Onkologische Fastnacht – Verdi bringt Tumordruck auf die Straße

von Carlos A. Gebauer Sie haben ein Krebsgeschwür? Es muß operiert werden? Die Schmerzen sind hoffentlich nicht zu heftig? Denn an Karneval kann dieses Jahr leider nicht operiert werden. Unsere Onkologie hat nämlich – Helau! – geschlossen. Karnevalsbedingt. Oder genauer gesagt: Nicht wirklich karnevals-, sondern gewerkschaftlich bedingt. Die Solidarität zwingt zu dieser Maßnahme. Und das kommt so: Das Personal unserer Krankenhäuser arbeitet schon heute für vergleichsweise geringes Entgelt. Alleine der persönliche Antrieb, den Schwächsten Hilfe zu leisten, hält viele Mitarbeiter noch an ihren Arbeitsplätzen. Gegen diesen mißlichen Umstand erhebt sich nun zunehmend Protest. Und – wie kann es anders sein – wo kollektives Unbehagen wächst, da sind die gewerbsmäßigen Wortführer im trillerpfeifenden Plastikfrack nicht fern. Aus ihren imposanten Zentralen eilen sie wortgewandt herbei, um zur Maximierung des eigenen Profites lautstark die Stimme zu erheben. Den Schwestern und Pflegern müsse beigestanden werden, sagen sie. Und wie üblich ist ihre Medizin gegen jedwede Form der gesellschaftlichen Erkrankung auch hier: Der Streik! Nun aber kollidieren in diesem besonderen Falle zwei äußerst gegenläufige Solidaritätspflichten der Krankenhausmitarbeiter gegeneinander. Die eine Pflicht ruft zur Hilfe gegen den Schmerz. Die andere fordert – von den Protestexperten der Gewerkschaftszentralen pfiffig formuliert – den tariflichen Kampf gegen täglich 18 Minuten Mehrarbeit. Würde jeder Angestellte einer Onkologie künftig Tag für Tag diese 18 zusätzlichen Minuten ableisten, entfiele für einen möglichen Bewerber auf den Job vielleicht die Chance, dort ebenfalls die Arbeit tätiger Nächstenliebe zu entfalten. Das, sagen die stets versierten nationalökonomischen Umverteilungsexperten der Gewerkschaft, gilt es zu verhindern. Offenkundig aber leiden die tariflichen Vertreter der Arbeitgeberseite derzeit nicht persönlich an einer schmerzhaften Krebserkrankung. Also müssen zwangsläufig die tatsächlich Leidenden – sozusagen in einem solidarischen Akt eigener Art – ihren Ärzten und Krankenpflegern kurzfristig unter die weißen Arme greifen, um zur Verwirklichung des listigen Gewerkschaftsplanes effektiven Verhandlungsdruck auszuüben. So kann der Tumorschmerz des Bettlägerigen mit seinen entgleisten Blutwerten zum ungekannt effektiven Druckmittel im Verteilungkampf um steigende Entlohnungen werden. Die Begeisterung über die Effektivität eines Kampfmittels trübt allerdings zuweilen den Blick für die Angemessenheit seines Einsatzes. Dies verbindet kriegerische Auseinandersetzungen im Allgemeinen mit tariflichen im Besonderen: Plötzlich fragt niemand mehr, wogegen eigentlich gekämpft wird, weil der einmal aufgenommene Streik so erfreulich eigendynamisch an Fahrt gewinnt. Niemand will noch wissen: Ist eigentlich nur die zu geringe Entlohnung unseres Krankenhauspersonals das Problem, das es zu lösen gilt? Oder stellen sich uns noch ganz andere Fragen im überbürokratisierten Hospital? Im damit inszenierten Gewissenskonflikt zwischen DGB und EKG werden sich manche gewerkschaftlich organisierte Pflegekräfte zunächst noch unwohl gefühlt haben. Denn das Grundverständnis vom Sinn der eigenen Arbeit war ja ursprünglich ein Tätigwerden gegen das konkrete Leiden des Nächsten. Die Instrumentalisierung des Schmerzes zur Druckerzeugung auf Arbeitgeber im persönlichen Profitinteresse war der Vorstellung deutschen Krankenhauspflegepersonals bislang eher fremd. Doch die professionellen Tarifkampfexperten wissen Trost: Die Geschichte, sagen sie, habe oft gezeigt, wie segensreich es sei, kleine Nahziele zugunsten großer Fernziele aus dem Blick zu nehmen. Was also ist – „in the long run“ – ein kleiner Fieberschock des Nichtoperierten im Vergleich zum Glück eines Kindes, dem sein Papi jeden Tag schon um 21.42 Uhr, statt erst um 22.00 Uhr gehört? Das volkspädagogische Vermitteln ethischer Grundabwägungen war stets eine Kernaufgabe aller gewissenhaften Arbeitnehmerführer. Während des Streikes sollte demnach für alle Operationssäle gelten: „Wolle mer se reilasse?“ – „Nö!“ Und ergänzend wird an die Adresse der noch zweifelnden Streikenden entlastend erklärt: Ein Notdienst sorgt für die „wirklich Kranken“, vorausgesetzt, sie befinden sich – no risk, no fun – in echter Lebensgefahr. So hätte also der Rosenmontag des Jahres 2006 streikbedingt zum intensivstationären Arbeitskleiderschontag werden können. Doch er wurde es nicht. Denn rechtzeitig zur Altweiberfastnacht setzten die hochmotivierten Verdi-Kämpfer das Schlachtgeschehen plötzlich aus. In einem beispiellosen Akt unternehmerischer Verantwortung gegenüber den eigenen Streikkassen wurde der Arbeitskampf über die betrieblich seit jeher eingeübten Karnevals-Urlaubstage ausgesetzt. Die Streikpostinnen wechselten ihr tütenbuntes Verdi-Gewand in das Kostüm des Funken-Mariechens und tauschten die Trillerpfeife gegen ein grelles Plastik-Posäunchen – wir schunkeln uns durch die Friedenspflicht und der Streik wird nicht allzu wild. So konnte der karge Arbeitslohn vorübergehend wieder ebenso verläßlich aus den üblichen Arbeitgeberkassen fließen, wie das Blut aus den nicht gewickelten Wunden eines Multimorbiden. Wehe also dem, der kein Notfall im Sinne der streiktaktischen Spielregel einer „wirklichen Krankheit“ ist. Oder der es nicht sagen kann. Wen aber könnte ernsthaft beruhigen, daß aus jedem Schwerkranken automatisch ein Notfall wird, wenn man ihn nur lange genug sich selbst überläßt? Die heroische List der flächenparitätischen Bedingungsaushändler, den Ausnahmezustand des Arbeitskampfes während der närrischen Ausnahmetage gegenausnehmend auszusetzen, um ihn anschließend konfliktstrategisch optimiert wieder nahtlos fortzusetzen, schont aber nicht nur die gewerkschaftlichen Rücklagen. Indem die beurlaubten Streikposten es ihrem Fleische nämlich – carnem vale! – gutergehen lassen können, ohne – carnem lavere – das kranke Fleisch der bestreikten Leidenden waschen zu müssen, erhöht sich zugleich ausnahmslos der Druck auf die Verhandlungspartner, die materiellen Verhältnisse zwischen steuerzahlenden Kranken und öffentlich Bediensteten weiter – streikseidank – in Richtung Verdi zu verschieben. Wer die also unterschätzt, der muß seine Geschwulst künftig selber entsorgen. Und diese Botschaft ist in einem Maße deutlich, daß niemand mehr wage zu fragen, ob es denn überhaupt die zur Mißstandsbeseitigung richtige sei. Mehr noch: Wenn der Vorsitzende des Bundesverbandes der Universitätsklinika mit den Worten zitiert wird, es sei „ethisch bedenklich“, Schwerkranke streikbedingt nicht zu behandeln, so weht nicht nur der Hauch des Todes durch die Krankenzimmer. Die offenkundige Furcht, Mord und Totschlag offen Mord und Totschlag nennen zu wollen, weht auch den Hauch der Rechtlosigkeit über dieses bemerkenswerte Amalgam aus Macht, Arbeit und Gesundheit. Ob Du also leidest oder nicht, ob Du lebst oder nicht, das entscheidet die Gewerkschaft, nicht Dein Arzt. So zügellos ist eben die traditionelle Umwertung aller Werte im Karneval, sonst würde es auch kaum Spaß bereiten: Der König des Volkes bestimmt die Richtung. Und wer unter dem Aschekreuz beerdigt werden muß, weil ihm medizinische Hilfe während der onkologischen Fastnacht nicht angedieh, der konnte wenigstens in der Illusion sterben, sein Leben für einen guten Zweck zu geben. Denn der solidarische Kampf gegen das So-Sein der vorgefundenen Welt und für die materiell verbesserte Freiheit aller Werktätigen darf vor den Toren unserer Hospitäler keinen Halt machen. Wir haben schließlich nicht zuletzt von der Arbeiterbewegung gelernt: Gesundheit ist keine Ware wie jede andere! Die Besinnlichkeit des Fastens nach dem Fasching muß allerdings verhindert werden. Je imposanter der Streik und je greller die Farben, desto geringer bleibt die Gefahr, daß die breite Mehrheit in sich geht und nach den tatsächlichen Ursachen der Probleme fragt. Marschrichtung und Rhythmus müssen volkswirtschaftlich zentral gesteuert und politisch beherrscht vorgegeben werden. Die gewerkschaftliche Geschichtsschreibung soll möglichst auch vor dem enthemmten Volke noch so planvoll voranschreiten wie ein richtungsweisender Tamborin-Major dem Spielmannszug. Zuletzt bleibt die böseste aller Einsichten: Die führenden Protest-Profis von Verdi reisen zurück in ihre Zentralen. Aus der Krankenschwester haben sie einen Streikposten im Plastikrock, eine das Rathaus erstürmende Möhne und zuletzt wieder eine Soldatin im Arbeitskampf gemacht. Tapfer und mit bester Überzeugung hat die Schwester ein Gewand nach dem anderen getragen, im guten Vertrauen auf ihre Vertreter und darauf, selbst das Gute und Richtige zu tun. Im Ergebnis aber ist nur ihre Arbeit liegen geblieben, haben Kranke gelitten, wird sie beschimpft von der Öffentlichkeit und steigt ihr Lohn zuletzt doch nicht, weil die Gesellschaft – und folglich auch die arbeitgebende öffentlichen Hand – schlicht pleite sind. Verdi also hat unbarmherzig Flagge gezeigt und ist unverrichteter Dinge aus dem nach wie vor überverwalteten Krankenhaus abgereist. Verlierer sind das verkaterte Krankenhauspersonal und die todgeweihten Patienten. Schade. Aber: Tumor ist, wenn man trotzdem lacht. Helau! „Wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt und dadurch dem Vermögen des Genötigten oder eines anderen Nachteil zufügt, um sich oder einen Dritten zu Unrecht zu bereichern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. … Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter gewerbsmäßig oder als Mitglied einer Bande handelt, die sich zur fortgesetzten Begehung einer Erpressung verbunden hat.“ (§ 253 Abs. 1, 4 Strafgesetzbuch)

Sonne, Mond und Praxisgebühr

von Carlos A. Gebauer

Wissen ist das Gegenteil von Irren. Folglich müssen Wissensgesellschaft und Irrtumsgesellschaft enger miteinander verwandt sein, als wir oft glauben. Mit anderen Worten: Weil Irren genauso menschlich ist wie Wissen, irren bisweilen alle Menschen – vielleicht sogar manchmal ich.

All dies zu wissen, fand ich irrsinnig interessant. Und ich beschloß, der Sache näher auf den Grund zu gehen. Was mich beschäftigte, war: Sind es immer neue Irrtümer, die die Menschen befallen, oder gibt es möglicherweise eine Art klassische Kategorie von Denkfehlern, die immer wieder begangen werden? Auf der Suche nach tiefschürfender Erkenntnis griff ich zum ältesten Buch meiner Bibliothek. Und ich erfuhr Unglaubliches.

Die Älteren von uns erinnern sich vielleicht noch: Früher glaubte man, die Erde sei eine Scheibe. Über dieser Scheibe war demnach eine gigantische Art Leinwand gespannt – das „Himmelszelt“ – an der (oder über der) sich das alltägliche Wechselspiel von Sonne, Mond und Sternen ereigne.

So beobachtete man jahrhundertelang den Lauf der Sterne in ihren Kreisbahnen auf dem Himmelszelt. Bis eines Tages irgendjemand lamentierte, daß diese Kreise nicht wirklich rund wären. Ein anderer meinte, die Himmelskörper flögen nicht wirklich konsequent geradeaus. Sondern sie hätten augenscheinlich bisweilen die Idee, ein Stück zurück zu fliegen. Und wirklich taten die Planeten nicht ständig das, was man von ihnen erwartete.

Da begannen die Menschen zu streiten über den Gang von Sonne, Mond und Sternen. Niemand bei dem Streit zog allerdings in Betracht, daß der Ausgangspunkt falsch sein könnte, wonach die Erde stets im Mittelpunkt von allem stünde. Denn allen war klar, daß sich die Sonne um die Erde, nicht aber die Erde um die Sonne drehen müsse. Mindestens gab es niemand öffentlich zu. Was man statt dessen tat, war: Man „verbesserte“ die Theorie und erfand sogenannte „Hilfszirkel“. Nach wie vor ließ man also – in der Theorie – die Himmelskörper um die Erde kreisen, dichtete ihnen aber an, sie beschrieben auf ihren Kreisbahnen lustige kleine Zusatzrotationen. Teilweise bis zu 80 und mehr pro Planet. Mit diesen Hilfszirkeln blieb das Dogma unangetastet und trotzdem schien eine Erklärung für die merkwürdigen Hin- und Herbewegungen der Planeten gefunden. Alles in allem ein stolzes Projekt, mit tragisch verbrannten Himmelskundlern, entzürnten Gottesdienern und nicht zuletzt dem weltberühmten Widerruf Galileis. Spät erst löste dann das heliozentrische Weltbild das geozentrische ab.

Diese geradezu interstellare Geschichte näherte mich wieder dem Gedanken, ob es nicht doch Kategorien klassischer Irrtümer gebe. Wer nicht bereit ist, den Grundfehler seiner Erklärungsversuche für die Welt zu erkennen und zu beseitigen, der muß sich notwendigerweise immer tiefer verheddern in Reparaturanstrengungen seines Modells.

Plötzlich sah ich unser deutsches Gesundheits-System in ganz anderem Licht. Dort nämlich herrscht auch ein Dogma: Das Dogma des Sachleistungsprinzipes und also das Dogma der Geldlosigkeit. Ärztliche Leistungen dürfen für Patienten kein Geld kosten, weil Geld – so der Glaube – medizinisch ungerecht sei. Folglich wird geldlos mit Versichertenkarten „bezahlt“. Doch irgendwie funktioniert es seit jeher nicht. Aber niemand wagt, das Dogma anzutasten. Nur ein Hilfszirkel wird konstruiert, zuletzt etwa: Die Praxisgebühr. Es bleibt abzuwarten, wann das Geldlosigkeits-Dogma offiziell fällt. Die katholische Kirche hat immerhin schon 1984 zugegeben, daß sich die Sonne nicht um die Erde dreht.

Musikalische Früherziehung – eine autobiographische Skizze

Nach zwei Jahren musikalischer Früherziehung amstädtischen Keyboard glaubte ich das Ende meiner Ausbildungerreicht. Doch die Sicherheit war trügerisch. Nach den Sommerferiensollte ich mir ein eigenes Instrument wählen. Aus Gründen, die mirnoch heute, 37 Jahr später, schleierhaft sind, erkor ich mir dieGeige. Es war der Beginn einer schier endlosen Feindschaft.

Ich habe meine Geige gehaßt.Messerscharfe Stahlsaiten schnitten sich unerbittlich in mein zartes,fünfjähriges Fingerfleisch. Meine Schulter war verdreht, der linkeArm blutleer und schmerzte. Im Stehen vor dem Notenpult schienen dieFüße in meinen Schuhen zu kochen. Aufstaubendes Kolophonium wehteätzend in meine tränenden Augen. Das Notenbild verschwamm und dieerzeugten Töne klangen jämmerlich. Um während des Unterrichtesunauffälliger auf die Uhr schauen zu können, wechselte ich dasArmband-Handgelenk von links nach rechts zur Bogen-Hand; dort istmeine Uhr immer geblieben. Freunde spielten unterdessen Fußball oderTennis. Andere prügelten auf E-Gitarren oder Schlagzeugen herum. Ichhatte Geige zu üben. Nie mehr in meinem Leben waren täglichedreißig Minuten so lang, wie damals.

Noch heute habe ich Zweifel, ob derbildungsbürgerliche Klassiker des Geigelernens nach der Umsetzungder UN-Menschenrechtskonvention in nationales Recht überhaupt vomelterlichen Erziehungsrecht gedeckt ist. Müßte nicht dervorsätzliche Geigenunterricht zum Nachteil von Fünfjährigen ebensowie das Anstiften zu demselben verboten sein?

Weil ich in Demut und Manneszuchtdas volle Früherziehungsprogramm der Musikschule über mich hatteergehen lassen müssen, gehörte ich zu den Privilegierten. Dieprivilegierten Fünfjährigen durften nicht nur einmal wöchentlichdreißig Minuten zum Unterricht erscheinen, sondern (weil sie japrivilegiert waren) zweimal wöchentlich. So also brachte meineMutter mich jeweils dienstags und donnerstags zur Musikschule. Diesezunächst zufällig festgesetzten Unterrichtstage habe ich mir späterjahrelang – statt montags und mittwochs – erhalten. Denn in denSommermonaten fallen weitaus mehr Feiertage auf Donnerstage, als aufMontage!

Trotzdem: Gegen meinen größtenWiderwillen und ungeachtet meines stets und wiederholt förmlicherhobenen Protestes chauffierte meine Mutter mich uhrwerksgleichzweimal wöchentlich zu meinem Unterricht. Noch heute sind – beiklarem Wetter und günstiger Beleuchtung – in denKreuzungsbereichen zwischen Jülicher Straße und Essener Straßesowie im gegenüberliegenden Abzweig der Collenbachstraße diebogenförmigen Kratzspuren meiner Fingernägel im sommerwarmenAsphalt sichtbar, die bei dem steten Versuch entstanden, demUnterricht durch eine gewisse körperliche Verhakung in derFahrbahndecke zu entgehen.

So gingen die Jahre dahin. Ich litt.Meine Eltern litten. Meine Geigenlehrer litten, der erste, der sichacht Jahre meiner linken Hand annahm ebenso wie der zweite, dersieben Jahre meinen rechten Arm erzog. Eines Tages, hieß es, würdeich meinen Eltern dankbar sein. Zeugen wurden aufgeboten. Solche, diedie Qualen ertragen hatten und jetzt voller Glück und Erfüllung einInstrument spielten. Und solche, deren Eltern nachgegeben hatten unddie deswegen nun tagtäglich Höllenqualen wegen ihrer Kapitulationerlebten. Damals ahnte ich noch nicht, dass es aus der Sicht nureiner einzigen Generation später ein grenzenloses Privileg gewesensein würde, noch eine Nurhausfrauvollzeitmutter unter derRückendeckung eines präsenten Vaters mit Kraftressourcen für einenderartigen Kampf gehabt zu haben.

Noch immer spielten aber alleFreunde draußen. Fußball. Tennis. Golf. Andere gingen surfen oderparaglitten durch die Lüfte. Die meisten verbrachten ihre Freizeitbeim Drachenfliegen oder fuhren nachmittags rasch zum Ski nach St.Moritz. Ich stand alleine in meinem kleinen Zimmer zu Hause undgeigte. Immer abwechselnd eine Etude und ein Konzert. Ein Konzert undeine Etude. Eine Etude und ein Konzert.

Dann kam es zu dieserkopernikanischen Wende. Zehn Jahre, nachdem ich erstmals eine Geigeberührt hatte, geschahen zwei geradezu metaphysische Wunder, zweiEreignisse, die meine Welt für alle Zukunft auf das Schwersteerschüttern sollten. Der erste dieser Einschnitte ereilte mich ganzunverhofft und unerwartet an einem Mittwoch, gegen 17.58 Uhr. Ichstand mit meiner Geige am Fenster und bewegte wie stets den Bogenüber die Saiten, als plötzlich das Unfassbare geschah: Ich hörteeinen wohlklingenden Ton. Und er kam aus meinem eigenen Instrument!Ich versuchte es wieder und wieder. Und es wiederholte sich. Da warder erste Keim von Musik. Von Melodie. Von Harmonie. Da war das,wovon mir erzählt worden war: Mit dieser Geige kann man Musikmachen!

An diese Welterschütterung schloßsich das zweite Ereignis an: Die Einladung, in meinem Schulorchesterzu Weihnachten mitzuspielen. Ich sagte zu – und es machte Spaß?!

Nun überschlugen sich dieEreignisse. Meine Eltern gaben erste Signale, dass sie nicht weiterauf der Durchführung von Violinunterricht bestehen würden. Ich seinun, sagten sie, „groß genug, um selber zu entscheiden“.Mit dem Fortfall des Zwanges, zu geigen, entstand sogleich der Wille,zu spielen. Und dann bot sich auch noch die Gelegenheit, in dasDüsseldorfer Jugendsinfonieorchester von Viktor Arnolds einzutreten.Welch’ ein sagenhaftes Glück!

Meine Freunde mussten auf denStraßen noch nach Lederbällen treten oder kleinen Filzkugelnhinterherjagen, ihre Skisachen waren immer wieder zu klein oder zukaputt oder das Gleitschirmsegeln wurde ihnen zu teuer. Mir taten sienur leid. Denn ich hatte meine Geige. Und vor allem: Ich hatte meinJugendsinfonieorchester!

Niemals später in meinem Leben istmir eine Woche wieder so lang vorgekommen, wie die zwischen zweiFreitagen, an denen geprobt wurde. Wer es nicht erlebt hat, kannnicht ermessen, welches Wohlgefühl und welche Wonne es bereitet, mithundert anderen zusammen die Mühen einer Symphonie auf sich zunehmen, sie einzustudieren, die eigenen Grenzen zu erspüren, zuscheitern und wieder neu zu versuchen, zu justieren und zu üben,vorzubereiten und endlich in einer mit Worten nicht zu beschreibendenKlangwolke aufzugehen, die sich mächtig erhebt, davonträgt undallesamt gemeinsam schweben läßt.

Zusammenhalt, Zusammenspiel,Zusammenwirken und Zusammensein. Diese Kombination hat mir unsagbarschöne Jahre in diesem Jugendsinfonieorchester beschert. Und oftsitze ich heute in meinem Büro, die Augen auf streitige Prozessaktengerichtet, das Hirn voller Zank und Ärger und Konflikt. Dann denkeich an die fast grenzenlose Harmonie in diesem Orchester zurück. Unddie Erinnerung macht mich froh. Ich sehe mich mit zwei PalettenWeißblechdosen durch das nächtliche Jerusalem laufen, um die immerdurstigen Blechbläser mit Bier zu versorgen. Vor meinen Augenentsteht die Erinnerung an einen sagenhaft tiefblauen Sternenhimmelüber Lissabon, unter dem wir in einer dachlosen Kirchenruine die„Meistersinger“ schmettern. Ich spüre noch deutlich meineErschütterung im Geigen der Beethoven’schen fünften Symphonieneben den Trümmern der Kathedrale von Coventry. In Gedanken schleppeich wieder Guinness-Dosen durch einen belgischen Überlandzug, aufder Suche nach einem kleinen Frühstück für meine pelzige Zunge. Im4. Stock der Linzer Jugendherberge stehe ich eingeseift unter derDusche, deren morgendlicher Strahl langsam unter den erwachendenMitspielern auf den Etagen 1, 2 und 3 erstirbt; hat jemals einer dieachte Bruckner mit Resten von Shampoo in den Haaren gegeigt? WievieleMenschen mögen weltweit nach einem harten Reise- und Konzerttag ineinem Schlafsack auf einem Münchner Turnhallenboden unterBasketballkörben geschlafen haben und von einem ab-so-lutunzurechnungsfähigen Cellisten morgens um 6.04 Uhr mit einer schräggekratzten Etude geweckt worden sein? Aber es war all dies wert: Dennder Bach-Klang eines Orchesters von 1200 Musikern und 800 Choristenin der Olympiahalle, besonders das Unisono von 70 ersten Geigern, dasgeht nie aus meinem solar plexus. Nie.

Wer immer dieses Orchester geboren,gestillt, gewickelt und erzogen hat; wer immer es groß und größermachte und wer immer es weiterführen wird: Ich danke ihnen allen vonganzem Herzen. Denn ein Jugendsinfonieorchester gehört mitSicherheit zu den sinnreichsten und wertvollsten Dingen, die wirMenschen auf dieser Welt überhaupt ins Werk setzen können. Undneben Viktor Arnolds, der große Teile seines Lebens auf dieseswunderbare Orchester verwandte, gilt der Dank ganz besonders all denEltern, die es auf sich nahmen, ihre Kinder auf diesen mühevollenWeg zu führen. Nur der unermüdliche Fleiß aller einzelnen und ihrfreiwilliges Zusammenwirken, das sich nicht auf die Mühen andererverlässt, lassen solch’ großartige Dinge entstehen. Vor lauterBegeisterung vergaß ich zuletzt sogar meine Feindschaft zu dieserGeige.

Die Implosionen des Als-Ob-Kapitalismus

Der Crash des amerikanischen Bankensystems rief sie auf den Plan. Es ist die Stunde der Besorgten, doch mehr noch die der Demagogen. Sie reden im Jargon der Experten und resümieren hart. Versagt habe der gierige Raubtierturbokapitalismus. Es sei daher endlich wieder Zeit für massive Regulierung, für weltweite politische Intervention. Die Untoten der Sowjetwirtschaft erheben sich aus der Asche ihrer eigenen Kernschmelze: Zurück zum Plan, zur Zwangsverwaltungswirtschaft! Am besten gesteuert durch Experten des Staates.

Hat aber wirklich der Kapitalismus versagt? Ist das Blubbern der Immobilien-, Kredit- und Finanzblasen ein Ausdruck kapitalistischen Wirtschaftens? Oder hätte nicht im Gegenteil wahrer Kapitalismus genau diese Blähungen verhindert? Vieles, wenn nicht alles, spricht dafür. Denn echte Kapitalisten wissen, daß Kreditgeld keine neuen Ressourcen schafft. Es leitet nur alte um. Zum Schaden aller, in the long run.

Das Weltfinanzsystem mit seinem ungedeckten staatlichen Papiergeld ist im Kern alles andere als kapitalistisch. Es ist ein rein politisches System. In immer neuen Konstruktionen versucht es zwar, die stets Wohlstand schaffenden Mechanismen des kapitalistischen Wettbewerbs zu imitieren. Es bleibt jedoch ein bloßer Als-Ob-Kapitalismus. Eine Fiktion, die sich beharrlich weigert, die Endlichkeit von Ressourcen zu akzeptieren, die Illusion, Reichtum auf Papier zu drucken. In unseren Taschen und auf unseren Sparbüchern besitzen wir Bürger alle nur das casinoartige Papiergeld eines weltweiten politischen Monopoly. Vor der eigenen Tür, in unserem Land, können wir es exemplarisch erkennen.

Die Macher unseres Geldes sitzen in den staatlichen Zentralbanken. Sie entscheiden über die Geldmengen, nötigenfalls Hand in Hand mit der staatlichen Finanzdienstleistungsaufsicht. Sie schürfen die wachsende Scheinressource des gedruckten Geldes. Mit ihren Zinsfestlegungen wollen sie den Takt geben, nach dem die Finanzwelt tanzt. Doch damit nicht genug. Auch die Verteilung der Scheinressource soll in diesem Konzert eine Aufgabe staatlicher Banken sein. Hierzu dienen wesentlich die Landesbanken. Sie treten zwar im Gewande von Aktiengesellschaften auf. Aber beherrscht werden auch sie politisch, von Sparkassenverbänden und Bundesländern. Das macht sie zu politischen Spielbällen, die IKB und KfW ebenso wie WestLB, NRW-Bank, Deka, Helaba, HSH, LBBW etc.

Wer aber sind nun eigentlich diejenigen, die sich in den und unter den Augen des Finanzministers jetzt so unverantwortlich verzockt haben? Wer gehört an den Pranger? Ein Blick auf den Verwaltungsrat beispielsweise des Milliardengrabes KfW muß jeden Verstaatlichtungs-, Enteigungs- und Regulierungsfreund auf das Schwerste erschüttern. Man kann nicht tiefer von dem verbreiteten, naiven Kinderglauben an eine gedeihlich funktionierende Staatsregulierung abfallen, als bei Lektüre seiner Besetzungsliste.

Was mag ein Gewerkschafter fühlen, wenn er sieht, daß Frank Bsirske, Michael Sommer, Claus Matecki und Franz-Josef Möllenberg die Aufgabe hatten, die Geschäftsführung und Vermögensverwaltung der KfW zu überwachen? Was denkt ein braver Sozialdemokrat, wenn er liest, daß Ludwig Stiegler, Heidemarie Wieczorek-Zeul, Matthias Platzek, Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier die größeren Kreditobligos der KfW genehmigen mußten? Was empfinden Christdemokraten, Bauern und Verbraucher wenn sie hören, daß Gerhard Sonnleitner, Roland Koch, Michael Glos und Horst Seehofer dem Jahresabschluß der KfW zustimmen mußten? Zu ihrer eigenen Seelenruhe sollten sich Sparer in Sarkasmus flüchten. Denn wenn sich Peer Steinbrück und Oskar Lafontaine in Kapitalismuskritik überbieten, dann wettstreiten sage und schreibe zwei weitere Mitglieder eben dieses KfW-Verwaltungsrates miteinander.

In der schönen neuen Welt des Staatskapitalismus kann niemand seriös glauben, freier Tauschverkehr unter Bürgern entfalte destruktivere Kräfte als das politische Finanzcasino der überforderten Bankräte. Schon werden natürlich wieder Stimmen laut, alles sei nur eine Frage der Organisation und Kontrolle. Vielleicht kann man eine Bank nicht einfach dem Vorstand überlassen? Man sollte ihm einen Aufsichtsrat an die Seite stellen. Und ein Präsidium. Am besten auch noch einen Prüfungsausschuß. Und einen Risikoausschuß und einen Vermittlungsausschuß. Dann könne sicher nichts mehr passieren. Leider kann es doch. Genau so nämlich ist das Problemkind WestLB aufgestellt. Staatliche Rettungsprogramme hier schützen uns also nur vor staatlicher Finanzakrobatik dort. Zwischen den USA und Deutschland im Ergebnis kein Unterschied: Der Bürger zahlt erst das Tier und dann seinen Bändiger. Steuer-Milliarden jagen Papiergeld-Milliarden, es wimmelt nur so von Nullen.

Das also ist öffentlicher Als-Ob-Kapitalismus. Staat und Politik versagen, doch schuldig seien Bürger und Wirtschaft. Ein böses Spiel mit vielen Facetten. Wer gäbe offiziell und öffentlich zu, daß eine Fehleinschätzung beispielsweise der Gesundheitsministerin oft mehr Geld verbrennt, als der Zusammenbruch gleich mehrerer US-Investmentbanken? Wer spräche coram publico darüber, wenn ein aufsichtsratloser Finanzstaatssekretär die Versenkung von 8000 Millionen nicht verhinderte? Hat die Bundesrepublik vor ihrem 60. Geburtstag eine derartige Kreditanstalt für Wiederabriß verdient? Fast möchte man mit Klaus Zumwinkel eine kopper’sche Erdnuß essen.

Was aber macht das Weltfinanzsystem so notorisch unbeherrschbar? Die Bändigungsaspiranten werden es ungern hören: Ein Geldsystem ohne Gold- oder Silberdeckung ist denknotwendig dem Tode geweiht. Das Abgehen vom althergebrachten Goldstandard war und ist die Ursache des Chaos. Wahren Kapitalismus gibt es nur mit wertstabilem Warengeld. Wer, wie schon 1925, politisch manipulierbares Papiergeld in Zahlkraft setzt, verursacht monetäre Expansion, beseitigt den Kapitalismus und pflanzt den Keim des Kollaps. Auch das Abkommen von Bretton Woods 1944 glich nur dem Versuch, einen Haken in die Luft zu schrauben, um das Weltwährungssystem daran zu hängen. Als Richard Nixon dann 1971 die Goldbindung vollends löste, zog er gleichsam auch noch den letzten leitwährenden Haken aus dem Nichts. An die Stelle freien Wirtschaftens traten endgültig die ungezügelten Bereiche politischer Zusicherungen und Heilsversprechen. Der Staatsdampfer Inflation erzeugt sich selbst die Bugwelle Kreditgeld.

Die Implosion des Als-Ob-Kapitalismus trifft die Welt nicht überraschend. Durchschnittspolitiker müssen zwar nicht um die Warnung scholastischer Philosophen vor Geldmanipulation wissen. Doch die erste US-Verfassung, in der es ursprünglich aus guten Gründen hieß, daß nur Gold- oder Silbermünzen Zahlungsmittel für Schuldentilgungen sein durften, sollte zumindest politischen Bankern mit US-Erfahrung, wie etwa dem KfW-Chef Ulrich Schröder, geläufig sein. Und wem die Lektüre englischsprachiger Verfassungstexte Mühen bereitet, der kann lesen bei Ludwig von Mises. Die hemmungslos-lawinenartige Inflationskrise der späten 1920er war Folge der ungedeckten Staatsgeldproduktion.

Doch statt in die Stabilität des Goldes zurückzukehren, haben sich auch deutsche Politbanken immer tiefer in den Rausch des überschwappenden Papier- und Kreditgeldes gestürzt. Während der Staat hier die Wettbüros schließt, spielten seine Untergliederungen ein globales Finanzroulette, dessen zerstörerische Folgen nicht ansatzweise abzusehen sind. Zugleich erfolgten Ausgliederungen von Tochterfirmen in das Ausland. Delaware ist schließlich auch für Staatsbanken nur einen Mausklick entfernt.

Tragen aber nicht auch die wirklich privaten Großbanken Schuld? Gibt die Profitgier ihrer Vorstände nicht Anlaß zu Skepsis? Klar ist: Auch sie werden nicht von Sozialpädagogen geleitet. Doch innerhalb des politisch definierten Rahmens haben sie faktisch nur schrumpfende Spielräume. Das gesetzlich vorgegebene Teilreservesystem nötigt ihnen die Eskalation des verantwortungslosen Wagemutes geradezu auf. Wer in seinen Prognosen über die künftige Staatspapiergeldinflation zu zögerlich ist, der verliert. Zugleich sind jene Banken zu bevorzugten Inkassostellen der Finanzämter mutiert, die Kontodaten bekannt zu geben und Quellen- wie Abgeltungssteuern abzuführen haben. Von jener Front droht diesem Staat keine Gefahr.

Gleichwohl bleiben alle diese Krisen, der Zusammenbruch des Ostblocks ebenso wie das Milliardenroulette unserer Staatsbanken und der Kollaps aller Blasen, nur geradezu harmlose Vorbeben im Vergleich zu den Erschütterungen, die uns mit der unausweichlichen Implosion unserer rettungslos überschuldeten Wohlfahrtsstaaten noch bevorstehen. Einzig Gold läßt sich nicht strecken. Es implodiert deswegen auch nicht. Es zwingt auch Staaten, Maß zu halten, und ist daher die beste Fessel gegen politisches Zocken. Wer könnte schließlich ernsthaft glauben, daß ausgerechnet jene Experten, die seit 1970 nicht einen einzigen ausgeglichenen Staatshaushalt zustandebrachten, jetzt die Finanzen ordentlich regulieren?

Das HWS-Miet-Pkw-Drama

von Carlos A. Gebauer

Das Schicksal der Gisela F. ist in einer Weise tragisch, daß ihr Name bereits geändert war, noch bevor die Redaktion es tun konnte.

Gisela F. hat eine Schwäche: Sie mag sportliche, schwarze Autos mit auskömmlicher Motorkraft. Mit einem solchen befuhr sie eines Tages die sanft geschwungenen, malerischen Landstraßen des Moseltales. An einer Engstelle hinter einer unübersichtlichen Kurve mußte sie wegen eines emsig werkelnden Landwirtes anhalten, um auf den Parkplatz des Landgasthofes Moselglück zu gelangen. Sekundenbruchteile später verspürte sie einen deftigen Schlag auf ihr Fahrzeugheck. Ein anderer Tourist war – von der lieblichen Architektur des Gasthauses abgelenkt – mit seinem robusten Kombi in ihr Fahrzeugheck hineingedroschen.

Die Regulierung der Schäden mit dem Versicherer des Gegners gelang zunächst flüssig. Dann allerdings schälten sich zwei neuralgische Schadenspositionen aus den allseitigen Aktendeckeln. Gisela F. nämlich erklärte zum einen, ein „Halswirbelschleudertrauma“ erlitten zu haben, im Fachjargon liebevoll genannt: HWS. Zum anderen hatte sie unbedarft das Angebot eines örtlichen Autovermieters akzeptiert, ihr schnellstens einen Ersatzwagen anzudienen. Die Preisgestaltung auf dem flugs unterzeichneten Vertrag als „Unfallersatztarif“ schien ihr besonders sinnvoll.

Die Versicherung aber mochte ein Schmerzensgeld für die unangenehmen Nackenbeschwerden nicht zahlen. Denn sie zweifelte, daß Gisela F. tatsächlich ein „HWS“ erlitten hatte. Hintergrund dieses Zweifels ist, daß in Deutschland derzeit gleichsam Folklore ist, nach Auffahrunfällen HWS-Beschwerden anzugeben. Tatsächlich ist der menschliche Rückenschmerz in etwa so unerforscht, wie das Liebesspiel pubertierender Brontosaurier. Und ob einer wirklich Schmerzen hat, läßt sich regelmäßig nicht sicher feststellen. Weder von Hausärzten, noch auch von Orthopäden, Neurologen, Radiologen oder gar Psychologen. Entweder man glaubt es, oder nicht. Die Glaubensfrage klärte auch ein 45seitges interdisziplinäres Sachverständigengutachten nicht, das von dem angerufenen Gericht eingeholt wurde. Gisela F. schulterte es mit Fassung und augenzwinkerte, vielleicht hätte man eher ein theologisches Gutachten gebraucht.

Weitaus ärgerlicher fand sie, daß die immensen Kosten für den Unfallersatz-Mietwagen ihr nur teilweise ersetzt wurden. Hier sah sie sich als das Kollateral-Opfer eines Grabenkrieges zwischen Versicherung und Vermiet-Firma. So haben Pkw-Vermieter für die Geschädigten von Pkw-Unfällen einen besonderen Tarif ersonnen. Den zeichnet aus, daß der Preis nicht mit dem Kunden verhandelt wird, sondern dem gegnerischen Haftpflichtversicherer einfach diktiert wird. Weil der Geschädigte zu Marktforschungen nicht verpflichtet ist, darf er demnach jeden Preis akzeptieren. Das freut den Vermieter, der die üblichen Preise gerne verdoppelt oder verdrei- oder vervierfacht. Erst neuerdings berichtigt die Rechtsprechung diese Art der Abrechnungstradition zu Lasten der Vermieter. Im Falle von Gisela F. wurde dergestalt berichtigt – und ihre Klage abgewiesen.

Auf dem Gerichtsgang richtete Gisela F. noch kurz einige Worte an den Mann, der wie stets mit messerscharfem Verstand, tadellosen Umgangsformen und brillanter Rhetorik für die Versicherung prozessiert hatte: „Besuchen Sie doch mal den Landgasthof Moselglück – am besten Sie fahren gleich mit Ihrem Auto hin!“

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