Gewerkschaft und Sexualität

Carlos A. Gebauer

Haben die Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft und das Sexualleben eines Menschen etwas miteinander zu tun? Auf den ersten Blick wenig, auf den zweiten einiges. Beide nämlich sind besonders geschützte Sozialdaten im Sinne des Sozialgesetzbuches. Erfährt also eine Behörde beispielsweise, daß einer – aus welchem Grund auch immer – sich gerne Plastiktüten über den Kopf zieht, genießt er besonderen Schutz. Die Behörde darf es nicht einfach weitersagen.

Nun mag mancher fragen: Was hat der Gesetzgeber sich dabei gedacht, als er ausgerechnet die Gewerkschaftszugehörigkeit und das Sexualleben zu derart besonders vertraulichen Geheimnissen machte? Immerhin ist heute ein breites Spektrum auch ungewöhnlichster sexueller Praktiken gesellschaftlich ebenso toleriert, wie die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft. Die elektronische Erhebung, Verarbeitung, Speicherung und Nutzung derartiger Informationen scheint also alleine schon deswegen unproblematisch, weil diese Kenntnisse im Ergebnis niemanden wirklich interessieren. Selbst die Mutmaßungen eines befreundeten Zynikers zu dieser Gesetzestechnik gehen eher fehl. Der nämlich meinte, eine Vielzahl von Menschen trete einer Gewerkschaft nur bei, um auf lohnfortgezahlten gewerkschaftlichen Weiterbildungsveranstaltungen Kegelbekanntschaften abseits der eigenen Ehe ungestörter kennenzulernen.

Zwar wird man in der Regel nicht Gewerkschafter, weil man sehen möchte, welche Spuren der Surrealismus auch in den Wirtschaftswissenschaften hinterlassen hat. Aber das Bestreben, ehebrecherische Aktivitäten zu kaschieren, ist wohl kaum der Sinn dieses Gesetzes. Wahrscheinlich gibt es gute historische Gründe, diesen Geheimnisschutz neben ethnischer Herkunft, politischer Meinung und philosophischer Überzeugung einzuordnen. Es mag dabei bewenden.

Trotz allem aber bleiben ungeklärte Fragen. Was nämlich ist mit Lebenspartnern nach dem „Gesetz über die Eingetragenen Lebenspartnerschaften“? Nach diesem Gesetz sind verpartnerte Personen gleichen Geschlechtes zur „gemeinsamen Lebensgestaltung“ verpflichtet. Und sie tragen füreinander Verantwortung. Das sind praktisch dieselben Worte, mit denen das Gesetz Eheleute – zur Erinnerung: Zwei Personen unterschiedlichen Geschlechtes – zur „Geschlechtsgemeinschaft“ verpflichtet. So jedenfalls drückt sich der Bundesgerichtshof aus. Mit anderen Worten: Lebenspartner sind gesetzlich verpflichtet, sich gegenseitig anzufassen. Spätestens dann, wenn ihre Partnerschaft eingetragen ist. Wenn sie aber gesetzlich zu solcherlei Körperkontakten verpflichtet sind, dann ist irgendwie auch etwas über ihr Sexualleben gesagt. Und über genau dieses Sozialdatum hat man eigentlich zu schweigen.

Das aber bedeutet im Ergebnis doch nichts anderes, als daß man über eine eingetragene Partnerschaft – ebenso wie über das Bestehen einer Ehe – datenschutzgemäß zu schweigen hat. Auch hier vermochte der nochmals befragte Zyniker aus dem Freundeskreis keine Lösung des Rechtsproblemes anzubieten. Denn auch das notorische Nichtanfassen nach langer Ehe ist doch irgendwie nur ein anderer Ausdruck für ein ganz bestimmtes sexuelles Leben. Irgendwie.

Aus solcherlei juristischen Fallstricken befreit man sich in der Regel nicht durch weiteres intensives Nachdenken, sondern schlicht durch Abstand. Eine Reise wirkt oft Wunder. In fernen Gefilden faßt der Geist neuerlich Kraft und Mut zu beherzten Lösungen. Empfehlenswert sind Reisen dorthin, wo einen niemand erreicht. Wo man Ruhe hat und ungestört ist. Vielleicht an einen Ort, über den nicht gesprochen werden darf. Der Blick in das Gesetz zeigt: Auch religiöse Überzeugungen sind besonders geschützt. Dort liegt die Lösung: Urlaub im Vatikan ist wie Ferien unter Psalmen.

Gluttermück und Statervolz

Carlos A. Gebauer

Als Kind führte ich ein außerordentlich behütetes Leben. In meinen ersten Jahren wachte eine Babysitterin praktisch rund um die Uhr über meine Geschicke. Später brachte sie mich zum Kindergarten und holte mich dort ab. Ein ausgeklügelter Plan sorgte dafür, daß sowohl für den Vormittag außer Haus, als auch sogleich nach meiner täglichen Rückkehr je eine nahrhafte, aber nicht allzu fette Mahlzeit zur Verfügung standen. Die vorschulischen Nachmittage verbrachte ich unter ersten Anleitungen in Lesen und Schreiben. Auch eine musikalische Früherziehung fand statt, zu der – ebenso wie dann zu Grundschule und späterem Geigenunterricht – ein Fahrdienst organisiert war. Die Chauffeurin war mir außerordentlich wohlgesonnen. Sie kannte mich bestens, hatte ein Ohr für meine Sorgen und stand mit allerlei Ratschlägen zur Verfügung. Ihre Erziehungsarbeit ging Hand in Hand mit der anschließenden Hausarbeitenkontrolle. Sie half mir, den Ranzen für den je nächsten Schultag zu packen und sie mahnte mich mit großer Aufmerksamkeit über viele Jahre zu jedem Herbstanfang, mich warm genug anzuziehen. Auch für meine Kleider gab es nämlich ein eigenes Qualitätsmanagement: Versierte Hände erwarben, pflegten und wuschen meine Garderobe, die immer passend zur jeweiligen Körpergröße auf aktuellem Stand gehalten wurde.

Im Grunde war es – alles in allem – eine glückliche Zeit. Und trotz der Engmaschigkeit all dieser sorgenden Dienstleistungen fühlte ich mich per Saldo doch nie wirklich unangenehm überwacht. Im Gegenteil. Denn ich war nie alleine, fühlte mich nie einsam, und ich hatte durchaus auch eine eigene, positive emotionale Bindung an meine jeweilige Beschützerin in allen Rollen. Ich hielt diese eigene Zuneigung auch nicht für abwegig. Denn immerhin handelte es sich bei dieser für mich hilf- und segensreich tätigen Person um meine eigene Mutter. Und die, so sagte sie, liebte mich.

Über die Jahre meines Erwachsenwerdens allerdings verschlechterte sich der gesellschaftliche Status meiner Mutter mehr und mehr. In der Terminologie meiner Lehrerinnen wurde sie zu einer „Nur-Hausfrau“. Damit schrumpfte der Rahmen ihres möglichen mitmenschlichen Ansehens Stück um Stück. In ihrem eigenen Bekanntenkreis herrschte demgegenüber ein zwar noch anderer, aber ebenfalls kritischer Ansatz zur Betrachtung ihrer Situation. Die Perspektive dort war wesentlich eine wirtschaftliche, geprägt von der Erwägung, daß meine Mutter nicht über selbstverdientes Geld verfüge, das sie nach eigener Entscheidung ausgeben könne.

Gerade dieser letztgenannte Gesichtspunkt muß aus unserer heutigen Perspektive als blanker Hohn erscheinen. Denn während die Frauen aus der Generation meiner Mutter sich tatsächlich noch zusätzliche Mittel zur eigenen Verfügung verdienten, wird den nun gezwungenermaßen ganztags berufstätigen Frauen der nächsten Generation ihr Fleiß gleich überwiegend staatlicherseits entzogen. Deren Einkünfte werden nun nämlich ebenso der Steuer- und Sozialversicherungspflicht unterworfen, wie weiland die des Mannes aus der Hausfrauenehe. Zwar hatte die Mutter meiner Patentochter Friederike sich noch im Jahre 2004 trotzig Visitenkarten mit der Namensunterzeile „Hausfrau und Mutter“ anfertigen lassen. Militärs hätten wohl von einer Art Vorwärtsverteidigug gesprochen. Dennoch war das – wie Juristen es nennen – „Regelbild der Hausfrauenehe“ mit einem alleinverdienenden Mann, der die ganze Familie ernährt, zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Es ist so tot, daß sogar das Rechtschreibprogramm unserer Computer das Wort „Hausfrauenehe“ schon in fehlerverdächtiges Alarmrot taucht.

Damit sind aber nicht nur die Chancen auf einen attraktiven – und vor allem freiwilligen – Zuverdienst für Frauen, den sie nach eigener Entscheidung ausgeben könnten, vernichtet. Auch die Handlungsoption, das traditionelle Regelbild einer Familie zu leben, ist faktisch verbaut. Weder ein Alleinverdienermann, noch auch eine Alleinverdienerfrau sind damit heute mehr regelhaft in der Lage, einen kleinen privaten Familienbetrieb, der ausschließlich der liebenden Aufzucht und Hege eigener Kinder dient, wirtschaftlich zu realisieren. Beide Elternteile müssen abgabenpflichtig tätig sein, um ihren ganz privaten familiären Betrieb aufrechtzuerhalten.

Doch mit dieser traurigen Erkenntnis ist der gleichsam kulturelle Tiefpunkt dieser Familiensituation noch bei weitem nicht erreicht. Denn während meine eigene Mutter – als „Nur-Hausfrau“ – ganztags eigendisponiert die stets möglichst familiär sinnvollsten Erledigungsvarianten ihres täglichen Pflichtenkanons abwägen und ausführen konnte, steht die heutige Sozialstaats-Mutter noch in gänzlich anderen Entscheidungsnöten. Die Krankheit eines Kindes wird dort nämlich zur Herausforderung nicht nur für die häusliche, sondern gleich auch für die berufliche Welt. Handwerkerbesuche im Familienheim müssen mit Büroterminen koordiniert und Urlaube mit gleich zwei Arbeitgebern abgestimmt werden. Hausaufgabenbetreuung erledigt eine fremdeingekaufte Kraft ebenso, wie Chauffeur- und Babysitterdienste. All dies natürlich wiederum steuer- und sozialversicherungsabgabenpflichtig. Denn der Staat will ja an solchen Geschäften auch mitverdienen. Wo kämen wir denn hin, würden wir gar die – in großartigster Politagitation so genannten und folglich sogar dem Rechtsschreibprogramm positiv bekannten – „Hausmädchenprivilege“ oder andere sozial ungerechte Unanständigkeiten ermöglichen?

Mit alledem ersticken wir die vielfältigen Chancen auf tätige Liebe in den Familien mehr und mehr. Gardinen werden nicht mehr genäht, sondern an einem Urlaubstag gekauft und an einem weiteren geliefert. Geschenke werden nicht mehr gebastelt, sondern hektisch gekauft und professionell eingepackt. Den Kinderfahrdienst besorgt nicht mehr Mutti individuell, sondern ein tariflich bezahlter Chauffeur für ganze Kinderscharen, sonst wäre er unbezahlbar. Dessen Dienstzeiten stehen im übrigen seit Wochen fest, Verschiebungen ausgeschlossen, möglich allenfalls gegen Aufpreis, sofern arbeitszeitrechtlich überhaupt zulässig. Weil die diversen Hausaufgabenbetreuer und Kindertagesstättenmütter, die Krippenverwalter und Schulpsychologen, die Sozialarbeiter, Ernährungsphysiologen und Integrationskräftinnen (es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Rechtschreibprogramm auch dieses Wort kennen wird…), weil alle sie auch dem Wandel und Wechsel der Zeiten unterworfen sind, kennen sie in ihren stets wechselnden Besetzungen weder ihre Betreuungskinder mit Namen, noch gar deren individuelle Sorgen und Nöte über die Jahre ihrer Entwicklung. Die einstmals in höchstem Maße personalen und individuellen Beziehungen zwischen Vätern, Müttern und Kindern funktionalisieren sich in fragmentierte Rollenzusammenhänge. Das Prinzip der Prostitution wird verallgemeinert und auf alle menschlichen Lebensbereiche erstreckt. Kummer und Kümmern werden ersetzt durch zertifiziertes Qualitätsmanagement. Die Chancen, einen anderen über Jahre und Jahrzehnte als ganzheitliche Person zu kennen, zu verstehen und zu lieben, verflüchtigen sich ebenso wie die Erkenntnis, daß „lieben“ ein Verb und nicht ein Adjektiv ist. Statt an einer geliebten Person zu verzweifeln, unter ihrem Verhalten zu leiden, und dann zuletzt doch wieder den Zugang zu ihr zu finden, werden im sozialstaatlichen Familienbild einzelne Dienstleister schlicht ausgetauscht und Verträge – unter selbstverständlich stets strenger Beachtung kündigungsschutzgesetzlicher Restriktionen – beendet. Hier wird nicht mehr gefragt, erwogen und vereinbart, wie das Verhalten der einzelnen Familienmitglieder gruppendienlich sein könnte. Hier werden stattdessen schlicht gesetzliche Regeln des Miteinanders kalt vollstreckt. Und jedes liebevolle Tun für den anderen ragt plötzlich in den Bereich des steuerrelevanten Handelns.

Mit der Rolle der Nur-Hausfrau und des Nur-Hausmannes haben wir aber nicht nur das Prinzip der innerfamiliären Arbeitsteilung beerdigt. Wir haben zugleich die ökonomische Effektivität dieses Lebensentwurfes getötet. Denn wir haben jeden innerfamiliären Dienst zum Gegenstand einer finanzwirtschaftlichen Transaktion gemacht. Damit haben wir den möglichen Umfang dieser Dienste unabsehbar eingeschränkt. Müssen wir uns nach alledem also noch über vereinsamte und orientierungslose, über haltlose und auffällige Kinder wundern? Kann noch erstaunen, daß immer weniger Liebe waltet zwischen den Menschen? Hat nicht dieses sozialstaatliche Familienbild jetzt erst wahrhaft genau das herbeigeführt, was seine Protagonisten immer so gerne geißeln: Die Ökonomisierung der Lebensverhältnisse? Wie verblendet muß man sein, um dies zu übersehen?

Vor mehr als zwanzig Jahren hatte jemand in Düsseldorf auf einen Stromkasten geschrieben: „Welch’ schönes Wort ist Mutterglück – wie hässlich wäre Gluttermück!“. Heute sehen wir nicht nur Gluttermück, sondern gleich auch noch Statervolz dazu. Die Dinge haben sich, scheinbar politisch ganz korrekt, geändert. Doch für unsere Herzen sind diese Verhältnisse ganz inkorrekt. Lieblos.

Bürokraten am Krankenbett

Carlos A. Gebauer

Ein stechender Schmerz im Unterbauch riß Ludger B. jäh aus seinem Schlaf. Hilflos blickte er in den frühen Sonntagmorgen und rieb sich den nichtendenwollenden Krampf. Während seine Frau kurz darauf den Wagen unter dem Krankenhaus parkte, notierte der diensthabende Arzt: Unklare Diagnose. Gegen Nachmittag fand Ludger B. langsam wieder Ruhe in einem Krankenbett. Zehn Tage intensiver Untersuchungen später wurde er – beschwerdefrei – entlassen. Die Ursache seiner Leiden blieb unaufgeklärt.

Nur durch Zufall erfuhr er drei Jahre später, welchen Umfang seine Krankenakte späterhin noch angenommen hatte. Denn: Ludger B. ist gesetzlich krankenversichert. Eigentlich hatte er sich nie Gedanken darüber gemacht, daß bei allen Arztbesuchen und Krankenhausaufenthalten seines Lebens nie nach einem gefragt worden war: Nach Geld. Stets hatte er nur seinen gesetzlichen Krankenversicherer nennen und seine Versichertenkarte zeigen müssen. Alles andere geschah von selbst. Jedenfalls hatte Ludger B. das Gefühl, es geschehe von selbst. Tatsächlich lagen die Dinge auch dieses Mal anders. Denn das Krankenhaus sandte die Rechnung für seine Behandlung auch in diesem Falle an seine Krankenversicherung. Und der dort zuständige Sozialversicherungsfachangestellte entwickelte Zweifel: War die stationäre Behandlung des Ludger B. wegen Bauchkrämpfen an zehn Tagen tatsächlich erforderlich gewesen? Er wußte es nicht. Denn er war kein Arzt. Aber Zweifel hatte er dennoch. Also tat er, was zu tun war. Er beauftragte die Ärzte des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen mit einem Gutachten.

Einige Monate später erschien ein Gutachter des Medizinischen Dienstes in dem Krankenhaus. Er nahm Einsicht in die Krankenakte von Ludger B. und meinte: Wegen bloßen Bauchkrämpfen muß niemand zehn Tage im Krankenhaus liegen. Das hätte man kostengünstiger ambulant erledigen können. Die Krankenhausärzte waren erstaunt. Erst kürzlich war ein Kollege wegen fahrlässiger Körperverletzung zu Geldstrafe und Schadensersatz verurteilt worden, weil er einen Patienten mit unklarem Befund nach Hause geschickt hatte. Macht nicht, sagte der Gutachter. Hier ist ja nichts passiert. Die Rechnung wird nicht bezahlt.

Das Krankenhaus reichte die Akte an einen Rechtsanwalt. Der erhob Klage für das Krankenhaus gegen die Krankenkasse. Knapp anderthalb Jahre später trug der von dem Sozialgericht bestellte Obergutachter Prof. Dr. R. seine sachverständige Ansicht zu dem Fall mündlich vor. Er erklärte, die Krankenhausärzte waren damals aus ihrer Sicht zutreffend von einem stationären Behandlungsbedarf ausgegangen. Denn nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes entscheiden die Krankenhausärzte aus der jeweiligen Situation heraus, was medizinische notwendig ist. Nicht Jahre später ein Gutachter der Krankenkasse, der den Patienten nie sah. Und vor allem nicht mit seinem späteren Wissen, wie sich die Sache weiter entwickelte.

Drei Sozialrichter verurteilten also die Krankenkasse zur Zahlung an das Krankenhaus. Die Krankenkasse legte Berufung ein. Das Berufungsgericht mit seinen fünf Richtern wies die Berufung zurück. Die Kasse mußte Zahlen.

Jetzt, drei Jahre nach seinem Krankenhaus-Aufenthalt, saß Ludger B. mit einem Schulfreund in der Kneipe. Der arbeitete seit kurzem in dem Krankenhaus und hatte die Akte von dem Anwalt zu seinem Archiv zurückgesandt erhalten. Zwei Gutachter, acht Richter, vier Anwälte und ungezählte Sozialversicherungs- wie Justizangestellte kannten nun den Bauch von Ludger B. Gut, dachte er, daß ihn das alles nicht gekostet hatte.

Die Krise im Niemandsland zwischen Tradition und Fortschritt

Über Jahrtausende haben Menschen ihr Überleben mit Blicken in die Vergangenheit sichergestellt. Sie verhielten sich so, wie ihre Väter gehandelt hatten. Denn alte Bräuche und Sitten waren als taugliche Schlüssel zur Bewältigung der Wirklichkeit erwiesen. Wer lebte, wie er es von den Alten gelernt hatte, der musste nichts befürchten. Lebenstechniken, Regelgehorsam und innere Einstellung gaben Halt und Sicherheit. Nicht zuletzt religiöse und rechtliche Regeln waren gleichsam zu einer Einheit verbacken, selbst wenn sich der ursprüngliche Sinn bestimmter Traditionen nicht mehr aus sich selbst erschloss. Über die fast zwanghafte Regelgläubigkeit im alten Rom schreibt Heinrich Honsell: „Aufgrund der Vorstellung, dass das Recht eine von den Göttern gesetzte Ordnung sei, spielten auf einer frühen Kulturstufe die Priester im Recht eine besondere Rolle. Das Recht stand im Zeichen des Ritus und der symbolhaften Formen. Es herrschte ein extremer Formalismus. Unterlief bei den mündlich zu sprechenden Formeln nur der geringste Fehler, so war der gesamte Akt nichtig. Der kleinste Fehler machte eine Wiederholung des ganzen Rituals notwendig. Die Gebetsformeln mussten mit skrupelhafter Genauigkeit gesprochen werden. Dies galt selbst dann, wenn man ihren Sinn nicht mehr verstand.“ Unter keinen Umständen durfte auch nur ein einziger Gesichtspunkt übersehen werden, der das Funktionieren in der Vergangenheit bewirkt haben konnte: „Stil und Sprache dieser Gesetze sind ausgesprochen schwerfällig. Der Text sollte lückenlos und vollständig sein. Unverkennbar ist die Parallele zum Wortreichtum und zur Weitschweifigkeit der pontifikalen Gebetsformeln. Hier wie dort stand das skrupulöse Bestreben im Vordergrund, keinen denkbaren Fall, keinen möglicherweise relevant werdenden Umstand auszulassen.“

Dieser traditionell-konservative Zugang zur Wirklichkeit erfuhr mit den technischen Fortschritten und Erfolgen der Menschheit eine einschneidende Änderung. An die sicherheitsspendende Stelle der Vergangenheit traten Fortschritt und die Neuerung. Die Ewiggestrigen wurden verlacht. War der Blitzableiter einmal erfunden, musste kein Herr Florian mehr in komplizierten alten Formeln um göttliche Gnade für sein Haus beten, sondern er brauchte nur das moderne Gerät zu erwerben und zu installieren. Dann konnte er ganz komfortabel beobachten, wie das Haus seines traditionell agierenden Nachbarn im nächsten Gewitter ein Raub der Flammen wurde. Die alten Zöpfe konnten abgeschnitten und das überholte Weltwissen vergessen werden. Im Glauben an ein besseres Morgen und im Vertrauen auf eine goldene Zukunft lag nun das Heil. Friedrich August von Hayek sieht den Wechsel dieser Betrachtungsperspektive zeitlich bei der Französischen Revolution: „Wahrscheinlich war Stolz in die neuen Errungenschaften der Naturwissenschaften und Vertrauen in die Allmacht ihrer Methoden nie verständlicher als an der Wende des achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert“. Doch die Revolution der Mechanik brachte nicht nur technische Errungenschaften, sondern insbesondere auch die – von Hayek so genannte – szientistische Hybris hervor. Die technische Steuerbarkeit sollte nun auf gesellschaftliche Zusammenhänge übertragen werden. Der Sozialingenieur trat auf den Plan und forderte eine fortschrittlich-rationale Konstruktion des Staates. Zur gleichen Zeit, als die neuen Wissenschaftler minutiös begründeten, warum der Mensch aus zwingenden Gründen der Mechanik niemals werde fliegen können, keimten also die Sehnsüchte nach gesamtökonomischen Planungen auf. Der Physiker Thomas Görnitz schreibt: „Ich denke, dass zum Beispiel auch das ökonomische Modell einer gesamtstaatlichen Planwirtschaft, wie es der Marxismus propagiert hat, sehr stark von dem Denkmodell der Newton’schen Mechanik beeinflusst worden ist. So erinnert die Idee der Planbarkeit der Wirtschaft sehr an die Berechenbarkeit eines astronomischen Zwei-Körper-Problems. Natürlich klingt die Idee verlockend, durch eine gute Planung Verluste zu vermeiden. Das Problem in der Mechanik ist nur, dass es ein reines Zwei-Körper-System in unserer astronomischen Umgebung nicht gibt und dass bereits drei Körper in ihrem Verhalten nicht mehr beliebig gut berechenbar sind.“ 

Die Großfinanzexperten der Staaten, die Schutzschirmspanner und Liquiditätsinterventionisten unserer Zeit scheinen diese wissenschaftstheoretischen Einsichten jedoch nicht zu kennen. Hat sich die Blickrichtung von den Sicherheiten der Vergangenheit zu den Fortschrittsverheißungen der Zukunft nämlich einmal geändert, scheint ausgeschlossen, den blinden Vorwärtsglauben wieder zu bändigen. Denn das Vergangenheitswissen ist inzwischen schon weitgehend verloren. Manfred Osten beschreibt eine Zweiteilung der menschlichen Reaktion: „Die (noch) Memorierenden begleiten die Bewegung mit Pessimismus, Skepsis, Resignation oder Furcht. Die nicht (mehr) Memorierenden begleiten sie mit Optimismus und euphorischen Erwartungen“. Wir aber, zitiert Manfred Osten dann Ernst Jünger, „treiben Dinge, die durch keine Erfahrung begründet sind.“ 

Dies also ist unsere Situation: Wir machen, für was es kein Erfahrungswissen aus der Vergangenheit gibt, und was in seiner Komplexität zugleich so unbeherrschbar ist, dass sich die Entwicklung nicht ansatzweise seriös abschätzen lässt. Wer derart hilflos im dunklen Keller sitzt, hat Anlass, Gefühle der Angst zu entwickeln. Doch weil Furcht unsere charismatischen Weltführer nicht schmückt, stürzen sie sich in blinden empirischen Aktivismus, um zu sehen, was der Fall sei. Der Soziologe Northcote Parkinson schrieb 1970: „Wenn in Los Angeles Schwarze demonstrieren, dann ist es unsere erste Reaktion, die beteiligten Schwarzen zu zählen. Unsere zweite ist es, zu entscheiden, ob sie wirklich so schwarz sind, wie man sie hinstellt. Dass die Ermittlung von Fakten also ein Ersatz für das Treffen von Entscheidungen ist, weiß man ziemlich allgemein. Wir erkennen aber nicht, dass die Ermittlung von Tatsachen auch ein Ersatz für das Denken ist.“

Hier nun schließt sich ein bemerkenswerter Kreis: Während die alten Römer im Gebet aus Furcht und Orientierungslosigkeit minutiös bemüht waren, vollständig sein zu wollen (ohne selber genau zu wissen, warum), flüchten sich auch derzeit die politischen Krisen-Toreros in ein empirisches Klein-in-Klein, um zur Aufrechterhaltung eines schlechterdings nicht mehr aufrechtzuerhaltenden Finanzsystems gezielt dasjenige zu retten, was gerettet werden müsse (ohne selber genau zu wissen, warum). Die Bereitschaft und die Fähigkeit zum lernenden Blick in die Vergangenheit beschränkt sich auf die bloße Kenntnis schon bislang gescheiterter Investitionsprogramme, deren Misserfolg der aktive Nichtdenker im Zuwenig des Einsatzes wähnt. Wer mehr als drei Körper berechnen will, muss schon mindestens mit Milliarden jonglieren?

Zuletzt sehen wir eine gleichermaßen geschichtsvergessene wie konstruktiv überforderte globale Wirtschaftspolitik, die sich in aufwändigster, ritueller Finanzmechanik erschöpft, ohne denkend zum eigentlichen Kern der Krise vorzudringen: Wer den gesunden, freien und fairen Handel zwischen individuell rational agierenden Wirtschaftssubjekten durch politische Subventionen und Interventionen aller Art, durch Papiergelder, Teilreservesysteme oder sonstige Falschmünzereien stört,  der produziert ein Chaos, das er nicht mehr beherrschen und einen Kollaps, den er nicht mehr verhindern kann. Es war noch immer so.

Out of Neukölln

DieDebatte um den Neuköllner Bürgermeister Buschkowsy, um Unterschichtund Migranten, Integration und Förderung, Familienpolitik undTransferleistungen, um Meinungsfreiheit und Alkohol, Gutscheine undZahlungen, Pflichtkindergarten und Ganztagsbetreuung, sie zeigt: DieDeutschen haben lange nicht ernsthaft miteinander gestritten.

Bessergesagt: Der öffentliche Diskurs hat sie lange nicht vor dieHerausforderung gestellt, durch offene Diskussionen, die klareUmschreibung von Tatsachen und intensives Ringen unterschiedlicherMeinungen den zuletzt besten Lösungsweg zu finden. Allzu lange habenwir uns in einer scheinbar übersichtlichen Welt bewegt.Jahrzehntelang wurde praktisch jeder politische Disput unter zweiganz klare Gegensätze gefasst. Die einen, Fortschrittlichen, warensozial eingestellt und plädierten für auskömmlichsteUmverteilungszahlungen von den Reichen an die Armen; sie galtenzugleich als militärisch friedlich und umweltbewusst. Die anderen,Rückwärtsgewandten, galten als kalt und rücksichtslos; sie wolltennur Steuern sparen, notfalls gegen die Gesetze, und ihnen war dasSchicksal der Benachteiligten unserer Welt eigentlich egal. Jedegesellschaftliche Frage wurde in diese Kategorien gezwängt. Entwederman gehörte zu den einen oder man zählte zu den anderen. EinDrittes gab es nicht. Eher sah man noch die Ränder dahinter; aberdie waren ohnehin nicht salonfähig und folglich blieben sie für dasallgemeine Gespräch irrelevant.

DieKehrseite dieser lange gepflegten Vereinfachung zeigt sich nunoffenbar in ganzer Konsequenz. Die Öffentlichkeit hat verlernt, zustreiten. Sie differenziert nicht zwischen Themen undGesichtspunkten. Sie hält Unterschiedliches nicht auseinander undwirft stattdessen munter alles durcheinander. In der sich dabeientwickelnden Unübersichtlichkeit neigen dann nicht wenige zuNervenschwäche und emotionalen Überreaktionen. Statt über das zureden, worum es eigentlich geht, verliert sich der Streit inAbirrungen und persönlichen Vorhaltungen. Zuletzt sind dieWütendsten mit Worten gar nicht mehr zu erreichen. Sie flüchtensich in ihre schützenden Vorurteile und verweigern sich selbst denBlick auf das, was vor uns liegt. Dies ist insbesondere dann fatal,wenn der verlernte Meinungsstreit sich zu allem Unglück gleich nochauf Themen bezieht, die ihrerseits lange hätten erörtert wordensein müssen, es aber aus vielleicht falsch verstandenen, allzutabugläubigen Rücksichtnahmen – nicht wurden. Versuchen wir,nüchtern, eine Ordnung der Streitpunkte.

Ja,es gibt Migranten. Und ja, es gibt eine Unterschicht aus armen,unerzogenen, ungebildeten, zu einer Berufsausübung nicht fähigenMenschen. Es gibt auch Überschneidungen zwischen diesen Gruppen, ja.Und dort, wo sich das Elend aus alledem sammelt, da entstehen Orte,die wir „soziale Brennpunkte“ nennen. Buschkowskys Neuköllnist einer dieser Orte. Dort herrschen Nöte und Gewalt,Perspektivlosigkeit und Verzweiflung. Es ist kein guter Ort fürKinder. Denn Eltern, die diese Kinder in ein gutes Leben führenkönnten, gibt es dort vielfach nicht. Wie sollte auch einErwachsener, der sein eigenes Leben nicht aus eigener Kraft meistert,seinem Kind einen Weg in ein solches gutes Leben weisen? DieVermutung spricht dagegen. Und unsere Herzen sagen uns, dass genauhier mitmenschliche Hilfe geboten ist. Mehr noch: Uns drängt sichals plausibel auf, dass dort Hilfe notfalls auch gegen die fehlendeEinsicht von Eltern, zum Wohl der Kinder, geboten sein kann. Indesist Neukölln ebenso wenig Deutschland, wie die Bronx Amerika oderSomalia die Welt. Was dort geboten sein mag, ist es nicht an vielenanderen Orten Deutschlands. Denn nicht ganz Deutschland ist ein“sozialer Brennpunkt“. Folglich können die für Neuköllnangemessenen Maßnahmen nicht unbedachtsam dieselben Maßnahmen sein,mit denen Politik in München-Bogenhausen, in Meerbusch oder auf Syltagiert. Konkret: Auch wenn es in Berlin geboten sein mag, gewissenEltern von gewissen Kindern kein Bargeld in die Hand zu geben, weildort der konkrete Verdacht einer zweckwidrigen Verwendung besteht, solässt sich daraus nicht der allgemeine politische Schluss ziehen,alle Eltern von allen Kindern an allen Orten in Deutschland würdenin dieser Weise gegen das Wohl ihrer eigenen Kinder handeln. Folglichbesteht auch nicht ansatzweise ein zwingender Grund, die Kinderdieser Eltern gesetzlich unter Androhung von Zwangsmaßnahmen zuverpflichten, ab einem bestimmten Alter einen Kindergarten zubesuchen oder sich sonst öffentlichen Sozialisierungsmaßnahmen inder Regie unpersönlich-professioneller Tagesmütter zu unterziehen.Familienpolitik heißt nämlich nicht, Eltern und Kinder nachMöglichkeit so früh organisatorisch voneinander zu trennen, daßEltern – unter dem in die Jahre kommenden Kampfbegriff einer“Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ – möglichst viel undlange steuerpflichtig arbeiten und Kinder möglichst schnell undkostengünstig ihrerseits zu staatsfinanzierendenWirtschaftseinheiten geformt werden. Familienpolitik heißt: Elterndiejenigen Freiräume zu belassen, die sie brauchen, um mit sich undihren Kindern ein glückliches und erfülltes gemeinsames Leben zuleben.Ein solches erfülltes und gutes Leben in derGemeinschaft setzt allerdings voraus, dass alle Beteiligten auch gutmiteinander umgehen. Die Fähigkeiten für ein solches Leben werdenMenschen nicht angeboren. Sie müssen sie erlernen. Das geschiehtüblicherweise und am besten zuerst in der eigenen, vertrautenFamilie. Denn wenn der junge Mensch dort anfangs immer wieder Fehlermacht, aneckt und sich reibt, dann wird ihm all dies aus einemeinfachen Grund verziehen: Weil es in der Familie einen engenZusammenhalt und eine naturgegebene Verbindung, bestenfalls Liebe,gibt.  In diesem Umfeld kann Integration gelernt werden. DennIntegration heißt Einfügung und sie erfordert Anpassung. Wirklichessoziales Gemeinschaftsleben setzt Rücksichtnahme und Anpassunganeinander voraus. Wer sich nicht einfügt in den Kontext derGemeinschaft, der bleibt außen vor. Je länger Menschen aber insolcher Isolation verbleiben, desto schwieriger wird ihnen der Wegzurück in die Gesellschaft.

Wirin Deutschland haben uns – aus bekannten und im Ansatz fraglosrichtigen historischen Gründen – die Pflicht auferlegt, mitNicht-Deutschen einen vorbildlichen Umgang zu pflegen. AusFremdarbeiten wurden daher erst Gastarbeiter, dann Ausländer undschließlich Mitbürger mit Migrationshintergrund. Die Vorstellung,ihnen Anpassungsleistungen an unsere Gesellschaft abzuverlangen,schien vielen abwegig. Wir ließen sie, wie sie waren. Und wirakzeptierten – mit vielerlei gesetzlichen und behördlichen Maßnahmen- zunehmend ihre Isolierung aus den allgemein bestehendengesellschaftlichen Kontexten. Plötzlich sprach die dritte Generationder Einwanderer in das Nichteinwandererland Deutschland aber keinDeutsch mehr. Plötzlich gab es keine verbindende Sprache mehr in denGrundschulen des Landes, wo – an den „sozialen Brennpunkten“- deutsche Muttersprachler auf einmal die Minderheit waren. Wiekonnte das geschehen? Die Antwort ist bitter: Der sozialstaatlichvermeintlich vorbildliche Umgang mit jenen Migranten, die politischeBereitschaft zu ihrer schrankenlosen Alimentation und das allgemeinanerkannte Tabu, ihnen Integration in der Gestalt von mitwirkendenAnpassungsleistungen abzuverlangen, stürzten diese Gemeinschaftenimmer weiter in die Isolation von der sie umgebenden Welt namensBundesrepublik. Galt nicht selbst die Forderung nach nur sprachlicherAnpassung schon manchen als Ausdruck einer unerträglichenLeitkultur? Sehen wir es ein: Der Sozialstaat mit seiner schierunendlichen Zahlungsbereitschaft und mit der Scheu, ihre Mitarbeit zuverlangen, hat die Lage dieser Abgehängten erst maßgeblich selbstgeschaffen und intensiviert. Mehr noch: Mit aberwitzigenKonstruktionen wie dem des Mindestlohnes werden denunterdurchschnittlich Produktiven sogar aktuell ihre letzten Chancenverbaut, noch einmal realistisch Anschluss zu finden. Sie sindsozialstaatlich verurteilt zu  einem Leben in Abhängigkeit.

Wersich diese Zusammenhänge einmal vergegenwärtigt hat und wer die inden sozialen Parteien Verantwortlichen für diesen gesellschaftlichenSkandal erkennt, der muss schaudern, wenn nun aus genau diesen Reiheneiner hervortritt und den Opfern dieser PolitikVerantwortungslosigkeit vorwirft. Denn jene Politik hat genau dieseLage zuvor selbst mit geschaffen. Ebenso, wie wir erkennen, dass“Familienpolitik“ inzwischen genau das Gegenteil dessenist, was sie nach ihrem Namen zu sein vorgibt – nämlich längstPolitik gegen familiäre Zusammenhalte -, ebenso ist „Sozialpolitik“im Transferleistungsstaat zum Gegenteil dessen geworden, wonach sieklingt: Sie fördert nicht den soziale Zusammenhalt, sondern siesprengt ihn, sie trennt und sie isoliert, sie verweigert ihrenpolitischen Opfern den eigenen, authentischen Kontakt zurWirklichkeit.

Stattaber diese Fehler nüchtern einzuräumen, statt nun demütigabzurücken von den Tabukonventionen der Vergangenheit und mit derFehlerreparatur zurück zur gesunden Subsidiarität zu beginnen,heben nun die Gesänge des Vorwurfes an. Die Armen versaufen ihreSozialhilfe. Sie sind verantwortungslos. Geld darf nicht in ihreHände kommen. Mit anderen Worten: Derselbe Staat, der sie in dieseprekäre Situation mit seinen Bevormundungen erst hineinmanövrierthat, maßt sich nun das Urteil an, ihnen durch noch mehr Bevormundungden rechten Weg zu weisen. Mit Gutscheinen und Sachleistungspolitikwill er sie wieder – diesmal machtvoll – auf einen guten Pfad führen.Als wäre dies alleine nicht perfide genug, weil es nun denknotwendigalle hergebrachten Zurückhaltungen gegen Anpassungszwänge fallenlässt, wird diese Politik nun auch noch mit verbal entgleisendenVerhöhnungen verbunden. Einer, der in seiner Not und Verzweiflungkeinen anderen Ausweg sieht, als zur Flasche zu greifen, wirdplötzlich nicht mehr – wie sonst üblicherweise – als suchtkranktituliert und elaborierten Therapien gegen Polytoxikomanieunterzogen. Er ist nun nur noch ein „Säufer“. Mehr noch:Alle sind nun plötzlich solche, die ihre „Stütze versaufen“,sofern sie nur in das definitorischen Raster der Unterschichtfallen.Von einem Extrem in das andere. Gesund ist das nicht.Und eine schöne Debattenkultur spiegelt es auch nicht wider.Stattdessen heißt es, die groteske Pöbelattacke des Lokalpolitikersfalle unter die Meinungsfreiheit. Ob diejenigen, die da so pauschalgleich alle Schwächsten der Schwachen über einen Flaschenhalskämmen, sich wegen einiger korrupter Beamter hier und dort auchgetraut hätten, zu sagen, „die“ Beamten veruntreuen unserGeld? Hätten sie wegen einiger gewalttätiger Polizisten erwogen zu sagen, „alle“ Polizisten sind Schläger?Natürlich – und völlig zu Recht – nicht! Weil es Unsinn gewesenwäre. So wie es Unsinn ist, zu sagen, alle Unterschicht-Elternsaufen, statt für ihre Kinder zu sorgen. Und so, wie es Unsinn ist,zu sagen, alle Kinder aller Eltern müssten nun zu ihrem eigenen Wohleiner frühkindlichen Staatserziehung zugeführt werden.

ImStraßenverkehr gibt es, beim Autofahren, eine goldene Regel: Jeschneller das Auto fährt, desto langsamer müssen die Bewegungen desFahrers im Inneren werden. Wünschen wir uns für die Debattenkulturim Autofahrerland Deutschland dies: Je haariger die Themen werden, umdie wir streiten, desto emotionsloser muß unsere Wortwahl werden undumso sachlicher der Blick auf die Tatsachen, um die es geht. Wenn unsdies nicht gelingt, wären sechzig Jahre Vorarbeit für ein besseresDeutschland schnell verspielt. Diese Verantwortung für einen gutenStreit, hin zu guten Lösungen, kann keinem einzelnen von unsgenommen werden.

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