Verbesserter Kündigungsschutz

Carlos A. Gebauer

Sachfremde Erwägungen anzustellen, gilt unter Juristen eigentlich als Sakrileg. Als Einstellungsvoraussetzung für eine Grundschullehrerin beispielsweise darf nicht entscheiden, ob sie schön ist. Sondern maßgeblich ist, ob sie die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten erworben hat. Und eine Baugenehmigung muß erteilt werden, wenn öffentlich-rechtliche Vorschriften nicht entgegenstehen. Ob der Leiter des Bauamtes ein Freund des Bauherrn ist, spielt keine Rolle. Und so weiter. Und so fort.

Es gibt allerdings Fälle, in denen pikanterweise gerade solche sachfremden Erwägungen auch von Juristen ganz ernsthaft in den Mittelpunkt aller Diskussion gestellt werden. Es sind dies die Fälle arbeitsrechtlicher Kündigungen. Hier gilt, daß ein Bewerber zwar nach dem Kriterium eingestellt wird, ob er die von ihm verlangte Arbeit erbringen kann. Beendigt hingegen wird das Arbeitsverhältnis nach einem anderen Kriterium. Nämlich nach der Frage, ob die Kündigung „sozial gerechtfertigt“ ist.

Die Stoßrichtung dieser Regelung aus dem Kündigungsschutzgesetz ist klar: Wer einmal „Arbeit“ hat, der soll sie möglichst behalten. Ob der dann aus solcherlei sozialen Gründen weiterbeschäftigte Arbeitnehmer etwas kann und tut, was dem Unternehmenszweck seiner Firma dauerhaft dient, bleibt weitgehend außer Betracht. Im firmeninternen Wettbewerb um das betriebliche Bleiberecht mit anderen Kündigungskandidaten entscheidet gnadenlos die Sozialauswahl unter den betrachteten Mitarbeitern und also eine „sachfremde Erwägung“.

Über den Hintergrund muß man nicht lange spekulieren. Selbstverständlich ragt auch hier der „Sozialstaat“ wieder tief in den argumentativen Raum.

Doch das „Sozialstaatsprinzip“ ist nicht das einzige Prinzip, das unsere Verfassung mit Liebe verfolgt. Bekanntlich schützt der deutsche Staat zugleich auch die natürlichen Lebensgrundlagen. So nimmt durchaus Wunder, warum nicht auch dieses Staatsziel längst ergänzend Einzug gehalten hat in unser bundesdeutsches Arbeitsrecht. Insbesondere ließe sich eine zeitgleiche Umsetzung der Ideale von „Arbeit und Umwelt“ perfekt damit erreichen, daß man den Umweltschutz zum Regelungsgegenstand auch des arbeitsrechtlichen Kündigungsschutzes machte. Das Kündigungsschutzgesetz müßte nur ergänzt werden, etwa mit der Formulierung: „Die Kündigung gegenüber einem Arbeitnehmer ist rechtsunwirksam, wenn der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen sie nicht rechtfertigt.“ Solange man danach nur nicht zur ausgewiesenen „Öko-Sau“ würde, bliebe der Arbeitsplatz sicher.

In Landschaftsrahmenplänen könnten Richtlinien für rechtmäßige Kündigungen niedergelegt werden. Ebenso auch, wie Betriebsräten Widerspruchsrechte zustehen, könnten dem Betriebsbeauftragten für den Umweltschutz Einspruchsrechte gegen Kündigungen zugeordnet werden.

Je mehr aber über sachfremde Erwägungen gestritten wird, desto weniger spielen sachgerechte Argumente noch eine Rolle. Zum Beispiel die, ob mit einem Kollegen überhaupt noch sinnvoll zusammengearbeitet werden kann. Möglicherweise war dies auch für Juristen ursprünglich der Grund, sich sachfremden Erwägungen gegenüber so skeptisch zu zeigen. Wie sähe unsere Welt aus, wenn nur noch schöne statt kluge Grundschullehrerinnen Kinder unterrichten und nur noch Freunde des Baudezernenten in Häusern wohnen? Wahrscheinlich würde das Soziale leiden. Spätestens in künftigen Generationen.

Instanzen-Züge

Carlos A. Gebauer

Als der Bernd K. eines Mai-Nachmittages nach Hause kam, ahnte er nicht, welche Veränderungen seinem Leben unmittelbar bevorstanden. Im Briefkasten seiner Eigentumswohnung fand er die Nebenkosten-Abrechnung für das vergangene Jahr. Noch während er die Stufen in den zweiten Stock erklomm, öffnete er den Brief und erkannte sogleich: Die Abrechnung war falsch, zu seinen Ungunsten. Damit aber endeten die Unannehmlichkeiten dieses Tages nicht. Kaum hatte er seine Wohnungstür geöffnet, bemerkte er Veränderungen. Und tatsächlich: Auf dem Küchenboden lag seine Frau. Sie war erstochen worden.

Die von ihm eilends herbeigerufenen Polizeibeamten begannen sofort mit intensiven Ermittlungen und Befragungen im Haus. An deren Ende wurde Bernd K. selbst verhaftet und abgeführt. Die Ermittlungsbehörde sah den dringenden Verdacht, daß Bernd K. selbst seine Frau getötet hatte.

Einige Tage später hatte er Besuch in Untersuchungshaft. Sein Anwalt besprach die sämtlichen Einzelheiten des Tattages mit ihm. Auch auf die Abrechnung der Nebenkosten kam er zu sprechen. Nachdem die Indizien zum Tod seiner Frau im wesentlichen erörtert waren, kam Bernd K. nochmals auf diese unsäglichen Wohnungs-Nebenkosten zu sprechen. Es schien ihm merkwürdig, doch trotz seiner Lage hatte er Neigung, diese unrichtige Abrechnung nicht zu akzeptieren. Bevor der Anwalt ihn verließ, wurden also die Details jener Abrechnung noch besprochen.

In der darauffolgenden Nacht konnte Bernd K. aus einem ganz besonderen Grund nicht schlafen: Sein Anwalt hatte ihn über die gerichtlichen Instanzen-Züge sowohl im Hinblick auf das laufende Strafverfahren, als auch im Hinblick auf die Nebenkostenabrechnung belehrt. Würde ihn das Landgericht wegen Mordes an seiner Frau verurteilen, war lediglich das eine Rechtsmittel der Revision zu dem Bundesgerichtshof eröffnet. Angriffe gegen die Nebenkostenabrechnung seines Wohnungsverwalters hingegen ließen sich durch vier Instanzen treiben. Nach einer Entscheidung des Amtsgerichtes könnte mit sofortiger Beschwerde das Landgericht angerufen werden. Und gegen dessen Entscheidung wäre mit sofortiger weiterer Beschwerde das Oberlandesgericht zu befassen. Zuletzt bestünde in vierter Instanz die Möglichkeit einer Vorlage an den Bundesgerichtshof.

Bernd K. fand keine Ruhe. Denn welche Bedeutung hat schließlich eine Nebenkostenabrechnung im Vergleich zu einem lebenslangen Gefängsnisaufenthalt? Über weitere Beschwerden zu dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte dachte er in jener Nacht gar nicht nach.

Einige Wochen später verließ er den Schwurgerichtssaal des Landgerichtes als freier Mann. Die Staatsanwaltsschaft hatte bereits Rechtsmittelverzicht erklärt. Der Freispruch war rechtskräftig. Die verdächtigen Fingerabdrücke seiner Frau auf dem Brief der Hausverwaltung hatten aufgeklärt werden können. Sie hatte schon morgens, Stunden vor ihrem gewaltsamen Tod geahnt, daß er sich über die Abrechnung ärgern werde. Daher hatte sie den Brief zurück in den Kasten geworfen.

Die Abrechnung hat Bernd K. nicht mehr angegriffen. Da er seine Wohnung nun alleine bewohnte, wurden die Vorauszahlungsbeträge ohnehin herabgesetzt. Außerdem wollte er den Staat nicht mehr mit Geringfügigkeiten belästigen. Denn der wahre Mörder seiner Frau war noch immer nicht gefaßt.

Vorhandene Sexualität gerecht verteilen!

Eine kleinegeschlechtsunspezifische Groteske

von Carlos A. Gebauer

Die Demographen sind unerbittlich: Deutschlandwird zunehmend älter. Erotik und Sexualität, sagt man,werden damit zu immer knapperen Gütern. Folglich sollte nur eineFrage der Zeit sein, bis die üblichen Verdächtigen auf denGedanken kommen, die auf diesen Gebieten noch verfügbaren Reizeund Schätze der Geschlechter zum Gegenstand staatlicherZuteilung zu machen. Insbesondere wird man naheliegenderweiseerklären, dass die individuelle Zuordnung der beschränktvorhandenen Reserven keinesfalls einem wie auch immer geartetenfreien Spiel der Kräfte überlassen werden darf. Sexualitätist schließlich keine Ware – es sei denn, sie wird vonsozialversicherungspflichtigen und steuerzahlenden Prostituiertenausgeübt, was aber hier wirklich nicht das Thema ist.

Während schon heute die einen von Verabredungzu Verabredung jagen und in unverantwortlichem hormonellenProfitstreben ihre Abenteuerkonten schwindelerregend füllen,müssen die Benachteiligten und Zukurzgekommenen noch vergeblichauf die auch nur einfachste Liebkosung warten. Wie soll diese Lageaber erst bewältigt werden, wenn demnächst nur nochverwitwete Scheidungskinder auf schwer traumatisierte Trennungsopfertreffen, die mit dem anderen Geschlecht wirklich definitiv undendgültig abgeschlossen haben? Solche unbrüderliche undunschwesterliche Ungleichheit kann ein moderner Staat eigentlichnicht länger tatenlos hinnehmen! Was steht bei dieserAusgangssituation zu erwarten?

Der heute herrschende,politikprägende Vulgärmarxismus hat bekanntlich durchgängigdarauf hingewiesen, dass jedwede menschliche „Freiheit“einer besonderen interpretatorischen Deutung bedarf. Bei einerendlich konsequenten Übertragung dieser sozialistischenFreiheitsleere aus dem rein politischen auf den Bereich auch derSexualphilosophie kann sich daher folgerichtig nur eines ergeben:Sexuelle Freiheit bedeutet nicht das individuelle Freisein vonsexuellen Übergriffen anderer, sondern wahrhaftige sexuelleFreiheit ist im wesentlichen das persönliche Freisein vonsexueller Not. Und, Hand auf’s Herz meine Herren, wer hättesich in seinem Leben noch nie über das geärgert, was meinFreund H. regelmäßig in die Worte kleidet: „Diegrößten Idioten kriegen immer die besten Frauen“?Doch – langsam! – es gibt Lösungen.

Wer also trotz emsigen Strebens und eifrigenWerbens an seinem Wohn- oder Arbeitsplatz – infolge vonHässlichkeit, Ungepflegtheit oder sonstiger Inkommunikativität– nicht teilhaben kann an angemessener, notwendiger underforderlicher Sexualität, der könnte zur Durchsetzungseiner legitimen erotischen Partizipationsinteressen dann vielleichtbald auf staatliche Eingriffe setzen dürfen.

So wandelt sich mit der herrschendensozialistisch-marxistischen Philosophie nämlich auch auf diesemGebiet des menschlichen Lebens der Freiheitsgedanke vom reinenAbwehrrecht gegen klebrig-geifernde Hände schon bald zu einerjuristisch einwandfreien Eingriffslegitimation in die intimenBesitz-Sphären der sexuell Vermögenden. Die Pflicht zurDuldung und Durchführung des Geschlechtsverkehrs mitUnattraktiven erstarkt dann endlich zur solidarischen Aktion improletarischen Kollektiv. Die bisherige Geringschätzung derfrustrierten Fortpflanzungsgelüste anderer durch das gezielteVorenthalten von Körperkontakten wird damit ihr jähes Endefinden.

Für Theoretiker auf hohen Abstraktionsebenenist bei alledem besonders eine wesentliche Neujustierung der heutenoch herrschenden mitteleuropäischen Sexualmoral von Bedeutung:Mit den derzeit im mitteleuropäisch-westlichen Kulturkreis nochgeltenden Gesetzen wird bekanntlich die sogenannte sexuelle Identitätdes einzelnen geschützt. Selbst anzügliche Bemerkungen amArbeitsplatz können damit als unerwünschte sexuelleÜbergriffe gewertet und beispielsweise zum Anknüpfungspunktfür fristlose Kündigungen o.ä. gemacht werden.

Ganz offensichtlich handelt es sich hierbei aberum in Wahrheit ganz rückständige, bei genauer Betrachtungwahrscheinlich sogar politisch völlig unkorrekte,spätkapitalistische Restbestände einer bürgerlichenSexualmoral. Denn sie räumt den individuellen Sonderinteressendes einzelnen geschlechtlichen Besitzers und potentiellen erotischenLeistungserbringers den Vorrang vor den gesellschaftlichen Interessenan einer gleichberechtigten und gleichmäßigen Verteilungder vorhandenen Volkskörperlichkeit ein. Damit muß endlichSchluß sein! In einem Staat, der nicht verhindert, dass dieSchönen immer schöner und die Häßlichen immerhässlicher werden, sind die elementaren menschenrechtlichenBelange des ortsüblichen Fortpflanzungsgeschehens greifbar insHintertreffen gelangt. Der Gesetzgeber ist also gefordert. Diegeltenden Gesetzesregeln über zulässiges sexuelles Werbenbedürfen – einschließlich aller Regeln über diesogenannte Belästigung am Arbeitsplatz – dringend einertiefgreifenden Reform. Das liegt so evident auf der Hand, dassdarüber gar nicht weiter gesprochen werden muß.

Konservative Feministinnen hatten ja schontraditionell darauf hingewiesen, dass die patriarchalischenBesitzinteressen eines einzelnen Mannes an dem Köper „seiner“Frau mit den gesamtgesellschaftlichen Interessen an einer erfülltgelebten weiblichen Sexualität nicht vereinbar sind. Hier aberkann nicht auf halbem Wege stehen geblieben werden. Vielmehr wird derüberkommene bürgerliche Restbestand an maskulinen wiefemininen Besitzinteressen im Zuge der gebotenen Gesetzesnovellenebenfalls fortentwickelt werden können und müssen,gleichsam weg von „Mein Bauch gehört mir!“ zu „EureBäuche und Gesäße gehören uns allen!“.

Die Stärkung des Solidargedankens auch undgerade in bezug auf die menschliche Triebhaftigkeit wird dasgesellschaftliche Bewusstsein in dieser anthropologisch so eminentwichtigen Frage maßgeblich von den Individualinteressen aneiner exklusiv gelebten Zweisamkeit zugunsten einer offenenSexualität befreien und damit zu einem insgesamtfortschrittlichen Körperbewusstsein führen. Also: Vorwärtsmit Kommunalbrüsten und Gemeinwirtschaftslenden in eine sexuellgerechte Zukunft!

Bis diese Modernisierung des kollektivenBeischlafrechtes allerdings alle parlamentarischen Laken durchwühlthaben wird, werden wir Männer uns noch überkommen-traditionellerStrategien befleißigen müssen, um – wie es mein FreundH. ausdrückt – schon jetzt und bis auf legislativ weiteres andie richtig guten Frauen heranzukommen. Ich jedenfalls habe meinekleine Lösung gefunden, die Sie, Männer ebenso wie Frauen,einfach nachleben können: Werden sie einfach zum komplettenIdioten!

Ein neues Gesundheitssystem ist möglich

Eine Zeitreise nach 1979, 2009, 2011…

„Es ist sinnlos, auf gut Glück in der Endlosigkeit der Wüste einen Brunnen zu suchen. Dennoch machten wir uns auf den Weg.“

(Der kleine Prinz)

Es gibt bekanntlich – neben ungezählten Misch- und Zwischenformen – im Wesentlichen zwei Gruppen von Kassenärzten in Deutschland. Die eine Gruppe besteht aus Resignierten, die im 33. Jahr der gesetz­geberischen Kostendämpfung im Gesundheitswesen nicht mehr an irgendeine Änderung zum Guten glauben. Die andere Gruppe ist die der Hoffenden. Die Mitglieder dieser Gruppe nehmen an, die Lage werde sich eines Tages vielleicht doch noch bessern.

In der Tat fällt die Vorstellung auf den ersten Blick schwer, es könne dem deutschen Gesundheitssystem gelingen, sich aus den Fesseln seiner irrationalen Statik und Architektur zu befreien. Zu festgefahren erscheinen seine Strukturen und zu groß die mächtigenBeharrungskräfte all derjenigen, die – ein jeder für sich persönlich – in den Nischen des marodierenden Gesamtsystems noch immer irgendwie ihr Auskommen finden. Zudem haben es Politik oder Schicksal gefügt, dass allzu viele derjenigen, die gedeihliche Alternativen denken und kommunizieren, untereinander zerstrittensind.

Im Vergleich zu den Interessen- und Kooperationsgrenzen der ungezähltenTeilnehmer am sozialversicherungsrechtlichen und sozialpolitischen deutschen Diskurs erscheinen die kartografischen Grenzverläufe des späten politischen Jugoslawiens oder die der ethnischen Gruppen in Indien noch vergleichsweise übersichtlich. Gleichwohl besteht dennoch Anlass zu der Hoffnung, dass unser vielerorts bis zum Atemstillstand ersticktes, unser bewegungsunfähig gefesseltes und unser mit den absurdesten Denkverboten gehemmtes Gesundheitswesen durchaus eine Befreiung erfahren kann. Nichts lässt diese Hoffnung mehr keimen und sprießen als ein einfacher Blick auf die jüngste Geschichte unseres Kulturkreises. Denn die Bereitschaft, sich von den Möglichkeiten des Wandels faszinieren und anstecken zu lassen, setzt ungeahnte Kräfte frei. Das, was einstmals völlig undenkbar erschien, kann in übersehbaren Zeiträumen offenbar durchaus Realität werden. Wenn Menschen es nur wirklich wollen.

Versetzen wir uns zu diesem Zweck exemplarisch um 30 Jahre zurück. Überlegen Sie, wie alt Sie 1979 waren. Erinnern Sie sich daran, wo Sie wohnten. Denken Sie, was Ihr Leben zu dieser Zeit prägte.

Das Jahr 1979 begann in Deutschland damit, dass der Norden im Schnee versank. Die Partei der „Grünen“ gründete sich, im Iran übernahm der Ayatollah Khomeini die Macht und vertrieb den Schah, im Irak begann die Ära Saddam Hussein. Die Sowjetarmee besetzte Afghanistan, weswegen weite Teile der westlichen Welt im Folgejahr die Olympischen Spiele in Moskau boykottierten. Die NATO fasste ihren„Doppelbeschluss“, und Michael Ende veröffentlichte „Die unendliche Geschichte“. In Harrisburg havarierte ein Atomkraftwerk, und in Gorleben protestierten die Massen nicht nur deswegen gegen den Vater von Ursula von der Leyen.

Was hätten wir damals gesagt, wenn uns angekündigt worden wäre, dassin 30 Jahren Hoffenheim als Bundesliga-Herbstmeister in das Jahr 2009 starten würde? Hätten wir geglaubt, dass es eine innerdeutsche Mauer nicht mehr geben würde, von der Erich Honecker noch Mitte 1989 behauptete, sie werde auch in 100 Jahren noch stehen? Wäre uns die Prognose realistisch erschienen, dass ganz Deutschland dann von einer Frau aus der ehemaligen DDR regiert werden würde?

Was hätten wir dem geantwortet, der – fünf Jahre vor dem großen Zapfenstreich für den Vier-Sterne-General Kießling (dessenVerlässlichkeit in Zweifel gezogen wurde, weil er möglicherweise ineiner Schwulen-Bar gesehen worden war) – prophezeit hätte: In 30Jahren wird ein ungeteiltes Berlin von einem bekennenden homosexuellen Bürgermeister regiert, der mit den Stimmen der SED/PDS in sein Amt gewählt worden sein wird? Wäre uns dies nicht möglicherweise ebenso abwegig erschienen wie die Perspektive, dass ein homosexueller Christdemokrat gemeinsam mit den soeben gegründeten „Grünen“ dann die Regierung des Stadtstaates Hamburg stellen könnte? Würden wir für möglich gehalten haben, dass eine Tagesschausprecherin wegen der Ansicht, Frauen dürften durchaus auchMutter sein und müssten nicht ausschließlich Karriere machen, der Sympathie mit nationalsozialistischer Familienpolitik geziehen werden könnte, während gleichzeitig die Bundesfamilienministerin für mutterschaftswillige berufstätige Frauen eine „Herdprämie“auslobt?

All dies wäre uns sicher ebenso unwahrscheinlich und abwegig erschienen wie die Vorstellung, für Bierdosen oder Plastikflaschen Pfand zubezahlen. Wir hätten uns nicht vorstellen können, dass die EU uns30 Jahre später den Besitz und den Gebrauch von Glühbirnenverbieten würde. Es hätte unsere Vorstellungskraft gesprengt, dass zusätzlich zu bestehenden straßenverkehrszulassungsrechtlichen Abgasregelungen und einer weiteren Abgassonderuntersuchung fürunsere Autos ergänzende „Umweltzonen“ in Städten eingerichtetwürden. Niemand hätte geglaubt, dass 30 Jahre später ein jeder vonuns seine Urlaubsbilder, seine Bankdaten, seine Korrespondenz undseine Lieblingsmusik in einem kleinen elektronischen Kästchenaufbewahren könnte, das mit einer Telefonleitung verbunden seinwürde und dass der Bundesinnenminister jederzeit Zugriff auf dieseInformationen haben wollte. Die Vorstellung, den eigenenFingerabdruck digital erfasst in einem Reisepass präsentieren zumüssen, wäre uns 1979 ebenso absurd erschienen wie die Ankündigung,es werde in Kneipen nicht mehr geraucht werden dürfen.

Ein massives Kopfschütteln wäre dem entgegengeschlagen, der seinerzeit zu prognostizieren unternommen hätte, dass die gerade mit ihrerKandidatur für den Kommunistischen Bund Westdeutschland für denBundestag gescheiterte Ulla Schmidt das Jahr 2009 mit dem politischenProgramm beginnen könne, private Krankenversicherungen abzuschaffen.Wer hätte geglaubt, dass die Mudschaheddin in Afghanistan 30 Jahrespäter keine „Freiheitskämpfer“ gegen russische Besatzer mehrsein würden, sondern dann Taliban heißen und eine Gefahr für diedeutsche Bundeswehr darstellen? Kaum jemand hätte gedacht, dass dieFreiheit der Deutschen dann auch am Hindukusch würde verteidigtwerden müssen. Wer schließlich hätte für möglich gehalten, dassdie USA im Jahre 2009 einen Schwarzen zu ihrem Präsidenten wählenwürden, den seine Eltern auch Hussein nannten und den eineüberwältigende Mehrheit aller Amerikaner als Messias verehrt?

Es lässt sich erkennbar kaum plastischer vergegenwärtigen, zu welchen massiven Meinungs- und Ansichtsänderungen Menschen binnen wenigerJahre in der Lage sind. Und es lässt sich nicht deutlicher zeigen,welche Konsequenzen diese neuen Ideen auf die Realitäten haben, dieunser Leben prägen. Es besteht daher überhaupt kein zwingender Grund zu der Annahme, dass die über viele Jahrzehnte krankhaftgewucherten Strukturen des groteskerweise immer noch„Gesundheitssystem“ genannten Molochs nicht ebenso einegrundlegende Änderung erfahren könnten. Statt zu resignieren,bedarf es nur der Hoffnung, der tragfähigen Gegenmodelle und –zuletzt – der alles entschlossen umsetzenden Tat. So wird sich dasscheinbar Unrealistischste umsetzen lassen, auch ohne dass weitere 30Jahre vergehen müssten, Der Verstand kann den Irrtum besiegen. Wirmüssen es nur für möglich halten, wir müssen es wollen und wir müssen es tun.

Hochschule in Windeln

von Carlos A. Gebauer

Das niedersächsische Hochschulgesetz ermöglicht, daß Frauen eine Professur erhalten, ohne zuvor eine Doktorarbeit geschrieben zu haben. Frauen, die sich auf eine solche Professur bewerben – zum Beispiel bei der Fachhochschule Hildesheim – erhalten dezidierte Auskünfte hierzu bei der Hochschule. Genauer gesagt natürlich bei dem dortigen Frauenbüro.

Bei Lektüre der Hildesheimer Stellenanzeige saß ich in meinem Männerbüro und fragte mich: Warum muß der männliche Bewerber schon promoviert zu haben, wohingegen seine Mitbewerberin diese Arbeit noch nachschieben darf? Ein telefonisch rasch befragter Kenner aus dem Bekanntenkreis wußte die Antwort. Hier, sagte er, werden gleichsam pauschal erziehungszeitbedingte Ausfallzeiten kompensiert. Mit anderen Worten: Das Gesetz geht davon aus, daß die Bewerberin um die Professur noch Windeln wechselte, während ihr männlicher Konkurrent schon eifrig Fußnoten für seine wissenschaftliche Arbeit zusammenstellte. Diesen sozusagen naturgegebenen biologischen Rückstand der Frau im Raum-Zeit-Kontinuum will der Gesetzgeber durch hochschulgesetzliche Bestimmungen ausgleichen.

Nach dem freundlichen Telefonat mit meinem kenntnisreichen Bekannten sah ich mich dennoch im Detail weiter ratlos. Denn es könnte sich doch – theoretisch – erweisen, daß jene bereits eingestellte Frau Professor zur Abfassung einer Dissertation möglicherweise ungeeignet ist. Zeitgleich aber hätte sie ihre Studenten schon unterrichtet. Dann wäre doch – theoretisch – möglich, daß die Studenten von ihr Dinge gelernt hätten, die – vielleicht – mit den anerkannten Standards der Wissenschaft nicht in direktem, zwingendem Zusammenhang stünden. Sie müßten also das gelernte Falsche wieder neu – und jetzt richtig – studieren.

Da man nicht rückwärts studieren kann, drängt sich also die Frage auf: Ob das Hochschulgesetz den hiervon betroffenen Studenten die – gleichsam mittelbar erziehungszeitbedingt unnötig aufgewendeten – Studiensemester fiktiv durch eine Anrechnungsklausel der Hochschulverwaltung ausgleicht? Ich dachte an die Zubilligung besonderer Anwartschaften für die Altersrente, entsprechend der Dauer einer unnötig aufgewendeten Studienzeit, beispielsweise.

Noch während ich das Wort „Rente“ dachte, erschien ein weiteres Szenario vor meinem inneren Auge. Was eigentlich ist mit behinderten oder ausländischen oder religiös verfolgten Bewerberinnen? Diesen wären noch weitere promotionshinderliche Schicksale widerfahren, konsequenterweise ebenfalls ausgleichungswürdig. Wäre es also – in solchen, besonderen Fällen – nicht auch gerecht, diese Bewerberinnen noch intensiver bevorzugt zur Professur einzustellen? So ließe sich ihnen etwa die Möglichkeit einzuräumen, bereits ihr Studium oder gar ihr Abitur während der bereits laufenden Lehrtätigkeit als Professorin nachzuholen. Ich begriff, daß das Thema wahrhaftiger Gleichbehandlung und totaler Gleichstellung in Deutschland ersichtlich noch vielerlei ungeklärte Fragen aufwirft.

Kurze Zeit später telefonierte ich wieder mit meinem kundigen Bekannten. Er sagte, er halte nichts davon, Frauen immer gleich zu stellen. Manche machten sich auch im Liegen ganz gut. Ich habe bis heute nicht begriffen, was genau er damit gemeint hat.

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