Ein gesundheitsrechtlicher Ausblick
Ärztliche Heilkunst wird am Patienten erbracht. In rechtlicher Hinsicht ist ärztliches Handeln eine Dienstleistung. Der Arzt dient dem Patienten mit seiner Leistung.
Wenn ein Arzt Dienste erbringt, wird er für diese in der Regel entlohnt. Demnach ist jeder Vertrag zwischen Arzt und Patient ein wechselseitiges Geschäft. Der Arzt verpflichtet sich, kunstgerechte Behandlungsdienstleistungen zu erbringen. Umgekehrt verpflichtet sich der Patient, diese Leistungen angemessen zu vergüten. Fleißleistungen des Arztes werden gegen Fleißleistungen des Patienten – ausgedrückt in Geld – getauscht.
Das Fünfte Sozialgesetzbuch in Deutschland hat diese grundlegenden Mechanismen des Behandlungsvertrages weithin für gegenstandslos erklärt. Wer „gesetzlich krankenversichert“ ist, schließt mit seinem Arzt oder seinem Krankenhaus keinen Behandlungsvertrag. Vielmehr haben Patienten hier nur einen Leistungsgewährungsanspruch gegen die Krankenkasse, bei der sie gesetzlich zwangsversichert sind. Der genaue Inhalt dieses Leistungsanspruches ist unbestimmt. Er wird von Politik und Gesundheitsverwaltung jeweils generell-abstrakt anhand diffiziler Kriterien beschrieben und festgelegt. Das Bundessozialgericht spricht von einem „Rahmenrecht“. Für jeden konkreten Einzelfall muß hoheitsrechtlich ermittelt werden, auf welche Behandlung Anspruch besteht.
In der Konsequenz dieser Konstruktion liegt, daß sämtliche Funktionen des traditionellen Tauschvertrages ebenfalls ersetzt werden müssen. Neben der Leistungsbestimmung müssen die Preisfindung sowie die Kontrolle der Leistungs- und der Gegenleistungserbringung durch behördliche Verwaltungsmaßnahmen erbracht werden.
Dies wiederum bedeutet, daß sich die ursprüngliche Zwei-Personen-Beziehung von Arzt und Patient sozialversicherungsrechtlich in ein polygonales Administrationsgeschehen verwandelt. Statt rein medizinischer Handlungskontrollen im Arzthaftungsrecht wird erforderlich, ungezählte Arbeitsteilungsprozesse detailliert durch die Exekutive zu beschreiben. Das erfordert eine exakte amtliche Pflichterfüllung durch sämtliche jeweils handelnden Beamten, orientiert sowohl an dem Ziel der Patientengesundheit, als auch an dem Ziel finanzieller Kontrolle.
Indem jetzt nicht mehr nur der beratende Arzt den Umfang einer medizinischen Leistung festlegt und der – entsprechend beratene – Patient diese Leistung „bestellt“, ändern sich die bisherigen Pflichten- und Verantwortungskreise massiv. Während vormals der Arzt für ordnungsgemäße Erbringung der vertraglich zugesagten Leistungen einzustehen und für Verletzungen am Körper und der Gesundheit (oder gar am Leben) des Patienten haftungsrechtlich einzustehen hatte, stellen sich nunmehr insbesondere staatshaftungsrechtlich völlig neue Fragen. Denn jetzt sind nicht mehr nur Ärzte berufen, „gute Medizin“ zu erbringen. Vielmehr fällt auch in die Amtspflicht der Beamten innerhalb der Verwaltung, nicht nur die Finanzkontrolle sorgsam auszuüben, sondern eben auch der Patientengesundheit pflichtgemäß zu dienen. Verletzt ein Amtsträger hierbei seine Pflichten, stellt sich die Frage nach einer Arzthaftung auch des Staates.
Nach § 839 I BGB gilt: „Verletzt ein Beamter vorsätzlich oder fahrlässig die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so hat er dem Dritten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. Fällt dem Beamten nur Fahrlässigkeit zur Last, so kann er nur dann in Anspruch genommen werden, wenn der Verletzte nicht auf andere Weise Ersatz zu erlangen vermag.“ Diese gesetzliche Ersatzpflicht tritt nur nicht ein, wenn der Verletzte vorsätzlich oder fahrlässig unterlassen hat, den Schaden durch Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden.
Was heißt dies konkret für den Gesundheitsbeamten im System des Fünften Sozialgesetzbuches? Grundsätzlich hat ein jeder Beamter „nur“ seinem Dienstherren – dem Staat – gegenüber seine Dienstpflichten ordnungsgemäß zu erfüllen. Gehört zu seiner Dienstpflicht allerdings auch, Dritte zu schützen, so hat er diesem „Dritten“ einen ihm entstehenden Schaden zu ersetzen. Anders, als daß es Aufgabe aller Gesundheitsbeamten ist, auch die Gesundheit der zwangsversicherten Patienten zu schützen, erscheint die Konstruktion des Sozialgesetzbuches nicht vorstellbar. Folgerichtig haftet ein jeder Beamter im Gesundheitssystem auch dem „Dritten“ – also jedem betroffenen zwangsversicherten Bürger – auf Schadensersatz, wenn sich erweisen sollte, daß er bei der Ausübung seiner Amtspflichten pflichtwidrig gehandelt hat. Warum hierbei andere, als die strengen Maßstäbe des traditionellen Arzthaftungsrechtes gelten sollten, ist nicht erkennbar.
Die Vorschrift des § 839 BGB war zum 1. Januar 1900 in Kraft getreten. Rund 50 Jahre später – am 24. Mai 1949 – hat das Grundgesetz der beamtenrechtlichen Haftung eine Änderung angedeihen lassen. Mit Artikel 34 des Grundgesetzes wird die persönliche Haftung des Beamten zunächst auf den Staat übergeleitet. Dem geschädigten Patienten steht damit dieser als Schuldner zur Verfügung. Allerdings kann der Staat seinerseits bei dem Beamten Rückgriff nehmen, wenn dieser seine Amtspflicht vorsätzlich oder grob fahrlässig verletzt hat. Für den Bürger bedeutet dies Schutz unabhängig von der finanziellen Situation des Beamten. Für den Beamten bedeutet es, bei jedwedem gesundheitstechnischen Verwaltungshandeln stets auch seine eigene finanzielle Verantwortung gegenüber jedem betroffenen Patienten in Betracht ziehen zu müssen.
Zu den Kennzeichen des deutschen Sozialversicherungssystems gehört nun, daß häufig nicht einzelne Gesundheitsbeamte entscheiden, sondern größere, mehrköpfige Gremien. Ein geschädigter Patient ist für diesen Fall jedoch nicht schutzlos gestellt. Stünde beispielsweise das pflichtwidrige Verhalten einer Behörde insgesamt fest – zum Beispiel des Gemeinsamen Bundesausschusses – so bedarf es nach gefestigter Rechtsprechung nicht der Feststellung der je verantwortlichen Einzelpersonen innerhalb dieses Ausschusses, um das ganze Kollegium auf Schadensersatz in Anspruch nehmen zu können.
Der Gesetzgeber hat darüber hinaus in jüngerer Vergangenheit gestattet, daß Behörden sich zur Erfüllung ihrer Pflichten der Hilfe privatrechtlicher Institutionen bedienen. So ist beispielsweise das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Medizin in die zivilrechtliche Rechtsform einer Stiftung gesetzt worden. Ob allerdings eine Amtsperson öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich tätig wird, ist für das Staatshaftungsrecht im Grundsatz unbeachtlich. Werden nämlich typische Aufgaben der Hoheitsverwaltung wahrgenommen, so greift jedenfalls die Amtshaftung. Im Bereich der Eingriffsverwaltung ist dies bereits höchstrichterlich geklärt. Nichts anderes kann gelten, wenn die sozialversicherungsrechtliche Leistungsverwaltung in Rede steht. Wer Verantwortung für andere trägt, hat sie erst recht auch im Falle seines Versagens zu tragen. Anders ist tatsächliche Verantwortlichkeit a priori nicht denkbar.
Da Amtsträger verpflichtet sind, ihre Verwaltung gesetzmäßig auszuführen, wird ihr Handeln am Maßstab des objektiven Rechtes gemessen. Der „Nikolausbeschluß“ des Bundesverfassungsgerichtes schlägt auf die konkrete Handlungspflicht des einzelnen Beamten unmittelbar durch. Der Schutz von Leben, Körper und Gesundheit, den Artikel 2 I des Grundgesetzes normiert, verpflichtet jeden einzelnen Beamten innerhalb der Gesundheitsverwaltung unmittelbar, für jeden zwangsversicherten Bürger aktiv zu werden.
Grundsätzlich greift der staatshaftungsrechtliche Schutz zwar nicht gegen sogenanntes „legislatives Unrecht“. Dieser Grundsatz ist jedoch eingeschränkt, wenn die Vorschriftsadressaten eines Gesetzes individualisierbar sind oder wenn – für den Bereich des Gesundheitswesens von besonderer Bedeutung – höherrangiges Recht, z.B. ein Grundrecht, verletzt wird. Verwaltungsvorschriften gelten hierbei nicht als legislatives Unrecht. Ein grob fahrlässig handelnder Richtlinienverfasser beispielsweise haftet folglich einem jeden geschädigten Bürger zuletzt auch ganz persönlich auf Schadensersatz.
Stets muß der Betroffene finanziell so gestellt werden, als hätte der Amtspflichtträger sich ordnungsgemäß verhalten. Schäden sind stets in Geld zu ersetzen. Der Rechtsweg zu den Landgerichten darf nach Artikel 34 S. 3 des Grundgesetzes nicht ausgeschlossen werden.
Wenn also z. B. ein Amtsarzt dem Bürger haftet, wenn er ein falsches Gutachten über dessen Dienstfähigkeit erteilt und ein psychiatrisches Krankenhaus einem gegen seinen Willen eingewiesenen Patienten, wie es von der Rechsprechung klargestellt wurde, dann läßt sich hieraus auch herleiten, daß der gegen seinen Willen in einen bestimmten staatlichen, sozialversicherungsrechtlichen Zusammenhang eingeordnete Bürger ebenfalls besonderen staatshaftungsrechtlichen Schutz genießt. Mit der Einführung einer allgemeinen Krankenversicherungspflicht wird dieses haftungsrechtliche Thema nicht zuletzt für alle Mitarbeiter der staatlichen Gesundheitsverwaltungen große Bedeutung erlangen.