Gesundheitsrationierung auf Staatskommando

Rund 90% der deutschen Bevölkerung sind inzwischen gesetzlich zwangskrankenversichert. Ihre „Versicherungen“ sind Krankenkassen, also öffentlich-rechtliche Körperschaften. Deren Finanzierung erfolgt nach altmarxistischer Theorie: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen; das heißt: Eingezahlt wird nach dem Maßstab des Lohneinkommens, entnommen nach dem Maßstab des Krankseins. Da diese politisch willkürliche, gesundheitsökonomische Zusammensetzung dessen, was nicht zusammengehört (was hat die Höhe von Arbeitseinkommen mit Arztkosten zu tun?), immer in den finanziellen Abgrund führt, ist das System dauerpleite. Es wird ununterbrochen aus Steuermitteln bezuschußt und nur so am Leben gehalten.

Die seit den 1970er Jahren ständig reformierte Gesetzesbaustelle „Kostendämpfung“ hat inzwischen eine solche Unzahl von Verwaltungsbehörden, Hilfsverwaltungsinstanzen und Metaprüfungsinstitutionen geschaffen, daß alleine deren Alimentierung hinreicht, um das System Monat für Monat in den ökonomischen Orkus zu reißen. Die internen Verwaltungskosten der Krankenkassenbehörden mit ihren rund 160.000 Angestellten gehören mit zum best gehüteten Geheimnis der Bundesrepublik Deutschland.

Da die Ressourcenextraktion bei den Versicherten mit inzwischen rund zwei Monatsgehältern pro Jahr langsam an ihre Akzeptanzgrenzen stößt, die einmal geschaffene Verwaltung jedoch – wie alle Staatsverwaltung – notorisch beseitigungsresistent ist, bleibt nur der Griff auf die andere Seite: Es müssen Leistungen gekürzt und Zahlungen an die sogenannten „Leistungserbringer“ im System gekappt werden, um das Konstrukt nicht vollends kollabieren zu lassen. Dies ist der Ausgangspunkt aller Rede von „Rationierung“ im Gesundheitssystem oder – moderner – „Priorisierung“, also der Idee, zu überlegen, welcher von mehreren Patienten die nur einmal vorhandene Spritze primär bekommen soll – und welcher nicht. You can’t have a pill and eat it, sozusagen.

Der etablierte politische Diskurs bewegt sich nun zwischen dem Ärztepräsidenten Jörg-Dietrich Hoppe hier und der kommunistischen Gesundheitsexpertin Martina Bunge aus der „Linken“ dort hin und her. Die Polit-Dinosaurierin aus dem Institut für Gesellschaftswissenschaften des ZK der SED fordert, es müsse „endlich“ die Bürgerversicherung kommen. Nur dies werde der absehbaren Zwei-Klassen-Medizin noch entgegenwirken können. Bürgerversicherung, das heißt für Martina Bunge: Gesetzliche Versicherung für alle! Anders gesagt: Wenn alle warten, warten sie wenigstens alle gleich lang. 30 Tage warten auf den Arzt macht, nach Einbeziehung weiterer 10% privatversicherter Klassenfeinde, 30 Tage minus 10% gleich nur noch 27 Tage warten – ein echter humanitärer Durchbruch.

Prof. Dr. Hoppe, der Arzt, fürchtet, es könne die Last des Arztes werden, seine begrenzten Mittel im Einsatz zwischen mehrere Patienten abwägend einsetzen zu müssen. Dies aber, sagt er, sei nicht die Aufgabe eines Arztes. Hier sei „die Politik gefordert“. Martina Bunge und alle anderen Bürokratiegläubigen wird es freuen. Staat und Verwaltung sollen am Krankenbett weiter mitreden dürfen. Das schafft Stellen im Ämter-Sektor. Doch die Ärzteschaft denkt weiter. Sie sieht die Furcht des Politikers, durch Priorisierungspolitik Sympathien bei denjenigen Wählern zu verlieren, die dann – schade, schade – keine Medizin mehr haben dürfen. Also denkt das Ärzte-Establishment über eine neue Behörde nach; eine, die gegen die Gefahren mehrheitlicher Wählerentscheidungen immunisiert ist. Vielleicht schaffen wir eine Art Zentralbank für Behandlungsgeld?

Quer durch das Diskussionsspektrum unangetastet bleibt nach allem die wesentlichste obrigkeitsstaatliche Prämisse des deutschen Gesundheitsrechtes: Für die Gesundheit der Versicherten sind primär die Krankenkassenbehörden zuständig; Patienten selbst haben nur – kein Witz, sondern geltender Gesetzeswortlaut! – eine Mitverantwortlichkeit: § 1 Fünftes Sozialgesetzbuch.

Wann fangen die Menschen in unserer freiwillig-bürokratischen Grundordnung an, die elementarste Frage zu stellen? Wann fragen sie nach dem Eigentümer ihres eigenen Körpers? Was ist es nur, das dem Kassenpatienten diese selbstzerstörerische Lust bereitet, sich dem Gesundheitsdiktat fremder Menschen und Mächte zu unterwerfen?

Seit Jahren beobachte ich nun ein faszinierendes Phänomen: In Vorträgen erkläre ich die Funktionsweisen unseres gesetzlichen Krankenversicherungssystems. Schonungslos zwar, aber klar und detailgetreu, ohne etwas wegzulassen und ohne etwas hinzuzufügen. Am nächsten Tag schreiben Journalisten dann, die Fehler des Systems seien „überspitzt“ oder „überzeichnet“ dargestellt worden. Merke: Die Realitäten des gesetzlichen Systems sind in einer Weise absurd, daß der normale Mensch sich ihr Sosein nicht vorstellen kann. Lieber verschließt er die Augen und vertraut auf den Staat. Und Martina Bunge lacht…

Ein Tag im Leben des mündigen Bürgers U.

Wenn der Radiowecker neben dem Bett von Herrn U. morgens anspringt, hört er zuerst seinen Lokalsender. Öffentlich-rechtlichen Rundfunk schätzt er nicht. GEZahlen muß er ihn trotzdem. Das Licht von den Stadtwerken geleitet ihn in sein Bad, wo er sich mit städtischem Wasser die Zähne putzt. Mit dem Gas vom kommunalen Anbieter kocht er seinen Kaffee. Den Rest überantwortet er dem öffentlichen Kanalnetz. Juristen sehen in alledem die Anschluß- und Benutzungszwänge der Daseinsvorsorge.

Hektisch zieht Herr U. anschließend seine Mülltonne zur Straße, von wo sein Abfall – sauber getrennt – gemeindlich organisiert einmal wöchentlich abgefahren wird. Dann begibt er sich zur Haltestelle der kommunalen Verkehrsbetriebe. Der Bus bringt ihn zum Bahnhof, von wo aus er nun mit der staatseigenen Eisenbahn zu seiner Arbeitsstätte fährt.

Sein Büro ist ordentlich organisiert. Davon wird sich heute ein Beamter der Berufsgenossenschaft (Abteilung Arbeitsschutz) überzeugen: Sind genug Feuerlöscher auf der Etage? Ist hinreichend Verbandszeug verfügbar und sind dessen Haltbarkeitsdaten berücksichtigt? Ist der volle Wortlaut des Mutterschutzgesetzes gut lesbar ausgehängt? Existieren die gesetzlich geforderten Ruhe- und Liegeplätze für Schwangere? Wo liegen die Handschuhe und Ohrenschützer für die Außendienstarbeiter im Wintereinsatz? Sind alle Computerbildschirme strahlungsarm? Schließlich, leicht kompetenzüberschreitend, aber wer könnte im Sinne der guten Sache dagegen protestieren: Wurden alle Mitarbeiter über die Möglichkeit der Rentenzusatzversorgung belehrt? Wo sind die zugehörigen Dokumentationen dieser Aufklärung datenschutzsicher abgelegt? Herr U,. der mündige Bürger, ist vorbereitet. Er hat alles in Vorbereitung gehabt – über Wochen.

Vier Stunden nach Arbeitsbeginn hat sich der Beamte verabschiedet. Die Beanstandungen sind minimal. Ein Prüfbericht folgt. Herr U. blickt auf einen Stapel unerledigter Arbeit. Vieles ist liegengeblieben zuletzt. Doch nun muß er in den freien Nachmittag starten. Zu lang ist die Liste der privaten Erledigungen, als daß sie in einer Mittagspause zwischendurch abgearbeitet werden könnte. Zudem stimmen die erlaubten Mittagszeiten nach Maßgabe der Betriebsvereinbarung auf Grundlage des für allgemein verbindlich erklärten Tarifvertrages nicht mit den Öffnungszeiten seiner Anlaufstellen überein.

Herr U. rennt zu seinem Hausarzt, wartet, und erhält endlich eine seit langem benötigte Überweisung zum Facharzt. Nun spurtet er zu seinem Facharzt. Wieder wartet er dort. Endlich bekommt er die weitere Überweisung in die Klinik zur lange anstehenden Magnetresonanz-Untersuchung. Das Beratungs-Center seiner Krankenkasse wird er nun allerdings nicht mehr an diesem Nachmittag erreichen. Die Wartezeiten bei beiden Ärzten haben dessen Öffnungszeiten gesprengt. Den Auslandskrankenschein muß er sich also anderswie beschaffen.

Er begibt sich statt dessen nun zum städtischen Kindergarten, um seinen jüngsten Sohn dort aus der Betreuung abzuholen. Parkplätze gibt es in der dortigen Feinstaubzone nicht. Deswegen fährt er von vornherein Bus und Bahn. Jetzt muß er sich aber sehr beeilen, um seine Tochter aus deren städtischer Grundschul-Betreuung abzuholen. Leider haben sich der Kindergarten und die Schule (noch?) nicht terminlich abstimmen können. Die beiderorts unkündbaren Leiterinnen sind seit Jahrzehnten verfeindet. Mit der Einleitung eines diskriminierungsfreien Nachbesetzungsverfahrens unter besonderer Berücksichtigung der föderalen Frauenförderungsquoten ist frühestens in drei Jahren zu rechnen. Herr U. leitet nun seine zwei Kinder in Richtung Universität, wo sie seine große Tochter treffen wollen. Immerhin hat die ZVS nach fünf Wartesemestern einem Wechsel ihres Studienplatzes in den Heimatort zugestimmt.

Auf dem gemeinsamen Weg zu einem Kopiegeschäft fährt Herr U. mit seinen Kindern jetzt in der städtischen Straßenbahn. Sie hören zwei Lehrer einer Privatschule miteinander reden. Offenbar droht ihrer Schule ein Entzug der gesetzlich erforderlichen staatlichen Zulassung. Auch diesen Schulen fehlen die – nach den Richtlinien nötigen – Lehrer für den multikulturell sensiblen Ethikunterricht schmerzlich.

Im Kopierladen läßt Herr U. nun rasch Doppel seiner Wohnungsrisse und Baupläne anfertigen (DIN á 3, je vierfach), um gegenüber dem Finanzamt den Nachweis führen zu können, wie groß sein häusliches Arbeitszimmer ist. Den Kindern ist langweilig. Doch für den Urlaub muß in dem Reisebüro noch der Sicherungsschein für die gesetzliche Reiserückholversicherung abgeholt werden. Das jedenfalls ist heute Nachmittag wichtiger als die Beschaffung eines Formulars für die Höherstufung des Großvaters in der gesetzlichen Pflegeversicherung. Herr U. hat gelernt, Prioritäten zu setzen und seine Aufgaben stringent zu strukturieren. Vielleicht ist er in seinem Büro gerade deswegen mit der Aufgabe betraut worden, die von dem Finanzamt geforderte durchlaufende Nummerierung aller Rechnungen zu überwachen. Seit dem Jahrsanfang obliegt es ihm auch, die von allen Bauhandwerkern benötigte amtliche Freistellungserklärung hinsichtlich ihrer Einkommensteuerzuverlässigkeit gegenzuhalten. Ordnung muß sein.

Endlich fährt der Bus Herrn U. und seine Kinder aus der städtischen Umweltzone nach Hause. Der Jüngste quengelt, weil er seine pfandpflichtige Saftflasche tragen muß, obwohl sie längst leer ist. Unterdessen zeichnen beamtete Fluglotsen mit ungezählten Airbussen ein strahlendes Kondensstreifen-Gitternetz in den wolkenlosen Abendhimmel.

Kaum sind alle zu Hause, trifft auch schon die scheinselbständige Baby-Sitterin ein, um die beiden Kleinen in ihre Obhut zu nehmen. Mit seiner Ältesten bricht Herr U. auf zu einem Symphonie-Konzert. Sie gehen den kurzen Weg zum Konzertsaal zu Fuß. Dennoch hat Herr U. mit den Konzertkarten zwei kommunale Fahrausweise der Verkehrsbetriebe miterwerben müssen. Denn Koppelungsgeschäfte dieser Art, die einstmals eine strenge Zugabeverordnung jedermann verbot, erfreuen sich inzwischen hoher behördlicher Beliebtheit. Daß auch seine Tochter mit der Immatrikulation zwangsläufig einen weiteren Fahrausweis erwerben mußte, schmerzt Herrn U. Doch er tröstet sich, daß das Konzert des städtischen Orchesters ja subventioniert wird.

Müde kommt Herr U. spät abends zurück in die verkehrsberuhigte Zone seiner Straße. Mitarbeiterinnen des Ordnungsamtes notieren Kennzeichen und fotografieren Autos. Nur die Geräusche eines Abschleppwagens und seiner dieselbetriebenen Seilzüge stören den friedlichen Abend. Mit dem Gedanken, daß er heute nichts, aber auch gar nichts Produktives getan hat, legt sich Herr U. in sein Bett. Er freut sich, daß seine Frau schon in drei Wochen wieder von ihrer arbeitsagenturbehördlich angeordneten Weiterbildungsmaßnahme nach Hause zurückkehren wird. Dann, tröstet er sich, wird alles wieder ruhiger. Endlich schläft der mündige Bürger U. ein. So wie alle anderen Untertanen seines Landes auch.

Das HWS-Miet-Pkw-Drama

von Carlos A. Gebauer

Das Schicksal der Gisela F. ist in einer Weise tragisch, daß ihr Name bereits geändert war, noch bevor die Redaktion es tun konnte.

Gisela F. hat eine Schwäche: Sie mag sportliche, schwarze Autos mit auskömmlicher Motorkraft. Mit einem solchen befuhr sie eines Tages die sanft geschwungenen, malerischen Landstraßen des Moseltales. An einer Engstelle hinter einer unübersichtlichen Kurve mußte sie wegen eines emsig werkelnden Landwirtes anhalten, um auf den Parkplatz des Landgasthofes Moselglück zu gelangen. Sekundenbruchteile später verspürte sie einen deftigen Schlag auf ihr Fahrzeugheck. Ein anderer Tourist war – von der lieblichen Architektur des Gasthauses abgelenkt – mit seinem robusten Kombi in ihr Fahrzeugheck hineingedroschen.

Die Regulierung der Schäden mit dem Versicherer des Gegners gelang zunächst flüssig. Dann allerdings schälten sich zwei neuralgische Schadenspositionen aus den allseitigen Aktendeckeln. Gisela F. nämlich erklärte zum einen, ein „Halswirbelschleudertrauma“ erlitten zu haben, im Fachjargon liebevoll genannt: HWS. Zum anderen hatte sie unbedarft das Angebot eines örtlichen Autovermieters akzeptiert, ihr schnellstens einen Ersatzwagen anzudienen. Die Preisgestaltung auf dem flugs unterzeichneten Vertrag als „Unfallersatztarif“ schien ihr besonders sinnvoll.

Die Versicherung aber mochte ein Schmerzensgeld für die unangenehmen Nackenbeschwerden nicht zahlen. Denn sie zweifelte, daß Gisela F. tatsächlich ein „HWS“ erlitten hatte. Hintergrund dieses Zweifels ist, daß in Deutschland derzeit gleichsam Folklore ist, nach Auffahrunfällen HWS-Beschwerden anzugeben. Tatsächlich ist der menschliche Rückenschmerz in etwa so unerforscht, wie das Liebesspiel pubertierender Brontosaurier. Und ob einer wirklich Schmerzen hat, läßt sich regelmäßig nicht sicher feststellen. Weder von Hausärzten, noch auch von Orthopäden, Neurologen, Radiologen oder gar Psychologen. Entweder man glaubt es, oder nicht. Die Glaubensfrage klärte auch ein 45seitges interdisziplinäres Sachverständigengutachten nicht, das von dem angerufenen Gericht eingeholt wurde. Gisela F. schulterte es mit Fassung und augenzwinkerte, vielleicht hätte man eher ein theologisches Gutachten gebraucht.

Weitaus ärgerlicher fand sie, daß die immensen Kosten für den Unfallersatz-Mietwagen ihr nur teilweise ersetzt wurden. Hier sah sie sich als das Kollateral-Opfer eines Grabenkrieges zwischen Versicherung und Vermiet-Firma. So haben Pkw-Vermieter für die Geschädigten von Pkw-Unfällen einen besonderen Tarif ersonnen. Den zeichnet aus, daß der Preis nicht mit dem Kunden verhandelt wird, sondern dem gegnerischen Haftpflichtversicherer einfach diktiert wird. Weil der Geschädigte zu Marktforschungen nicht verpflichtet ist, darf er demnach jeden Preis akzeptieren. Das freut den Vermieter, der die üblichen Preise gerne verdoppelt oder verdrei- oder vervierfacht. Erst neuerdings berichtigt die Rechtsprechung diese Art der Abrechnungstradition zu Lasten der Vermieter. Im Falle von Gisela F. wurde dergestalt berichtigt – und ihre Klage abgewiesen.

Auf dem Gerichtsgang richtete Gisela F. noch kurz einige Worte an den Mann, der wie stets mit messerscharfem Verstand, tadellosen Umgangsformen und brillanter Rhetorik für die Versicherung prozessiert hatte: „Besuchen Sie doch mal den Landgasthof Moselglück – am besten Sie fahren gleich mit Ihrem Auto hin!“

Politische Kohärenz als knappes Gut

Bei staatstheoretischen Debatten aller Art hatte ich schon seit einiger Zeit zwei wesentliche Grundüberzeugungen vertreten. Erstens: Ich habe nichts gegen Sozialismus, solange nur die Teilnahme daran freiwillig bleibt. Und zweitens: Ich habe nichts gegen staatliche Planung, solange nur der Planende allwissend ist. Eines Tages allerdings bemerkte ich, daß meine Ansprüche an die Formulierung politischer Positionen gewachsen waren. So rückte ein drittes Kriterium in den Vordergrund. Es ist das Kriterium der Kohärenz. Philosophen, Psychologen und Linguisten bezeichnen mit „Kohärenz“ im Grunde eine Art Zusammenhangsanspruch. Das Denken und Reden und Handeln soll nicht nur in einzelnen fahrigen Bruchstücken daherkommen, sondern die vertretenen Positionen sollen auch insgesamt irgendetwas miteinander zu tun haben. Die Teile des Ganzen dürfen also nicht untereinander widersprüchlich sein, nicht übereinander herfallen oder sich gar bekämpfen. Alle einzelnen Elemente einer größeren Gesamtheit müssen vielmehr harmonisch zueinander passen. Nur so kann politische Phil-Harmonie und gesellschaftliche Sym-Phonie entstehen. Die an immer mehr Orten geführten – und merklich schärfer werdenden – politischen Diskussionen unserer Zeit zeugen demgegenüber von einem allgegenwärtigen Fehlen genau dieser Kohärenz. Wenn beispielsweise unser Bundesumweltminister erklärt, das von ihm derzeit beobachtete Artensterben gefährde den Bestand der Welt, weil diese zum Überleben notwendig auf Buntheit und Vielfalt angewiesen ist, dann fragt sich doch, warum diese Einsicht für sozialversicherungsrechtliche Systeme keine Bedeutung haben soll. Ist nicht umgekehrt auch hier die Vielfalt der Gattungen, Arten und Unterarten Garant für das Überleben aller? Wer aber redet davon, daß in der Bundesrepublik schon heute rund 80% aller Krankenkassen (aus-)gestorben und der privaten Krankenversicherung ab dem 1. Januar 2009 die terminalen gesetzlichen Todesfesseln angelegt sind? Nicht nur einzelne Staaten oder Länder sind von dieser Kohärenz- und Konsequenzschwäche befallen: Auch international wird beispielsweise einerseits mit Macht und viel Aufwand dem Doping der Kampf angesagt, andererseits gilt das staatliche Subventionieren von spurtschwachen Wirtschaftsteilnehmern noch immer als hoffähig. Der horizontal, vertikal, diagonal – und wie böse Spötter sagen: bisweilen auch cerebral – zuständigkeitshalber polysegmentierte Leviathan spricht also mit gespaltener Zunge? So, in der Tat, hat es allen Anschein. Wie sonst könnten gutherzige Allgemeinwohlverwalter von einem Arbeitgeber verlangen, aus seinem Arbeitnehmerinnenstamm die verprügelten Gattinnen herauszufiltern, um ihnen Hilfe und Schutz gegen den häuslich gewalttätigen Mann angedeihen zu lassen, zugleich aber die Speicherung privater Daten eben dieser Mitarbeiter als Angriff auf deren Datenintimität kritisieren? Welcher Chef könnte von solcher Inkohärenz nicht ein Liedl singen? Politische Inkohärenz allüberall: Dieselben biologisch-dynamischen Protagonisten, die sich streuobstfroh für unberührte Naturen und gegen jede noch so behutsam brückenschlagende architektonisch-kulturelle Gestaltung unserer Täler wehren, fordern andernorts vereinheitlichte staatliche Bildungsanstalten. Der Anspruch auf Kohärenz im Politischen wächst sich bei dieser Sicht bald zu einem Fluch aus: Soll der Bürger nun Rauchen für die Tabaksteuer oder Nichtrauchen für die Gesundheit? Soll er Autofahren für die Staatskasse (möglichst mit Tagesfahrlicht, um auch dieses bisschen Mehrenergie noch zu verbrauchen) oder Fußgänger sein für das Weltklima? Soll er Bahn fahren gegen den Feinstaub oder Nichtbahnfahrer bleiben wegen des dort zwischen Schienensträngen fies interregio-niedergefetzten Haar- und Rotwilds? Soll er souverän als Souverän entscheiden können oder soll er ganz unsouverän mit einem behördlichen Einschreiben zur Staatsraison gebracht werden? Soll er die internationale Vereinigung gutheißen oder doch lieber die nationalistische Globalisierungsgegnerschaft? Unter Beachtung der Helmpflicht oder unter Einhaltung des Vermummungsverbots? Doch nicht nur wir einfachen Bürger sind in die Perplexität der Regelungen verheddert und verschraubt. Auch für unsere Staatsbediensteten in den weitverstreuten Behörden wird die Welt zunehmend unübersichtlich. Darf man öffentlich-rechtlich gegen populäres Privatfernsehen spotten, wenn man gleichzeitig stolz ist auf eigene Quotenführerschaft? Darf man den Geschmack der Masse geringschätzen und doch gleichzeitig die Stimmenmehrheit (aus möglichst hoher Wahlbeteiligung) erstreben? Wenn man einerseits nicht einmal an einer Stammzelle in der Nährlösung experimentieren darf, warum dann aber andererseits im Welternährungsprogramm gleich an der ganzen globalen Wirtschaft? Wenn es denn politisch tatsächlich unerträglich wäre, daß der eine mehr Geld besitzt als der andere, warum drucken wir dann immer mehr davon? Und: Wenn besonders „die Armen“ unter hohen Preisen leiden, warum machen wir dann gerade durch Steuern und Abgaben alles und jedes zum unerschwinglichen Luxusgut? Wenn einer nichts besitzt, als die Kraft seiner Hände, welcher unerträgliche Angriff auf sein Leben ist es dann, genau diese Nutzung seiner Hände durch den nationalökonomischen Erdrosselungs-Dreiklang aus Steuern, Subventionen und Mindestlohn zu übertönen? Fast möchte man sagen: Staatliche Abgabepflichten sind doch keine Ware! Was nicht kohärent daherkommt, ist inkohärent und also Un-Sinn. Was nicht widerspruchslos zusammenpaßt, das fügt sich nicht ineinander. Was nicht folgerichtig ist, das ist nicht nachvollziehbar. Kohärenz kommt von Zusammenhängen. Und nicht nur Lateiner wissen: aliquid semper haeret, irgendetwas bleibt immer hängen. Aber eben nur Irgendwas. Und das sollte uns nicht mehr reichen. Darf’s also ein bisschen mehr sein? Ja! Am besten – ganz kohärent – einfach weniger. Denn nur weniger ist wirklich mehr.

Antidiskriminierung total

Meine Frau weiß: Ich habe noch nie mit einem Mann geschlafen. Das aber könnte sich bald ändern. Denn der Gesetzgeber beabsichtigt, die Wahlfreiheit des Bürgers in Geschlechterfragen gewissen Einschränkungen zu unterwerfen. Das Zauberwort hierzu heißt: „Antidiskriminierungsgesetz“. Und das Zauberwort ist spannend. Denn Antidiskriminierung ist nicht einfach nur ein langes Wort mit relativ vielen „i“. Antidiskriminierung ist vielmehr eine Geisteshaltung. Eine Weltanschauung.

Wir erinnern uns. Diejenigen, die im Sozialkundeunterricht gut aufgepaßt haben, werden es wissen. In unserer Verfassung heißt es: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“. Wer in der Schule weniger gut aufgepaßt hat, der sagt: „Alle Menschen sind gleich“. Im Alltag haben sich die Unterschiede zwischen den beiden Merksätzen verwischt. Irgendwie ging es von einem bestimmten Zeitpunkt an nur noch um „Gleichheit“.

Alle waren jetzt gleich. Und das war gut so. Wer vor Gericht stand, wurde behandelt, wie alle anderen auch. Wer einen Antrag bei der Behörde stellte, wurde behandelt, wie alle anderen. Egal, was sie dachten, was sie glaubten, woher sie kamen, in welcher Sprache sie redeten oder welchen Geschlechtes sie waren. Alle mußte gleich behandelt werden.

Dann – niemand weiß genau, wann – geschah etwas Neues. Ein Arbeitgeber wollte eine Schwerbehinderte nicht einstellen, weil er fürchtete, sie könnte nicht dauerhaft für ihn arbeiten. Ein Vermieter wollte einem Interessenten seine Wohnung nicht vermieten, weil er dessen Sprache nicht verstand. Eine strenggläubige ältere Dame mochte ihr Haus nicht an eine vermögende, aber alleinerziehende Mutter verkaufen. Ein fremdländischer Taxifahrer fand den Gedanken unangenehm, einen Skinhead durch die tiefe Nacht zu chauffieren.

Die Behinderte, der Fremdsprachige, die Alleinerziehende und der Skinhead fanden kurze Zeit später zusammen. Sie erzählten sich ihre Geschichten. Und sie lasen in unserer Verfassung. Was sie fanden, empörte sie: Sie waren alle nur „vor dem Gesetz“ gleich. Nicht aber vor dem Arbeitgeber, vor dem Vermieter, vor der Hausverkäuferin und vor dem Taxifahrer. Also,
sagten sie, wollen wir nicht nur vor den Behörden und den Gerichten gleich behandelt werden. Wir möchten auch vor allen anderen Bürgern „gleich“ sein. Da rief der Skinhead, er fühle sich diskriminiert. Dagegen müsse etwas geschehen. Schon war der Gedanke von der Antidiskriminierung geboren.

Nun dauerte es nicht lange und sie hatten ein neues Wort für ihre Forderung gefunden. Etwas, was noch besser ist, als Gleichberechtigung: Gleichstellung. Der Staat, sagten sie, muß dafür sorgen, daß alle immer überall jedem gegenüber gleichgestellt sind. Sie schrieben in die Verfassung, der Staat müsse das fördern. Und schließlich schufen sie den Entwurf eines Antidiskriminierungegesetzes. Sie träumten davon, daß jede Stadtverwaltung so lange nur Frauen einstellen dürfe, bis genausoviele Frauen wie Männer dort arbeiten. Und genauso viele Weiße wie Schwarze, Behinderte wie Nichtbehinderte, Skinheads wie Nichtskinheads. Jeder und jede muß also alles mit allen immer genau gleich machen. Erst dann sind alle Menschen wirklich gleich. So sagten sie.

Und ich? Ich warte seither auf die Umsetzung der europäischen Antidiskriminierungs-Richtlinie in das deutsche Recht. Zwar gefällt mir nicht, demnächst vielleicht aus rechtlichen Gründen abwechselnd mit Frauen und Männern schlafen zu müssen. Aber die Aussicht, dann endlich auf dem Behindertenparkplatz vor meinem Büro parken zu können, macht mich tief, tief glücklich.

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