Konsens und Dissens im deutschen Gesundheitssystem

Carlos A. Gebauer

Das Britische Gesundheitsministerium hat vor einigen Jahren verboten, Leichen öffentlich zu sezieren, weil dies gegen die guten Sitten verstoße. Insofern ist vielleicht nicht unproblematisch, unser sozialgesetzliches Gesundheitssystem öffentlich zu untersuchen. Professor Sauerbruch, in dessen Hörsaal wir hier sitzen, wird es uns jedenfalls verzeihen. Doch, zur Sache:

1.) Es gibt augenscheinlich nur einen einzigen Punkt im gesamten deutschen Gesundheitssystem, über den nicht gestritten wird: Nämlich den Umstand, daß alles andere umstritten ist. Folglich drängt sich die Frage auf, warum eigentlich alles im System derart in Streit steht.

Während das System insgesamt auf den Namen „Gesundheitswesen“ hört, strebt das Sozialgesetzbuch mit seiner einleitenden Legalprämisse in §1 I 1 SGB I bekanntlich noch mehr an. Angezielt wird – wortwörtlich übereinstimmend übrigens mit der Präambel der DDR-Verfassung von 1949 – die Herstellung „sozialer Gerechtigkeit“. Es geht also um mehr, als nur um die Gesundheit. Es geht um das Allgemeinwohl. Warum also wird darüber gestritten?

2.) Ein gezielter Blick in das System erweist Erstaunliches. Fragt man nämlich nach Konsens und Dissens im Gesundheitswesen, dann stellt man fest: Das Gesetz ist praktisch ununterbrochen überall damit befasst, daß der Wille einzelner Personen oder Personengesamtheiten von anderen Personen oder Personengesamtheiten gebrochen wird. Beständig erklärt eine Instanz oder Institution einer anderen Stelle oder Einrichtung, was genau diese zu tun oder zu lassen habe, damit im Ergebnis das Wohl der Allgemeinheit – endlich – erreicht werde.

a.) Patienten werden nicht nach ihrem Willen gefragt, ob sie sich gegen das Risiko einer Krankheit versichern möchten. Ihr dahingehender Wille wird gesetzlich gebrochen, es herrscht Versicherungszwang. Patienten werden auch nicht danach gefragt, ob sie sich „gesetzlich versichern“ möchten. Es wird ihnen vorgeschrieben. Folgerichtig spielt auch der Wille des Patienten kaum eine Rolle, wenn es um die Frage nach dem inhaltlichen „Wie“ seines Schutzes geht. Auch diese Willensbildung ist unbeachtlich. An der Stelle des Patienten entscheiden Krankenkassen, Medizinische Dienste, ungezählte Ausschüsse und – natürlich – zuletzt die Politik.

b.) Doch auch der Wille von Ärzten oder Zahnärzten, wie sie am besten zu behandeln glauben, wird gebrochen. Mit sagenhaftem bürokratischem Aufwand wird ihnen von Kassenärztlichen Vereinigungen, Medizinischen Diensten, Gemeinsamem Bundesausschuß etc. pp. vorgeschrieben, was sie in ihrer Arbeit richtigerweise zu wollen haben. Das, was einstmals als Therapiefreiheit proklamiert wurde, verliert sich in homöopathisierender Vermengung und Vermischung mit Administration und Kontrolle.

c.) Auch die Willensbildung der Krankenhäuser und ihrer Ärzte spielen im Kontext dieses Gesundheitssystems folgerichtig keine wesentliche Rolle. Den Krankenhausärzten, dem Pflegepersonal und den Verwaltungen der Häuser werden – nicht anders als im Bereich der niedergelassenen Ärzte nebst all ihren inzwischen zulässigen Mischformen – dezidierteste Befehle erteilt, was sie zum Wohle der Volksgesundheit wollen dürfen.

d.) Die scheinbar noch übermächtigen Kassenärztlichen Vereinigungen selbst sind ebenfalls nicht in der Lage, einen eigenen Willen in ihrem Handeln zu entwickeln und diesen konsequent durchzusetzen. Auch ihnen wird mehr und mehr der fremde Wille von Krankenkassen durch politisch formulierte und motivierte Gesetze aufgezwungen. Ihr paradoxer gesetzlicher Handlungsauftrag („Vertrete die Ärzte und vertrete sie nicht!“) verwebt sie beständig in einen immer dichteren Kokon, aus dem es für sie nie mehr ein Entrinnen gibt.

e.) Des weiteren finden sich aber auch die ansonsten durchaus kompetenzgestärkten Krankenkassen in ihren Willensdurchsetzungen einerseits an Kassenärztlichen Vereinigungen, in Einzelfällen durch den MDK, durch den Gemeinsamen Bundesausschuß oder durch hinderliche Interessen von Krankenhäusern und/oder Krankenhausgesellschaften gestört. Andererseits räumt ihnen eine Politik mit Gesundheitsfonds und anderem zwangsverwaltungstechnischen Knebelinstrumentarium wie dem des RSA praktisch keine Chance ein, ökonomisch und medizinisch Gedeihliches miteinander zu verheiraten.

f.) Schließlich wird selbst die Politik nicht müde, auf jene Schwierigkeiten zu deuten, die ihr mit der sogenannten „Selbstverwaltung“ im System begegneten. Hier redet sie von Lobbyismus und betonierten Widerstandsstrukturen, die ihr eine fruchtbringende Formulierung endlich paradiesisch sozial gerechter Gesetze verunmöglichten. War es nicht noch immer entlastend, wenn der andere Schuld am eigenen Versagen trägt?

3.) In Ansehung dieser allgegenwärtigen Willensbrechungen muß demnach legitim sein, von unserem gesetzlichen Gesundheitssystem als von einer Dissens-Struktur zu reden. Mit anderen Worten: Alle „player“ dieses Lebensbereiches bilden im Ergebnis nichts anderes als eine Dissensgesellschaft, in der Streit die Regel und Konsens die Ausnahme sind. Nicht also die Bildung und Formulierung friedlicher, friedvoller und befriedender Willensübereinstimmung, sondern das Aufeinandertreffen und –prallen mehr oder minder machtvoller Willensgegensätze kennzeichnen dieses System in seinem Kern.

Demnach wird man die weitere Frage stellen müssen, warum die jeweilige Willensbildung eines jeden einzelnen „players“ in diesem Kontext für unbeachtlich erklärt wird. Und man wird fragen müssen, ob diese strukturell allgegenwärtige Willensbrechung sich überhaupt noch in den Gesamtzusammenhang unserer heutigen Gesellschaftsordnung fügt.

4.) Vor der Beantwortung dieser weiteren Fragen ist jedoch – gleichsam vorsorglich, zur Beseitigung eines verbreiteten terminologischen und inhaltlichen Irrtumes – noch dies einzuschieben: Nicht selten begegnet man der Auffassung, alle hier als „player“ bezeichneten Institutionen stünden zueinander und miteinander im Verhältnis des „Vertrages“. Denn schließlich würden doch z.B. die Spitzenverbände der einschlägigen Instanzen miteinander „Verträge“ schließen. Und auch die vormals als „Kassenärzte“ bezeichneten player seien inzwischen längst Vertragsärzte.

An dieser Stelle darf man sich nicht von der unzutreffenden Terminologie in den inhaltlichen Irrtum locken lassen. Denn die juristische Dogmatik hat über Jahrhunderte dies erarbeitet: Verträge – und insbesondere Vertragsfreiheit – erfordern zweierlei: Abschlussfreiheit und Gestaltungsfreiheit. Das heißt: Die Vertragsparteien müssen jeweils einvernehmlich darüber entscheiden können (a.) ob sie überhaupt miteinander einen Vertrag abschließen wollen und (b.) welchen Inhalt sie ihrer vertraglichen Absprache geben möchten. Werden aber – wie typischerweise im deutschen Gesundheitssystem – bestimmte Institutionen zum Vertragsabschluß mangels ernstlicher Alternative(n) gesetzlich gezwungen und werden ihnen überdies auch noch gesetzlich Vorgaben dazu gemacht, wie sie sich inhaltlich zu „einigen“ haben, dann haben wir es weder mit wirklichen Verträgen, noch auch mit wirklichen Vertragspartnern zu tun. Statt dessen ist lediglich die Aufgabe der Koordination bestimmter gesetzlicher Handlungspflichten in den Bereich der mittelbaren Staatsverwaltung ausgelagert. Das erklärt, warum der „Vertragsarzt“ kein Vertragsarzt ist: Er schließt weder Verträge mit seinen Patienten, noch gar mit seiner KV, die per Verwaltungsakten mit ihm kommuniziert. Kurz: Im gesetzlichen Gesundheitssystem Deutschlands „verträgt“ man sich nicht miteinander, sondern – wie eingangs beschrieben – man streitet in der Dissensgesellschaft.

5.) Dies führt nun zu der schon aufgeworfenen Frage: Wie kann es sein, daß der Wille einzelner (ebenso wie der innerhalb bestimmter Institutionen gemeinschaftlich gebildete Wille) stets von anderen playern gebrochen werden darf?

Schließlich anerkennen wir doch insbesondere im medizinischen Kontext, daß z.B. der Wille des Patienten, ob ein ärztlicher Eingriff vorgenommen werde oder nicht, gleichsam sakrosankt ist. Wir unterwerfen vielerlei besonders wichtige Geschäfte dem notariellen Beurkundungszwang, weil wir sichergestellt wissen möchten, daß der Wille der Beteiligten möglichst fehlerfrei gebildet und dokumentiert werde. Das moderne Schuldrecht ist peinlich genau darauf bedacht, daß der Erklärende das von ihm Gesagte auch wirklich, wirklich, wirklich wollte, andernfalls er auch Wochen nach dem Vertragsschluß diesen noch wirksam widerrufen kann. Und in unserem Sexualstrafrecht anerkennen wir inzwischen auch auf breitester gesellschaftlicher Basis, daß der übereinstimmende Wille zweier beispielsweise homosexueller Partner und dessen Betätigung von der Rechtsordnung respektiert zu werden hat.

In allen diesen Gebieten gilt der alte, jahrtausendealte Rechtsgrundsatz vom „volenti non fit iniuria“ – von der Einwilligung des Betroffenen also, die ausschließt, daß ihm Unrecht geschehe. Warum nur kann und darf dieser Grundsatz im deutschen Gesundheitssystem nicht Geltung erlangen? Was hindert uns daran, dieses Prinzip zum Leitstern auch unserer medizinischen Versorgung zu machen?

6.) Zuendegedacht heißt all dies: Das Verbot, frei und übereinstimmend miteinander Verträge schließen zu dürfen, führt zur Dissensgesellschaft. Eine Konsensgesellschaft entsteht erst dort, wo gemeinschaftliche Bildung und Betätigung von individuellen Willen ermöglicht werden. Das aber bedeutet, daß wir auch im Gesundheitssystem den freien Willen des je anderen endlich wieder respektieren, statt ihn ununterbrochen legislativ, exekutiv – und manchmal sogar judikativ – zu brechen. Denn auch wenn wir bis heute nicht annäherungsweise wissen, was überhaupt „soziale Gerechtigkeit“ sei, so dürfte sie doch jedenfalls eines nicht bedeuten: Die Aufforderung des Gesetzgebers an alle „player“ im System, miteinander im eskalierenden Dissens zu leben.

7.) Zu allerletzt erscheint mir dies wichtig: Ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß das bestehende sozialgesetzliche Gesundheitssystem der Bundesrepublik Deutschland dem Tode geweiht ist. Ich stelle dies auch nicht triumphierend, sondern vielmehr beklommen fest. Aber die Struktur dieses Systems ist mit jener der kollabierten DDR-Planwirtschaft identisch. Zentrale Planung statt wirklicher, individueller, zwischenmenschlicher, kreativer Vertragsgestaltungen jeweils vor Ort hat nach allem, was wir wissen, noch immer und überall in den Untergang geführt. Wer dies verkennt oder leugnet, ist entweder ein ahnungsloser Traumtänzer oder ein böswilliger Profiteur der Mißwirtschaft. Es ist alleine der Konsens, der eine Gesellschaft in ihrem Innersten zusammenhält, niemals der von Ferne dekretierte Dissens.

Mit dieser Einstellung muß auch jeder Protest gegen die niedergehenden Strukturen vorgetragen werden. Die Vertreter des Dissenses sind nicht etwa Gegner, die es zu überrennen gilt. Sondern sie sind die möglichen Partner von morgen, mit denen gemeinsam neue Lösungen erdacht werden können. Wer sorgenvoll vor den Mauern eines Verwaltungspalastes demonstriert, der muß demnach bedenken, daß auch innerhalb dieser glänzenden Mauern durchaus Unsicherheit und Befürchtungen über die weiteren Entwicklungen herrschen. Aufgabe der Kritik ist also, den Repräsentanten des scheiternden Systems freundlich und friedlich, aber dennoch eisern konsequent und stets beharrlich ihre Irrtümer und die ihnen – noch – fehlende Perspektive von einer künftig kommenden Konsensgesellschaft im Gesundheitswesen nahezubringen.

1 bei einer Podiumsdiskussion am 28. September 2007 in der Berliner Charité, Hörsaal Sauerbruchweg 2, auf Einladung des ‚Bündnisses Direktabrechnung

Zur Toxikologie des öffentlichen Rechtes im Bereich eines Gesundheits-Systems

Kommunikations- und rechtstheoretische Rezeptvorschläge für einen Cocktail zur Entgiftung des Gesundheits-Systems

Das öffentliche Recht als Organisationsprinzip vergiftet unser Gesundheitswesen. Eine erfolgreiche medizinische Versorgung der gesamten Bevölkerung ist auf Dauer nur mit den Mitteln des Zivilrechtes sicherzustellen. Wie aber kommt diese theoretische Erkenntnis praktisch zur Welt?

Vorbemerkung:

Wer einen bestehenden Zustand ändern möchte, der bürdet sich eine Argumentationspflicht gegen die Wirklichkeit auf. Odo Marquard hat diese Pflicht auf die Formel gebracht: „Den Veränderer trifft die Beweislast“1 . Ursache für diese Beweislastverteilung ist, daß man nicht alles, was bereits besteht, begründen kann (schon weil dafür die Zeit nie reicht). Bis zum Beweis des Gegenteiles gilt also immer erst einmal weiter das, was ist2.

Wer das bestehende Gesundheits-System ändern will, der findet sich folglich in dieser Darlegungs- und Beweislast. Er muß zweierlei nachweisen: Erstens, daß das gegebene System fehlerhaft ist und zweitens, daß sein Gegenentwurf diese Fehlerhaftigkeit beseitigt.

Wem gegenüber muß der Veränderer diesen Beweis aber antreten? Hierfür gibt es ersichtlich kein förmliches, prozessuales Verfahren vor einem bestimmten Richter3. Als Richter fungiert in der Demokratie letztlich nur das Volk. Also kann der Beweis zugunsten einer Veränderung nur vor dieser öffentlichen Volksmeinung geführt werden.

Die öffentliche Meinung ist allerdings kein bequemer Richter. Denn sie ist – schon mangels einer jeden Verfahrensregel – (a.) unaufmerksam, sie ist (b.) in der Sache nicht kundig und sie ist (c.) selbst bei erfolgreich geführtem Beweis zugunsten einer Änderung nicht selbst entscheidungsmächtig .4

Hieraus folgt für den Beweisführer: Zuallererst muß er (als gleichsam elementarste Kommunikationsvoraussetzung für seine Bemühungen) die Aufmerksamkeit seines Richters gewinnen (…und sie erhalten!). Dieser kommunikative Kontakt als Basis allen weiteren Tuns reißt aber dann sofort ab5, wenn und sobald dieser – nicht sachkundige! – Richter mit übermäßig differenzierten oder vermeidbar unstrukturierten Informationen überschwemmt wird.6

Hieraus wiederum ergibt sich unabweisbar der Zwang, daß der Beweis stets in nachvollziehbaren Schritten, leicht verständlich und Element für Element, Stück für Stück erbracht werden muß. Mit anderen Worten: Maßgeblich ist nur der Verständnishorizont des Richters, nie aber der Verständnishorizont des Beweisführers.

Solange sich also mehrere Beweisführer über die einzelnen Essentialia ihrer Beweisführung nicht intern verständigt haben, solange können sie ihren Nachweis dem Richter gegenüber niemals mit Aussicht auf irgend einen Erfolg erbringen. Anders gesagt: Erst muß der Gedanke intern klar konturiert werden. Anschließend wird er allgemein verständlich formuliert. Erst dann (!) darf überhaupt zu Zwecken der Beweisführung in die Kommunikation mit dem Richter eingetreten werden .

Im Rahmen einer solchen internen Propädeutik schlage ich nun hier vor (und will es sogleich begründen), das öffentliche Recht als Ur-Fehlerquelle für die Funktionsunfähigkeit des derzeit vorgefundenen Systems zu isolieren. Erst wenn Konsens über die Fehlerquelle hergestellt ist, kann anschließend – auf dieser Basis – argumentativ weiter vorangeschritten werden.7

Nochmals: Nur wenn – erstens – die Prämissen klar zutage liegen, können auch die daraus abgeleiteten Konsequenzen für jedermann durchschaubar bleiben (jedes Streichquartett stimmt zu Beginn seine Instrumente auf einen gemeinsamen Kammerton; für ein gesundheitspolitisches Konzert kann nichts anderes gelten!). Und zweitens: Wer das Gehör der Öffentlichkeit nicht findet und sie nicht überzeugt, der hat nicht einmal die Bedingung der Möglichkeit für eine (dann parlamentarische) Umgestaltung des Gesundheits-Systems geschaffen; er scheitert schon im Ansatz.

These:

Meine These ist: Die Versorgung einer Vielzahl von Menschen mit medizinischen Leistungen läßt sich mit dem Mittel des öffentlichen Rechtes auf Dauer nicht erfolgreich organisieren. Versucht man dennoch, eine Gesundheitsversorgung dergestalt öffentlich-rechtlich sicherzustellen, dann hat das toxische Konsequenzen.

Denn öffentliches Recht wirkt wie ein Giftstoff, der zuerst die verwaltungstechnischen Systemabläufe lähmt, anschließend das Erbringen einer angemessenen medizinischen Leistung selbst beeinträchtigt und zuletzt – nur folgerichtig – seine einzelnen Mitglieder (äußerst konkret und ethisch verwerflich) körperlich schmerzt.

Jener Vergiftungsprozeß folgt rational erklärbaren, gleichsam kausalen Abläufen. Die Beschäftigung mit diesen Abläufen will ich hier als „Toxikologie des öffentlichen Rechtes im Bereich eines Gesundheits-Systems“ bezeichnen.

Was ist „öffentliches Recht“?

Um diese Toxizitäts-These zu beweisen, sollen zunächst Begriff und Bedeutung des „öffentlichen Rechtes“ geklärt werden. Für die hier interessierenden Zusammenhänge genügt eine Klärung, die den Stamm des Problems umreißt, ohne alle seine Verästelungen nachzuzeichnen: Öffentliches Recht ist danach zunächst – und wesentlich – das Gegenstück zu Zivilrecht.

Während das Zivilrecht die Rechtsbeziehungen von Bürgern untereinander (also auf einer einheitlichen, gleichhohen Ebene) regelt, bezieht sich das öffentliche Recht auf die Rechtsbeziehungen zwischen Behörden und Bürgern. Behörde und Bürger stehen sich dabei nicht gleichgeordnet gegenüber, sondern sie befinden sich auf zwei unterschiedlichen Ebenen: Die Rechte der Behörde sind den Rechten des Bürgers übergeordnet. Man nennt öffentliches Recht aus diesem Grunde seit jeher auch „hoheitliches“ Recht: Der Herrscher (oder sein Polizist) befiehlt dem Untertanen ein gewisses Verhalten; der seinerseits hat zu gehorchen.8

Aus diesem „Übereinander statt Nebeneinander“ folgt nun die ganz zentrale Konsequenz für jede rechtliche Handlungspflicht des Bürgers im Staat: Die Behörde kann dem Bürger ein bestimmtes Verhalten von sich aus alleine schon deshalb befehlen, weil sie ihm rechtlich übergeordnet ist. Die Handlungspflicht des Bürgers folgt also originär aus dem Befehl der Behörde.

Zum Unterschied hiervon kann ein Bürger einem anderen Bürger im zivilrechtlichen „Nebeneinander“ ein bestimmtes Verhalten gerade nicht von sich aus (originär) befehlen. Denn hier fehlt es an einer solchen Über- und Unterordnung. Alleinige Ursache für den Anspruch eines Bürgers gegen einen anderen kann in diesem Rechtsgebiet (innerhalb derselben Ebene) nur ein vorangegangenes eigenes Verhalten dieses anderen Bürgers sein. Zwei kleine Beispiele mögen dies verdeutlichen:

Der eine klassische Fall eines solchen vorangegangenen Verhaltens ist der Vertrag: Ein Bürger A verpflichtet sich gegenüber einem anderen Bürger B, künftig eine bestimmte Handlung vorzunehmen. Erst durch diese (seine eigene!) vertragliche Verpflichtung begründet der A den späteren Anspruch des B gegen sich. Der B könnte von dem A ohne diese Verpflichtung nichts verlangen.

Der andere klassische Fall ist die deliktische Schädigung eines anderen: Weil der X das Eigentum des Y durch eine Handlung beschädigt hat, ist er dem Y anschließend zu Ersatzleistungen verpflichtet. Hätte der X nicht so gehandelt, könnte der Y anschließend auch nichts von ihm beanspruchen.

Zusammengefaßt läßt sich also knapp festhalten: Wer vertraglich nichts verspricht und wer keine fremden Gegenstände beschädigt, der ist im Zivilrecht auch keinem anderen Bürger gegenüber zu irgend einer Handlung verpflichtet. Die Entscheidung des einzelnen, ob und wozu er sich rechtlich gegenüber einem anderen verpflichten möchte, liegt einzig in seinem eigenen, freien Belieben.

Folgerichtig hängt die Entscheidung des einzelnen für oder gegen eine derartige Selbstverpflichtung stets davon ab, was er durch seine Verpflichtung im Gegenzug von dem anderen selbst zu erhalten wünscht. Juristen nennen diese Wechselbezüglichkeit das „Synallagma“9. Erst das Synallagma gibt dem einzelnen überhaupt ein Motiv (nämlich die Aussicht auf eine konkrete Gegenleistung), eine solche Selbstverpflichtung einzugehen. Zugleich stellt es damit das von den Vertragsparteien einvernehmlich erkannte und vereinbarte Gleichgewicht zwischen einerseits der Leistung des einen und andererseits der dafür versprochenen Gegenleistung des anderen dar. (Niemand kann diese wechselseitge Definition auch sachkundiger und sachnäher treffen, als die Vertragsparteien selbst. Denn nur sie sind selbst vor Ort, nur sie sind selbst beteiligt und nur sie selbst wissen genau, was eigentlich sie mit ihrem Vertrag erreichen wollen.)

Das öffentliche Recht hingegen kennt ein solches unmittelbares Synallagma nicht10. Auf diesen Gesichtspunkt wird hier später im einzelnen zurückzukommen sein.

Nach dem Gesagten ist klar: Das öffentliche Recht hat in gewissen Lebenszusammenhängen seine faktische Geltungsberechtigung und seinen praktischen Sinn. Der Polizist muß einen Randalierer auch festnehmen können, ohne daß dieser zuvor jeweils konkret selbst erklärt hätte, mit seiner eigenen Festnahme einverstanden zu sein.

Der Gesetzgeber ist jedoch im Laufe der Geschichte einer mißlichen (und wie zu zeigen sein wird: toxisch wirksamen) Versuchung erlegen. Er hat mehr und mehr Bereiche der Rechtsordnung seinem hoheitlichen Befehl unterstellt, die nach den geregelten Sachverhalten einer solchen behördlichen Überordnung überhaupt nicht zwingend bedurft hätten.

In dem Beispiel des Randalierers besteht zwar kaum substantieller Zweifel, daß der Polizist auf der Stelle und sofort eingreifen soll, um der akut drohenden Gefahr für die Allgemeinheit zu begegnen. Eine solche Not aber, in genau dieser Sekunde auf genau dieser Straße ebenso akut staatlich handeln zu müssen, besteht dann nicht, wenn es – beispielsweise – um die Altersversorgung von Bürgern geht. Denn erkennbar müßte niemand im Alter nur deswegen in Armut sterben, weil ein Sachbearbeiter statt sofort auf der Straße erst eine Stunde später in seinem Büro bestimmte rententechnische Verwaltungsmaßnahmen durchführt.

Dennoch hat der Gesetzgeber das staatliche Recht zu hoheitlichem Tun auf immer weitere Gebiete und Lebenssachverhalte ausgedehnt. Der Grund hierfür ist ebenso naheliegend, wie banal: Wer befehlen kann, der muß nicht argumentieren und überzeugen. Er ordnet schlicht an. Und das ist – jedenfalls für den Staat (sei es als Gesetzgeber, sei es als Behörde) – zunächst einmal bequem11.

Öffentliches Recht und „Gesetzliche Krankenversicherung“

Der deutsche Gesetzgeber ist einer derartigen Bequemlichkeitsversuchung (nicht nur dort, aber dort ganz besonders) im Bereich der hier interessierenden Gesundheitsversorgung seiner Bürger erlegen.

Gleichviel, ob der deutsche Staat in den letzten 120 Jahren als Monarchie, als Republik oder als Diktatur ausgestaltet war: Immer und mit wachsenden Umfängen hat er konsequent den Weg einer öffentlich-rechtlichen Ausgestaltung des Gesundheitssystems beschritten. Inzwischen ist daher die Gesundheitsversorgung von mehr als 90% aller Menschen in Deutschland öffentlich-rechtlich organisiert. Spiegelbildlich hierzu ist das Zivilrecht mit seinem Synallagma aus diesem Bereich mehr und mehr vertrieben worden. Das aber hat ganz erhebliche Konsequenzen.

Kassenarzt und Kassenpatient schließen (ebenso wie der Kassenpatient und ein zugelassenes Krankenhaus) keinen zivilrechtlich-synallagmatischen Vertrag miteinander. Sie verpflichten sich also nicht zweiseitig, bestimmte Handlungen wechselseitig zu erbringen. Das öffentliche Recht befiehlt vielmehr dem Arzt eine bestimmte medizinische Leistung an seinem Patienten.12

Von dem Patienten wird an dieser Stelle allenfalls eine gewisse Mitwirkungshandlungen bei seiner Behandlung erwartet. Die dem Bezahlungszweck dienende Gegenleistung für die Behandlung wird an einer ganz anderen Stelle außerhalb der Arztpraxis auf dem Umweg über mehrere öffentlich-rechtlich organisierte Behörden – im wesentlichen Krankenkasse und Kassenärztliche Vereinigung – abgewickelt. Diese umständliche öffentlich-rechtliche Gestaltung hat dann auch zwei ganz wesentliche Konsequenzen:

Zum einen ist die vertragstypische Wechselseitigkeit der gegenseitigen Leistungsversprechen ausgeschlossen. Die unmittelbar am Behandlungsgeschehen Beteiligten wägen nicht mehr Umfang und Wert ihrer jeweils eingebrachten Beiträge zu dem konkreten Leistungsaustausch vor Ort miteinander ab. Das Synallagma ist zerschnitten. Damit ist aber zugleich auch der erste und elementarste Kontrollmechanismus des zivilrechtlichen Synallagmas (ob nämlich ein Leistungsversprechen tatsächlich eingehalten ist und ob die tatsächlichen wechselseitigen Leistungen einander gleichwertig sind) ausgeschaltet. Wenn diesbezüglich dennoch eine Kontrolle stattfinden soll, dann muß sie folgerichtig unausweichlich von (mindestens) einer dritten Partei vorgenommen werden13.

Zum anderen weicht die Freiwilligkeit aus dem kooperativen Miteinander zwischen Arzt und Patient in mannigfaltiger Beziehung: Der Patient kann sich nicht aus freien Stücken entscheiden, ob er „gesetzlich versichert“ sein möchte oder nicht. Das Versicherungsverhältnis selbst ist bereits gesetzlich befohlen. Die „freie Arztwahl“ schwindet (beispielsweise mit den sog. „Hausarztmodellen“).

Der Arzt seinerseits kann nicht mehr entscheiden, ob er überhaupt als öffentlich-rechtlicher Kassenarzt oder aber zivilrechtlich tätig sein möchte. Die Gruppe derjenigen Patienten, die seine Leistungen potentiell abfragen, ohne Kassenpatient zu sein, ist mit weniger als 10% der Bevölkerung verschwindend gering (und sie schrumpft reziprok zum stets wachsenden öffentlichen Bereich weiter). Der Arzt kann also faktisch in seinem Beruf nur überleben, wenn er Mitglied einer Kassenärztlichen Vereinigung ist. An die Stelle seiner ärztlichen Therapiefreiheit treten dort Leitlinien sowie abschließende Kataloge verwendbarer Medikamente (wie z.B. die – euphemistisch so genannte – „Positiv-Liste“).

Der ärztliche Handlungsrahmen ist in dieser hoheitsrechtlich organisierten Gestaltung also (sowohl in Bezug auf Teilnehmer als auch in Bezug auf Teilnahmebedingungen) mit öffentlich-rechtlichem Befehl definiert. Selbst die dem Arzt vorgesetzte Kassenärztliche Vereinigung unterliegt ihrerseits keinen anderen, als solchen gesetzlichen Befehlen. Zuletzt kann selbst die Krankenkasse14 sich ihre Versicherten nicht frei aussuchen. Sie steht unter dem Befehl des Kontrahierungszwanges gegenüber allen Versicherungspflichtigen wie auch unter dem Zwang zur Teilnahme an dem Risikostrukturausgleich etc.

Im Ergebnis sind also alle Rechtsbeziehungen zwischen den Beteiligten dieses Systems dem öffentlichen Recht unterworfen. Konkrete Medizin wird damit unausweichlich zum Ausdruck einer hoheitlich-juristischen Befehlsstruktur. Konkrete Vereinbarungen und Einigungen unter den jeweils Beteiligten haben grundsätzlich keine rechtliche Bedeutung. Sie sind – sowohl für die Beteiligten selbst, als auch für Dritte – rechtsunwirksam15.

Arzt und Patient stehen einander im Ergebnis nicht auf einer gleichen rechtlichen Ebene gegenüber, sondern ein jeder ist dem je anderen in gewissen Beziehungen unter- und in anderen Beziehungen übergeordnet. Patienten können weit über eine eigene synallagmatische Leistungsbereitschaft medizinische Leistungen einfordern und Ärzte können unter Hinweis auf die fehlende rechtliche Erlaubnis hierzu Leistungen versagen.

Die Toxizität des öffentlichen Rechtes wirkt sich hier also enzymatisch-spaltend aus: Ohne sich selbst zu ändern (Enzyme sind Katalysatoren, sie bleiben also weiter toxisch), zertrennt das Hoheitsrecht das Synallagma. Die Zweier-Moleküle aus zivilrechtlichen Vertragsparteien werden aufgespalten und statt dessen in multipolare Befehlsstrukturen umgestaltet. Der Koordinierungsbedarf unter den jetzt vielen Beteiligten steigt damit unausweichlich16. Das erfordert (mehr) Zeit, die Abläufe verlangsamen sich. Der Giftstoff führt also zu Lähmungen im System. Dies ist die erste toxische Konsequenz des öffentlich-rechtlichen Befehles: Die Lähmungswirkung des Giftes17.

Ist öffentliches Recht im Gesundheits-System notwendig?

Eine solche öffentlich-rechtliche Ausgestaltung des Systems könnte allerdings zur Organisation dieses spezifischen Lebensbereiches zwingend notwendig sein. Das wäre dann der Fall, wenn Gesundheitsvorsorge ebenso unausweichlich mit hoheitlichen Befehlen organisiert werden muß, wie etwa die Festnahme des genannten Randalierers durch die Polizei. Bislang ist dies augenscheinlich von vielen Organisatoren des gegebenen Systems angenommen worden. Zur Begründung wurden meist zwei tragende Gründe angeführt:

Der erste genannte Grund bezog sich auf die Charakteristik der medizinischen Leistung selbst:

Medizin sei kein Produkt wie jedes andere. Es gehe nicht um irgendeine beliebige Ware, deren Konsum oder Nichtkonsum dem einzelnen freistehe. Vielmehr sei mit dem eigenen Körper des Menschen die elementarste Voraussetzung der menschlichen Existenz überhaupt betroffen. Der einzelne habe daher jedenfalls einen Anspruch auf mitmenschliche Solidarität zur medizinischen Hilfe an seinem Körper auch jenseits seiner eigenen individuellen vertraglichen Gegenleistungsmöglichkeiten. Diese Solidarität lasse sich auch nur und ausschließlich per öffentlich-rechtlichem Befehl sicherstellen. Der Arzt dürfe keinesfalls als Unternehmer denken. Täte er dies, werde er seinen Eintritt in die Behandlungsmaßnahme davon abhängig machen, ob der Patient ihn überhaupt bezahlen könne. Dem müsse aus ethischen Gründen mit rechtlichen Mitteln – und dort genau mit dem ‚synallagma-fernen‘ öffentlichen Recht – entgegengewirkt werden. Kurz: Medizin sei eine Frage der Ethik und nicht der Ökonomie18. Und: Diese Ethik müsse ohne jede Alternative mit behördlichem Zwang durchgesetzt werden. Dem einzelnen könne daher insbesondere auch nicht zugemutet werden, in diesem ganz elementar überlebenswichtigen Bereich – alleingelassen und auf sich alleine gestellt – Entscheidungen zu treffen19.

Der zweite Grund bezog sich auf den konkreten Umfang der erforderlichen medizinischen Hilfe:

Nicht nur das „Ob“ der medizinischen Leistung, sondern auch das „Wieviel“ der medizinischen Hilfe bedürfe einer Klärung jenseits der zivilrechtlichen Regeln aus Ökonomie, Synallagma und individuellen Absprachen. Wäre der Arzt nämlich gegenüber einem zahlungswilligen und zahlungsfähigen Patienten erst einmal tätig geworden, dann bestehe (nun geradezu gegenläufig) die nächste Gefahr einer zwar für den Patienten medizinisch unnötigen, aber für den Arzt ökonomisch attraktiven Therapie. Auch dieser Gefahr aus Informations-Disparitäten müsse – zum Schutze des Patienten und aus eben diesen ethischen Gründen – jedenfalls und unausweichlich organisatorisch mit dem öffentlichen Recht begegnet werden20.

Ein Problem verschieben heißt nicht, es gelöst zu haben!

Es läßt sich natürlich nicht ernsthaft bestreiten, daß die beiden letztgenannten Aspekte zum „Ob“ und zum „Wieviel“ von ärztlichen Leistungen in der Tat neben medizinischen auch massive ethische, juristische und – nicht zuletzt – ökonomische Probleme aufwerfen.

Daß aber ausgerechnet die Einordnung dieser Probleme (und damit auch der Auftrag, sie zu lösen) in den Bereich des befehlenden öffentlichen Rechtes die Rettung bringen (oder sie auch nur erleichtern) könnte, ist nicht mehr, als eine blanke Fehlannahme. Im Gegenteil. Die Verschiebung dieser Fragen in das öffentliche Recht löst keine Probleme, sondern sie intensiviert sie statt dessen noch ganz erheblich. Und das kommt so:

Die ethischen Fragen im Zusammenhang mit einem Menschenleben in der gesundheitlichen Krise sind bekanntlich – jenseits nur banaler Erkrankungslappalien, die hier nicht interessieren müssen – häufig enorm. In Fragen von Leben und Tod entziehen sich die meisten Antworten einer schlichten Kategorisierung in „falsch“ oder „richtig“. Überall lauern statt dessen herkulische Abwägungsaufgaben im Entscheidungsprozeß. Wer über sein eigenes Leben entscheidet – erst recht aber der, der über fremdes Leben entscheidet – trägt schwer an seiner Entscheidungslast. All dies liegt auf der Hand wird daher hier der vertieften Diskussion nicht bedürfen.

Gerade dann aber, wenn elementare und existentielle Fragen eines menschlichen Lebens beantwortet werden müssen, ist eine Antwort durch den, den es selbst betrifft, ganz besonders geboten21. Solange ein Patient Herr seiner Sinne ist, fragen wir folglich naturgemäß stets ihn selbst nach seinen Wünschen, nicht aber einen anderen. Wenn er selbst sich dann nicht mehr entscheidend äußern kann, suchen wir zur Entscheidung an seiner Stelle auch nicht im Zufallsverfahren mit dem Finger im Telefonbuch nach irgend einem beliebigen (und damit objektiven, unabhängigen) Fremden, sondern möglichst nach einem nahen Angehörigen des Patienten, der kraft seiner persönlichen Kenntnisse über den Betroffenen die wohl verläßlichsten Aussagen über dessen individuelle Willensrichtungen machen kann.

Zwangsläufig aber wird der Abstand zwischen dem, den es betrifft, und dem, der über sein Schicksal entscheidet, immer dann größer, wenn die Organisations- und Entscheidungsstruktur des betroffenen Gesundheitsbereiches öffentlich-rechtlich ausgestaltet ist. Denn das intime Synallagma zwischen Arzt und Patient ist ja – wie gesehen -durchtrennt. Also haben nicht mehr der Patient und/oder sein nächster Angehöriger die unmittelbare Entscheidungsmacht über Art und Umfang der Behandlung, sondern die zuständigkeitshalber berufenen Fremden im multipolaren Arbeitsteilungsprozeß.

Damit wird die therapeutische Entscheidungsfindung nicht nur zeitlich und organisatorisch verlängert (sie ist ja, wie gesehen, „toxisch gelähmt“). Sie wird auch entpersonalisiert. Maßgeblich für den jeweiligen Entscheidungsakt ist nicht mehr der je einzeln konkret betroffene Mensch in seiner einzigartigen, individuellen Gestalt. Maßgeblich für diesen Entscheidungsprozeß der anonymen Gesundheitsverwaltung außerhalb des Behandlungszimmers kann vielmehr zwangsläufig nur noch die Fiktion eines durchschnittlichen Standard-Patienten mit gewissen verallgemeinerten, irgendwie statistisch oder sonst auf Annahmen gegründeten Anforderungsparametern sein. Denn: Die Beamten der Behörden konnten diesen konkreten Patienten ja zuvor nie persönlich kennenlernen.

Wollen die Beamten (oder die sonst mit öffentlich-rechtlichen Entscheidungsbefugnissen beliehenen außerbehördlichen Instanzen, wie etwa das Krankenhauspersonal) im Einzelfall Entscheidungen über die Zuweisung von Medizinleistungen an einen Patienten treffen, müssen sie daher nicht nur die beschriebenen schwierigen Abwägungen (außerhalb der Antwortchancen des sicheren „falsch“ oder „richtig“) treffen. Sie müssen darüber hinaus auf der Basis standardisierter Annahmen über das medizinische und körperliche Schicksal eines ihnen anvertrauten, gleichwohl aber persönlich unbekannten Menschen befinden. Weil ein derartiger „Standard“ unausweichlich am Maßstab konventioneller Regelerwartungen anknüpfen muß, mutiert der konkrete Patient demnach zwangsläufig zu einem kontrafaktischen Phantom. Medizin und ärztliche Zuwendung können nicht mehr maßgeschneiderte Hilfe für das konkrete Individuum sein, sondern nur noch Gegenstand eines medizinischen Massenproduktionsprozesses22.

Das Gift führt also nicht mehr nur zu dem beschriebenen (ersten „toxischen“) Lähmungseffekt. Es tritt nun auch noch eine zweite toxisch verursachte Wahrnehmungsstörung innerhalb des Systems hinzu. Denn wer handeln will23 , muß zunächst das Umfeld und dessen Zustand erkennen, innerhalb dessen er sich bewegt. Handlungen sind Aktionen innerhalb von Gegebenheiten nach gewissen Regularien. Die Erfolgswahrscheinlichkeit für ein zielgerichtetes Handeln schwindet aber zwangsläufig in dem Maße, in dem die Umgebungsvoraussetzungen für dieses Handeln unerkannt bleiben24. Wer ein Auto mit Scheiben aus Milchglas fährt, der kommt unbestreitbar allenfalls noch durch Zufall an sein Ziel.

Wenn also nicht mehr nur der Arzt mit seinem Patienten entscheidet, sondern gleich eine Vielzahl Dritter (bis hin etwa zum Gemeinsamen Bundesausschuß‘ mit seinen Institutionen) bei der Behandlung in jedem konkreten therapeutischen Erkenntnis- und Entscheidungsprozeß mitreden, dann steigt mit jedem weiteren Teilnehmer notwendig auch das Risiko von Fehl-Erkenntnissen25.

Dies gilt verstärkt noch dann, wenn die je eigenen Handlungmotive der unterschiedlichen Akteure verschieden sind. Der Arzt wird bei seinem Tun in erster Linie26 noch rein medizinisch denken. Die Kassenärztliche Vereinigung denkt bereits weniger ärztlich und mehr abrechnungstechnisch (was auch nicht verwerflich ist, sondern nur verständlich, denn ihr Organisationszweck ist ja auch ein anderer!). Wieder anders steht es um die Zielstellungen der Krankenkassen, der Bundesausschuß-Institute und – nicht zuletzt – der Politik, die über dem gesamten System thront27. Reine Objektivität ist eine Illusion.

Den Einzelfall angemessen zu erfassen, wird dadurch erschwert (wenn nicht unmöglich gemacht). Aus ärztlicher Zuwendung wird systembedingt-zwangsläufig behördliche Abwendung. Das tatsächliche Geschehen „draußen in der Welt“ wird von den Entscheidenden (toxizitätsbedingt) nur noch gedämpft und gehemmt wahrgenommen. Die auf dieser Wahrnehmung fußenden Entscheidungen sind eher zufällig als planvoll richtig.

Dieses Entpersonalisierungs-Problem der durch Arbeitsteilung verursachten mangelnden Zielgenauigkeit öffentlicher Hilfe ließe sich bildhaft auch als das „Linienbus-Phänomen“ beschreiben: Denn auch der Passagier des öffentlichen Nahverkehrs wird nie wirklich zu seinem eigentlichen Ziel gefahren, sondern bestenfalls in dessen ungefähre Nähe. Die Organisatoren des öffentlichen Personennahverkehrs standardisieren ihre Fahrgäste also ebenso in bestimmte, von ihnen definierte allgemeine Kategorien von Transportbedürftigen. Die nächtliche Odyssee mit mehreren – hoffentlich allesamt pünktlichen! – Bussen und Bahnen zum letzten Anschluß ist unbestreitbar niemals tatsächlich effektiv im Sinne der schnellen, schnörkellosen Zielerreichung28. Individuelle Zielverfehlungen aber, die an der Haltestelle nur ärgern, können im Krankenzimmer ersichtlich tödlich enden.

Wir finden also – erstens – eine durch „öffentliches Gift“ ausgelöste Lähmung und Verlangsamung des Systems. Wir finden – zweitens – die Therapie von fiktiven, verallgemeinerten Patienten-Mustern statt von konkreten Individuen. Wir finden – drittens – eine Wahrnehmungsstörung im Erkenntnis- und Handlungsprozeß der multipolaren behördlichen Behandlungsstruktur (der objektive Patient beim objektiven Arzt im objektiv „guten“ Handlungsgeschehen ist – pardon – eine Halluzination) . Und wir finden, damit soll es hier genügen29, schließlich – viertens – auch noch eine ethische Vergiftungsfolge: Denn derjenige, der fernab des Behandlungsgeschehens Entscheidungen über die Therapiemaßnahmen und deren Umfang treffen muß, hat notwendigerweise keinerlei personalen Bezug mehr zu dem individuellen Leiden des konkreten Patienten. Sein öffentlich-rechtliches Behördenhandeln kann also zwangsläufig nicht mehr individuell-zugewendet sein30.

Der ethische Impetus, der ursprünglich weg von dem zivilrechtlichen Synallagma und hin zu öffentlich-rechtlichen Befehlen geführt hat, verkehrt sich unter dieser Komplexität in sein Gegenteil31.

Zuletzt ist es, als behandele ein gelähmter und sehbehinderter Arzt aus der Ferne mit Marionettenfäden einen fiktiven Patienten, von dessen Erkrankungen ihm nur aus zum großen Teil unzutreffenden Dokumentationsunterlagen32 berichtet wurde.

Zusammenfassung und Schlußbemerkung:

Das öffentliche Recht im Gesundheits-System eliminiert das vertragliche Synallagma zwischen zwei Partnern (Arzt und Patient). Grund für diese Eliminierung war ursprünglich die gesellschaftliche Überlegung, daß Medizin – aus sozialen Gründen – keinen Preis haben dürfe. Ein Austausch zwischen einerseits medizinischer Leistung und andererseits ihrer Bezahlung in staatlichem Geld (also in allgemeiner Währung) sollte im ärztlichen Behandlungszimmer nicht stattfinden.

Mit diesem Austauschverhältnis zwischen den Vertragspartnern wurden jedoch zugleich zwangsläufig auch weitere Funktionen des zivilrechtlichen (vertraglichen) Synallagmas beseitigt. Dies sind – im wesentlichen – die Fähigkeit der Partner zur konkreten Leistungsdefinition im Einzelfall, die Möglichkeit zur gemeinschaftlichen Preisfindung sowie die Kontrollkomponente („Patient als Verbraucher“33) über das tatsächliche Erbringen und Erbrachtsein einer ärztlich zugesagten und abgerechneten Leistung.

An die Stelle des Synallagmas mußte daher notwendig ein Surrogat treten, das diese Funktionsverluste ersetzt: Im öffentlich-rechtlichen Organisationsrahmen vollzieht sich die Leistungsdefinition fern der Patienten innerhalb behördlicher Strukturen. Medizin nach Kassenlage schränkt Leistungen ein oder weitet sie aus. Der konkrete Patient mit seinem individuellen Bedarf bleibt weitgehend (jedenfalls soweit er nicht den gängigen Muster-Standards für Patienten entspricht) irrelevant. Auch die Kontrolle der Leistungserbringung wird behördlich durchgeführt. Für die Vergütungen gilt gleiches.

Kurz: Eine jede dieser Funktions-Dimensionen des Synallagmas muß kostenträchtig (und der Erreichung des Hauptzweckes „Volksgesundheit“ damit insgesamt hinderlich) mit großem Aufwand aufgefangen werden. Zuletzt bleibt demjenigen, der an diesem System selbst nicht teilnehmen will (weil es ihm nach seiner Auffassung keinen hinreichend sicheren und ethisch akzeptablen medizinischen Schutz bietet) aber keine Wahl: Das öffentliche Recht befiehlt ihm schlicht die Teilnahme34.

Der Nachweis, daß öffentliches Recht als Organisationsmittel für eine Gesundheitsversorgung untauglich ist, läßt sich demnach ohne weiteres sowohl theoretisch, als auch empirisch führen. Reduziert auf die Formel „Vereinbart, statt befohlen“ kann damit gegenüber der öffentlichen Meinung – im eingangs genannten kommunikativen Kontext – die argumentative Basis für eine Neugestaltung der medizinischen Versorgung geschaffen werden.

Auf dieser Basis lassen sich anschließend die Vorzüge

  • einer kapitalgedeckten anstelle einer umlagefinanzierten Gesundheitsversorgung,
  • eines effizient zivilrechtlich gestalteten statt eines ineffizient behördlich verfügten Systems,
  • einer individuellen Versicherungspflicht und eines korrespondierenden Kontrahierungszwanges der Versicherer (als ordnungspolitischen Reflexen der dem Staat auferlegten verfassungsrechtlichen Pflichten zum Schutz von Leben und Gesundheit)
  • sowie – zum Schutze der wirklich Schutzbedürftigen – die steuerfinanzierte Übernahme individuell nicht aufzubringender Versicherungsprämien durch die Solidargemeinschaft aller Bürgerals deren Deduktionen darstellen.

    Die Einzelheiten zu diesen zivilrechtlichen Modellen sind an anderer Stelle bereits weitläufig erläutert und nachlesbar. Sie bedürfen an der hiesigen Stelle daher keiner vertieften Darstellung. Wesentlich ist die Kernaufgabe einer – „giftfreien“ – Neugestaltung des Gesamtsystems: Der Einzelne muß wirtschaftlich in den Stand gesetzt werden, möglichst weitgehend selbst und persönlich über Art und Umfang der von ihm gewünschten medizinischen Behandlung zu entscheiden. Im öffentlich-rechtlichen Kontext muß dies unausweichlich mißlingen. Dieses (nennen wir es ausnahmsweise einmal neudeutsch-trendy) „gesundheitspolitische Empowerment des Individuums“ ist zivilrechtlich mit Vertrags- und Versicherungsrecht darstellbar.

    Das Vertragsrecht weiß seit zweitausend Jahren, wie man den schwächeren Vertragspartner angemessen juristisch schützt. Und das Versicherungsrecht weiß, wie man individuelle Risiken nachhaltig funktionsfähig auf eine Solidargemeinschaft vieler umlegt. Hier muß kein Rad neu erfunden werden, sondern nur das vorhandene juristische und ökonomische Wissen der Menschheit vergegenwärtigt werden35.

    Die zivilrechtliche Dogmatik hatte in rund zweitausend Jahren mitteleuropäischer Tradition alle Zeit, die sinnvollsten und effektivsten Instrumentarien zum Schutze schwacher Vertragspartner/Patienten zu entdecken und auszuarbeiten. Diese Probleme der vertraglichen Disparität sind nicht neu, sondern so alt wie die Menschheit. Die zivilrechtlichen Lösungsmechanismen zu kennen und zu nutzen beseitigt daher jeden Zwang zur vermeintlich notwendigen hoheitsrechtlichen Schaffung objektiver Verhältnisse in diesem sensiblen Bereich.

    Nochmals: Bedenkt man, daß diese gesamte nachweislich funktionsunfähige Konstruktion des derzeitigen deutschen, „gesetzlichen“ Gesundheits-Systems mit öffentlich-rechtlichem Handwerkszeug nur deswegen inszeniert wurde, um den – scheinbar unausweichlich benachteiligten – Patienten vor den Disparitäten eines synallagmatischen Vertrages mit einem fachkundigen (und gesünderen und außerhalb existentiellen Zwanges handelnden) Arztes zu schützen, dann muß man sich doch sehr wundern. Mit anderen Worten: Es gibt nichts, was das öffentliche Recht könnte, wozu das Zivilrecht außerstande wäre.

    Wenn die These der Freunde des Befehls zuträfe, daß der Mensch im Vertrag generell schlecht und böse wäre und geneigt, seinen Partner zu übervorteilen, dann bliebe auch noch immer unklar, warum dieser selbe Mensch plötzlich dann gut und gütig werden könnte, wenn er plötzlich nicht nur über das weiche Mittel der Vertragsfreiheit, sondern gleich auch noch über die harte Befugnis zum Erlaß eines Verwaltungsaktes verfügt.

    Wer zwingen kann, ist deswegen doch noch kein besserer Mensch? Oder wird ein Mensch dadurch „besser“, daß er andere per Bescheid zu etwas zwingen kann, was diese selbst nicht wollen? Woher kommt die Überzeugung, daß eine zivilrechtliche „Macht“ (mit ihrem stumpfen Schwert des Sich-Einigen-Müssens) für den einzelnen gefährlicher sein könnte, als öffentlich-rechtliche Macht (mit ihrer Potenz zum Befehl)? Muß man nicht als Realität anerkennen, daß auch die scheinbar objektivste Behörde im Laufe ihres Alltagshandelns zwangsläufig stets auch gewisse Eigeninteressen entwickeln muß, die den Interessen ihrer Schutzbefohlenen zuwiderlaufen können?

    Richtig ist: Die Beweislast hat der Veränderer. Das Drama unseres Gesundheitswesens ist, daß bereits in die jetzige öffentlich-rechtliche Struktur hinein verändert wurde, ohne daß der Beweis ihrer Funktionsfähigkeit erbracht worden war36. Stellen wir also das System wieder vom Kopf auf die Füße und schützen wir endlich beide gleichzeitig: Den Patienten als Leidenden und den Patienten als Kontrahierenden. Das aber kann nur das Zivilrecht.

    1. Odo Marquard: „Über die Unvermeidlichkeit von Üblichkeiten“ in: Glück im Unglück, Philosophische Überlegungen, München 1995, S. 62ff.; denn: „Ein endliches … Wesen kann nicht das … Gelten und Sogelten von allem begründen, sondern nur das Abweichen davon“ (a.a.O. S. 63). Marquard verweist dort weiter auch auf Luhmanns Gedanken vom ‚status quo als Argument‘, sowie vom ‚unfreiwilligen Konservatismus aus [Gründen der] Komplexität‘.
    2. Eine derartige Vermutung für die Ordnungsmäßigkeit des Bestehenden ist geradezu ein grundlegendes Prinzip gedanklicher Organisation. Sie findet sich z.B. auch in der zivilrechtlichen Regelung des § 1006 BGB: Zugunsten des Besitzers einer Sache wird vermutet, daß er auch ihr Eigentümer ist – bis jemand anderes das Gegenteil beweist. Daß eine Umkehrung dieser Beweislastregel außerordentlich unpraktisch wäre, bedarf keiner weiteren Erläuterung.
    3. Als „verfahrenseinleitenden Antrag“ zu einem gesetzesändernden Verfahren ließen sich allenfalls förmliche parlamentarische Gesetzesinitiativen auffassen. Wie es aber zu diesen Anträgen selbst kommt, ist normativ nicht erfaßt. Die Entstehungsvoraussetzungen solcher Initiativen liegen gleichsam im „Ur-Chaos“ der allgemeinen politischen Meinungs- und Willensbildung.
    4. Je komplizierter die Regelungsmaterie ist, desto problematischer wird die Aufgabe für den Beweisführer. Daß Mord strafbar bleiben soll, ist simpel zu vermitteln; daß staatlich geregelte Festpreise für Medikamente mittelfristig zu Versorgungsengpässen führen können, hingegen nicht.
    5. … oder er kommt erst gar nicht zustande!
    6. … und damit – sagen wir es offen – gelangweilt wird.
    7. Wer über Knospen und Blüten und Blätter redet, ohne zuvor gesagt zu haben, daß er über einen Baum (und nicht über einen Strauch) spricht, der darf sich nicht wundern, wenn sein Publikum an eine Rose denkt, während er eine Eiche erklärt.
    8. Hinter dieser rein positivistischen (also nur am formal ordnungsgemäß als Gesetz erlassenen Recht orientierten) Betrachtung mag hier ergänzend ein kurzer Blick auf die Meta-Ebene der Staatsphilosophie geworfen werden. Fragt man nämlich nach der Legitimierung eines solchen öffentlich-rechtlichen Über- und Unterordnungsverhältnisses zwischen Menschen, stellt man bald fest, daß sich an dieser Stelle ein eigentümlicher Wertungswiderspruch mit dem Gleichheitssatz auftut. Was nämlich kann rechtfertigen, daß ein Mensch einem anderen Menschen (öffentlich-rechtlich) seinen Willen aufzwingt, wenn doch im Ursprung alle Menschen gleich sind? Oder kürzer gefragt: Was legitimiert den Befehl? Die klassische Staatsphilosophie kann sich an diesem Punkt nur mit einer Hilfskonstruktion aus den Begründungsnöten retten. Sie operiert mit der Annahme eines Gesellschaftsvertrages. Jedes Individuum einer Gesellschaft hat demnach in die Beschränkung seiner eigenen Rechte durch die Einräumung fremder (öffentlich-rechtlicher) Befehlsgewalt bereits grundlegend eingewilligt. Ursache solcher Einwilligung ist nach dieser Theorie, daß der Einzelne für sich selbst und zu seinem eigenen Schutze die Sinnhaftigkeit der allgemeinen Freiheitsbeschränkung erkennt und anerkennt. Diese Argumentation ist am Rande unseres Themas in zweierlei Hinsicht interessant: Zum einen greift das öffentliche Recht damit exakt auf die Legitimationsmechanismen des Zivilrechtes zurück, nämlich darauf, daß allenfalls ich selbst mit meiner eigenen Einwilligung bzw. mit meiner eigenen Verpflichtung eine tragfähige Legitimationsbasis für zukünftige berechtigte Erwartungen anderer an mich schaffen kann. Zum anderen findet mit diesem Postulat eines Gesellschaftsvertrages (!) notwendig auch die Wechselbezüglichkeit – also: das Synallagma – zwischen einerseits Selbstverpflichtung und andererseits Eingriffsgestattung in das öffentliche Recht Eingang. Nur wenn, weil und nur solange mir diese Selbstbeschränkung auch einen eigenen Vorteil gewährt, können Beschränkungen meiner Freiheit legitim auf diese Annahme eines Gesellschaftsvertrages gestützt werden. Das heißt: In demselben Moment, in dem ich keinen eigenen Vorteil mehr von diesem Gesellschaftsvertrag habe, entfällt das Synallagma und mit ihm die Legitimationsgrundlage für Beschränkungen meiner Rechte durch (dann: einseitigen) Befehl.
    9. Wer das Lateinische dem Griechischen vorzieht: Das „Synallagma“ ist nicht anderes als das „do ut des“ [Ich gebe, weil (und damit) Du gibst!] und nichts anderes als das „quid pro quo“ [Dieses für jenes!].
    10. Abgesehen natürlich von der rechtsphilosophischen Wechselbezüglichkeit innerhalb eines hypothetisch postulierten und abstrakten Gesellschaftsvertrages mit seinem verallgemeinerten Geben und Nehmen, das allerdings ohne jeden konkreten Bezug zu den je einzelnen Lebensereignissen bleiben muß.
    11. Mindestens zu Beginn seiner normativen Eroberung eines neuen Regelungsbereiches, denn er kann als tatkräftig gelten und umgehend Erfolge zeigen. Auch hier aber gilt: Die Straßen des geringsten Widerstandes sind nur am Anfang asphaltiert.
    12. Wie wenig abwegig dieser hiesige Rekurs auf die militärische Terminologie des „Befehls“ in diesem Zusammenhang ist, mag eine kleine Bewußtmachung verdeutlichen: Auch der ausgewiesene Privatpatient redet bis heute gerne davon, daß ihm eine bestimmte Medizin ärztlich „verordnet“ wurde. Die Vorstellung, daß Arzt und Patient nach Erörterung gemeinsam vereinbart (!) haben könnten, diese oder jene Medizin werde dem Patienten wohl Linderung verschaffen, ist damit gedanklich bereits in den Hintergrund getreten. Wie ein Mensch redet, so denkt er auch, sagt Aristoteles.
    13. Die Spekulation, daß dieser kontrollierende Dritte vielleicht gerade hier einmal nicht hinsehen werde, ist übrigens die Keimzelle eines jeden System-Mißbrauches. Kein Patient würde unsinnige Leistungen von seinem Arzt fordern, wenn er sie selbst zu zahlen hätte. Bezahlt jedoch die anonyme Vielzahl der Solidargemeinschaft anderer, sieht die Sache anders aus. Auch der Arzt (oder das Krankenhaus) gibt gerne, wenn die Mehrleistung nicht auf der eigenen Kostenseite steht. Wo das Synallagma verschwindet, da wuchert die Verschwendung. Auch dies ist im Grunde eine Toxizitäts-Folge, doch wir wollen den Haupt-Duktus hier nicht mit Erwägungen über kriminelle System-Teilnehmer belasten (gleichwohl freue ich mich, daß Sie diese Fußnote auch gelesen haben; Menschen wie Ihnen macht niemand etwas vor).
    14. Hier erscheint wesentlich, ausnahmslos deutlich nur von einer „Krankenkasse“, nie aber von einer ‚Krankenversicherung‘ zu reden. Denn Krankenkassen sind nichts anderes als staatliche (also öffentlich-rechtliche!) Behörden. Sie „versichern“ kein Risiko, sondern sie verwalten nur Risiken. Das öffentlich-rechtliche Umlageverfahren ist exakt kein Versicherungsverfahren nach Äquivalenzprinzipien.
    15. Aus genau diesem Grund kann es im übrigen auch keinerlei „echten Wettbewerb“ zwischen einem öffentlich-rechtlich und einem zivilrechtlich organisierten Gesundheits-System geben: Überall dort, wo das öffentliche Recht per sofort vollziehbarem Verwaltungsakt umgehend Fakten schaffen kann, muß das Zivilrecht zunächst Einigungen herbeiführen und Einverständnisse (Konsens) beschaffen. „Echter“ Wettbewerb ist hier also genauso wenig möglich, wie es eine „echte“ Wettfahrt zwischen einem Polizeiauto und einem Taxi durch die Innenstadt geben kann; es stünde von vornherein fest, wer kraft Blaulichtes zuerst ankäme!
    16. In den Begrifflichkeiten der Technik-Philosophie könnte man formulieren: Hierbei handelt es sich um unbeabsichtigte Nebenfolgen, die durch eine intensive vorherige Technikfolgenabschätzung von vornherein vermeidbar gewesen wären.
    17. Weil Zeit in der Regel auch Geld ist, mag man hierin zugleich einen Grund für kalendertäglich rund EUR 22.000.000,– internen Verwaltungskosten der Krankenkassen sehen (im Jahre 2003).
    18. Bisweilen wird hier von der Gesundheitsversorgung als von einem „öffentlichen Gut“ gesprochen, dessen Konsum nicht von der Zahlungsfähigkeit ihres Empfängers abhängig gemacht werden dürfe. (Daß übrigens ‚public health‘ immer mit genereller ‚private sickness‘ einhergehe, ist nur ein hübsches, aber böses Apercu!)
    19. Das Existentielle derartiger medizinischer Fragen von Leben und Tod, mit dem der einzelne überfordert wäre, wird aber wohl in dieser Diskussion meist ganz unberechtigt überbetont. Denn interessanterweise wird eine täglich hundertfach mutterseelenallein vom Individuum gefällte andere, mindestens ebenso überlebenswichtige Entscheidung öffentlich ohne weiteres (insbesondere ohne konkrete behördliche Bevormundung) toleriert: Die Entscheidung nämlich, ob ich an einer Kreuzung daran glaube, daß der heranschließende Wagen im Querverkehr pflichtgemäß an seiner Haltelinie stoppen werde!
    20. Wer sich unter dem Gesichtspunkt solcher Informationsdisparitäten berufen fühlt, über das Lebensglück anderer Menschen mitzubefinden, der müßte übrigens – eigentlich – in Anbetracht der bekannten neueren Statistiken über Ehescheidungshäufigkeiten zum Schutze von Familie und Kinderseelen auch befürworten, daß die Auswahl und Zuweisung von altersbedingt regelmäßig unerfahrenen Heiratskandidaten (aber auch bei informationeller Disparität aus größeren Altersunterschieden) gewissen objektivierbaren Kriterien der positiven Erfolgsprognostik unterstellt wird. Überwiegend hormonell ausgelösten Liebesheiraten könnte damit im Hinblick auf deren weitreichend emotional und finanziell negative Auswirkungen Einhalt geboten werden (denn merke: Ehegatten-Splitting ist keine steuergünstige Sonderform der Ehescheidung!).
    21. Wer an dieser Stelle anderer Auffassung ist und meint, nicht der Betroffene selbst, sondern ein anderer könne stets besser über dessen Schicksal bestimmen, der kann hier seine weitere Lektüre wohl schon einstellen.
    22. Wer diese Entpersonalisierung der Behandlungsabläufe bestreitet, der mag zunächst ein Seminar für DRGs und sodann eines für kassenärztliche Quartals-Abrechungen absolvieren.
    23. Anschließend bedenke er erneut sein diesbezügliches Bestreiten.
    24. Jedenfalls der, der zielgerichtet – „final“ – handeln möchte; von anderen ist hier nicht die Rede.
    25. Mir will scheinen, daß dieses Erkennen-Können der Wirklichkeit in der bisherigen gesundheitspolitischen und gesundheits-systematischen Debatte auch noch gar nicht hinreichend diskutiert worden ist. Denn mit der Verlagerung von Entscheidungskompetenzen aus dem Behandlungszimmer heraus in die Beamten- und Parlamentsräume hinein ist notwendig noch ein weiterer Prozeß in Gang gesetzt: Die medizinische Zuteilungsindustrie beraubt nämlich die Gesellschaft im wahrsten Sinne des Wortes auch noch ihrer eigenen Sinne. Wer den Markt verunmöglicht und an seine Stelle zentralplanerische Entscheidungen setzt, der verschmälert nicht nur den Handlungs-, sondern zugleich auch den vorgängigen Erkenntnisprozeß des Entscheidungsträgers. Mit anderen Worten: Wer die Methode des Wettbewerbs unter Menschen für die Methode des blinden Zufalls hält, der muß unausweichlich die Methode der Zentralplanung durch (nur) einige Ausgewählte – der die Millionen von Augen und Ohren und Hirnen dieser Menschenmassen ja notwendig fehlen – für die Methode des blinden und tauben und stummen Zufalls halten.
    26. Wer könnte beispielsweise glauben, daß sich aus der Ferne eines Ministeriums auf der Basis statistischen Materials verläßliche gesundheitssystematische Entscheidungen fällen lassen, wenn die nach dort eingespeisten Einzeldaten bereits vor Ort abrechnungsstrategisch optimiert verschlüsselt wurden? (Wer diesen Glauben hat, der möge „Stille Post“ einmal mehrsprachig spielen)
    27. Zyniker mögen an dieser Stelle ergänzen „… gegen Ende des Quartals dann immer noch überwiegend „…
    28. Damit ist nicht gesagt, daß die Politik als „oberste Instanz“ in einer bequemen, weil mächtigen Position wäre. Im Gegenteil: Weil sie gleichzeitig gute Medizin und geringe Kosten versprechen möchte, ist sie verstrickt in dem Versuch, ein rundes Quadrat zu konstruieren. Ebenso, wie verfassungsrechtlich Sozialstaats- und Rechtsstaatsprinzip gegenläufige Handlungsziele beschreiben, widersprechen sich in concretu einerseits Qualität und andererseits Wirtschaftlichkeit in der Medizin. Die Lage der Politik wird nicht dadurch besser, daß sie alle ihre diesbezüglichen Entscheidungen – demokratisch – auch noch unter dem Zusatz-Aspekt ihres nächsten Wahlerfolges gestalten (und ‚verkaufen‘) muß. Die Wahrscheinlichkeit, daß bei solcher Gemengelage aus verhedderten Interessen auf ungezählten Ebenen zuletzt adäquate Medizin im Einzelfall erwüchse, ist greifbar gering. Bei einem System, das seine medizinischen und wirtschaftlichen und verwaltungstechnischen und rechtlichen und politischen Subsysteme in so enger Weise – und, weil stets ‚auf Kante genäht‘, ohne substantiell funktionsfähige ‚Dehnungsfugen‘ zwischen diesen Teilsystemen – miteinander verwoben hat, wie das deutsche Gesundheitswesen, kann niemand mehr annehmen, an irgendeiner konkreten Stelle wären gezielt steuernde Eingriffe möglich, ohne daß damit zugleich auch an einer unübersehbaren Vielzahl von weiteren Stellen andernorts im System ganz unbedachte Fern- und Folgewirkungen einträten, die der Organisator und/oder Steuerer des Systems nie übersehen konnte.
    29. In diesem Kontext erscheinen Familienfeste übrigens geradezu als Fortbildungsveranstaltung par excellence für Gesundheitspolitiker: Ohne jede behördliche Organisationshilfe werden autolose Familienmitglieder von ihren kraftfahrenden Verwandten entweder nur in die Nähe ihres Wohnortes gebracht (wie der gesunde 40jährige Onkel), oder (wie die hübsche 20jährige Nichte) vor der Tür ihrer Wohnung abgesetzt oder (wie der gehbehinderte 80jährige Großvater) bis auf ihr Sofa geleitet. Das ist sowohl positive Diskriminierung, als auch wahrhaft „sozial“.
    30. Das Bild von der Vergiftung ließe sich ganz zwanglos fortführen: Wer nämlich eine Entgiftung des Systems von diesem öffentlichem Recht ins Werk setzen will, der hat es sofort mit den typischen Entzugserscheinungen eines Süchtigen zu tun, der lautstark behauptet, ohne sein Suchtmittel nicht auskommen zu können.
    31. Wollte man polemisch argumentieren, böte sich die Parallele zur Ethik des Bomberpiloten an: Je weniger der Pilot sehen kann, was er bewirkt, desto eher ist er bereit, das Schädliche zu tun.
    32. Ganz abgesehen von dem logischen Dilemma, in dem sich derjenige befindet, der einen einzelnen Menschen vor anderen potentiell schlechten Menschen öffentlich-rechtlich schützen möchte; denn wer sagt, daß der geschützte Mensch nicht gerade vor diesem seinem Beschützer selbst geschützt werden müßte? Die Ebene, auf der der Beschützer steht, ist eine äußerst abschüssige. Wenn er Pech hat, rutscht er unversehens genau in die Rolle beispielsweise des legendären Erich Mielke, der in der Volkskammer seiner sich abwickelnden DDR den unvergeßlichen Satz rief: „Ich liebe Euch doch alle!“
    33. Man wird kaum fehlgehen in der Annahme, daß die heutigen statistischen Erkenntnisse über den Gesundheits- oder Krankheitszustand der Bevölkerung mit den Realitäten weit jenseits der bloßen Meßungenauigkeiten nicht in Einklang stehen. Denn wenn die Vergütung für medizinische Leistungen abseits eines Synallagmas nicht (auch) von dem Patienten überprüft ist, sondern (nur) von einer abrechnenden Behörde, dann haben in diese Datensätze schon längst alle Verlockungen des Verschlüsselnden durchlaufen, Krankheiten abrechnungstaktisch umzudefinieren. Dies ist übrigens kein Vorwurf gegen vermeintlich illegitim manipulierende Mediziner, sondern wesentlich auch das Anerkenntnis, daß systematische Verordnungsrestriktionen bisweilen geradezu in ein derartiges ‚streamlining‘ von Daten treiben.
    34. Geradezu tragisch ist der – im schlechtesten Sinne – selbststeuernde Multiplikatons-Prozeß der öffentlich-rechtlich bewirkten Behördenvervielfältigung: Weil der des Synallagmas beraubte Patient nicht mehr selbst als Verbraucher für seinen Schutz im Vertrag sorgen kann, wird mit dem Patientenbeauftragten der Bundesregierung gleich noch eine weitere behördliche Instanz geschaffen. Der, der Behörden einrichten darf, schwebt nämlich genau wie jeder andere in der Gefahr: „Wenn Du einen Hammer hast, sehen alle Probleme aus wie Nägel“. Es ist als habe Northcote Parkinson niemals geschrieben: „Das ständige Wachsen der Beamtenzahl … vollzieht sich, gleich ob die Arbeit zunimmt, abnimmt oder ganz verschwindet“ (Parkinsons Gesetz, Düsseldorf und Stuttgart 1958, S. 14)
    35. Daß die Legitimität dieses Zwanges staatsphilosophisch dann entfällt, wenn der Einzelne selbst keinen Nutzen mehr aus dem Zwang hat, war oben bereits in Fußnotengestalt beschrieben worden.
    36. Im Gegenteil kennzeichnet es gerade viele Schwächen des heute öffentlich-rechtlich ausgestalteten Systems, daß dort immer wieder gegen althergebrachte, bewährte Ge- und Verbote des Zivilrechtes verstoßen wird. So hatte es erkennbar einen guten Grund, wenn der „Vertrag zu Lasten Dritter“ dort seit jeher als rechtsunwirksam galt; niemand soll ohne dessen Willen aus der Tasche eines anderen bezahlen können. Im geltenden Gesundheits-Sozialrecht ist dieser „Vertrag zu Lasten Dritter“ hingegen geradezu zur Regel gemacht. Gleiches gilt für die uralte Regel, nach der niemand „Richter in eigener Sache“ sein darf. Paritätische Mitbestimmung und Selbstverwaltung der Leistungsträger machen sich durchgängig zu ihren eigenen Richtern.
    37. Woraus sich – Fluch der bösen Tat – zugleich die perfide Konsequenz ergibt, daß nun der „unfreiwillige Konservatismus aus Komplexität“ [vgl. Fußnote 1] gerade den funktionsunfähigen status quo „schützt“. Gegen jede – unkomplexe – Alltagserfahrung wird also hier nicht durch Festhalten erhalten, sondern es kann nur durch Loslassen erworben werden. Diese scheinbare Paradoxie macht den Beweisführern ihre Aufgabe gegenüber der Alltags-Öffentlichkeit nicht einfacher (denn wer ist schon bereit, einen einzigen Text zum Thema mit -zig Fußnoten zu lesen?).

Die Schild-Bürgerversicherung

Diese Geschichte kennt jeder: Die Bürger von Schilda hatten ein Haus gebaut. Aber sie hatten die Fenster vergessen. Nachdem sie sich in den finsteren Räumen beraten hatten, beschlossen und begannen sie, das Sonnenlicht mit Säcken in das Haus zu tragen.Eine andere Geschichte ist weniger bekannt: Auch bei dem Bau der Gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland wurden die Fenster vergessen. Denn wer medizinische Hilfe in Anspruch nimmt, der bezahlt nicht mit Geld. Statt dessen legt er zur Gegenleistung mit seiner Versichertenkarte eine Art Bezugsschein vor. Die Werte von Leistung und Gegenleistung sind in diesem primär geldlosen System nie ausgewogen. Sie stehen in keinerlei Relation zueinander. Die Preisfindung ist ebenso ein betriebswirtschaftlicher Blindflug, wie die tatsächliche Bezahlung durch die Kasse zum Schluß. Im Ergebnis werden auf Basis stets neu justierter Gerechtigkeits- und Verteilungserwägungen nur Verrechnungspreise verglichen. Der Patient als Verbraucher zahlt mit einem bestimmten Pro-Rata-Anteil seines Arbeitsverdienstes. Wer weniger verdient, macht ein gutes, wer mehr verdient, ein schlechtes Geschäft. Alle Beteiligten tasten sich also nur blind durch einen fensterlosen Raum. Mit buchstäblich tausenden Gesetzesänderungen hat die Legislative über Jahrzehnte immer wieder versucht, Licht mit Säcken in das System zu tragen. Budgets wurden eingeführt, das Gesetz reformiert, strukturiert und modernisiert, Beiträge wurden erhöht, gesenkt, der Kreis der Versicherten immer weiter vergrößert, wettbewerbsähnliche Elemente wurden eingeführt, ein Finanzausgleich unter den Kassen etabliert. Doch: Alles umsonst. Immer wieder besteht „Reformbedarf „. Ursprünglich waren rund 10% der Bevölkerung Kassenmitglieder. Heute sind es über 90%. Also hebt jetzt der – ideologiegeschichtlich nur konsequente – Kampf um die Totalerfassung aller Bürger in das System an. Zur Debatte steht eine „Bürgerversicherung“. Fortan sollen nicht mehr nur Arbeitnehmer innerhalb der Bemessungsgrenzen, deren Familien und sonst in das System fallende Personen zu Einzahlern werden, sondern auch Beamte, Richter, Selbständige und Freiberufler, mithin also: Auch wir Anwälte. Mit bemerkenswert titulierten Gesetzen, wie etwa dem „zur Stärkung der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung“ waren schon in der Vergangenheit die Freiräume für eigenverantwortliche Versicherung verschmälert worden. Jetzt aber wollen die Gesetzesentwerfer niemanden mehr entkommen lassen. Auch wir Anwälte werden als schutzbedürftig definiert und sollen der Einheitsversicherung angeschlossen werden. Unser Geschick, das eigene Leben vertraglich abzusichern, soll unbeachtlich werden. Bestehender privatrechtlicher Versicherungsschutz wird durch die faktische Beseitigung dieses Versicherungszweiges ausgehöhlt. Künftig soll nur noch standardisierter medizinischer Schutz von der Stange nach generell-abstrakt festgelegten Notwendigkeitskriterien gewährt werden. Mit einer solchen Gleichschaltung allen Krankenversicherungsschutzes stürbe jedes Zivilrecht in diesem Bereich. Und alle – uns Anwälte eingeschlossen – müßten nach denjenigen Regeln der primären Geldlosigkeit leben, die sich nachgewiesenermaßen – „synallagma-frei “ – als nicht überlebensfähig erwiesen haben, ohne daß es auch nur einem wirklich Bedürftigen hilft. Können wir Anwälte aber dulden, unser medizinisches Schicksal dergestalt mit Säcken in die Finsternis tragen zu lassen? Können wir als Juristen zum Tod des Synallagmas schweigen? Und können wir als Staatsbürger hinnehmen, wenn unsere Verfassungsfreiheit, einer Vereinigung nicht beitreten zu müssen, in diesem elementaren Bereich beseitigt wird? Wir Anwälte haben wahrscheinlich schon zum bestehenden System viel zu lange geschwiegen. Jetzt sind wir aufgerufen, einer endgültigen Schildbürgerversicherung entgegenzutreten.

Die Vermählung des Fernsehens mit der Justiz

Der Vorsitzende des Justiz-Berufsverbandes, Geert Mackenroth, äußert sich skeptisch über die Wirkungen des derzeit verbreiteten „Justiz-Fernsehens“ (DER SPIEGEL 42/2002, S. 188f.). Die Begründung seiner Kritik veranlaßt zu einer Gegenrede. Der Autor Carlos A. Gebauer, Rechtsanwalt, handelt derzeit als Verteidiger in der RTL-Serie „Das Strafgericht“

Es wird jedem volljuristischen Teilnehmer an einer Gerichts-Show von vornherein klar sein, sich an einem Grenzgang zu beteiligen. Die beschrittene Grenze verläuft exakt durch die Mitte des Wortes „Infotainment“. Mit anderen Worten: Es will – jedenfalls aus Sicht des Juristen – stets zweierlei genau abgewogen sein. Zum einen fragt sich, wieviel „Entertainment“ das Medium Justiz verträgt. Zum anderen muß klar sein, wieviel rechtliche „Information“ vermittelt werden kann, ohne den gewollten Unterhaltungs-Charakter der Sendung zu zerstören.

Mit Rücksicht darauf, daß es geradezu die Kernkompetenz des Juristen ist, wechselseitige Interessensphären zu bestimmen und gegeneinander abzugrenzen, kann eigentlich nicht verwundern, daß genau der Balanceakt dieser Gratwanderung zum Tummeln reizt. Die Seriosität des Rechtslebens soll mit dem Zeitvertreib des Unterhaltungsfernsehens vermählt werden. Ein spannendes Unterfangen.

Die nach Mackenroth möglichen Auswirkungen dieses Treibens muß man nicht einschränkungslos teilen. Natürlich gibt es wesentliche Unterschiede zwischen einerseits TV und andererseits Justiz. Aber: Glauben wir wirklich, daß auch im wahren Leben der Kommissar stets den Mörder nach 45 Krimi-Minuten überführt? Trotzdem gibt uns das Fernsehen seit jeher und durchgängig unseren täglichen Kriminalfilm. Oder: Glauben wir wirklich, daß in ‚wirklichen‘ Strafprozessen seitens der Angeklagten und Zeugen stets innerhalb der sprachlichen Wohlanständigkeitsgrenzen des gymnasialen Wortschatzes miteinander gestritten werde? Auch der real existierende Richter begegnet vernünftigerweise nicht jedem verbalen Lapsus aus dem Fäkalsprache-Fundus gleich mit den möglichen Maßnahmen seiner Ordnungsgewalt. Selbst die Annahme, es werde ein falsches Bild der Justiz schon dadurch erzeugt, daß die Bücher verkehrt herum auf dem Richtertisch stehen, erscheint überspannt. Ganz im Gegenteil. Würde das Fernsehen der Welt die ausgefransten Blätter der immer schnell und schneller nachsortierten Gesetzessammlungen vom Richterpult entgegenblecken, müßte eher dies das Publikum dazu verleiten, an der Würde der Institution zu zweifeln. Ordnung und Aufgeräumtheit schaffen Würde. Helmut Coing bemerkte bereits vor Jahrzehnten in seiner Rechtsphilosophie: „Das moderne Recht entbehrt der Würde; es ist allzu billig geworden und spricht die Phantasie der Menschen nicht mehr an. Es entspricht nun einmal der menschlichen Natur, … daß feierliche Akte … ihm größeren Eindruck machen. … Darum sollte die Rechtsordnung nicht leichthin auf Äußerlichkeiten verzichten, auf denen ein großer Teil ihrer faktischen Wirkung und Geltung beruht.“

Also: Nehmen wir hin, vor jedem Kameraschwenk nochmals von der Gardrobiere die Schuppen von der Robe gestäubt zu bekommen, ertragen wir, ein im wirklichen Leben niemals akzeptiertes hellblaues Hemd tragen zu sollen und fragen wir uns statt dessen nach den konstruktiven und erbaulichen Dimensionen der eröffneten Kommunikations-Chance!

Denn es gibt durchaus auch eine andere, hoffnungsfrohere Sichtweise auf die Dinge. Nur knapp klingt in der Kritik Mackenroths an, welche belehrende und gleichsam ‚verbraucherfreundliche‘ Potenz dieser Art von TV innewohnt. Die „kleinen Leute“ werden mit ihren Sorgen angehört, sie erhalten richterliche Hinweise und möglicherweise sogar Informationen, die sie andernfalls nie zu Ohren bekommen hätten. Mit anderen Worten: Hier können Berührungsängste abgebaut und Kontaktschwellen überwunden werden. Es will gerade in diesem Punkt scheinen, daß die These Mackenroths über den Bürgerkontakt zur Justiz (wonach die Leute bislang – so wörtlich – „offen zu uns“ kämen) erheblich diskussionswürdig ist. Eher das Gegenteil scheint richtig. Nicht wenige Prozeßparteien („Ich hatte noch nie etwas mit dem Gericht zu tun“) scheuen den Gang zu Gericht aus Unwissenheit, Furcht und Unsicherheit über die dortigen Spielregeln. Zeugen zittern und treiben vor Nervosität Nikotinabusus auf den Gerichtsgängen. Wem tatsächlich Unrecht geschah, der meidet den Gang zu Gericht, weil er nicht weiß, was auf ihn zukommt. Es ist gerade dieser Typus Mitmensch, der in einer Art rechtsstaatlicher Taxipädagogik dort abgeholt werden muß, wo er steht: Fern der möglichen Segnungen einer ihm hilfreichen Justiz. Ist es nicht ein schöner Gedanke, einem unbedarften Nichtjuristen TV-gestützt eine Brücke zum Recht zu bauen? Selbst in ernsthaft tragischen Fällen erscheint eine TV-Sendung nicht ganz sinnlos: Wie, wenn ein Vergewaltigungsopfer jenseits aller eigenen Befürchtungen erfährt, daß seine mögliche Vernehmung vor einem Gericht von den Beteiligten durchaus einfühlsam und behende vollzogen werden kann? Erscheint nicht wünschenswert, hier Unkenntnisse abzubauen? Mehr noch: Kann die im Justiz-TV oftmals dargestellte plötzliche Wendung eines Falles nicht im Publikum die Überzeugung nähren, die Wahrheit komme – notfalls in letzter Minute – doch noch ans Licht? Nicht zuletzt übrigens irrt Mackenroth auch, wenn er erklärt, Strafgerichte hätten nicht moralisch zu urteilen. Das Bundesverfassungsgericht selbst hat die Kriminalstrafe durchaus bewußt und gewollt als „ein ehrenrühriges, autoritatives Unwerturteil über eine Verhaltensweise des Täters“ beschrieben (vgl. BVerfGE Bd. 27, S. 33).

Die weitere Darstellung Mackenroths, der Richter des wahren Lebens kläre seine Zeugen besser über Wahrheitspflichten und Zeugnisverweigerungsrechte auf, als sein TV-Kollege erscheint, gelinde gesagt, ebenfalls idealtypisch verzerrt. Wer die Gerichtssäle kennt, der weiß, welche erheblichen Unterschiede zwischen Richtern bestehen, wenn sie ihre Zeugen belehren. Das Aufklärungsspektrum reicht von einer Art Ein-Satz-Belehrung bis hin zum rechtstheoretischen Vortrag zu innerfamiliären Interessenkonflikten der Neuzeit (Amtsgericht Duisburg-Ruhrort). Deswegen kann nicht wirklich erschrecken, wenn Zeugen nun im wirklichen Leben erklären, sie hätten aus dem Fernsehen schon eine erste Idee von Ihren Rechten und Pflichten.

Solange die fernsehrechtlichen Grenzen des Erträglichen eingehalten werden, von Penisverbiegerfällen und ähnlichem Unfug abgesehen wird und die Mehrheit angemessen unterhalten wird, ohne die Minderheit zu unterfordern, erscheint das Format nicht abwegig, sondern vertretbar. Daß es kein Dauerformat bis zum Ende des demokratischen Rechtsstaates sein wird, versteht sich von selbst. Aber allzu schnell sollte es sich nicht überleben. Dies zu erhoffen, besteht kein Anlaß. Daß es schließlich dem anwaltlichen Lebensgefühl an Drehtagen ganz besonders gefällt, für etwaige Fehler im Zweifel stets nicht sich selbst, sondern den Regisseur verantwortlich machen zu können, ist eine ganz andere Geschichte.

Wer schützt uns vor der Sicherheit?

Ein Fremder, der nach Deutschland kommt, wird glauben, hier lebe es sich sehr gefährlich. An kaum einem Fahrrad fehlt der linksseits montierte Abstandhalter zur Mahnung des überholenden Verkehrs. Rote Großflächenrückstrahler ergänzen gelbe Pedalrückstrahler. Ein Blick in verkehrsberuhigte Spielstraßen zeigt, wie unwahrscheinlich es war, die eigene Kindheit zu überleben: Fahrräder mit roten Signalflägglein deuten auf sturzhelmtragende Kinder, deren Eltern mit ABS-gebremsten, seitenaufprallschutzbewehrten Autos über geschwindigkeitshemmende Bodenwellen gleiten. Stolz verkündet die Heckscheibe: „Ich habe Blutplasma an Bord.“ Wenn man dem Fremden dann sagt, daß manche Gemeinden hierzulande lebenslange Renten an Mitbürger zahlen, die sich im Sturz über einen hervorstehenden Pflasterstein verletzten, so wird er vielleicht einen Verdacht haben. Vielleicht, wird er denken, geht es hier schon nicht mehr nur um die Gewährleistung von Sicherheit, sondern schon um Bequemlichkeit.

Wenn dem Fremden dann noch gesagt wird, daß in diesem Land praktisch nur noch Zahncremes mit Kariesprophylaxe, Rasierapparate mit Sicherheitsscherkopf, Sonnenbrillen mit UV-Protektion und strahlungsabsorbierende Bildschirme gehandelt werden, dann wird er nicht nur die öffentlichen Kampagnen für Kondome verstehen; er wird auch denken: Sicherheit und Bequemlichkeit sind die Fetische dieser Gesellschaft.

Es wird ihn daher nicht wundern, wenn diese Gesellschaft, die schon in den Windeln Seitenauslaufschutz genießt, glaubt, auch intensivsten Schutzes durch Gesetze zu bedürfen. Mit Sorge allerdings dürfte er schon die eskalierende Freistellung des Individuums von der alltäglichen Sorge um sich selbst betrachten. Wenn etwa Arbeitnehmer von der persönlichen Pflicht zur Abführung von Steuern und Sozialbeiträgen entbunden sind, so ist diese Pflichtenabwälzung auf den Arbeitgeber nicht nur ein verwaltungstechnischer Vorgang. Er wirkt auch bewußtseinsbildend. Was auch immer geschieht: Ein anderer kümmert sich, ermittelt nötigenfalls von Amts wegen und veranlaßt das Erforderliche.

Daß wir uns mit dieser Schutzumschlagsphilosophie in eine entsetzliche Verantwortungslosigkeit stürzen, ist die bittere Konsequenz. Unter Berufung auf ein Sozialstaatsgebot wuchert die ursprüngliche Hilfsgarantie bei individuellen Krisen zu einer Behaglichkeitsgarantie für die Allgemeinheit. Am Ende steht der Wunsch nach einem lauschigen Plätzchen in der staatlich subventionieren Großindustrie, Arbeits-, Mutter- und Kündigungsschutz inklusive.

So wird der einzelne kontinuierlich von der Last eines eigenen Gedankens befreit. Zuletzt definiert die Rechtsprechung, welche Überlegungen man seinem Mitbürger noch zutrauen darf. Der Wettbewerber muß dem Verbraucher alles haarklein erklären; wer ausrutscht, ärgert sich nicht, sondern sucht nach dem Streupflichtigen.

Erst wenn das letzte Auto mit Mobilitätsgarantie ausgestattet und der letzte Ast Gegenstand eines eigenen Verkehrswarnhinweises geworden ist, werdet Ihr begreifen, daß man die Sorge um sich selbst nicht delegieren kann. So etwa könnte der Fremde sprechen, der die subtile gesellschaftliche Ächtung desjenigen beobachtet, der sich dem allgemeinen Sicherheitkonsens verschließt: Wer es je autofahrend gewagt hat, an einer Fahrbahnverengung die wegfallende Spur bis zur Engstelle zu nutzen, der kennt die lückenlose Solidarität der sicherheitshalber frühzeitig Eingescherten. Warum sollten sie diesem das Schicksal ersparen, zu dessen Vermeidung sie selbst bereits seit 700 Metern im Stau stehen? Erschreckend ist dabei, daß die vorsorglich Stauenden ihre Sicherheit über das den Reißschluß gebietende Gesetz stellen. Was geschieht mit einem Gemeinwesen, das beginnt, im Namen der Sicherheit Gesetze zu Gunsten der Behaglichkeit zu ignorieren? Wer schützt uns vor der Sicherheit?

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