Eine Zeitreise nach 1979, 2009, 2011…
„Es ist sinnlos, auf gut Glück in der Endlosigkeit der Wüste einen Brunnen zu suchen. Dennoch machten wir uns auf den Weg.“
(Der kleine Prinz)
Es gibt bekanntlich – neben ungezählten Misch- und Zwischenformen – im Wesentlichen zwei Gruppen von Kassenärzten in Deutschland. Die eine Gruppe besteht aus Resignierten, die im 33. Jahr der gesetzgeberischen Kostendämpfung im Gesundheitswesen nicht mehr an irgendeine Änderung zum Guten glauben. Die andere Gruppe ist die der Hoffenden. Die Mitglieder dieser Gruppe nehmen an, die Lage werde sich eines Tages vielleicht doch noch bessern.
In der Tat fällt die Vorstellung auf den ersten Blick schwer, es könne dem deutschen Gesundheitssystem gelingen, sich aus den Fesseln seiner irrationalen Statik und Architektur zu befreien. Zu festgefahren erscheinen seine Strukturen und zu groß die mächtigenBeharrungskräfte all derjenigen, die – ein jeder für sich persönlich – in den Nischen des marodierenden Gesamtsystems noch immer irgendwie ihr Auskommen finden. Zudem haben es Politik oder Schicksal gefügt, dass allzu viele derjenigen, die gedeihliche Alternativen denken und kommunizieren, untereinander zerstrittensind.
Im Vergleich zu den Interessen- und Kooperationsgrenzen der ungezähltenTeilnehmer am sozialversicherungsrechtlichen und sozialpolitischen deutschen Diskurs erscheinen die kartografischen Grenzverläufe des späten politischen Jugoslawiens oder die der ethnischen Gruppen in Indien noch vergleichsweise übersichtlich. Gleichwohl besteht dennoch Anlass zu der Hoffnung, dass unser vielerorts bis zum Atemstillstand ersticktes, unser bewegungsunfähig gefesseltes und unser mit den absurdesten Denkverboten gehemmtes Gesundheitswesen durchaus eine Befreiung erfahren kann. Nichts lässt diese Hoffnung mehr keimen und sprießen als ein einfacher Blick auf die jüngste Geschichte unseres Kulturkreises. Denn die Bereitschaft, sich von den Möglichkeiten des Wandels faszinieren und anstecken zu lassen, setzt ungeahnte Kräfte frei. Das, was einstmals völlig undenkbar erschien, kann in übersehbaren Zeiträumen offenbar durchaus Realität werden. Wenn Menschen es nur wirklich wollen.
Versetzen wir uns zu diesem Zweck exemplarisch um 30 Jahre zurück. Überlegen Sie, wie alt Sie 1979 waren. Erinnern Sie sich daran, wo Sie wohnten. Denken Sie, was Ihr Leben zu dieser Zeit prägte.
Das Jahr 1979 begann in Deutschland damit, dass der Norden im Schnee versank. Die Partei der „Grünen“ gründete sich, im Iran übernahm der Ayatollah Khomeini die Macht und vertrieb den Schah, im Irak begann die Ära Saddam Hussein. Die Sowjetarmee besetzte Afghanistan, weswegen weite Teile der westlichen Welt im Folgejahr die Olympischen Spiele in Moskau boykottierten. Die NATO fasste ihren„Doppelbeschluss“, und Michael Ende veröffentlichte „Die unendliche Geschichte“. In Harrisburg havarierte ein Atomkraftwerk, und in Gorleben protestierten die Massen nicht nur deswegen gegen den Vater von Ursula von der Leyen.
Was hätten wir damals gesagt, wenn uns angekündigt worden wäre, dassin 30 Jahren Hoffenheim als Bundesliga-Herbstmeister in das Jahr 2009 starten würde? Hätten wir geglaubt, dass es eine innerdeutsche Mauer nicht mehr geben würde, von der Erich Honecker noch Mitte 1989 behauptete, sie werde auch in 100 Jahren noch stehen? Wäre uns die Prognose realistisch erschienen, dass ganz Deutschland dann von einer Frau aus der ehemaligen DDR regiert werden würde?
Was hätten wir dem geantwortet, der – fünf Jahre vor dem großen Zapfenstreich für den Vier-Sterne-General Kießling (dessenVerlässlichkeit in Zweifel gezogen wurde, weil er möglicherweise ineiner Schwulen-Bar gesehen worden war) – prophezeit hätte: In 30Jahren wird ein ungeteiltes Berlin von einem bekennenden homosexuellen Bürgermeister regiert, der mit den Stimmen der SED/PDS in sein Amt gewählt worden sein wird? Wäre uns dies nicht möglicherweise ebenso abwegig erschienen wie die Perspektive, dass ein homosexueller Christdemokrat gemeinsam mit den soeben gegründeten „Grünen“ dann die Regierung des Stadtstaates Hamburg stellen könnte? Würden wir für möglich gehalten haben, dass eine Tagesschausprecherin wegen der Ansicht, Frauen dürften durchaus auchMutter sein und müssten nicht ausschließlich Karriere machen, der Sympathie mit nationalsozialistischer Familienpolitik geziehen werden könnte, während gleichzeitig die Bundesfamilienministerin für mutterschaftswillige berufstätige Frauen eine „Herdprämie“auslobt?
All dies wäre uns sicher ebenso unwahrscheinlich und abwegig erschienen wie die Vorstellung, für Bierdosen oder Plastikflaschen Pfand zubezahlen. Wir hätten uns nicht vorstellen können, dass die EU uns30 Jahre später den Besitz und den Gebrauch von Glühbirnenverbieten würde. Es hätte unsere Vorstellungskraft gesprengt, dass zusätzlich zu bestehenden straßenverkehrszulassungsrechtlichen Abgasregelungen und einer weiteren Abgassonderuntersuchung fürunsere Autos ergänzende „Umweltzonen“ in Städten eingerichtetwürden. Niemand hätte geglaubt, dass 30 Jahre später ein jeder vonuns seine Urlaubsbilder, seine Bankdaten, seine Korrespondenz undseine Lieblingsmusik in einem kleinen elektronischen Kästchenaufbewahren könnte, das mit einer Telefonleitung verbunden seinwürde und dass der Bundesinnenminister jederzeit Zugriff auf dieseInformationen haben wollte. Die Vorstellung, den eigenenFingerabdruck digital erfasst in einem Reisepass präsentieren zumüssen, wäre uns 1979 ebenso absurd erschienen wie die Ankündigung,es werde in Kneipen nicht mehr geraucht werden dürfen.
Ein massives Kopfschütteln wäre dem entgegengeschlagen, der seinerzeit zu prognostizieren unternommen hätte, dass die gerade mit ihrerKandidatur für den Kommunistischen Bund Westdeutschland für denBundestag gescheiterte Ulla Schmidt das Jahr 2009 mit dem politischenProgramm beginnen könne, private Krankenversicherungen abzuschaffen.Wer hätte geglaubt, dass die Mudschaheddin in Afghanistan 30 Jahrespäter keine „Freiheitskämpfer“ gegen russische Besatzer mehrsein würden, sondern dann Taliban heißen und eine Gefahr für diedeutsche Bundeswehr darstellen? Kaum jemand hätte gedacht, dass dieFreiheit der Deutschen dann auch am Hindukusch würde verteidigtwerden müssen. Wer schließlich hätte für möglich gehalten, dassdie USA im Jahre 2009 einen Schwarzen zu ihrem Präsidenten wählenwürden, den seine Eltern auch Hussein nannten und den eineüberwältigende Mehrheit aller Amerikaner als Messias verehrt?
Es lässt sich erkennbar kaum plastischer vergegenwärtigen, zu welchen massiven Meinungs- und Ansichtsänderungen Menschen binnen wenigerJahre in der Lage sind. Und es lässt sich nicht deutlicher zeigen,welche Konsequenzen diese neuen Ideen auf die Realitäten haben, dieunser Leben prägen. Es besteht daher überhaupt kein zwingender Grund zu der Annahme, dass die über viele Jahrzehnte krankhaftgewucherten Strukturen des groteskerweise immer noch„Gesundheitssystem“ genannten Molochs nicht ebenso einegrundlegende Änderung erfahren könnten. Statt zu resignieren,bedarf es nur der Hoffnung, der tragfähigen Gegenmodelle und –zuletzt – der alles entschlossen umsetzenden Tat. So wird sich dasscheinbar Unrealistischste umsetzen lassen, auch ohne dass weitere 30Jahre vergehen müssten, Der Verstand kann den Irrtum besiegen. Wirmüssen es nur für möglich halten, wir müssen es wollen und wir müssen es tun.