkten „O.K.“?
Mit welcher Konsequenz jenes Bestreben, im Namen des Guten das Gute und das Beste in die Welt zu bringen, bisweilen umgesetzt wird, erweist ein spannender Blick in die Heilige Schrift höchstselbst. Im zweiten Buch Samuel, Kapitel 12, Vers 31 lesen wir – sofern wir ältere Ausgaben zur Hand nehmen – über die Eroberung der Stadt Rabba durch den König David die entsetzlichen Sätze: „Aber das Volk drinnen führte er heraus und legte sie unter eiserne Sägen und Zacken und eiserne Keile und verbrannte sie in Ziegelöfen.“ Dann plötzlich – in jüngeren Ausgaben – heißt es hier nur noch: „Aber das Volk darin führte er heraus und stellte sie als Fronarbeiter an die Sägen, die eisernen Pickel und an die eisernen Äxte und ließ sie an Ziegelöfen arbeiten.“
Es bedarf nicht im Ansatz eines Kommentares, warum die Übersetzer der Deutschen Bibelgesellschaft ihre Basisausgabe zwischen 1957 und 1984 in dieser Weise modifiziert haben. Kann aber – umgekehrt – das hehre Bestreben, politisch unter allen Umständen nicht unkorrekt sein zu wollen, derartige Eingriffe in historische Texte tatsächlich rechtfertigen? Was würde Martin Luther dazu gesagt haben? Hätte er vor dem Text gestanden und auch nicht anders gekonnt? Welche Kriterien können verbindlich sein, um politisch korrigierende Eingriffe in historische Quellen zu legitimieren? Indem man nach Antwort sucht, ob für solche Berichtigungen nicht auch das zitierte Weizsäcker-Diktum von der Vergangenheitsvergessenheit gilt, keimt schon die nächste bange Frage auf: Was, wenn auch der berichtigte Text selbst in den vergangenen Jahrtausenden – aus uns unbekannten Gründen – irgendeiner politischen Korrektur unterzogen worden war?
Die derzeitigen Bemühungen, alle und jede Lebensumstände der Bürger in Deutschland und Europa immer korrekter und noch korrekter gestalten zu wollen und hierbei keinen noch so großen legislativen und exekutiven Aufwand zu scheuen, lassen jedenfalls Interessantes erwarten. Man mag sich beispielsweise fragen, wie lange die alttestamentarischen Regeln über reine und unreine Tiere noch in der bisherigen Fassung aufrecht erhalten werden können:
„Alles, was gespaltene Klauen hat, ganz durchgespalten, und
wiederkäut unter den Tieren, das dürft ihr essen. …
Alles, was Flossen und Schuppen hat im Wasser, im Meer und in den
Bächen, dürft ihr essen. … Und diese sollt ihr
verabscheuen unter den Vögeln, dass ihr sie nicht esst, denn ein
Gräuel sind sie: den Adler, … das Käuzchen, den Schwan,
den Uhu, die Fledermaus, die Rohrdommel … Doch dies dürft ihr
essen von allem, was sich regt und Flügel hat und auf vier Füßen
geht, was oberhalb der Füße noch zwei Schenkel hat, womit
es auf Erden hüpft.“
(3. Mose 11, 2-21).
Wann kommt hier eine Ergänzung zu den lebensmittelrechtlichen Vorschriften bei der öffentlichen Schulspeisung in überkonfessionellen Ganztagsschulen, die von Kindern alleinerziehender Mütter besucht werden? Warum schweigt die Bibel noch zu Alkopops?
Nach allem dürfe klar sein: Es gibt nur eine einzige, wirkliche politische Korrektheit, die funktionstüchtig, gangbar und erstrebenswert ist. Es ist dies die Maxime, den anderen respektvoll in seinem Sosein zu akzeptieren und ihm nicht fremde Wertmaßstäbe aufzunötigen.
Wer demgegenüber politische Korrektheit definieren und gegen andere durchsetzen will, der verhält sich schon alleine deswegen selbst nicht mehr politisch korrekt, weil er diese Grenzen verletzt. Und weil er sich eine Aufgabe stellt, angesichts derer Größe er bald unter ihrer Komplexität zusammenbrechen wird.