Mindestlohn für Manager

von Carlos A. Gebauer

Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Peer Steinbrück ist möglicherweise ein kluger Mann. Kürzlich ließ er verlauten, er wolle nun eine neue Experten-Kommission einberufen. Diese solle einen „Ethik-Kodex“ vorbereiten, der sich – neben anderen wichtigen Themen – zu den Gehältern für Manager verhalte.

Der Feld-, Wald- und Wiesen-Konsument alltäglicher Agenturmeldungen wird diese Mitteilung – ebenso wie ihr Bahn-, Bus- und Schreibtisch-Konsument – wahrscheinlich gelesen und durch die sinnreichen Raster seines Ultrakurzzeitgedächtnisses sofort in den Papierkorb verschoben haben. Aus Gründen, die mir unklar sind, blieb mein Blick aber auf auf dieser Nachricht kleben. Ein Gefühl sagte mir: Irgendetwas war hier besonders. Ich hielt inne und besann mich.

„Ethik“ klingt gut und „Kodex“ wirkt auch nicht gefährlich. Grobe Vorstellungen davon, was ein Ethik-Kodex sein könnte, stellten sich zügig ein. Angestrebt war offenbar eine Art Benimm-Regelung. Trotzdem blieb eine Art Hilflosigkeit. Ich beschloß, die Sache systematisch anzugehen. Ein in Fragen der Philosophie und des Rechtes beschlagener Freund half.

Wir taten zunächst für einen Augenblick so, als verstünden wir „Ethik-Kodex“ so wenig wie beispielsweise „Tetropotassiumpyrophosphatsodiumbenzoat“. Wir zerlegten den Begriff also zur Aufklärung in seine Teile und stellten fest: Ethik ist die Wissenschaft vom guten Handeln und ein Kodex ist ein in sich abgeschlossenes Regelwerk. Plötzlich lichtete sich der Nebel unseres zögernden Unverständnisses und wir fragten: Was legitimiert eigentlich den Ministerpräsidenten eines Bundeslandes, Philosophen zu versammeln, um Leitlinien für eine moralisch wertvolle Manager-Vergütung zu finden? Uns war klar: Nichts!

Nach dem Verfassungsrecht kommt Ministerpräsidenten die Aufgabe zu, an Staatsgewalten teilzuhaben. Staatsgewalt verwirklicht sich in Gesetzen, Verordnungen, Verwaltungsakten und Gerichtsentscheidungen. Nirgendwo aber wird ein Ministerpräsident aufgerufen, durch Expertenkommissionen Maßstäbe für menschliches Handeln außerhalb dieser Staatsgewalt setzen zu lassen. Die Einsetzung einer solchen Kommission ist daher nichts anderes, als etwa die Einberufung einer Konferenz internationaler Schneider zur Neuregelung von Üblichkeiten zum Krawattenbinden oder die Einholung eines Gutachtens über aktuelle Haarschnitt-Konventionen. Der Ministerpräsident ist hier nirgendwo berufen, zu handeln.

Es bleibt die Frage, was ihn dennoch antreibt. Möglicherweise hat sich die Erkenntnis Bahn gebrochen, daß es Dinge gibt zwischen Himmel und Erde, die der Regelungs- und Bestimmungsmacht von Staat und Politikern nicht zugänglich sind. Möglicherweise hat der Ministerpräsident erkannt, daß man die höchstindividuelle Zahlungsbereitschaft von Menschen für bestimmte Leistungen mit Gesetzen ebensowenig erreicht, wie man beispielsweise Appetit auf Äpfel an jedem Dienstag dekretieren kann. Möglicherweise hat er gelernt, daß eine Spitzenvergütung mit Gesetzen genausowenig mit Erfolg nach oben limitiert werden kann, wie die Höhe eines Mindestlohnes nach unten. Möglicherweise verbreitet sich auch das Wissen, daß man die Leidenschaft eines Ausbilders ebensowenig herbeiverfügen kann, wie das Geld für eine Lehrlingsvergütung. Und möglicherweise will der Ministerpräsident in weiser gesetzgeberischer Zurückhaltung einfach nur das Vernünftige mit der Kraft einer überzeugenden Begründung, statt mit Staatsgewalt aussprechen. Dann wäre er möglicherweise ja tatsächlich ein kluger Mann.

Das ESGEBE bei EDEKA

von Carlos A. Gebauer

Herr Karl-Ulrich Geiger aus Elberfeld hatte einen Edeka-Markt gepachtet. Die Geschäfte liefen leidlich, die Kunden waren zufrieden. Seine Kassiererinnen stöhnten allerdings bisweilen über den nichtendenwollenden Warenstrom auf ihren Fließbändern. Und ein Kunde vertraute ihm an, alles werde teurer, nur sein Gehalt steige nicht. Da wurde Herr Geiger nachdenklich.

Eines Nachts dann hatte Herr Geiger eine Idee. Er weckte seine Frau und sagte: Alle Waren müssen bislang erst von uns in die Regale sortiert, dann von den Kunden aus diesen herausgenommen, dann in ihren Korb gelegt, dann wieder aus diesem herausgenommen, dann über das Band gefahren und schließlich in Plastiktüten gepackt werden. Das ist ineffizient,ineffektiv und wenig arbeitnehmerfreundlich.

Ökonomischer wäre doch, wenn die Waren sofort aus dem Regal in die Tüten der Kunden gepackt und anschließend gleich aus dem Laden herausgetragen werden könnten. Dann müßten die Kassiererinnen insbesondere auch nicht jedes und alles nochmals Stück um Stück mühevoll in ihre Hände nehmen.

Auf den Einwand seiner Frau, wie er sich denn diesenfalls die Preisermittlung, Berechnung und Bezahlung des gekauften Gutes vorstelle, entgegnete er: Dieses rationalisierte System wird zugleich angereichert um eine soziale Komponente, angelehnt an die berühmten Regelungen des deutschen Sozialgesetzbuches, des ESGEBE! Ab sofort bezahlt jeder Kunde nur noch so viel, wie er tatsächlich angemessen selbst und persönlich zahlen kann. An die Stelle von einzelnen Preisen für einzelne Waren tritt eine Pauschale, die jeder Kunde nach dem Maßstab seiner je eigenen persönlichen Leistungsfähigkeit erbringt. Denn es könne ja schließlich nicht sein, daß ein Vorstandsvorsitzender für ein Pfund Butter genausoviel bezahlt, wie seine Sekretärin, meinte Herr Geiger. Schließlich gebe es viele Menschen, die zu alt oder zu schwach seien, um die Waren so oft von einem Behältnis in das andere umzufüllen; auch deren Probleme würden durch den neuen Modus erkennbar sozialverträglich beseitigt.

Noch in derselben Nacht des Neuen Einfalles ersonnen Herr Geiger und seine Frau aus Elberfeld eine geradezu genial einfache, praktische Methode zur Umsetzung ihres Planes: In den frühen Morgenstunden des nächsten Tages vertauschten sie die Eingangs- und Ausgangsschilder ihres Edeka-Marktes. Die Kunden betraten also nun das Geschäft durch den Kassenbereich, bezahlten zu Beginn ihres Besuches – bei den dadurch erheblich entlasteten Kassiererinnen – den geschuldeten Betrag, luden sodann ihren Einkauf in die Taschen und verließen anschließend unmittelbar durch das Drehkreuz den Laden zum Parkplatz.

Da Herr Geiger belastbare Zahlen über den Umsatz und Durchsatz seines Geschäftes besaß, konnte er den zur üblichen betriebsinternen Globaläquivalenz zwischen Einkauf und Absatz erforderlichen Geldbetrag recht genau beziffern. Seinen Kunden erklärte er, sie müßten fortan nur noch ihren letzten Einkommensteuerbescheid an der Kasse zeigen; sodann würde der Zahlbetrag von der Kassiererin – ganz unbürokratisch – ermittelt und vereinnahmt.

Nach anfänglichen Irritationen in der Kundschaft über die Notwendigkeit, einen Einkommensteuerbescheid zum Einkauf mitzubringen, stellte sich indes recht zügig eine entsprechende Übung an den Kassen ein. Das System faßte gleichsam Tritt und gewann an Fahrt.

Nach einiger Zeit allerdings sprachen Kassiererinnen bei Herrn Geiger vor und äußerten einen Verdacht. Nicht immer, erklärten sie, würde ihnen der wohl richtige Einkommensteuerbescheid vorgelegt. Ihre Mutmaßung war, einige Kunden liehen sich Einkommensteuerbescheide von weniger gut verdienenden Freunden, um hierdurch zu günstigeren Konditionen – nämlich mit geringerer Pauschale – einkaufen zu können.

Frau Geiger sah hierin keine wirkliche Schwierigkeit: Sie wies das Personal einfach an, künftig durch Vorlage eines Personalausweises gemeinsam mit dem Einkommensteuerbescheid die Identitätsfrage an der Kasse zweifelsfrei zu klären. So geschah es. Aber auch die verwaltungsverschlankende Befugnis, ersatzweise andere Lichtbildausweise als Legitimationspapier akzeptieren zu dürfen, beseitigte nicht alle Probleme der Kassiererinnen.

Bohrend blieb zum Beispiel der Zweifel, ob die zunehmend in Begleitung der Kunden erscheinenden Kinder allesamt tatsächlich auch die Kinder der in den Einkommensteuerbescheiden genannten Personen waren. Der festzustellende Süßigkeiten- und Kaugummiabsatz erhärtete diese Verdachtsmomente (bei entsprechenden evidenzbasierten Gegenprüfungen).

Zudem wurde kurz darauf ein ganz anderer Fall des geradezu ruchlosen Systemmißbrauches durch einen benachbarten Bäckermeister bekannt. Der nämlich hatte – unter korrekter Vorlage zwar seines Ausweises und Einkommensteuerbescheides und nach hinlänglicher Zahlung – ganze dreißig Weißbrote in seine Tüten gepackt und diese dann im eigenen Laden gegenüber zu marktüblichen Preisen verkauft!

Um solchen (nicht erforderlichen und nicht notwendigen) Versorgungsmißbrauchs-Einkäufen zu begegnen, sah Herr Geiger jetzt keine andere Möglichkeit mehr, als an jedem Regal einen Kontrolleur aufzustellen, der das konkrete Entnahmeverhalten aller Kunden überprüfte. Wegen der hierdurch erfolgten Einstellung von gleich 40 neuen Mitarbeitern wurde er daher vom Bürgermeister der Stadt in einer kurzfristig einberufenen, öffentlichen Feierstunde ausgezeichnet und gelobt; er hatte neue Arbeitsplätze geschaffen.

Ein Kontrolleur aus der Waschmittelabteilung („Warum nehmen Sie da drei Pakete Weichspüler? Nehmen Sie eins! Wenn Sie das verbraucht haben, können Sie ja wiederkommen.“) machte Herrn Geiger auf einen bis zu diesem Zeitpunkt unbeachtet gebliebenen Umstand aufmerksam: Die Kundschaft aus dem Villenviertel der Stadt blieb plötzlich aus. Statt dessen erschienen mehr und mehr Kunden aus dem sozialen Brennpunkt der Gemeinde!

Aufgrund seines inzwischen freundschaftlichen Kontaktes zu dem Herrn Bürgermeister bat Herr Geiger ihn um einen Gefallen. Der Rat der Stadt sollte beschließen, daß auch die gutsituierten Bürger der Kommune nun bitte gesetzlich verbindlich verpflichtet würden, bei ihm einzukaufen, um sich der Solidarität aller in der Gemeinde nicht böswillig zu entziehen. Alle anderen Lebensmittelgeschäfte des Ortes waren ja ohnehin bereits in Insolvenz gefallen und das eigene Warenangebot hatte sich erheblich verschlankt.

So geschah es. Die „Gemeindesatzung zur Stärkung der Solidarität im Einkaufswesen und zur Förderung des Lebensmittelstandortes Geiger“ trat in Kraft. Einwohner, die andernorts kauften, wurden mit empfindlichen Geldbußen belegt.

Wenige Wochen später schlugen das Einwohnermelde- und Stadtsteueramt der Gemeinde allerdings schon wieder neuen Alarm. Die fünf wohlhabendsten Bürger der Gemeinde waren in den Nachbarort verzogen. Der Bürgermeister reagierte sofort. Nachdem er derLokalzeitung bei einer Pressekonferenz versichert hatte, niemand habe die Absicht, eine Mauer zu errichten, begannen die Mitarbeiter des Bauhofes eilends, um die Gemeinde einen Stacheldrahtzaun zu bauen, versehen mit Videoanlage, Hundestaffel, und – notfalls – Schießbefehl für die Angehörigen des Ordnungsamtes. Es ist doch so einfach, alle Menschen von ihren materiellen Sorgen zu befreien, sagte Herr Geiger. Man muß nur die unsolidarischen Saboteure in den Griff bekommen.

Die Frage nach dem bügelfreien Stauffenberg

Carlos A. Gebauer

„Die Situation war für die Männer und für ihn unangenehm, also machte ich dem ganzen ein Ende und schoß ihm mit einer 32er Pistole in die rechte Gehirnhälfte mit Austrittsloch am rechten Schläfenbein. Er röchelte noch ein wenig, dann war er tot.“

Che Guevara über die Exekution von Eutimio Guerra am 17. Februar 1957

Es geschah auf einer dieser merkwürdigen Stehpartys, bei denen nur der Gastgeber alle – und sonst niemand irgendjemanden – kennt. In lockerer Runde standen Menschen, die über Urlaubsziele parlierten. Ich schob mich schweigend in den Kreis. Ein Herr schwärmte von Kuba. Noch das abgelegenste Dorf habe Strom. Seine Augen glänzten wie Scheinwerfer im Zuckerrohr. Die Krönung aller Eindrücke aber sei die tiefe Nacht in Havanna. Der marode Charme einer menschenleeren, schwülwarm-laternenlosen Dunkelheit zwischen zerfallenden Stadthäusern sei ihm zu einer lebenslang unvergesslichen Erinnerung geworden. Die Frage meiner linksseits freundlich lächelnden Kreisnachbarin, ob ich denn auch schon einmal dort gewesen sei, verneinte ich wahrheitsgemäß. Zur vorsorglichen Mitleidsprophylaxe fügte ich an, Exekutionsgeräusche aus dem Hinterland jenseits der Dünen für unattraktiv zu halten, während ich in der Gischt bade, weswegen ich von Sonnenurlauben in Diktaturen bislang generell abgesehen habe.

In weniger als zwei Atemzügen war ich nun nicht mehr Teil des lockeren Gesprächskreises, sondern gleichsam Angeklagter eines Party-Tribunals. Eine Menschenmauer des Vorwurfes postierte sich frontal mir gegenüber und schmetterte vielstimmig: „Na, dann passen Sie mal auf, daß die Schüsse, die Sie hören, nicht aus Guantanamo herüberschallen!“ Erst jetzt erkannte ich, daß jenseits der starken Schulter meines rechtsseitigen Nebengastes bäuchlings ein breites Konterfei entschlossen, wenn auch leicht verwaschen, in den Raum blickte: Che Guevara war schon vor mir zur Feier erschienen.

Warum nur, fragte ich mich auf dem bald angetretenen Heimweg, tragen bundesrepublikanische Akademiker mit Wehrdienstverweigererhintergrund ein solches Hemd? Kann es vierzig Jahre nach dem Tode Che Guevaras im bestens informierten deutschen Bildungsstaat tatsächlich noch Wissenslücken zu diesem Mann geben? Denn eigentlich mochte – und mag – ich nicht glauben, daß meine friedensbewegt-irakkriegsgegnerischen, freiheitlich-demokratisch zugrundegeordneten Mitbürger einen verehren, der sagte: „Ich bin wohlauf und lechze nach Blut“. Bislang nämlich machten die meisten aller mir bekannten Akademiker auf mich noch nicht den Eindruck, in einem Zustand intensiverer Schizophrenie dahinzuvegetieren. Wie sonst aber kann man einerseits das Gefängnis von Guantanamo anprangern und andererseits mit einem Che-Guevara-Poster leben? Wie schrieb doch der Angehimmelte in seiner „Botschaft an die Völker der Welt“, die Rudi Dutschke mit Hilfe eines chilenischen Freundes gleich nach ihrer Veröffentlichung übersetzte:

„Der Haß als Faktor des Kampfes; der unnachgiebige Haß gegenüber dem Feind, der weit über die natürlichen Schranken eines Menschenwesens hinaustreibt und es in eine wirksame, gewalttätige, auswählende und kalte Tötungsmaschine verwandelt. Unsere Soldaten müssen so sein; ein Volk ohne Haß kann nicht über einen brutalen Feind siegen. Man muß den Krieg bis dorthin tragen, bis wohin der Feind ihn trägt: in sein Haus, in seine Vergnügungsstätten; man muß ihn zum totalen Krieg machen.“

Zugunsten meiner Mitgäste an jenem Stehpartyabend will ich davon ausgehen, daß ihnen diese augenscheinlich sportpalastwürdigen Gedanken ihres Heroen aus dem Regenwald schlichtweg nicht bekannt sind. Gleichwohl bleibt die bange Frage: Was mag es sein, das sie an ihm bewundern? Ist es sein Wille zur Kompromisslosigkeit im Kampf, der ihnen imponiert? Für Che Guevara gab es kein Leben außerhalb seiner Revolution. Er war bereit, für seine Ziele sein Leben zu geben. Das mag man anerkennen. Aber wie hätten wir gesprochen, wäre ihm 1962 gelungen, sich gegen Chruschtschow durchzusetzen und den atomaren Erstschlag gegen John F. Kennedy zu führen? Was hätte es genützt, wenn die Revolution für die Atomkriegsüberlebenden durch seine Exekutionen zögerlicher Guerilleros rein und der angestrebte geldlose Kommunismus moralisch geblieben wären? Die Erlösung der Menschheit vom Imperialismus mag ihm – ebenso wie seinem Freund und Vorbild Mao Tse-tung – eine geheiligte Sache gewesen sein, nur: Was, wenn der Gegenstand der Erlösung durch dieselbe ausgelöscht wird?

Dringt man dergestalt in die Vorstellungswelt dieser lateinamerikanischen T-Shirt-Vorlage ein, so erschließen sich die abgründigsten Erkenntnisse. Denn die notfalls in Kauf genommene totale physische Vernichtung des kubanischen Volkes zum Zwecke seiner finalen Befreiung stellt im Grunde nur die alternative Kehrseite des ideologischen Hauptzieles dar, die Vernichtung des Individualismus durch kommunistische Disziplin und Eigentumsnegation zu erreichen. Das also war der Mann, den Jean-Paul Sartre für den vollkommensten Menschen unserer Zeit hielt. Und das ist der Mensch, der uns in der Rezeption als Imitatio Christi verkauft wird, als „Christus mit der Knarre“, wie Wolf Biermann textete. Dessen Reinheit dereinst zu erreichen Fidel Castro als Ideal preist. Den die Tupamaros in Uruguay und die mexikanischen Zapatisten zu ihrem Vorbild erkoren, ihren Subcommandante Marcos eingeschlossen, der den Heiligenstatus durch verklärende Gesichtsmaskerade herbeipromoten will. Er fungierte nicht zuletzt als Ikone der westdeutschen APO bis hin zu RAF und Inge Viett, die der Entfremdung des Menschen einen militanten Humanismus entgegensetzen wollten und die – grotesk ist nicht grotesk genug – in seinem einsam-individuellen Kampf ein leuchtendes Vorbild für die kommende Auslöschung des Individuellen sahen.

Wird die Pop-Ikone „Che“ also nach allem an ihren eigenen Widersprüchen zugrundegehen? Es steht zu fürchten, nein. Denn wo sich One-World-Aktivisten vehement gegen Globalisierung stemmen, da darf auch ein radikaler Kollektivist Heiliger des Individualismus bleiben. Der „Gegenpol zu den Bausparern, Kassenpatienten, saturierten Bürgern der westlichen Welt“ also, wie Wolf Schneider sagt, eine „unwiederholbare Mischung aus Jesus, Lenin, Tarzan und Rudolph Valentino“ wird uns wohl noch einige Zeit begleiten. Paradox ist eben noch nicht paradox genug. Che ist einfach – mit einem Wort Michael Mierschs – vor lauter Niedlichkeit das Bambi der korrekten Gesinnung.

Zuletzt bleibt die bohrende Frage: Warum Che Guevara? Warum nicht Claus Schenk Graf von Stauffenberg? Hätte nicht er vor allen anderen den legitimen Anspruch, auf deutschen Brüsten stolz gedruckt und bügelfrei zu prangen? Käme nicht ihm, der sein Leben einsetzte, die Ehre – wenn es denn eine ist – zu, allüberall auf Postern und Plakaten weiterzuleben? Was hindert einen solchen Kult? Daß er nicht verlaust durch den Kongo und den Dschungel Boliviens einem Wahn hinterherjagte? Daß er nicht unrasiert starb? Daß seine Uniform falsche Assoziationen weckt? Daß er nicht medizinisch kunstgerecht wie der gelernte Arzt Che Guevara Hinrichtungen vollzog und Scheinhinrichtungen inszenierte? Daß er nicht Zuckerrohr schlug? Daß sich Andreas Baader und Gudrun Ensslin nicht auf ihn beriefen? Daß sein Tyrannenmord misslang?

Es steht zu fürchten, es ist dies: Stauffenberg war eben der konsequente Individualist, der Anti-Kollektivist und der Mann, den nicht die aberwitzige Idee trieb, uno actu gleich die ganze Welt zu retten. Er wollte einfach nur heldenmutig einen ganz konkreten Irrsinn beenden. Und damit war er eindeutig. Für den dauerhaften Nachruhm in einer politischen Religion ist aber gerade dies hinderlich. Denn wahre Glaube braucht nun einmal das Uneindeutige, Unfassliche, das Widersprüchliche, Groteske, Paradoxe: credo quia absurdum est! Auf der Party sollte es später dann noch Cocktails geben. Ob sich die selbstgewissen Pazifisten auch cuba libre mischten, habe ich nicht mehr mitbekommen.

Literatur: Stephan Lahrem – Che Guevara, Ffm 2005, m.w.N.

Politisch korrekt sein wollen

von Carlos A. Gebauer

Es gibt Menschen, die wollen nicht nur das Gute. Sie wollen das Beste. Um es zu erreichen, sind sie zu allem bereit. So reicht ihr Einsatzwille bis hin zum gemeinschaftlichen Abbrennen von Haushaltskerzen – für den guten Zweck! Und genau da beginnt das nächste Problem: Aus dem Docht solcher Kerzen nämlich steigen oftmals Dämpfe auf, die giftig sind. Brauchen wir also eine Feinstaub-Regelung für Demonstrationskerzen? Oder erscheint eine Pflicht zum Tragen von Gasmasken als das geeignetere Mittel?

Kritiker werden einwenden, dass jedes Maskentragen mit den bekannten versammlungsrechtlichen Regeln über das Vermummungsverbot kollidiert. Aber: Drohen Gewalttaten aus einer anonymen Gruppe kerzenhaltender Philanthropen, wenn diese sich – klischeekonform – vor einer Kirche versammeln? Eher werden doch katholische Demonstranten ihrerseits des weiteren staatlichen Schutzes durch Umweltgesetze bedürfen, wenn erst öffentlich die Feinstaub-Risiken des liturgischen Weihrauch-Einsatzes zur Diskussion gestellt sind. Haben nicht asthmatische Gläubige ein Anrecht auf die rauchfreie Kirche?

Vor einiger Zeit war ich Zeuge eines Konfirmationsgottesdienstes, in dem der Pfarrer seine Aufforderung, sich zum Gebet zu erheben, stets sofort mit der Ergänzung verband „… sofern Sie hierzu gesundheitlich in der Lage sind“. Nur konsequent, bot er auch anwesenden anonymen Alkoholikern an, ihm bei der Abendmahlfeier einen „dezenten Wink“ zu geben; dann werde anstelle des Weines – selbstverständlich vorgehaltener – Traubensaft gereicht.

Rücksichtnahme schmückt also. Sie ist politisch korrekt! Und so ist nur ein kleiner Schritt zur atemluft-optimierten Andacht, wenn erst die Mittelgänge katholischer Kirchen zur weihrauchfreien Zone erklärt würden. In Analogie zu jener medial berühmt gewordenen Düsseldorfer Hauptverkehrsstraße ließen sich die Gänge aller Gotteshäuser „Corneliusstraße“ nennen. Und das am besten gleich konfessions- und glaubensübergreifend. Denn eine einzelne Leitkultur alleine wäre ja bekanntlich alles andere als – politisch korrekt!

Im Gegenteil. Durch den Respekt vor fremden Religionen erweist sich erst wahrhaft, ob wir es mit dem Willen zu bedingungsloser politischer Korrektheit auch wirklich ganz erst meinen. Gerade uns Deutschen ist vor dem Hintergrund unserer besonderen Vergangenheit hier großer Ernst abverlangt. Unvergessen etwa ist: Joschka Fischer, der Professor aus Princeton, erwies sich als ein Beherrscher des schwierigsten Parketts, als er in das Gedenkbuch von Jad Waschem die mahnenden Worte Richards von Weizsäcker schrieb „Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart“. Der SPIEGEL stimmte ihm zu und zitierte seine Worte in der Ausgabe vom 2. Juni 2002 wörtlich (Heft 23/2002, S. 36). Alles schien ganz politisch korrekt.

Doch pikanterweise hatten weder das Auswärtige Amt, noch auch die Redaktion des SPIEGEL beachtet, dass just dieser Satz Richards von Weizsäcker bei einem führenden Vertreter der amerikanischen Juden wenige Jahre zuvor auf den schärfsten Protest gestoßen war. Alan M. Dershowitz, der Strafverteidiger und Professor aus Harvard, hatte – wie er in seiner schon 1995 erschienenen Autobiographie mit dem Titel „Chuzpe“ berichtet – alle Anstrengungen unternommen, die Verleihung der Ehrendoktorwürde an Richard von Weizsäcker in Harvard zu verhindern. Wortmächtig warf er ihm dabei gerade diesen von Fischer zitierten Satz und den Umstand vor, seinen Vater in den Nürnberger Prozessen verteidigt zu haben.

Dem Betrachter drängt sich angesichts dessen die bohrende Vermutung auf: Der Versuch, um alles in der Welt stets nur das abgesichert politisch Korrekte sagen zu wollen, scheint in Anbetracht der schieren Masse von berücksichtigungsfähigen Kriterien schlechterdings immer zum Scheitern verurteilt. Die Totalrücksichtnahme gleicht dem Bestreben, es allen recht machen zu wollen – und also einem in Wahrheit unmöglichen Unterfangen. Selbst Alan M. Dershowitz könnte sich fragen lassen müssen: War weiland die strafrechtliche Mitverteidigung von O.J. Simpson unter wirklich allen Gesichtspunkten „O.K.“?

Mit welcher Konsequenz jenes Bestreben, im Namen des Guten das Gute und das Beste in die Welt zu bringen, bisweilen umgesetzt wird, erweist ein spannender Blick in die Heilige Schrift höchstselbst. Im zweiten Buch Samuel, Kapitel 12, Vers 31 lesen wir – sofern wir ältere Ausgaben zur Hand nehmen – über die Eroberung der Stadt Rabba durch den König David die entsetzlichen Sätze: „Aber das Volk drinnen führte er heraus und legte sie unter eiserne Sägen und Zacken und eiserne Keile und verbrannte sie in Ziegelöfen.“ Dann plötzlich – in jüngeren Ausgaben – heißt es hier nur noch: „Aber das Volk darin führte er heraus und stellte sie als Fronarbeiter an die Sägen, die eisernen Pickel und an die eisernen Äxte und ließ sie an Ziegelöfen arbeiten.“

Es bedarf nicht im Ansatz eines Kommentares, warum die Übersetzer der Deutschen Bibelgesellschaft ihre Basisausgabe zwischen 1957 und 1984 in dieser Weise modifiziert haben. Kann aber – umgekehrt – das hehre Bestreben, politisch unter allen Umständen nicht unkorrekt sein zu wollen, derartige Eingriffe in historische Texte tatsächlich rechtfertigen? Was würde Martin Luther dazu gesagt haben? Hätte er vor dem Text gestanden und auch nicht anders gekonnt? Welche Kriterien können verbindlich sein, um politisch korrigierende Eingriffe in historische Quellen zu legitimieren? Indem man nach Antwort sucht, ob für solche Berichtigungen nicht auch das zitierte Weizsäcker-Diktum von der Vergangenheitsvergessenheit gilt, keimt schon die nächste bange Frage auf: Was, wenn auch der berichtigte Text selbst in den vergangenen Jahrtausenden – aus uns unbekannten Gründen – irgendeiner politischen Korrektur unterzogen worden war?

Die derzeitigen Bemühungen, alle und jede Lebensumstände der Bürger in Deutschland und Europa immer korrekter und noch korrekter gestalten zu wollen und hierbei keinen noch so großen legislativen und exekutiven Aufwand zu scheuen, lassen jedenfalls Interessantes erwarten. Man mag sich beispielsweise fragen, wie lange die alttestamentarischen Regeln über reine und unreine Tiere noch in der bisherigen Fassung aufrecht erhalten werden können:

„Alles, was gespaltene Klauen hat, ganz durchgespalten, und
wiederkäut unter den Tieren, das dürft ihr essen. …
Alles, was Flossen und Schuppen hat im Wasser, im Meer und in den
Bächen, dürft ihr essen. … Und diese sollt ihr
verabscheuen unter den Vögeln, dass ihr sie nicht esst, denn ein
Gräuel sind sie: den Adler, … das Käuzchen, den Schwan,
den Uhu, die Fledermaus, die Rohrdommel … Doch dies dürft ihr
essen von allem, was sich regt und Flügel hat und auf vier Füßen
geht, was oberhalb der Füße noch zwei Schenkel hat, womit
es auf Erden hüpft.“

(3. Mose 11, 2-21).

Wann kommt hier eine Ergänzung zu den lebensmittelrechtlichen Vorschriften bei der öffentlichen Schulspeisung in überkonfessionellen Ganztagsschulen, die von Kindern alleinerziehender Mütter besucht werden? Warum schweigt die Bibel noch zu Alkopops?

Nach allem dürfe klar sein: Es gibt nur eine einzige, wirkliche politische Korrektheit, die funktionstüchtig, gangbar und erstrebenswert ist. Es ist dies die Maxime, den anderen respektvoll in seinem Sosein zu akzeptieren und ihm nicht fremde Wertmaßstäbe aufzunötigen.

Wer demgegenüber politische Korrektheit definieren und gegen andere durchsetzen will, der verhält sich schon alleine deswegen selbst nicht mehr politisch korrekt, weil er diese Grenzen verletzt. Und weil er sich eine Aufgabe stellt, angesichts derer Größe er bald unter ihrer Komplexität zusammenbrechen wird.

Justiz intern

von Carlos A. Gebauer

Die Präsidentin des Landgerichtes E. ist eine Frau mit Perspektiven. Sie möchte vorankommen und Präsidentin des Oberlandesgerichtes K. werden. Hierzu brauchte sie ein Zeugnis ihres Dienstvorgesetzten, des Oberlandesgerichtspräsidenten aus H. Der schrieb ihr ein – wie die regionale Presse weiß – im Grunde hervorragendes Zeugnis. Leider aber endete er mit der Bemerkung, sie wäre illoyal, habe kein Zeitmanagement und es ermangele ihr an Wahrheitsliebe.

Weil nun Außenstehende diese Formulierungen vielleicht dahin deuten könnten, die Präsidentin sei chaotisch und lüge bisweilen, sah sie sich zur Verteidigung gezwungen. Nicht zuletzt drohte ihr auch der Verlust des angestrebten Amtes, nämlich dann, wenn dieses von dem mitbewerbenden Präsidenten des Landesjustizprüfungsamtes D. errungen würde.

Sie tat also, was zu tun ist, und klagte bei dem zuständigen Verwaltungsgericht G. gegen das ihr erteilte Zeugnis. Die angerufenen Richter des Verwaltungsgerichtes ihrerseits taten, was geboten war, und erhoben den schwierigen Beweis über die Frage von Lüge und Wahrheit.

Im Kern gab es differierende Erinnerungen zweier Herren über den Inhalt eines bestimmten Gespräches. Der eine Teilnehmer dieses Gespräches war just jener Präsident, der das streitige Zeugnis abgefaßt hatte. Der andere Herr war ein Mitarbeiter des Landesjustizministeriums. Weil die Herren beharrlich Verschiedenes bekundeten, sah sich das Verwaltungsgericht genötigt, beide mit ihren Erklärungen unter Eid zu nehmen. Denn der zeugniserteilende Präsident hatte schließlich ein gewisses eigenes Interesse, sich nicht mit seinem eigenen Tun in Widerspruch zu setzen. Dies kann erfahrungsgemäß die Wahrheitsliebe schmälern. Desgleichen sahen die Verwaltungsrichter Anlaß, auch den Herrn aus dem Ministerium besonders genau zu befragen. Denn er ist der Lebensgefährte der sich um berufliches Fortkommen bewerbenden Frau Präsidentin. Und auch dies ist bekanntlich zuweilen der Wahrheitsliebe nicht förderlich.

Die dann unter dem Schwur erklärten Erinnerungen über das streitige Gespräch wichen wohl immer noch voneinander. Daher drängte sich für die Beteiligten ein Verdacht auf. Und der hieß, einer der beiden muß die Unwahrheit gesagt, im Volksmund: gelogen haben.

Was also konnte nur die Konsequenz dieser Zeugenvernehmung und ihres Ausganges sein? Die Akte bekam jetzt – wie es Juristen in ihrer blumigen Sprache gerne umschreiben – einen roten Deckel, das heißt: Es ermittelt nun die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachtes der eidlichen Falschaussage.

Als ich meinem Nachbarn all dies erzählte und ihm berichtete von den Germanen, die unter Eichen sitzend reimten „Aus dreier Zeugen Mund wird stets die Wahrheit kund!“, da erboste er sich über die Justiz. Das, meinte er, könne doch wohl alles nicht wahr sein. Ich aber beruhigte ihn: Ist es nicht im Gegenteil gleichermaßen schön wie beruhigend, zu sehen, daß auch bei der Justiz richtige Menschen arbeiten?

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