Dazuverdienendürfen

von Carlos A. Gebauer

Konfuzius war ein großer Philosoph. Über den Staat sagte er, der sei in Gefahr, wenn die Begriffe in Unordnung gerieten. Dann sagen die Menschen nicht mehr das, was sie meinen, und sie meinen nicht mehr das, was sie sagen.

Wer diese Erkenntnis bezweifelt, der kann sie schnell in seinem persönlichen Lebensbereich überprüfen. Er muß nur beim nächsten Mittagessen beschließen, Messer als Gabeln, Gabeln als Löffel und Löffel als Messer zu bezeichnen. Wenn er dann mit der Familie den Tisch deckt, wird er verstehen, worum es geht.

Was am eigenen Eßtisch leicht verständlich ist, wird problematisch, sobald es um abstraktere Begriffe geht. Dann nämlich gilt es nicht mehr nur Teller und Schüsseln auseinanderzuhalten, sondern äußerst wolkige Phänomene zu unterscheiden. Solidarität zum Beispiel, oder Angemessenheit, Belastungsgrenzen, Rechte und Erforderlichkeiten. Wer hier nicht messerscharf definiert, denkt und redet, der handelt blitzschnell an allen Problemen vorbei.

Damit aber bei weitem noch nicht genug. Denn oftmals wird gerade die gedankliche Unschärfe eines Begriffes von Menschen ausgenutzt, die uns zu bestimmten Glauben verführen wollen. Das wissen wir spätestens seit George Orwells Roman „1984“.

Kürzlich saß ich mit meinem Freund Michael H. zusammen und wir sprachen über Arbeitslosigkeit. Michael H. ist ein schlauer Mann mit stets klarem Blick auf die Welt. Er berichtete mir von einem ehemaligen Angestellten. Der habe ihm berichtet, was er als Arbeitsloser – so wörtlich – „dazuverdienen darf „. Auf meine Frage, ob er denn wisse, wie hoch genau dieser Betrag sei, den ein Arbeitsloser dazuverdienen dürfe, meinte Michael H. jedoch, er erinnere sich nicht mehr an Details.

Was folgte, waren kritische Momente für unsere Freundschaft. Denn ich warf ihm vor, unüberlegt das Opfer einer begrifflichen Verwirrung geworden zu sein. Ein Arbeitsloser nämlich „darf“ so viel verdienen, wie er will. Niemand verbietet ihm, alles Geld der Welt sowohl zu verdienen, als auch „dazu zu verdienen“. Allenfalls werden ihm dann weitere Leistungen aus der Gemeinschaftskasse versagt. Warum sollte er die auch weiter bekommen? Er hätte ja selbst verdient.

Tückische begriffliche Hürden wie diese, daß vermeintlich verboten wäre, bestimmte Beträge zu verdienen, liegen wie grippale Gliederschmerzen auf den meisten Sozialstaats-Diskussionen. Wer da fordert, es müßten „soziale Errungenschaften“ verteidigt werden, der mag zunächst berichten, wer wann mit wem in welchem Ring worum gerungen hat. Wenn er erklärt hat, welcher Ringkämpfer wem was entwunden hat, dann erst kann sinnvoll diskutiert werden, ob er es behalten darf. Wer glücklich ist, „keinen Cent dazubezahlt zu haben“, der mag aufgefordert werden, zu erzählen, wozu genau er nichts bezahlt hat und wer statt seiner für den Rest aufgekommen ist. Und wer den „Sozialklau“ beklagt, der müßte zuerst beschreiben, wer der Dieb ist, den es zu halten gilt, und was der wem entwendet hat. Dann wird zu entscheiden sein, ob es einer Ergreifung des Täters bedarf. Gabeln wir also unsere Probleme zuerst auf, bevor wir versuchen, sie andere auslöffeln zu lassen!

Embryos und Blattsalat

von Carlos A. Gebauer

Hätte ich in der Nacht des Unglückes von Tschernobyl ein Kind gezeugt, dann sähe ich jetzt langsam dessen Volljährigkeit entgegen. Was würde ich wohl rückblickend zu berichten haben von den ersten Wochen seiner Existenz in Mutters Bauch?

Während die radioaktive Giftwolke sich erhob, saß ich mit Freunden 2000 Kilometer entfernt von Tod und Verderben in einem Ferienhaus an der holländischen Küste. Auf dem winzigen Monitor eines Reisefernsehers verfolgten wir die Berichte über Wolke und Wind. Daß meine Sprachkenntnisse die lokalen Sendungen in etwa so informativ machten, wie ein Mobiltelefonat im Funkloch, wirkte sich mitnichten beruhigend aus. Aber ich glaubte, kurz darauf zu Hause mehr Informationen erhalten zu können.

Dort überboten sich Politiker, ihr jeweiliges Weltbild an der strahlenden Wolke zu schärfen. Kuhmilch wurde in einer Weise giftig geredet, daß ich beschloß, vorübergehend nur noch Soja-Milch zu trinken. Ein nervenstärkerer Freund blickte mir deswegen sorgenvoll in beide Ohren, dann in die Nase und erklärte schließlich frozzelnd, er habe nach auswachsenden Soja-Sprossen gesucht. Die einen Politiker aßen vor laufenden Kameras beherzt Blattsalat, um dessen Ungefährlichkeit zu dokumentieren, die anderen skizzierten den auch in Deutschland bevorstehenden Weltuntergang.

Lauerten Siechtum und Tod nun tatsächlich nicht nur am Ort des Geschehens, sondern unbemerkt auch im Staub auf meiner Fensterbank? War der schönste Salat in Wahrheit Gift? Galt es, alles aufkeimende Leben unter den Herzen unserer Schwangeren vorsorglich abzutreiben, um den unerträglichsten Mißbildungen menschlicher Körper auch hierzulande von vornherein entgegenzuwirken? Niemand wußte wirklich Erhellendes zu erklären. Alle blieben mit ihren Gedanken allein.

Langsam nur gelang mir, in dem Streit Konturen zu erkennen. Und erst mit dem Abstand vieler Monate wurde mir mancher Irrsinn der spontanen Debatte greifbar. Hatten nicht die einen Politiker öffentlich Salat gegessen und Milch getrunken, um die Ungefährlichkeit der Situation zu dokumentieren? Und hatten nicht die anderen die geringste Belastung eines Gemüses mit Bruchteilen einer Milliardstel-Strahlung zum Morgengrauen des jüngsten Gerichtes erklärt?

Wenn aber doch die fernste Gefahr für das menschliche Leben auf einem Blattsalat einerseits mit aller Energie bekämpft werden mußte: Warum argumentierten dieselben Politiker zugleich für die sanktionslose Freigabe des Schwangerschaftsabbruches? Und wenn andererseits jene salatessenden Politiker die tödlichsten Risiken atomarer Energieerzeugung für das menschliche Leben als tolerierbar erklärten: Warum meinten sie dann, die Abtreibung einer brutal vergewaltigten Frau nicht ohne ohne geringstes Zögern rechtfertigen zu können?

Nicht ein Politiker erkannte einen Zusammenhang zwischen den strafrechtlichen Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch und dem Atomgesetz. Gilt der Schutzanspruch für das menschliche Leben absolut? Oder gibt es Einschränkungen dieses Schutzes? Und wie sehen sie aus?

Hätte ich in der Nacht des Unglückes von Tschernobyl ein Kind gezeugt, dann wäre ich mit diesen Fragen sehr alleine gewesen. Und ich weiß nicht, ob die 12 Wochen, während derer eine Abtreibung meines Kindes vielleicht möglich gewesen wäre, zu Antworten gereicht hätten. Meinem Kind könnte ich nur sagen: Erwarte Dir nicht zu viele Antworten von Politikern. Gerade dann, wenn sie besonders wortreich reden.

Philosophen in Parteizentralen

von Carlos A. Gebauer

Ich liebe es! Hubertus Heil, derzeitiger SPD-Generalsekretär, äußert sich meinungsstark zu Fragen von Freiheit und Unfreiheit. Seit über zweihundert Jahren diskutieren Sozialisten mit Philosophen darüber, was denn nun wahre Freiheit eigentlich sei. Freiheit „von etwas“ oder Freiheit „für etwas“? Und seit zweihundert Jahren verstehen Sozialisten nicht, daß jeder Versuch, die materiellen Grundlagen für eine „positive Freiheit“ staatlicherseits zu schaffen, schon nach sauberer, rein theoretischer Deduktion ein absehbares Ende in allgemeiner Knechtschaft finden muß. Wie sonst wäre zu erklären, daß schon Friedrich Nietzsche lange vor Sowjetstaat, Roten Khmer und DDR wußte: „Der Sozialismus ist der phantastische jüngere Bruder des Despotismus, den er beerben will. … Er begehrt eine Fülle der Staatsgewalt, wie sie nur je der Despotismus gehabt hat, ja er überbietet alles Vergangene dadurch, daß er die förmliche Vernichtung des Individuums anstrebt … welches … durch ihn in ein zweckmäßiges Organ des Gemeinwesens umgebessert werden soll.“

Doch auch derart offen zutage liegende Erkenntnisse scheren Sozialphilosohen vom Schlage eines Umverteilungsfreundes nicht. Im Gegenteil. Nach all dieser Zeit – und zudem weltweit hinlänglich vorliegender, kulturübergreifender Empirie – sollte die scientific community dieser Welt (und eigentlich auch die community der Sozialisten) insgesamt verstanden haben, daß der Versuch, den einen zu knechten, um die Freiheit des anderen zu erreichen, stets und überall unausweichlich zum Scheitern verurteilt ist. Ungeachtet aller Theorie und Empirie wird indes munter weiter darauflosphilosophiert, immer mit dem zuckersüßen Versprechen, am Ende werde es schon allen sicher sozial besser gehen.

In Anbetracht der Länge und des Umfanges dieser Debatten kann mithin kaum erstaunen, daß ausgerechnet diejenigen sich in scheinbar elfengleicher Leichtigkeit und Kompetenz in den Diskurs einbringen, denen es am erforderlichen Rüstzeug zur Teilnahme an der Diskussion gänzlich gebricht. Denn wer, muß man fragen, ist nun wieder Hubertus Heil, der sich gleich an exponiertester Stelle – nämlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – auf dieses weidlich abgegraste Terrain wagt, offenbar in der Annahme, dort vielleicht doch noch ein unentdecktes grünes Hälmchen sozialistischer Freiheitsphilosophie zu entdecken?

Hubertus Heil ist nicht Philosoph. Er ist auch nicht examinierter Politologe oder Jurist. Er ist Generalsekretär der SPD. Immerhin. Aber das alleine macht ihn mutig, den Freiheitsdiskurs zu wagen? Mit welchem Ergebnis? Einem jämmerlichen, wer hätte es gedacht. Der Dreiunddreißigjährige, der bislang nicht Gelegenheit gefunden hat, sein 1995 begonnenes Studium zu beenden, trat schon im Alter von 16 Jahren in seine Partei ein. So etwas prägt unausweichlich. Auch philosophisch. Wie formulierte jüngst der Soziobiologe, Edward O. Wilson, nach vierzigjähriger Lehrtätigkeit in Harvard interdisziplinär wissenschaftstheoretisch bestens beschlagen: „Sozialwissenschaftler haben sich zu Kadern gruppiert, die zwar alle betonen, wie wichtig terminologische Präzision … sei, aber nur selten fachübergreifend dieselbe Sprache sprechen. … Sozialwissenschaftler neigen zu Stammesloyalität.“ Besonders offenbar, mag man ergänzen, wenn sie schon seit Kindesbeinen einem bestimmten Parteistamm angehören.

Wäre es, möchte man hoffnungsfroh spekulieren, zu dem identischen Lapsus des Generals auch dann gekommen, wenn er die (auch für Studienanfänger leicht faßlichen) Gedanken etwa Eugen Richters gekostet hätte, die allen Irrglauben über staatsplanerisch eingreifende Freiheitsverbesserungen schon vor mehr als hundert Jahren mit den eingängigen Worten intellektuell auszumerzen geeignet waren: „Die Gegner werfen dem Prinzip der Freiheit vor, daß es die Förderung der Selbstsucht bezwecke. Gerade umgekehrt! In der Freiheit findet die Selbstsucht eine Schranke in der Selbstsucht des anderen. Derjenige, der möglichst teuer verkaufen will, findet ein Hindernis in den Bestrebungen derjenigen, die möglichst vorteilhaft kaufen wollen. Wird dem einen wie dem anderen die Freiheit gelassen, so müssen beide ihre Selbstsucht dem gemeinsamen Interesse unterordnen. Wenn aber jemand behindert wird, so wird gerade die Selbstsucht des einen auf Kosten des anderen unterstützt und statt der Gerechtigkeit ein System der Ungerechtigkeit begünstigt.“ Zugleich – möchte man aus heutiger Sicht anfügen – ist mit einem solchen System der zivilrechtlich selbststeuernden Freiheitsregulierung ein für die öffentliche Hand äußerst kostengünstiger Kontrollmechanismus geschaffen; denn er funktioniert ohne jede Umverteilungsbürokratie. Doch: Wie kann man das wissen, wenn man es nicht einmal in der Ruhe eines sorgsam beendeten Hochschulstudiums durchdacht hat?

Immer wieder drängt sich der Vergleich mit anderen als gesellschaftsphilosophischen Disziplinen auf, in denen das Unsinnige des unqualifizierten Beitrages jedem sogleich einleuchtet: Wie wohl reagierte etwa die scientific community der – beispielsweise – Chirurgen, wenn ein abgebrochener Medizinstudent unter leidlicher Berufung auf seine Qualifikation als – sagen wir – Kassenwart eines altehrwürdigen Segelvereines einen fachlich ebenso ungelenken Beitrag zur externen Fixierung multipler Luxations- und Kompressionsfrakturen im Schädel-Hirn-Bereich veröffentlicht hätte? Man mag es sich nicht vorstellen. Am wenigsten aber mag man unter diesen Erkenntnissen einen Schädelbruch erleiden.

Anders, wenn die hehre Politik, bei der Jeder mitsprechen kann, in Rede steht. Dann ist – ganz konkret und äußerst durchsetzungsstark – zu fürchten, daß diese Gedankenwelten eines „Vordenkers“ (in etwa definiert als eines Denkers aus den Zeiten cirka 100 Jahre vor Erfindung des Automobils, als Eigentum plötzlich Diebstahl zu werden beliebte) irgendwann ganz praktisch Politik und anschließend Gesetz werden. Man mag es sich nicht vorstellen. Am wenigsten aber mag man unter solcherlei Kryptophilosophien Staatsbürger sein.

Doch, es kommt noch besser! Denn ein H. Heil kommt selten allein. Hubertus Heil, der Philosoph in der Parteizentrale, veröffentlicht soeben ein neues Standardwerk zur „Neuen Gerechtigkeitspolitik“, mit der er alle Politkbereiche miteinander „verzahnen“ möchte, damit anschließend das Leitbild einer – so wörtlich – „inklusiven Politik“ entstehe. Vielleicht hat Herr stud. rer. pol. Heil bislang an der Potsdamer Hochschule (an der er offenbar noch inskribiert ist) seinen kleinen lateinischen Terminologieschein noch nicht erworben. Sonst liefe ihm auf dem Potsdamer Campus – und also im Gebiete der ehemaligen DDR – doch sicher ein leiser Schauer über den Rücken über eine „einschließende Politik“?

Wir werden folglich nicht umhin kommen, uns auch noch mit den jüngsten philosophischen Abirrungen dieses neuen Sterns am Sozialistenhimmel auseinanderzusetzen. Denn wenn einer wie Heil zusammen mit – horribile dictu – Karl Lauterbach über „präventive Sozialpolitik“ schreibt, dann sollte man als Leser mindestens ebenso präventiv gewappnet sein und wissen, was die sozialistische Avantgarde der eigenen Nation derzeit denkt. Als Deutscher hat man ja inzwischen traditionell die Pflicht, die weltanschaulichen Werke seiner Politiker zu lesen. Bestenfalls rechtzeitig. Sozusagen vor der terminalen Inklusion.

Das Wartezimmer als Strafgericht

Ein Erlebnisbericht

Ärztliche Wartezimmer haben ihre ganz eigene Atmosphäre. Patienten sitzen schweigend auf ihren Stühlen. Der eine blättert in einem Magazin, der andere bohrt mit Blicken Löcher in den Boden. Allenfalls die Hektik um das Empfangspult erinnert daran, daß Menschen auch miteinander reden können.

Kürzlich hatte ich wieder einmal Gelegenheit, diese besondere Lage vor Ort in der Arztpraxis zu erspüren. Ein Kassenarzt hatte mich zu einem Termin gebeten. Weil er gerade schwer beschäftigt sei, schob seine Helferin mich in sein Wartezimmer: „Herr Doktor kommt gleich!“.

Ich murmelte – wie man das so macht – halblaut einen unklaren Gruß in die versammelte Gruppe und setzte mich auf den letzten freien Platz. Von den ausgelegten Society-Magazinen schien mir keines interessant. Statt dessen las ich in meiner Akte, um die Besprechung mit dem Herrn Doktor schon einmal weiter vorzubereiten.

Nach einigen Minuten bemerkte ich, daß die ältere Dame von schräg gegenüber wiederholt zu mir herübersah. Ich schaute möglichst freundlich zurück. Unsere Blicke trafen sich zweimal, dreimal, viermal. Dann plötzlich lächelte sie mich breit an und sagte: „Ich kenne Sie aus dem Fernsehen. Sie sind Rechtsanwalt.“

Ihr Mann, sagte sie, sei Staatsanwalt gewesen und vor zwei Jahren verstorben. Er habe ihr zwar immer gesagt, Gerichtssendungen im Fernsehen hätten mit der Wirklichkeit nur wenig gemein. Trotzdem sei sie gerade in den letzten zwei Jahren immer wieder auch bei derartigen Sendungen beim Herumschalten hängengeblieben. Daher kenne sie mein Gesicht.

Inzwischen waren zwei Patienten aus dem Zimmer gerufen worden. Ein junger Mann hatte sichtlich Spaß, unserer Unterhaltung zu folgen. Ein anderer Herr tat konsequent so, als sitze er mutterseelenallein im Raum. Nur das Rascheln seiner umgeschlagenen Zeitungsblätter signalisierte, daß er noch da war.

Nach einer kurzen Pause hob meine Gesprächspartnerin erneut an: „Darf ich Sie mal etwas fragen?“ Ich beugte mich zu ihr herüber: „Haben Sie doch schon“. Nein, ganz im Ernst, es treibe sie ein Gedanke um und sie wolle die Gelegenheit nutzen, mich einmal nach meiner juristischen Meinung zu fragen. „Bitte, nur zu!“ ermutigte ich sie.

„Irgendwas mit unserer Gesundheitsversorgung ist doch nicht in Ordnung“ leitete sie ihre Frage ein. „Unser Sohn hat eine ordentliche Stelle bei einer Computer-Firma und zahlt jeden Monat kräftig Beiträge an seine Kasse. Trotzdem gibt es immer weniger Ärzte in seinem Ort. Die, die noch da sind, haben immer kürzer geöffnet. Und wenn er pünktlich zu seinem Arzt kommt, muß er trotzdem lange warten. So wie wir jetzt hier. Haben Sie dafür eine Erklärung?“

„Nun,“ sagte ich, „es gibt Leute, die sagen, die Privatpatienten schnappen allen anderen die guten Termine weg.“ Da verdunkelten sich die Züge der Dame plötzlich sehr: „Das ist eine Unverschämtheit. Ich bin auch privat versichert. So wie es mein Mann war, als Beamter. Sitze ich woanders? Ich warte hier genau wie alle anderen auch. Und ich bezahle meine Versicherung. Wie alle anderen. Daran kann es also nicht liegen.“

Erstaunlich, dachte ich, wie schnell aus einer freundlichen älteren Dame eine so wütende und kämpferische Bürgerin werden kann. „Die Dinge sind sehr kompliziert“, gab ich zu bedenken, „und Sie wollen hier jetzt sicher keinen Vortrag über Planwirtschaft im Gesundheitswesen hören?“ Das sei ja Unsinn, schimpfte sie, „aber warum muß mein Sohn für Leistungen seiner Kasse Beiträge bezahlen, die er gar nicht haben will?“ Er habe mit seinem Chef gesprochen. Der hat keine Möglichkeit, die Kassenbeiträge an ihn auszuzahlen. Und ihr Mann, der Staatsanwalt, habe ihr das zu seinen Lebzeiten noch bestätigt: „Wenn der die Beiträge nicht an die Kasse abführt, dann kommt er sogar ins Gefängnis!“.

Inzwischen war der junge Mann zu dem Herrn Doktor gerufen worden und der andere Herr hatte seine Zeitung beiseite gelegt. Offenbar hörte er nun unserer Unterhaltung nicht nur zu. Er warf jetzt sogar etwas ein: „Ulla Schmidt ist das alles Schuld. Früher hat es doch funktioniert.“ Bevor ich fragen konnte, ob er dies wirklich glaube, stand die Witwe des Staatsanwaltes auf, blickte aus dem Fenster und sagte: „Mein Mann hat mal gesagt, eigentlich müßte man Frau Schmidt vor ein Strafgericht stellen. Wer den Bürgern nämlich zwangsweise Kassenbeiträge abnimmt, ohne ihnen dafür wirklich die beste Medizin zu verschaffen, der wäre doch fast schon ein räuberischer Erpresser. Und jedes Mal, wenn es weh tut, weil die Medizin nicht zur Verfügung steht, müßte man auch an eine Bestrafung wegen Körperverletzung denken. Aber das hat er – glaube ich – nicht ganz ernst gemeint. Er war ja zuletzt auch schon sehr krank.“

„Was halten sie denn davon, Sie Fernsehanwalt?“ fragte mich plötzlich eine Frau, die ich in ihrer Ecke bis dahin noch gar nicht wahrgenommen hatte. „Nun“ versuchte ich zu erklären, „Politiker machen sich nicht strafbar, weil sie politische Verantwortung tragen, nicht juristische. Deswegen ist es ganz abwegig, sie in die Nähe von Räubern, Erpressern oder Körperverletzern zu stellen. Sie machen einfach nur ihren Job.“ Das sei doch wieder eine typische juristische Haarspalterei, wetterte der augenscheinlich erwachte Herr mit der Zeitung. „Immer wenn es brenzlig wird, lasst Ihr Juristen uns im Stich! Haben wir nun einen Rechtsstaat oder nicht?“. Und meine ältere Freundin mochte mich plötzlich auch nicht mehr: „Mein Mann war nicht abwegig. Er war ein Prädikatsjurist“.

Zu meinem großen Glück ging in diesem Moment die Tür auf. Die Helferin des Arztes trat ein und entschuldigte ihn: Er sei völlig überlastet. Wir müssten uns ein andermal treffen. Ich möge es verzeihen. Und die Frau Staatsanwaltswitwe möge nun bitte zu Herrn Doktor kommen. Ich murmelte ein halbverständliches „Auf Wiedersehen“ und ging. Manche Dinge sind einfach wirklich schwierig zu erklären.

Das Wunder von Lern

Carlos A. Gebauer

Seinerzeit war es entsetzlich. Es hatte viel Unsicherheit geherrscht und niemand wußte wirklich, wie er sich verhalten sollte. Wer damals nicht dabei gewesen ist, kann es sich heute gar nicht mehr vorstellen. Am 28. Juni 2004 aber war es dann – endlich – vorbei: Das Bundesgesetzblatt wurde ausgegeben und sie lag vor, die „Verordnung über die Berufsausbildung zur Sonnenschutzmechatronikerin“.

Julia F. kann nun – staatlich anerkannt und in ordentlich reformierter Rechtschreibung beschrieben – „Rollläden“ qualifiziert beruflich herstellen, sobald sie den Ausbildungsberuf verordnungskonform erlernt hat. Was aber muß Julia F. lernen, um die erforderlichen Fertigkeiten und Kenntnisse zu beherrschen?

An erster Stelle nennt das Gesetz die Kenntnis von „Arbeits- und Tarifrecht“. Ein befreundeter Zyniker spottete, danach bleibe also die Terrasse eines Kunden so lange ein sonniges Plätzchen, wie der Sonnenschutzmechatroniker sein Tarifrecht noch nicht kenne. Doch auch der schon zum Arbeitsrechtsexperten erzogene Auszubildende greift dann noch lange nicht zu Stoff und Schraube. Sicherheit bei der Arbeit, Umweltschutz und der Umgang mit Kommunikationstechniken müssen zuvor mit dem Lehrherren besprochen werden. So will es das Gesetz. Erst dann geht es – an zehnter Stelle des Ausbildungsplanes – an das Herstellen von Rollpanzern, Steuerungskomponenten und Fensterkombinationen.

So schleppt sich die Ausbildung des Sonnenschützers und Rollladenmechatronikers über die sechsunddreißigmonatige Zeit und durch das dokumentierende Berichtsheft, bis eines Tages – an siebzehnter Stelle des Lehrplanes – auch für Julia F. eine weitere Dimension des künftigen Broterwerbes aufscheint: Die Faszination, Arbeiten kundenorientiert durchzuführen, Kundenwünsche mit dem betrieblichen Leistungsspektrum zu vergleichen und fertiggestellte Arbeiten an den Kunden zu übergeben.

Wer um das Wohlergehen von Julia F. besorgt ist, fragt sich allerdings, warum die Ausbildungsverordnung nicht nochmals gesondert hinweist auf die Lastenhandhabungsverordnung. Eine schwere Unterlassung des Gesetzgebers. Denn wer könnte Zweifeln, daß gerade ein unhandliches Sonnenschutzrollo aufgrund seiner ungünstigen ergonomischen Bedingungen für die angehende Sonnenschutzmechatronikerin eine erhebliche Gefährdung für ihre Lendenwirbelsäule birgt? Gerade dann, wenn bei dem Kunden der in vertikaler Richtung zur Verfügung stehende Platz eingeschränkt ist und die zu erwartende Luftgeschwindigkeit Gesundheitsgefahren birgt, ist der Anwendungsbereich dieser Arbeitsschutzverordnung bekanntlich weit eröffnet.

Der Lehrherr von Julia F., Manfred L., sieht die bevorstehende Ausbildungszeit gelassen. Seine feste Absicht ist, sich nicht an die Verordnung zu halten und Julia F. schlicht erst einmal das beizubringen, was sie für das Leben als Sonnenschutzmechatronikerin am wesentlichsten braucht: Wissen, was der Kunde will und wissen, ob man es ihm bauen kann. Papier, sagt Manfred L., ist geduldig, Kunden sind es nicht. Zwar träumen sie alle von einem Platz an der Sonne. Aber wenn die Wolken weichen, wollen sie schnell ein schattiges Plätzchen. Das jedenfalls hat ihn die Praxis gelehrt. Allen Verordnungen zum Trotz. Vielleicht, sagt Manfred L., wird auch der Gesetzgeber eines Tages lernen, was im Leben noch wichtiger ist, als Tarifrecht oder die Beziehungen zu Wirtschaftsorganisationen und Gewerkschaften. Es ist: Sein Handwerk beherrschen und den Kunden verstehen. Das will er Julia F. zeigen. Denn das ist sein Wunder von Lern.

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