Die Schildbürgerversicherung

von Carlos A. Gebauer

Diese Geschichte kennt jeder: Die Bürger von Schilda hatten ein Haus gebaut. Aber sie hatten die Fenster vergessen. Nachdem sie sich in den finsteren Räumen beraten hatten, beschlossen und begannen sie, das Sonnenlicht mit Säcken in das Haus zu tragen.

Eine andere Geschichte ist weniger bekannt: Auch bei dem Bau der Gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland wurden die Fenster vergessen. Denn wer medizinische Hilfe in Anspruch nimmt, der bezahlt nicht mit Geld. Statt dessen legt er zur Gegenleistung mit seiner Versichertenkarte eine Art Bezugsschein vor. Die Werte von Leistung und Gegenleistung sind in diesem primär geldlosen System nie ausgewogen. Denn sie stehen in keinerlei Relation zueinander. Die Preisfindung ist schlicht ein betriebswirtschaftlicher Blindflug. Im Ergebnis werden auf Basis stets neu justierter Gerechtigkeits- und Verteilungserwägungen nur Verrechnungspreise verglichen. Der Patient als Verbraucher zahlt mit einem bestimmten Pro-Rata-Anteil seines Arbeitsverdienstes. Wer weniger verdient, macht ein gutes, wer mehr verdient, ein schlechtes Geschäft. Alle Beteiligten tasten sich also nur blind durch einen fensterlosen Raum.

Mit buchstäblich tausenden Gesetzesänderungen wurde über Jahrzehnte immer wieder versucht, Licht mit Säcken in das System zu tragen. Budgets wurden eingeführt, Gesetze reformiert, strukturiert und modernisiert, Beiträge erhöht, gesenkt, der Kreis der Versicherten immer weiter vergrößert, wettbewerbsähnliche Elemente wurden eingeführt, ein Finanzausgleich unter den Kassen etabliert. Doch: Alles umsonst. Immer wieder bestand und besteht „Reformbedarf „.

Ursprünglich waren rund 10% der Bevölkerung Kassenmitglieder. Heute sind es über 90%. Und jetzt hebt der – ideologisch nur konsequente – Endkampf um die Totalerfassung aller Bürger in das System an. Zur Debatte steht eine „Bürgerversicherung“. Fortan sollen nicht mehr nur bestimmte Arbeitnehmer mit deren Familien und sonst in das System fallende Personen zu Einzahlern werden, sondern auch Beamte, Richter, Selbständige – jedermann.

Mit bemerkenswert titulierten Gesetzen, wie etwa dem „zur Stärkung der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung“ waren schon in der Vergangenheit die Freiräume für eigenverantwortliche Versicherung verschmälert worden. Jetzt aber wollen die Gesetzesentwerfer niemanden mehr entkommen lassen. Jeder wird als sozial schutzbedürftig definiert und soll der Einheitsversicherung angeschlossen werden. Das Geschick, sein eigenes Leben vertraglich abzusichern, soll generell unbeachtlich werden. Bestehender privatrechtlicher Versicherungsschutz wird durch die faktische Beseitigung dieses Versicherungszweiges ausgehöhlt. Krankenversicherungsschutz würde damit gleichgeschaltet.

Können wir aber dulden, unser medizinisches Schicksal dergestalt mit Säcken in die Finsternis tragen zu lassen? Können wir zum Tod des Zivilrechtes auf dem Gebiet der Gesundheit schweigen? Und können wir hinnehmen, wenn unser nach dem Mauerfall sicher geglaubtes Verfassungsrecht als deutsche Bürger, einer Vereinigung nicht beitreten zu müssen, in diesem elementaren Bereich beseitigt wird?

Wir haben schon zum bestehenden System viel zu lange geschwiegen. Jetzt ist jedermann aufgerufen, der totalen Schildbürgerversicherung entgegenzutreten.

Klaffende Regelungslücken schließen

von Carlos A. Gebauer

Es gibt Bilder von zeitloser Schönheit und unbändiger Kraft. Das Aufflammen einer im Horizont schmelzenden Sonne, die Silhouette meiner schlafenden Frau im Gegenlicht einer Vollmondnacht, oder einen Neunjährigen, der mit ernstem Gesicht auf einer morgentau-feuchten Wiese behende eine Panzerfaust in Stellung bringt. Letzteres jedenfalls könnte die Phantasie einiger Damen und Herren des Bundeswirtschaftsministeriums gewesen sein, als sie die „Verordnung über den Umgang mit unbrauchbar gemachten Kriegswaffen“ vorbereiteten, die bekanntlich am 10. Juli 2004 in Kraft trat.

Nun endlich hat auch der Gesetzgeber klargestellt und ausgesprochen, was manch einer schon ohne Lektüre des Bundesgesetzblattes angenommen hätte: Kindern und Jugendlichen ist der Umgang mit unbrauchbar gemachten Kriegswaffen verboten. Deutsche Eltern, denen bislang noch selbstverständlich schien, die Persönlichkeitsentwicklung ihrer Kinder mit zünderlosen Handgranaten, bolzenverklemmten Automatikgewehren oder inaktiven Milzbrand-Erregern zu fördern, werden mithin umdenken müssen. Das Bild deutscher Gymnasiasten, die kraftvoll-elegant panzerbrechende Geschütze durch unsere Fußgängerzonen tragen, wird sich demnach jetzt tiefgreifend wandeln. Denn die Erziehungsberechtigten haben Bußgelder zu befürchten, falls sie in ihrer Pädagogik fortfahren wie bisher. Wir reden immerhin von einer Ordnungswidrigkeit.

Es sei denn, die betroffenen Eltern wählen ordentlich den ordnungsgemäßen Weg durch die ordnende Bürokratie. Tatsächlich nämlich hat der Gesetzgeber – der Laie ahnte es, der Fachmann war fast sicher – auch in diesem Falle sorgfältig eine Ausnahmeregelung geschaffen: Wenn besondere Gründe vorliegen und öffentliche Interessen dem nicht entgegenstehen, kann – im Einzelfall, ausnahmsweise – auch einem Kind der Umgang mit unbrauchbar gemachten Kriegswaffen genehmigt werden. Zuständig ist das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle.

Die Verordnung über den Umgang mit unbrauchbar gemachten Kriegswaffen lehrt demnach über ihren bloßen Inhalt hinaus wenigstens zweierlei: Erstens bleibt der Gesetzgeber erkennbar bemüht, auch noch in den abseitigsten Lebensbereichen das Selbstverständliche in Verordnungsform auszusprechen. Zweitens wird das, was ohnehin schon jedem klar war, für alle Fälle auch noch mit der Möglichkeit einer Ausnahmeregelung versehen. Jedermann ist eingeladen, sich „besondere Gründe“ auszudenken, die dafür sprechen könnten, einer Vierzehnjährigen den Umgang mit einer funktionsuntüchtigen Maschinenpistole zu gestatten.

All dies könnte nicht ärgern, wäre es nur die harmlose Freizeitgestaltung einiger Kriegsveteranen oder therapierter Pyromanen. Das aber ist es nicht. Vielmehr werden hier Stäbe von Verwaltungsbeamten öffentlich alimentiert, deren gesamtes Leben und Arbeiten ausnahmslos aus Steuermitteln finanziert ist. Und zaghaft erst weist die jüngere volkswirtschaftliche Literatur auf ein pikantes Detail hin: Öffentlich Bedienstete tragen zum Bruttosozialprodukt eines Volkes tatsächlich nichts – wirklich gar nichts – bei.

Doch wo Krisen sind und Ärgernisse, da sind oftmals Chancen auch und Trost. So auch hier: Nach ihrem § 1 Satz 2 gilt die Konfitürenverordnung vom 22. Oktober 2003 nicht für Erzeugnisse, die zur Herstellung von Keksen bestimmt sind. Das Gesetz schenkt uns damit auch noch ein anderes, kraftvoll-schönes Bild. Krümeln wir also, unbeherrscht!

Die Arzthaftung des Staates

Ein gesundheitsrechtlicher Ausblick

Ärztliche Heilkunst wird am Patienten erbracht. In rechtlicher Hinsicht ist ärztliches Handeln eine Dienstleistung. Der Arzt dient dem Patienten mit seiner Leistung.

Wenn ein Arzt Dienste erbringt, wird er für diese in der Regel entlohnt. Demnach ist jeder Vertrag zwischen Arzt und Patient ein wechselseitiges Geschäft. Der Arzt verpflichtet sich, kunstgerechte Behandlungsdienstleistungen zu erbringen. Umgekehrt verpflichtet sich der Patient, diese Leistungen angemessen zu vergüten. Fleißleistungen des Arztes werden gegen Fleißleistungen des Patienten – ausgedrückt in Geld – getauscht.

Das Fünfte Sozialgesetzbuch in Deutschland hat diese grundlegenden Mechanismen des Behandlungsvertrages weithin für gegenstandslos erklärt. Wer „gesetzlich krankenversichert“ ist, schließt mit seinem Arzt oder seinem Krankenhaus keinen Behandlungsvertrag. Vielmehr haben Patienten hier nur einen Leistungsgewährungsanspruch gegen die Krankenkasse, bei der sie gesetzlich zwangsversichert sind. Der genaue Inhalt dieses Leistungsanspruches ist unbestimmt. Er wird von Politik und Gesundheitsverwaltung jeweils generell-abstrakt anhand diffiziler Kriterien beschrieben und festgelegt. Das Bundessozialgericht spricht von einem „Rahmenrecht“. Für jeden konkreten Einzelfall muß hoheitsrechtlich ermittelt werden, auf welche Behandlung Anspruch besteht.

In der Konsequenz dieser Konstruktion liegt, daß sämtliche Funktionen des traditionellen Tauschvertrages ebenfalls ersetzt werden müssen. Neben der Leistungsbestimmung müssen die Preisfindung sowie die Kontrolle der Leistungs- und der Gegenleistungserbringung durch behördliche Verwaltungsmaßnahmen erbracht werden.

Dies wiederum bedeutet, daß sich die ursprüngliche Zwei-Personen-Beziehung von Arzt und Patient sozialversicherungsrechtlich in ein polygonales Administrationsgeschehen verwandelt. Statt rein medizinischer Handlungskontrollen im Arzthaftungsrecht wird erforderlich, ungezählte Arbeitsteilungsprozesse detailliert durch die Exekutive zu beschreiben. Das erfordert eine exakte amtliche Pflichterfüllung durch sämtliche jeweils handelnden Beamten, orientiert sowohl an dem Ziel der Patientengesundheit, als auch an dem Ziel finanzieller Kontrolle.

Indem jetzt nicht mehr nur der beratende Arzt den Umfang einer medizinischen Leistung festlegt und der – entsprechend beratene – Patient diese Leistung „bestellt“, ändern sich die bisherigen Pflichten- und Verantwortungskreise massiv. Während vormals der Arzt für ordnungsgemäße Erbringung der vertraglich zugesagten Leistungen einzustehen und für Verletzungen am Körper und der Gesundheit (oder gar am Leben) des Patienten haftungsrechtlich einzustehen hatte, stellen sich nunmehr insbesondere staatshaftungsrechtlich völlig neue Fragen. Denn jetzt sind nicht mehr nur Ärzte berufen, „gute Medizin“ zu erbringen. Vielmehr fällt auch in die Amtspflicht der Beamten innerhalb der Verwaltung, nicht nur die Finanzkontrolle sorgsam auszuüben, sondern eben auch der Patientengesundheit pflichtgemäß zu dienen. Verletzt ein Amtsträger hierbei seine Pflichten, stellt sich die Frage nach einer Arzthaftung auch des Staates.

Nach § 839 I BGB gilt: „Verletzt ein Beamter vorsätzlich oder fahrlässig die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so hat er dem Dritten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. Fällt dem Beamten nur Fahrlässigkeit zur Last, so kann er nur dann in Anspruch genommen werden, wenn der Verletzte nicht auf andere Weise Ersatz zu erlangen vermag.“ Diese gesetzliche Ersatzpflicht tritt nur nicht ein, wenn der Verletzte vorsätzlich oder fahrlässig unterlassen hat, den Schaden durch Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden.

Was heißt dies konkret für den Gesundheitsbeamten im System des Fünften Sozialgesetzbuches? Grundsätzlich hat ein jeder Beamter „nur“ seinem Dienstherren – dem Staat – gegenüber seine Dienstpflichten ordnungsgemäß zu erfüllen. Gehört zu seiner Dienstpflicht allerdings auch, Dritte zu schützen, so hat er diesem „Dritten“ einen ihm entstehenden Schaden zu ersetzen. Anders, als daß es Aufgabe aller Gesundheitsbeamten ist, auch die Gesundheit der zwangsversicherten Patienten zu schützen, erscheint die Konstruktion des Sozialgesetzbuches nicht vorstellbar. Folgerichtig haftet ein jeder Beamter im Gesundheitssystem auch dem „Dritten“ – also jedem betroffenen zwangsversicherten Bürger – auf Schadensersatz, wenn sich erweisen sollte, daß er bei der Ausübung seiner Amtspflichten pflichtwidrig gehandelt hat. Warum hierbei andere, als die strengen Maßstäbe des traditionellen Arzthaftungsrechtes gelten sollten, ist nicht erkennbar.

Die Vorschrift des § 839 BGB war zum 1. Januar 1900 in Kraft getreten. Rund 50 Jahre später – am 24. Mai 1949 – hat das Grundgesetz der beamtenrechtlichen Haftung eine Änderung angedeihen lassen. Mit Artikel 34 des Grundgesetzes wird die persönliche Haftung des Beamten zunächst auf den Staat übergeleitet. Dem geschädigten Patienten steht damit dieser als Schuldner zur Verfügung. Allerdings kann der Staat seinerseits bei dem Beamten Rückgriff nehmen, wenn dieser seine Amtspflicht vorsätzlich oder grob fahrlässig verletzt hat. Für den Bürger bedeutet dies Schutz unabhängig von der finanziellen Situation des Beamten. Für den Beamten bedeutet es, bei jedwedem gesundheitstechnischen Verwaltungshandeln stets auch seine eigene finanzielle Verantwortung gegenüber jedem betroffenen Patienten in Betracht ziehen zu müssen.

Zu den Kennzeichen des deutschen Sozialversicherungssystems gehört nun, daß häufig nicht einzelne Gesundheitsbeamte entscheiden, sondern größere, mehrköpfige Gremien. Ein geschädigter Patient ist für diesen Fall jedoch nicht schutzlos gestellt. Stünde beispielsweise das pflichtwidrige Verhalten einer Behörde insgesamt fest – zum Beispiel des Gemeinsamen Bundesausschusses – so bedarf es nach gefestigter Rechtsprechung nicht der Feststellung der je verantwortlichen Einzelpersonen innerhalb dieses Ausschusses, um das ganze Kollegium auf Schadensersatz in Anspruch nehmen zu können.

Der Gesetzgeber hat darüber hinaus in jüngerer Vergangenheit gestattet, daß Behörden sich zur Erfüllung ihrer Pflichten der Hilfe privatrechtlicher Institutionen bedienen. So ist beispielsweise das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Medizin in die zivilrechtliche Rechtsform einer Stiftung gesetzt worden. Ob allerdings eine Amtsperson öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich tätig wird, ist für das Staatshaftungsrecht im Grundsatz unbeachtlich. Werden nämlich typische Aufgaben der Hoheitsverwaltung wahrgenommen, so greift jedenfalls die Amtshaftung. Im Bereich der Eingriffsverwaltung ist dies bereits höchstrichterlich geklärt. Nichts anderes kann gelten, wenn die sozialversicherungsrechtliche Leistungsverwaltung in Rede steht. Wer Verantwortung für andere trägt, hat sie erst recht auch im Falle seines Versagens zu tragen. Anders ist tatsächliche Verantwortlichkeit a priori nicht denkbar.

Da Amtsträger verpflichtet sind, ihre Verwaltung gesetzmäßig auszuführen, wird ihr Handeln am Maßstab des objektiven Rechtes gemessen. Der „Nikolausbeschluß“ des Bundesverfassungsgerichtes schlägt auf die konkrete Handlungspflicht des einzelnen Beamten unmittelbar durch. Der Schutz von Leben, Körper und Gesundheit, den Artikel 2 I des Grundgesetzes normiert, verpflichtet jeden einzelnen Beamten innerhalb der Gesundheitsverwaltung unmittelbar, für jeden zwangsversicherten Bürger aktiv zu werden.

Grundsätzlich greift der staatshaftungsrechtliche Schutz zwar nicht gegen sogenanntes „legislatives Unrecht“. Dieser Grundsatz ist jedoch eingeschränkt, wenn die Vorschriftsadressaten eines Gesetzes individualisierbar sind oder wenn – für den Bereich des Gesundheitswesens von besonderer Bedeutung – höherrangiges Recht, z.B. ein Grundrecht, verletzt wird. Verwaltungsvorschriften gelten hierbei nicht als legislatives Unrecht. Ein grob fahrlässig handelnder Richtlinienverfasser beispielsweise haftet folglich einem jeden geschädigten Bürger zuletzt auch ganz persönlich auf Schadensersatz.

Stets muß der Betroffene finanziell so gestellt werden, als hätte der Amtspflichtträger sich ordnungsgemäß verhalten. Schäden sind stets in Geld zu ersetzen. Der Rechtsweg zu den Landgerichten darf nach Artikel 34 S. 3 des Grundgesetzes nicht ausgeschlossen werden.

Wenn also z. B. ein Amtsarzt dem Bürger haftet, wenn er ein falsches Gutachten über dessen Dienstfähigkeit erteilt und ein psychiatrisches Krankenhaus einem gegen seinen Willen eingewiesenen Patienten, wie es von der Rechsprechung klargestellt wurde, dann läßt sich hieraus auch herleiten, daß der gegen seinen Willen in einen bestimmten staatlichen, sozialversicherungsrechtlichen Zusammenhang eingeordnete Bürger ebenfalls besonderen staatshaftungsrechtlichen Schutz genießt. Mit der Einführung einer allgemeinen Krankenversicherungspflicht wird dieses haftungsrechtliche Thema nicht zuletzt für alle Mitarbeiter der staatlichen Gesundheitsverwaltungen große Bedeutung erlangen.

Salzstock und Schuldturm

von Carlos A. Gebauer

In der nächsten Eiszeit werden die Nachfahren der Menschheit – oder ein paar Außerirdische – unter der geschlossenen Eisdecke des vormaligen Europas Kernbohrungen vornehmen. Bei einer dieser Bohrungen auf dem Gebiet der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland dürften unter anderem Video-Bänder mit zugehörigen Abspielgeräten gefunden werden. Nach dem Auftauen und Ingangsetzen der Fundstücke wird sich den Forschern ein intellektuelles Spektakel der besonderen Art darbieten.

Auf einigen Bändern werden sie Aufnahmen von protestierenden Kernenergie-Gegnern entdecken, die sich verzweifelt militärisch bewachten Atommüll-Transportern entgegenwerfen. Die Filme weisen naturgemäß auch auf einen Salzstock in Gorleben hin, in dem noch immer – wie die Forscher mit ihren hochsensiblen Meßgeräten bereits feststellen konnten – hermetisch verschlossene Container unangetastet ruhen. Schriftkundige werden die Spruchbänder der einstmals Protestierenden auswerten und berichten, mit welchem Nachdruck auf die möglicherweise drohenden Gefahren dieser Atompolitik hingewiesen worden war.

Nach Auswertung weiterer Bänder werden die Forscher dann entdecken, daß es in etwa zur gleichen Zeit in Deutschland auch politische Debatten über etwas gab, was die Menschen nannten: „Staatsverschuldung“. Die Mehrzahl der Forscher wird dann mutmaßen, daß es weitere Videobänder unter dem Eis geben muß, die vergleichbar wilden und wütenden Bürgerprotest auch gegen diese Schuldenpolitik darstellen.

Es wird dann viele weitere Bohrungen geben. Und es dürften detaillierteste Erkenntnisse über den seinerzeitigen Finanzkollaps des überschuldeten deutschen Staates zutage gefördert werden. Aber: Nachrichten über deutlichen und vernehmbaren Protest gegen die explodierende Staatsverschuldung oder die sogenannte „Nettoneuverschuldung“ werden sich nicht finden lassen. Denn: Es gab sie nicht!

Fernab der kalten Bohrstätten – und im Schutz vor radioaktiven Strahlen, die vielleicht doch noch hervortreten könnten – wird dann ein Kongreß der Forscher abgehalten werden. Sie werden sich dort unterhalten über das Gefahrbewußtsein der Menschen und namentlich über die Fähigkeit der Bürger, unterschiedliche drohende Risiken für sich und ihr Leben verläßlich abzuschätzen.

In seinem Abschlußbericht wird der federführende Völkerkundler formulieren: Die deutsche Bevölkerung war insgesamt gut ausgebildet. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts beendete eine erkleckliche Zahl von Schülern ihre Schulkarriere mit einem sogenannten Abitur. Dies eröffnete ihnen die – häufig genutzte – Möglichkeit, weiteres Wissen im Rahmen eines anschließenden Hochschulstudiums zu erwerben. Diejenigen, die keine derartige Hochschulausbildung durchliefen, waren gleichwohl durch eine Unzahl an Informationsangeboten durch Zeitungen, Fernsehen und Internet befähigt, Fragen und Belange des Allgemeinwohls zur Kenntnis zu nehmen. Da – nur von gewissen Einschränkungen durch sogenannte „politische Korrektheit“ abgesehen – weitgehend Meinungsfreiheit herrschte, war jedermann prinzipiell befähigt, die einerseits eher fernliegende Gefahr aus Atommüll und die andererseits sehr naheliegende Gefahr aus der Staatsverschuldung für sein persönliches Leben ohne weiteres zu erkennen. Warum das eine über alle Maßen dramatisiert, das andere aber gänzlich banalisiert wurde, bleibt weiterer Forschung vorbehalten.

Gewerkschaft und Sexualität

Carlos A. Gebauer

Haben die Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft und das Sexualleben eines Menschen etwas miteinander zu tun? Auf den ersten Blick wenig, auf den zweiten einiges. Beide nämlich sind besonders geschützte Sozialdaten im Sinne des Sozialgesetzbuches. Erfährt also eine Behörde beispielsweise, daß einer – aus welchem Grund auch immer – sich gerne Plastiktüten über den Kopf zieht, genießt er besonderen Schutz. Die Behörde darf es nicht einfach weitersagen.

Nun mag mancher fragen: Was hat der Gesetzgeber sich dabei gedacht, als er ausgerechnet die Gewerkschaftszugehörigkeit und das Sexualleben zu derart besonders vertraulichen Geheimnissen machte? Immerhin ist heute ein breites Spektrum auch ungewöhnlichster sexueller Praktiken gesellschaftlich ebenso toleriert, wie die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft. Die elektronische Erhebung, Verarbeitung, Speicherung und Nutzung derartiger Informationen scheint also alleine schon deswegen unproblematisch, weil diese Kenntnisse im Ergebnis niemanden wirklich interessieren. Selbst die Mutmaßungen eines befreundeten Zynikers zu dieser Gesetzestechnik gehen eher fehl. Der nämlich meinte, eine Vielzahl von Menschen trete einer Gewerkschaft nur bei, um auf lohnfortgezahlten gewerkschaftlichen Weiterbildungsveranstaltungen Kegelbekanntschaften abseits der eigenen Ehe ungestörter kennenzulernen.

Zwar wird man in der Regel nicht Gewerkschafter, weil man sehen möchte, welche Spuren der Surrealismus auch in den Wirtschaftswissenschaften hinterlassen hat. Aber das Bestreben, ehebrecherische Aktivitäten zu kaschieren, ist wohl kaum der Sinn dieses Gesetzes. Wahrscheinlich gibt es gute historische Gründe, diesen Geheimnisschutz neben ethnischer Herkunft, politischer Meinung und philosophischer Überzeugung einzuordnen. Es mag dabei bewenden.

Trotz allem aber bleiben ungeklärte Fragen. Was nämlich ist mit Lebenspartnern nach dem „Gesetz über die Eingetragenen Lebenspartnerschaften“? Nach diesem Gesetz sind verpartnerte Personen gleichen Geschlechtes zur „gemeinsamen Lebensgestaltung“ verpflichtet. Und sie tragen füreinander Verantwortung. Das sind praktisch dieselben Worte, mit denen das Gesetz Eheleute – zur Erinnerung: Zwei Personen unterschiedlichen Geschlechtes – zur „Geschlechtsgemeinschaft“ verpflichtet. So jedenfalls drückt sich der Bundesgerichtshof aus. Mit anderen Worten: Lebenspartner sind gesetzlich verpflichtet, sich gegenseitig anzufassen. Spätestens dann, wenn ihre Partnerschaft eingetragen ist. Wenn sie aber gesetzlich zu solcherlei Körperkontakten verpflichtet sind, dann ist irgendwie auch etwas über ihr Sexualleben gesagt. Und über genau dieses Sozialdatum hat man eigentlich zu schweigen.

Das aber bedeutet im Ergebnis doch nichts anderes, als daß man über eine eingetragene Partnerschaft – ebenso wie über das Bestehen einer Ehe – datenschutzgemäß zu schweigen hat. Auch hier vermochte der nochmals befragte Zyniker aus dem Freundeskreis keine Lösung des Rechtsproblemes anzubieten. Denn auch das notorische Nichtanfassen nach langer Ehe ist doch irgendwie nur ein anderer Ausdruck für ein ganz bestimmtes sexuelles Leben. Irgendwie.

Aus solcherlei juristischen Fallstricken befreit man sich in der Regel nicht durch weiteres intensives Nachdenken, sondern schlicht durch Abstand. Eine Reise wirkt oft Wunder. In fernen Gefilden faßt der Geist neuerlich Kraft und Mut zu beherzten Lösungen. Empfehlenswert sind Reisen dorthin, wo einen niemand erreicht. Wo man Ruhe hat und ungestört ist. Vielleicht an einen Ort, über den nicht gesprochen werden darf. Der Blick in das Gesetz zeigt: Auch religiöse Überzeugungen sind besonders geschützt. Dort liegt die Lösung: Urlaub im Vatikan ist wie Ferien unter Psalmen.

« Newer PostsOlder Posts »
Druckversion
Impressum | Datenschutz