Einige Grundrechte gegen Staatsmedizin

Welche Grundrechte schützen den einzelnen vor der Zwangsmitgliedschaft in einer Krankenkasse als öffentlich-rechtlicher Körperschaft? Ist es nur das Auffanggrundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG? Oder sind auch andere Grundrechte und Verfassungsprinzipien betroffen? Ist der Rechtfertigungsgedanke von der Funktionsfähigkeit des Systems für den Teilnahmezwang tatsächlich tragfähig? Und: Sind Grundrechte vielleicht analogiefähig?

I. Einleitung

Bei schönem Wetter braucht man keinen Schirm. Ob er funktioniert, erweist sich erst bei Regen und – mehr noch – im Sturm. Mit Schirmen steht es also nicht anders, als mit Grundrechten. Wo keine Eingriffe drohen, da muß ihr Schutzbereich nicht aufgespannt werden. Die Widerstandskraft der Grundrechte gegen exekutiven Wind und judikatives Wetter zeigt sich erst, wenn legislative Wolken aufziehen.

Das einstmals warme Licht staatsbürgerlicher Freiheiten in Deutschland wird derzeit von einer Vielzahl gesetzgeberischer Kaltfronten verdunkelt. Eines dieser Tiefs, die stürmisch nahen, hört auf den harmlosen Namen „Bürgerversicherung“. Es bringt nicht weniger, als die Gefahr einer totalen Zwangsmitgliedschaft aller Menschen in einem einzigen medizinpolitischen Sozialkonstrukt. Mithin besteht Anlaß, zu fragen, welche unserer Grundrechte die Menschen vor dieser Zwangsvereinigung noch abschirmen können.

II. Orthodoxe Grundrechtssystematik

In der Literatur sind die herkömmlichen verfassungsrechtlichen Argumente gegen diese Form einer „Bürgerversicherung“ bereits erörtert. Insbesondere Sodan kommt das Verdienst zu, die klassischen Einwendungen gegen die drohende Grundrechtsbeschränkung umfassend und handwerklich überzeugend dargestellt zu haben [1] . Auf diese Ausführungen kann – mit einigen Ergänzungen – zunächst verwiesen werden.

1.) Den durch die gesetzlich angeordnete Zwangsmitgliedschaft [2] in öffentlich-rechtlichen Körperschaften betroffenen Schutzbereich entnimmt Sodan – im Einklang mit der gängigen Rechtsauffassung – aus dem Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG. Folge dieser Einordnung ist notwendigerweise die Herleitung auch der Schrankenregelungen aus eben diesem Grundrechtsartikel.

In folgerichtiger Begriffssystematik verdeutlicht Sodan, daß Zweifel sowohl am Charakter der „Bürgerversicherung“ als einer Sozialversicherung im Sinne des Art. 74 Nr. 12 GG bestehen, als auch daran, ob die gegebene Konstruktion der „gesetzlichen Krankenversicherung“ überhaupt materiell-rechtlich ein Gemeinwohlbelang von solcher Bedeutung ist, daß er Grundrechts-Eingriffe rechtfertigen könnte.

So sehr diese Argumentationen in rechtsanwendungstechnischer Hinsicht korrekt sind und so sehr die Verweisungen auf verfassungsgerichtliche Rechtsprechung und Lehre zutreffen, so muß doch umgekehrt jedem fachkundigen Betrachter ebenso ein anderes klar sein: Wenn es im Ernstfalle dem Verfassungsgericht gefällt, dann genügt eine einzige richterliche Standardformulierung, um all die akribisch aufgeführten Einwendungen aus der verfassungsrechtlichen Judikatur mit einem Streich null und nichtig zu machen. Das Gericht könnte sich „in Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung“ schlichtweg eines anderen besinnen und – vielleicht arrondierend noch „in der Fortbildung“ eines anderen Rechtsgedankens – alle Menschen in Deutschland dem gesundheitssystematischen Einheitszwang unterwerfen.

2.) Immerhin fällt – um zunächst noch bei einer orthodoxen, intrasystematischen Betrachtung der bisherigen Verfassungsdebatte zu verbleiben – auf, daß das Bundesverfassungsgericht den Eingriff in die Grundrechtssphären des Art. 2 Abs. 1 GG hierbei bislang traditionell mit der (so wörtlich) „Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung“ legitimiert [3] . Daß diese Formel jedoch von dem Bundesverfassungsgericht bislang niemals selbst inhaltlich auf ihre tatsächliche Stichhaltigkeit geprüft und begründet wurde, ist nur eine der hier mehreren möglichen Feststellungen. Eine andere ist, daß jene Formel einer genaueren Betrachtung aus diesen tatsächlichen Gründen faktisch nicht standhalten könnte. Denn die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland war niemals – zu keinem Zeitpunkt – je „funktionsfähig“ im herkömmlichen Sinne dieses Begriffes.

a.) Funktionsfähig im eigentlichen Wortsinne nämlich kann nur etwas sein, was überhaupt irgendwann einmal funktioniert hat, d.h. was zu einem bestimmten Zeitpunkt einmal seiner Funktion – im Sinne einer Zweckbestimmung – genügt hat. Die Historie dieses Gesundheitssystems seit 1883 hat jedoch das exakte Gegenteil einer solchen möglichen Zweckerfüllung erwiesen. Die permanente personelle Ausdehnung des Kreises der Zwangsbeteiligten hatte ihren Grund regelmäßig alleine darin, durch Eröffnung stets weiterer finanzieller Ressourcen aus dem Einkommen neuer Mitglieder den andernfalls drohenden Finanzierungskollaps zu verhindern. Entweder, dieses Ziel wurde durch eine Erhöhung der Beitragssätze, oder durch eine Ausdehnung des Versichertenkreises erzielt [4] .

Wenn aber die dauerhafte Funktionsfähigkeit eines Systems nicht schon alleine aus sich heraus sichergestellt ist, sondern der stets wiederkehrenden Neuzufühung von weiteren Mitgliedern – und demgemäß: weiterem Geld – bedarf, dann läßt sich intellektuell redlich weder von einem wahrhaft „funktionsfähigen“ System sprechen, noch gar ein Zustand der „Stabilität“ dieses Systems annehmen.

Gerade letzteres ist aber in der Argumentation auch des Bundesverfassungsgerichtes ein tragender Gesichtspunkt der grundrechtlichen Eingriffslegitimierung. Die Beschränkung des Grundrechtsschutzes rechtfertigt sich hiernach allenfalls dann, wenn durch den Eingriff eine finanzielle „Stabilität“ gesichert wird. Wo aber innerhalb eines Verwaltungskonstruktes schon a priori keinerlei wirkliche Stabilität herrscht, da kann diese Stabilität begriffsnotwendig auch nicht gesichert werden. Allenfalls könnte sie – erstmals oder wieder –  hergestellt werden.

b.) Daß allerdings eine solche Stabilität dieses in nun über 120 Jahren empirisch erwiesen instabilen Systems nun ausgerechnet – und erstmals – durch seine letzte Ausdehnung auf alle in Deutschland lebenden Menschen hergestellt werden würde, ist weder ersichtlich, noch ließe sich hierfür ein – zumal verfassungsrechtlich – ansatzweise tragfähiges Argument finden.

aa.) Die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland konnte in ihrer axiomatischen Konstruktion (als gleichzeitig medizinischem und umverteilendem Apparat) nur und ausschließlich deshalb bis heute Bestand haben, weil sie ihre Einnahmequellen – vorzugsweise durch stets erweiterte Mitgliedschaften – durchgängig vergrößert hat. Das bedeutet: Nur dann, wenn man diesem gesundheitspolitischen Sicherungssystem neben dem medizinischen Schutz seiner Mitglieder zugleich auch den Funktionszweck zuweisen wollte, sich kontinuierlich auf weitere Bevölkerungskreis ausdehnen zu sollen, nur dann ließe sich eine „Funktionsfähigkeit“ des Systems begriffslogisch begründen.

bb.) Gegen diesen weiteren Funktionszweck aber steht das wiederholte verfassungsgerichtliche Diktum von der „Stabilität“ der Finanzierung. Würde ein Anwachsen des Systems im Sinne seiner mitgliedschaftlichen Vergrößerung das wahrhaft gewollte und verfassungsrechtlich gemeinte „Gemeinwohlbelang von hohem Gewicht“ sein, das den Eingriff in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG rechtfertigt [5] , dann hätte das Bundesverfassungsgericht folgerichtig in seiner bisherigen Judikatur nicht von einer „Stabilität“ der Finanzierung sprechen müssen, sondern – nach den Maßstäben klarer und zutreffender Diktion – richtigerweise von einer „Dynamik der Finanzierungsgrundlagen“. Hieran fehlt es aber erkennbar [6] . Und selbst wenn es eine solche legitime „Dynamik“ – retrospektiv – gegeben hätte, so bliebe fraglich, was aus ihr würde, wenn es wegen erreichter Totalerfassung aller potentiellen Mitglieder zuletzt nichts mehr zu wachsen und weiter zu erfassen gäbe.

Damit aber noch immer nicht genug: Berücksichtigt man, daß die Finanzierung des Systems aus Arbeitseinkommen dargestellt wird, läßt sich anstelle einer „Stabilität“ der Finanzierungsgrundlagen richtigerweise sogar eher noch von einem Selbstzerstörungsmechanismus der Finanzierung sprechen. Denn je höher die Beitragsanteile für die Sozialversicherung den Arbeitspreis treiben, desto weniger wird diese – teure – Arbeit abgefragt. Der Finanzierungsmechanismus setzt sich auf der Einnahmeseite selbst schachmatt. Auch ein Ausweichen auf weitere Einnahmequellen als die klassischen Einkommen aus abhängiger Arbeit rettet das System nicht. Denn mit jedem zwangsweise neu einbezogenen Beitragszahler entsteht – jetzt auf der Ausgabenseite – zwangsläufig ein neuer Versicherter als Kostenfaktor für das System. Auch hier entsteht statt „Stabilität“ also nur eine weitere Erosion der gesamten Finanzierung.

c.) Insgesamt ist daher eine „Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung“ oder eine irgendwie geartete „Rechtsfortbildung“ durch das Bundesverfassungsgericht zur drohenden Legitimierung einer Bürger(zwangs)versicherung zwar mit dem gängigen juristischen Rüstzeug eines Verfassungsgerichtes argumentativ immer noch irgendwie darstellbar. Die Begründungsräume für entsprechende Formulierungen ohne eine dezidiert eingeräumte – wörtliche oder nur logische – Umkehr gegenüber der bisherigen Rechtsprechung sind jedoch, vorsichtig gesprochen, außerordentlich eng.

3.) Diese argumentativen Begründungsräume dürften sich weiter minimieren, wenn man die Funktionalitäts-Analyse spezifiziert. Hat sich nämlich erst einmal die Erkenntnis Bahn gebrochen, daß das bislang – unreflektiert – postulierte Dogma von der grundsätzlichen Funktionsfähigkeit des bestehenden Systems nicht unantastbar ist, dann ergeben sich hieraus außerordentlich weitreichende Folgen.

a.) Jenseits der vorstehend bereits behandelten Frage nach der Finanzierungsstabilität existieren nämlich durchaus weitere klassische Kriterien, anhand derer sich die Frage nach der generellen Funktionsfähigkeit eines Systems prüfen läßt:

aa.) So wird man regelmäßig finden, daß ein System genau dann nicht aus sich selbst heraus funktionsfähig – und also nicht überlebensfähig – ist, wenn es zu seinem Betrieb funktionaler Ergänzungen oder wiederholter Restrukturierungen bedarf. Bildhaft gesprochen: Den Körper eines Patienten, der ohne Herzschrittmacher und Bypass sofort einen Herzstillstand erlitte, würden wir nicht als selbständig überlebensfähig bezeichnen. Systeme, die solcher funktionaler Hilfen oder Umorganisationen bedürfen, nennen wir daher gemeinhin ‚krank‘.

Genau dies aber trifft auf das System der Gesetzlichen Krankenversicherung selbst zu. Ihre Regelungszusammenhänge wurden und werden permanent neu geordnet [7] und immer neue Funktionsträger treten hinzu, wie etwa der Beauftragte für die Belange der Patienten [8] oder die Einrichtungen für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen des mächtigen Gemeinsamen Bundesausschusses nach § 91 SGB V [9] . Solche immer neuen Systemerweiterungen indizieren daher die grundsätzliche Funktionsunfähigkeit des Systems.

bb.) Dieser fortlaufenden Neuorganisation und Systemerweiterung verwandt ist die beständige Ausweitung der Kompetenzbereiche bestehender Institutionen. Nicht nur die Befugnisse der Krankenkassen sind in der Vergangenheit immer mehr erweitert worden. Auch die Einrichtung insbesondere des Gemeinsamen Bundesausschusses erhielt und erhält konsequent neue Befugnisse [10] . Wäre das System an dieser Stelle nicht ebenfalls „krank“ im vorgenannten Sinne, bedürfte es all dieser Modifikationen nicht.

cc.) Nächstens gilt für Systeme, die nicht bloß mechanische Abläufe, sondern spezifisch menschliches Handeln regeln wollen, eine weitere Besonderheit. Weil Menschen grundsätzlich frei sind in ihrer Entscheidung, sich entweder systemkonform oder aber systemwidrig zu verhalten, bedürfen alle handlungsleitenden Hauptnormen selbst auch einer Art sie begleitender Sanktionsnormen: Die Hauptnorm regelt das erwartete Handeln selbst, die Sanktionsnorm regelt die Folgen, die eintreten, wenn gegen diese Hauptnormen verstoßen wird. Ist nun eine Hauptnorm ohne weiteres nach Sinn und Zweck verständlich und liegt sie im erkennbaren Interesse der Normadressaten, bedarf es keiner – oder nur untergeordneter – Sanktionsnormen zu ihrer Durchsetzung. Umgekehrt muß der Normgeber dort, wo er Verstöße gegen seine Hauptnorm bereits erwartet, zu deren Schutz und für deren Geltung möglichst effektive Sanktionsnormen erlassen.

Aus diesem Zusammenwirken von Haupt- und Sanktionsnorm läßt sich also die Regel ableiten: Je mehr der Normgeber erwartet, daß gegen seine Hauptnorm mutmaßlich verstoßen werden wird, desto rigider muß er in der Formulierung seiner die Hauptnorm schützenden Sanktionsnormen zu deren Durchsetzung sein. Umgekehrt aber heißt dies zugleich: Je drastischer der Normgeber die Rechtsfolgen seiner Sanktionsnormen gestaltet, desto größer sind sein Bewußtsein und seine Erwartung, daß es zu Verstößen gegen seine Hauptregel kommen wird. Kurz: An der Rigidität der Sanktionsnorm läßt sich die Qualität der Hauptnorm erkennen.

Bei den Regelungen zu der gesetzlichen Krankenversicherung fällt in diesem Kontext auf, daß die Rechtsfolgen der Sanktionsnormen für nicht regelkonformes Verhalten konsequent erheblich verschärft wurden. An dieser Stelle mögen die Hinweise auf Berufsverbote und Berufserschwernisse für Ärzte [11] , die jüngste Ausweitung des strafrechtlichen Tatbestandes bei Nichtabführen von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen auch auf Arbeitgeberbeiträge [12] oder Pikanterien wie das Zurückbehaltungsrecht von Krankenkassen an Vergütungszahlungen gegenüber Kassenzahnärztlichen Vereinigungen, wenn diese der Krankenkasse bestimmte Mitglieder nicht namhaft machen [13] , genügen.

Dem Gesetzgeber ist also nach dem vorstehend Gesagten der mutmaßlich fehlende Wille der Normadressaten zur tatsächlich freiwilligen Regelbefolgung bewußt gewesen. Je mehr aber ein System des Sanktionsdruckes bedarf, damit seine Hauptregeln noch befolgt werden, desto weniger läßt sich von ihm noch ohne weiteres als von einem „funktionsfähigen“ System sprechen.

dd.) Ein für den hiesigen Zusammenhang noch letztes, gleichwohl um so gewichtigeres Indiz für die Funktionsunfähigkeit eines handlungsleitenden Systems ist das Phänomen der Regelwidersprüchlichkeit oder – anders gewendet – der Befolgungsunmöglichkeit.

Je mehr handlungsleitende Normen ein Regelwerk umfaßt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß seine Normadressaten in eine Situation geraten, in der sie mehrere Normen des Systems zugleich erfüllen müssen. Überschneiden sich aber die Tatbestände mehrerer Normen, dann können die zugleich betroffenen mehreren Rechtsfolgeanordnungen auch in unterschiedliche Richtungen weisen. Die eine Regel befolgen heißt dann, die andere Regel verletzen. Das Normengefüge insbesondere der gesetzlichen Krankenversicherung ist jedoch mittlerweile in einem Maße ausgeweitet und angewachsen, daß sich die  Chancen derartiger Regelwidersprüche häufen. Der Normadressat befindet sich dann im Zustand der faktischen Befolgungsunmöglichkeit. Er kann nur noch wählen zwischen verschiedenen Regelverletzungen.

Exemplarisch mag der Sozialversicherungsfachangestellte bei der Prüfung einer Krankenhausrechnung beschrieben sein, der zum ersten den Sachverhalt vor Bezahlung von Amts wegen zu ermitteln hat, der zum zweiten bei seinen Ermittlungen diverse Datenschutzbeschränkungen zu beachten hat, der zum dritten nicht unbedachtsam und übermäßig über (vielleicht nicht einmal mehr vorhandenes) Geld seiner Kasse verfügen darf und der viertens bei der Nichtzahlung bzw. vorgängigen Korrespondenz zur Sachverhaltsklärung mit dem Krankenhaus unter den Strafandrohungen des § 240 StGB und des § 253 StGB steht [14] .

Je höher aber somit die Wahrscheinlichkeiten innerhalb eines Normsystems sind, daß dem einzelnen die Regelbefolgung insgesamt unmöglich ist, desto weniger läßt sich begründet von einem funktionsfähigen System sprechen.

b.) Ein gerechtfertigter Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit des Grundrechtsträgers ist nach alledem wohl nicht mehr begründbar.

III. terra incognita

Die Begründungsräume für einen verfassungsrechtlich legitimen Einheitszwang in Gestalt einer „Bürger(zwangs)versicherung“ erscheinen jedoch noch erheblich weiter begrenzt. Denn auch jenseits der bekannten Gegenden unserer Grundrechtsdogmatik – also in terra incognita, die nachfolgend beschritten wird – werden verfassungsrechtliche Hürden für diese Art der Ausdehnung staatlicher Handlungsspielräume erkennbar.

1.) Gesteht man nämlich zu, daß das bisherige System der gesetzlichen Krankenversicherung gerade nicht „grundsätzlich funktionsfähig“ ist, dann bewendet es nicht bei der fehlenden Eingriffsrechtfertigung in bezug nur auf die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG. Vielmehr wird mit dem gesetzlichen Zwang zur Teilnahme an einem dergestalt funktionsunfähigen Gesundheitssystem notwendigerweise zugleich auch in den grundrechtlichen Schutzbereich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG eingegriffen. Ein Staat nämlich, der die Aufgabe hat, Leben und körperliche Unversehrtheit seiner Bürger zu schützen, erfüllt diese Aufgabe erkennbar dann nicht (mehr), wenn er diese Bürger zur Teilnahme an einem ineffektiven Gesundheitssystem zwingt. Die Nichterfüllung des Auftrages stellt dann aber auch einen Eingriff in den grundrechtlichen Schutzbereich dar:

a.) Die hier beschriebene Funktionsunfähigkeit des bestehenden Systems beschränkt sich nämlich nicht nur auf bloße Fragen der Finanzierung, der Mitgliedschaftspflichten oder ganz allgemein der Verwaltungstechnik. Sie hat vielmehr unausweichlich auch eine medizinische Dimension. Denn das „gesetzliche Gesundheitssystem“ besteht nicht lediglich aus einem juristischen und/oder verwaltungstechnischen Teil. Es handelt sich im Gegenteil um ein Gesamtsystem aus vielen einzelnen, miteinander verbundenen Subsystemen [15] . Die Funktionsunfähigkeit einzelner dieser Subsysteme wirkt sich folglich zwangsläufig auch auf die Funktionsweisen anderer Subsysteme innerhalb des einen Gesamtsystems aus. Mit anderen Worten: Eine funktionierende Versorgung innerhalb des medizinischen Subsystems kann es dann und dort nicht geben, wo die mit ihm verbundenen Verwaltungs- und Finanzierungssysteme ihrerseits nicht funktionsfähig sind. Der verwaltungstechnische Organisationsmangel infiziert also gleichsam den medizinischen Bereich des Gesamtsystems. Zum Schluß wird im einfachsten Sinne des Wortes keine medizinische Hilfe mehr erbracht, weil die hierzu verpflichteten Teilnehmer des Systems rein faktisch dazu nicht mehr in der Lage sind [16] .

b.) Spätestens dann, wenn dem per gesetzlichem Zwang „gesetzlich Krankenversicherten“ dann weder innerhalb des staatlichen Gesundheitssystems die erforderliche medizinische Hilfe angedeihen kann, noch auch er selbst aus verbliebenen eigenen Ressourcen fähig ist, sich diese Hilfe anderweitig ‚einzukaufen‘, versagt der Staat in der Erfüllung seines grundgesetzlichen Schutzauftrages. Denn die Fremdbestimmung des Einzelnen durch – auf der einen Seite – Zwangsmitgliedschaft und Beitragszahlungspflicht bei – auf der anderen Seite – nicht effektiv erbrachtem Gesundheitsschutz bedeutet eine inakzeptable Leistungs-Disparität auch innerhalb des öffentlich-rechtlich angeordneten Rechtsverhältnisses „Krankenkassenmitgliedschaft[17] . Ein jeder Schmerz, eine jede körperliche Beeinträchtigung und zuletzt ein jeder vermeidbarer Tod der schutzlosen Patienten stellen sich in diesem Falle zwangsläufig auch als ungerechtfertigte Eingriffe des Staates in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG dar. Mithin ist die gesetzliche Aufrechterhaltung eines absehbar insgesamt funktionsunfähigen Gesundheitssystems auch unter dem Maßstab dieses Grundrechtes verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen.

2.) Zuletzt erscheint noch ein weiteres, gewichtiges Verfassungsprinzip sowohl durch das derzeit bestehende System der „Gesetzlichen Krankenversicherung“, als auch – erst recht – durch eine Bürger(zwangs)versicherung verletzt. Konkret: Die verfassungsrechtliche Bedeutung des  Prinzips der in Art 38 Abs. 2 GG beschriebenen Wahlfreiheit dürfte sehr viel weitreichender sein, als dies bislang in der gesundheitspolitischen Debatte gesehen wird [18] . Es darf in der verfassungsrechtlichen Diskussion längst als unbestritten angesehen werden, daß die einzelnen Grundrechte auch objektive Wertentscheidungen verkörpern, aus denen sich objektive Wertmaßstäbe und Wertesysteme erkennen und herleiten lassen.

a.) Der unmittelbare Schutzbereich des Art. 38 Abs. 2 GG ist durch eine gesetzlich angeordnete Zwangsteilnahme an öffentlich-rechtlichen Versorgungs- und Sicherungssystemen zwar selbst natürlich nicht ansatzweise berührt. Wenn aber – nach allgemeiner Ansicht – aus einzelnen Grundrechten auch jenseits ihres unmittelbaren subjektiv-rechtlichen Gehaltes objektiv-rechtliche Wertentscheidungen zu destillieren sind, dann stellt sich unausweichlich die Frage, welche Maßstäbe das grundsätzliche Recht eines Bürgers, die Wahl zu haben, für die Gestaltung staatlicher Institutionen insgesamt setzt.

b.) In seinem unmittelbaren Anwendungsbereich schützt Art. 38 Abs. 2 GG zunächst nur das Recht, zwischen politischen Alternativen wählen zu dürfen. Für die Wahlfreiheit als objektiviertem Verfassungsprinzip kann dies aber heißen, daß die Rechtsordnung – in einem bislang unterschätzten Maße – verpflichtet ist, dem einzelnen insgesamt, über die nur politische Wahlmöglichkeit hinaus, Entscheidungsspielräume zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu belassen. Mit anderen Worten: Wo immer es der verfassungsmäßigen Ordnung möglich ist, muß sie dem einzelnen die rechtliche Chance einräumen, nicht nur einen einzigen, sondern mehrere  Wege – mindestens zwei – zu beschreiten. Diese müssen sich nicht nur marginal-graduell [19] , sondern substantiell unterscheiden. Damit muß also jede andere Möglichkeit der persönlichen Versicherung gegen Krankheitsrisiken, auch die staatsferne, ohne Beschränkung gestattet sein. Kurz: Teilnahmezwänge ohne Wahlchance sind unzulässig.

c.) Unter dieser Prämisse muß befremden, wenn eine Rechtsordnung ihren sämtlichen erwachsenen Bürgern einerseits verfassungsrechtlich ausnahmslos das Recht der vollen politischen Wahlfreiheit zugesteht, wenn sie aber andererseits – gestützt zudem auf nur unterverfassungsrechtliche Normen – anordnet, daß dieselben erwachsenen Bürger nicht hinreichend entscheidungsmächtig seien, über einen von ihnen frei gewollten und gewählten Schutz vor Krankheit  eigenverantwortlich zu befinden. Die zu 100% in ihrer politischen Wahlentscheidung freie Bevölkerung ist heute – wie dargelegt – zu gut 90% im gesetzlichen Sicherungssystem zwangsversichert und insoweit in überwiegender Zahl gesundheitswahl-rechtlich und -technisch ohne eigenes Entscheidungsrecht. Damit aber noch immer nicht genug. Die Bevölkerung soll nach gewissen Plänen sogar in einer „Bürger(zwangs)versicherung“ noch weiter, nämlich insgesamt gesundheitspolitisch ohne jede derartige Wahlmöglichkeit gestellt werden.

d.) Eine solche gesetzliche Konstruktion würde sich aus gleich zwei Perspektiven als wertungswidersprüchlich darstellen:

Zum einen wird derjenige, der gesamtpolitisch Wahlfreiheit genießt, auf dem Teilgebiet der Gesundheitspolitik jeder Wahlmöglichkeit beraubt. Dies aber ermangelt – a maiore ad minus – der Logik. Denn wenn der Bürger einerseits im Ganzen zu entscheiden befugt ist, dann ist nicht begründbar, warum ihm andererseits über einen Teil dieses Ganzen die Entscheidungsmacht rechtswirksam versagt werden könnte.

Zum anderen muß – a forteriori – die Wahlfreiheit als objektiviertes Verfassungsprinzip dann, wenn sie auf der abstrakten Ebene der Konstituierung von Verfassungsorganen gilt, erst recht auf der sehr viel konkreteren Ebene der Entscheidungsmacht über den eigenen Körper – und mithin über die eigene Gesundheit und über das eigene Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) als den existentiellen Grundvoraussetzungen jeder Entscheidung schlechthin – gelten. Denn wem von der Verfassung die Befugnis gegeben ist, über das Allgemeinwohl mitzubefinden, dem darf schwerlich die Befugnis entzogen werden, über sein ureigenes körperliches Wohl zu entscheiden.

e.) Der damit beschrittene Weg zu einer analogen Anwendung des zunächst objektivierten und dann von dort aus in einem anderen, als dem unmittelbaren Regelungskontext angewendeten Wahlgrundrechtes als allgemeinem rechtsstaatlichen Rechtsgrundsatz stellt sich auch nicht als eine Verfassungsrechtsanwendung contra legem dar.

Denn wenn ein konstitutionelles Recht schon im Rahmen der sogenannten Drittwirkung von Grundrechten außerhalb des Verhältnisses von Bürger und Staat anerkannt anwendbar ist, dann muß dies erst recht auch für die Anwendung in einem Kontext innerhalb des unmittelbar geregelten Verhältnisses zwischen Bürger und Staat gelten.

IV. Zusammenfassung

Es herrscht zunehmend unwirtlicher Sturm gegen die bürgerlichen Freiheiten in Deutschland. Aber unsere Grundrechte und Verfassungsprinzipien sind grundsätzlich noch immer geeignet, dem einzelnen Schutz vor legislativen Übergriffen zu bieten. Voraussetzung allerdings ist die Bereitschaft zu einer exakten Analyse der bearbeiteten Sachverhalte auch in tatsächlicher Hinsicht. Denn wer den Sturm nicht rechtzeitig bemerkt, der verkennt, daß er den Regenschirm aufspannen muß und er sieht nicht, in welche Richtung er ihn halten sollte.


[1] vgl. Sodan ZRP 2004, 217ff. und ders. NJW 2003, 1781ff. sowie 2581ff.
[2] Die Versicherten werden bekanntlich nicht gefragt, ob sie Mitglied einer Krankenkasse werden möchten, sie werden es explizit „ohne Rücksicht auf ihren Willen“: Peters-Sommer, Handbuch der Krankenversicherung (SGB V), 19. Aufl., 41. Lfg., § 5 SGB V Rn 21
[3] BVerfG NJW 2001, 1779 (1780)
[4] Der Beitragssatz zur Gesetzlichen Krankenversicherung stieg von durchschnittlich 6% im Jahre 1950 auf bis zu 14,9% im Jahre 1986; trotzdem sank das Vermögen der Krankenkassen kontinuierlich (Peters, Handbuch der Krankenversicherung (SGB V) 19. Aufl., Einleitung Rn 69f.); zur historischen Ausweitung des Versichertenkreises auch: Sodan NJW 2003, 1761 [1764].
[5] … und sollte dies zugleich die richtige Auslegung des Begriffes der „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Nr. 12 GG sein (!) …
[6] Nachdem in der ersten Hälfte der 1970er Jahre der Leistungsumfang der Gesetzlichen Krankenversicherung erheblich ausgedehnt wurde, begann ab dem Jahre 1977 – mit dem ersten „Kostendämpfungsgesetz“ – ein seither andauernder Kampf der Staatsgewalten gegen die – schon damals so genannte – „Kostenexplosion im Gesundheitswesen“, vgl. Peters, Handbuch der Krankenversicherung (SGB V) 19. Aufl., Einl. Rn 55 – 62
[7] Sodan spricht schon bis zum Jahre 2003 von immerhin rund 7000 geänderten Einzelbestimmungen, NJW 2003, 1761
[8] vgl. § 140h SGB V
[9] vgl. Schimmelpfeng-Schütte ZRP 2004, 253 (255f.)
[10] Schimmelpfeng-Schütte ZRP 2004, 253 (255)
[11] Sechs Jahre gemäß § 95b Abs. 2 SGB V
[12] § 266a StGB, dazu: Laitenberger NJW 2004, 2703
[13] § 85 Abs. 4f S. 1 SGB V i.V.m. § 85 Abs. 4d S. 1 SGB V
[14] vgl. Gebauer NJW 2003, 777 (780)
[15] Das Ziel der gesamten Veranstaltung ist letztlich nur die „Gesundheitsversorgung der Bevölkerung“; genau diese nämlich soll – wie das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung NJW 2001, 1979 [1780] darstellt – erst „mit Hilfe eines Sozialversicherungssystems erreicht werden“. Kann also die Bevölkerung mit „Gesundheit“ (soll heißen: mit Medizin) nicht mehr versorgt werden, entfällt auch die Notwendigkeit für das Finanzierungssystem als gleichsam mittelbarem Gemeinwohlbelang – es sei denn, man begriffe das Verwaltungssystem als Selbstzweck.
[16] Von einem bestimmten Punkt an können medizinische Leistungen deswegen nicht mehr erbracht werden, weil schlicht die betriebswirtschaftliche Möglichkeit hierzu nicht mehr besteht, wie die Berliner Morgenpost am 23. März 2005 am Beispiel Berliner Radiologen anschaulich berichtete (ebenda S. 21).
[17] Denn eines läßt sich erkennbar nicht widerspruchslos begründen: Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes ist „Fremdbestimmung“ eines Vertragspartners durch den anderen für den Bereich des Privatrechtes stets dort gegeben, wo dieser „ein so starkes Übergewicht [hat], daß er den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen kann“ (BVerfGE 89, 214 [232]). Sobald sich dieses Ungleichgewicht zwischen den Vertragspartnern in einer „offensichtlichen Fehlentwicklung“ befinde, dürfe der Gesetzgeber „nicht tatenlos zusehen“ (BVerfGE 81, 242 [255]). Warum dieser Auftrag an den Gesetzgeber nur bei einseitig diktierter Leistungs-Disparität im Privatrecht, nicht aber auch innerhalb des – insoweit erst recht sensiblen – öffentlichen Rechtes bestehen sollte, ist schwerlich nachzuvollziehen. Denn daß der Leistungsinhalt innerhalb der Gesetzlichen Krankenversicherung irgendwie (auch) von dem Patienten mitbestimmt würde, scheidet ersichtlich aus; das Maß der „erforderlichen“ (§ 39 Abs. 1 S. 2 SGB V) oder „ausreichenden“ (§ 28 Abs. 1 S. 1 SGB V) Medizin wird von dem System selbst einseitig dekretiert.
[18] Das damit hier gehaltene Plädoyer für eine ausweitende Grundrechtsanalogie zu dem Wahlfreiheitsgedanken aus Art. 38 Abs. 2 GG kann sich in seinem Keim auch auf einen gewichtigen Gewährsmann stützen: Niemand geringeres als das Bundesverfassungsgericht selbst hatte begonnen, die Wahlrechtsgrundsätze extensiv (geradezu „gesamtanalog“ im Sinne von Karl Larenz, Methodenlehre, 6. Aufl., S. 383f.) auf andere Lebenssachverhalte auszudehnen (BVerfGE 30, 227 [246]). Auch der Gesetzgeber hat nun bereits mit den §§ 173 ff. SGB V begonnen, diese Wahlfreiheit in ihrer Bedeutung zu erkennen und umzusetzen; aber diese ersten Anfänge sind bislang noch ganz unzureichend. Nicht zuletzt stellt ja auch die Theorie von der „Drittwirkung“ unserer Grundrechte im Ansatz nichts anderes dar, als eine solche Analogie.
[19] Wie bei den nur sehr engen Wahlmöglichkeiten nach § 173 SGB V

Lenin und der Kassenarzt

Warum Geld das Gesundheitssystem steuern muß – und nicht der Staat

Carlos A. Gebauer

Unter dem Grundgesetz haben sich in Deutschland gesundheitspolitische Wertauffassungen entwickelt. Insbesondere soll niemand krank sein oder gar sterben müssen, nur weil er arm ist. Dieses bewahrenswerte gesellschaftspolitische Ziel kann auf verschiedenen Wegen erreicht werden. Das geltende System der Gesetzlichen Krankenversicherung hat sich entschieden, Geld als Zahlungsmittel aus dem Gesundheitssystem praktisch vollständig zu eliminieren. Das aber muß erstaunen. Denn gerade diese Methode ist historisch definitiv als untaugliches Instrument der Wirtschafts- und Sozialpolitik erkannt. Zudem fügt sich diese Methode nicht in die ökonomischen und verfassungsrechtlichen Umgebungsbedingungen der Bundesrepublik Deutschland.

Mittlerweile ist hierzulande unmöglich, „Gesundheit“ zu sagen, ohne zugleich auch „Reform“ zu denken. Seriösen Angaben zufolge hat der Gesetzgeber in den vergangenen 25 Jahren mehr als 7000 Einzelbestimmungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung geändert. Demnach fällt schwer, überhaupt noch von einem „System“ zu reden. Eher angemessen erscheint, terminologisch auf Begrifflichkeiten der Chaostheorie zurückzugreifen.

Es kann also nicht verwundern, daß auch die jüngste gesundheitspolitische Gesetzesreform des Jahres 2003 lediglich erneut eine Vielzahl von Einzelbestimmungen änderte. Ebenso sicher war damit aber schon im Vorhinein, daß jedwede Modernisierung auch dieses Mal wiederum nur die Grundlage für die nächste Reform würde schaffen können. So kam es. Und also gilt wie stets: Nach der Reform ist vor der Reform. Folglich besteht zunehmend Anlaß, hinter die Symptome des seit Jahrzehnten dauerhaft multimorbiden Systems zu blicken. Mit anderen Worten: Es besteht Anlaß, nach der Ursache seiner permanenten Funktionsschwäche zu fragen.

Angesichts des schier undurchdringlichen Dschungels von Vorschriften scheint zunächst vermessen, nach nur einer einzigen Ursache für alle Probleme fragen zu wollen. Näher liegt, gleich eine Vielzahl von Ursachen finden zu müssen. Näher liegt auch, zuvor ein unentwirrbares Knäuel von Schwierigkeiten im einzelnen betrachten zu müssen, seinerseits verheddert in den wieder und wieder geänderten gesetzlichen Regelungen. Näher liegt schließlich, die weitere Suche nach Problemlösungen getrost denen überlassen zu können, die mit profunder Sachkenntnis und spezialisiertem Detailwissen bekanntermaßen zuletzt jene 7000 Gesetze geändert haben.

Gegen den ersten Anschein lauert der gesundheitspolitische Teufel im vorliegenden Falle aber gerade nicht im Detail. Vielmehr liegt die Kernursache der Dauermalaise – wie zu zeigen sein wird – in einer Grundprämisse des Gesamtsystems. Der gleichsam axiomatische Fehler findet sich im Dogma vom sogenannten Sachleistungsprinzip, also in der Technik, Geld als Zahlungsmittel im System abgeschafft zu haben.

Mit diesem Prinzip ist innerhalb des Gesundheitswesens faktisch das für jede Wirtschaftsordnung maßgebliche Steuerungs- und Kontrollelement abgeschafft. Alle übrigen Probleme des Systems lassen sich – wie zu zeigen sein wird – aus diesem einen Geburtsfehler ohne weiteres herleiten. Die Theorie vom abgeschafften Geld als zentraler Problemursache im Gesundheitssystem läßt sich mit einigen Betrachtungen belegen.

Grundsätzlich gilt in Deutschland das elementarste Marktprinzip. Wer eine Leistung in Anspruch nimmt, der muß für sie bezahlen. Leistungserbringer und Leistungsempfänger schließen also einen Vertrag. Die vertraglich vereinbarte Leistung wird erbracht und der Leistungsempfänger zahlt als Gegenleistung den vertraglich vereinbarten Preis in Geld.

Im staatlichen Gesundheitssystem der Bundesrepublik Deutschland gilt jedoch anderes. Eine Kassenpatient, der seinen Arzt aufsucht, tritt zu ihm nicht in eine vertragliche Beziehung. Er legt lediglich seine Versichertenkarte – als eine Art Bezugsschein seiner Kasse für das laufende Quartal – vor. Die Bezahlung des Arztes wird ausschließlich von seiner Krankenkasse übernommen. Damit ist nicht nur das vertragliche Band zwischen Arzt und Patient zerschnitten. Zugleich ist damit die Chance einer ersten unmittelbaren Kontrolle über die Wertbalance zwischen Leistung und Gegenleistung – nämlich durch den Patienten selbst und seine eigene Zahlungspflicht – vergeben. Diese erste Ablösung des Gesundheitssystems von der eingangs beschriebenen, elementaren Marktregel führt zu dem Ergebnis: Der Patient kann nicht wissen, welchen Wert die erhaltene ärztliche Leistung in Geld hat. Es zahlt – vermeintlich – stets ein anderer.

Aber auch der Arzt weiß nicht, was er mit einer bestimmten Behandlung umgesetzt oder gar verdient hat. Denn der ihm vorgelegte Bezugsschein für das Quartal ermöglicht ihm nur, einen bestimmten Punktwert für die Behandlung zu vermerken. Welchen Wert dieser Punkt im Ergebnis seiner Quartalsabrechnung in Geld haben wird, erfährt er erst einige Monate nach der Behandlung. Dann nämlich rechnet seine Kassenärztliche Vereinigung mit ihm ab. Sie verteilt hierbei die an sie von den Krankenkassen für ambulante Versorgung in diesem Quartal treuhänderisch gezahlte Gesamtvergütung.

Wie hoch diese Gesamtvergütung ist, weiß allerdings auch die Kassenärztliche Vereinigung des Kassenarztes zum Zeitpunkt der ärztlichen Behandlung nicht. Denn die Höhe auch dieser Gesamtvergütung richtet sich nicht nach dem Umfang aller erbrachten Leistungen, sondern nach den jeweiligen Einnahmen der Krankenkassen. Diese wiederum bemessen sich nach dem Umfang der aus Arbeitsverhältnissen eingezogenen Krankenversicherungsbeiträge. Folglich sind nicht nur das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung zwischen konkretem Arzt und konkretem Patienten voneinander abgelöst. Auch die Menge aller ärztlichen Leistungen insgesamt steht in keiner direkten Wertrelation zu der Menge aller erbrachten Geldleistungen. In der Konsequenz dieses Modells liegt, daß ein Punkt im Winter prinzipiell weniger wert ist, als im Sommer. Denn im Winter sind mehr Menschen krank und es werden mehr ärztliche Leistungen in Anspruch genommen. Zugleich folgt aus saisonbedingt höherer Arbeitslosigkeit im Winter ein geringeres Beitragsaufkommen. Umgekehrt treffen im Sommer weniger Krankheiten auf saisonbedingt mehr Arbeitsverhältnisse und damit auf höhere Beitragseinnahmen: Der Punktwert steigt. Es herrscht mithin im Ergebnis auch auf dieser Ebene eine greifbare weitere, zweite Ablösung von der elementaren Marktregel eines Gleichgewichts von Leistung und Gegenleistung.

Innerhalb der Gruppe der Versicherten findet sich eine dritte derartige Ablösung von Leistung und Gegenleistung. Während im übrigen Geschäft der Versicherungswirtschaft nämlich ein Gleichgewicht von einerseits Beitragshöhe und andererseits Wahrscheinlichkeit des eintretenden Versicherungsfalles herrscht, hängt die Beitragshöhe in dem System der Gesetzlichen Kassen von der Höhe des individuellen Arbeitseinkommens ab. Damit fingiert das System versicherungsmathematisch gleichsam eine höhere Krankheitswahrscheinlichkeit bei einem gut Verdienenden, während der schlechter Verdienende wie ein geringeres Versicherungsrisiko taxiert wird. Schon die Rede von dem gesetzlichen Gesundheitssystem als von einem „Versicherungs“-System ist daher im Prinzip mindestens ungenau, eher aber schlicht falsch: Tatsächlich sind Krankenkassen keine „Versicherung“ im eigentlichen Sinne, sie arbeiten nach völlig anderen Maßstäben und Regularien. Diese Maßstäbe stellen häufig nichts anderes dar, als Fiktionen gegen empirische Tatsachen. Der soeben beschriebene fiktiv kranke Gutverdiener und der fiktiv gesunde Schlechtverdiener sind nur erste Beispiele dieser Realitätsferne.

Zudem führen diese versicherungstechnischen Eigengesetzlichkeiten zu weiteren, absurden Fehlsteuerungen mit immer neuen Ablösungen im beschriebenen Sinne: Das individuelle Gesundheitsverhalten und die individuelle Kostenverantwortung beispielsweise sind ebenfalls voneinander abgelöst. Mit anderen Worten: Es fehlt jeder wirtschaftliche Anreiz zu gesunder Lebensführung. Denn der monatlich für Gesundheitsschutz geschuldete Beitrag steht bekanntlich ausschließlich in Relation zur Höhe des Arbeitseinkommens, nicht aber in Relation zu dem eignen Gesundheitszustand. Wer weniger Kassenbeiträge bezahlen wollte, dem hilft es nicht, gesünder zu leben, sondern er müßte weniger Arbeitseinkommen erzielen.

Es bedarf keiner vertieften systemtheoretischen Erklärungen, um zu erkennen, daß ein jedes System ausschließlich dann überlebensfähig ist, wenn es sich an seinen Rändern und Außenseiten dem dort gegebenen und vorgefundenen Umfeld – also den Gegebenheiten jenseits des eigenen Systems – anpaßt. Mit anderen, bildhafteren Worten: Der beste Bergsteiger in einer Steilwand wird ersichtlich massive Probleme haben, voranzukommen, wenn er Boxhandschuhe und Taucherflossen trägt. Es wird ihm auch nicht ansatzweise helfen, mit besonders proteinreicher Kost ernährt und durch ein Satelliten-Navigationssystem informiert zu sein: Ihm fehlt schlicht der Halt an der Wand, weil er an die Umgebung außerhalb seines eigenen Körpers unzureichend angepaßt ist.

Wenn aber die Einnahme von Geld einerseits und das Ausgeben andererseits nicht ineinandergreifen und aufeinander abgestimmt sind wie die Steilwand und das Haltezeug eines Bergsteigers, dann kommt es irgendwann unausweichlich zum Verlust jedes Haltes. In dem bestehenden System der Gesetzlichen Krankenversicherung sind Leistung und Gegenleistung aber – wie dargestellt – gänzlich voneinander abgelöst und mithin voneinander entfremdet.

Während der niedergelassene Kassenarzt seine eigenen Einnahmen vorläufig nur in gewissen Punkten nach behördlich dekretierten Bewertungsmaßstäben vergütet erhält, muß er umgekehrt seine eigenen Ausgaben – Löhne, Mieten, Strom, Gas, Wasser – mit richtigem Geld bezahlen. Hier klafft also ein Spalt zwischen der externen, wirklichen Welt und der internen Welt des Staatsgesundheits-Systems. Ein ebensolcher Spalt tut sich an den Landesgrenzen zu jedem Nachbarland auf. Denn der ausländische Arzt, der diesem besonderen, nationalstaatlichen Punkte-System nicht angeschlossen ist, akzeptiert verständlicherweise keine derartigen Punkte als Honorar. Folglich ist jeder Kassenpatient genötigt, vor dem Verlassen Deutschlands eine besondere Abstimmung mit seiner Kasse über die Gewährung von Versicherungsschutz auch im Ausland vorzunehmen. Es ist dies eine bemerkenswerte Konstruktion angesichts auch internationaler Freizügigkeit und einem ersichtlich alles andere als beitragsgünstigen System.

Preisfindung, Leistungskontrolle und Qualitätsüberwachung werden in diesem System also nicht durch Geld geregelt. Statt dessen sind hierfür im bundesrepublikanischen Staatsgesundheitswesen eigene, besondere Kontrollmechanismen geschaffen.

Wie dargelegt, bezahlt nicht der Patient selbst seine Rechnung, sondern eine Krankenkasse. Alle gesetzlichen Kassen sind Behörden. Jede Behörde in einem Rechtsstaat arbeitet ausschließlich auf der Grundlage von Erlaubnistatbeständen aus Ermächtigungsvorschriften. Was der Behörde nicht ausdrücklich gesetzlich erlaubt ist, ist ihr verboten. Daraus resultieren notwendig gewisse Schwerfälligkeiten in der Erledigung des täglichen Geschäftes. Denn der Gesetzgeber kann nie vorab alle Fälle erfassen, die sich möglicherweise in der Zukunft ereignen und die eine Behörde zu regeln hat.

Aber nicht nur die Krankenkassen, auch die Kassenärztlichen Vereinigungen als grundsätzlich selbstverwaltete Zusammenschlüsse aller Kassenärzte sind Behörden. Über jedem Behandlungsgeschehen zwischen Arzt und Patient wölbt sich demgemäß eine Art verwaltungstechnischer Vergütungsabwicklungs-Überbau, der ausschließlich aus Behörden besteht. Und da Behörden nicht immer ohne weiteres über den bei der Vergütungsorganisation erforderlichen Sachverstand verfügen, hilft ihnen hierbei bisweilen der so bezeichnete Medizinische Dienst der Krankenkassen – eine weitere Behörde. Das Zusammenspiel dieser Behörden ist seinerseits nicht diffusen freien Kräften überlassen. Alle diese Behörden werden ihrerseits kontrolliert. Kontrollorgane sind diverse Aufsichtsbehörden auf Landes- und Bundesebene. Das, was Sozialministerien, Datenschützer, Medizinische Dienste, interne Wirtschaftlichkeitsprüfungen innerhalb der Kassenärztlichen Vereinigungen etc. bislang noch nicht ausreichend geprüft haben oder prüfen konnten, soll nach derzeitigen Plänen demnächst von einer neuen „Stiftung Warentest im Gesundheitswesen“ kontrolliert werden. Es sollte keiner weiteren Erläuterung bedürfen, daß die Hoffnung trügerisch ist, die Probleme des Systems ließen sich wenn nicht mit den sämtlichen bereits bestehenden, so aber nun ausgerechnet mit einer solchen weiteren Behörde lösen. Die gesamte Konstruktion gleicht eher einem Brei, der selbst nach immer neuen Köchen ruft.

Wer sich eingangs noch gefragt haben mag, was in einem Gesundheitssystem mit tausenden von wieder und wieder geänderten Vorschriften geregelt werden müsse, der wird in Ansehung dieser Verwaltungs-Exzesse verstehen, wo die Probleme liegen. Die vorgefundene Regelungsdichte erklärt sich geradezu aus sich selbst. Gleiches gilt für die Kostenintensität des Handelns dieser Behörden-Agglomerationen. Alleine die internen Verwaltungskosten der deutschen Krankenkassen erreichen inzwischen einen Umfang, der bald den Gesamtkosten aller deutschen Apotheken entspricht. Spätestens das nun etablierte neue Krankenhaus-Abrechnungs-System dürfte die Verwaltungskosten schon mittelfristig weiter nachhaltig in die Höhe treiben.

Aber die skizzierten Ablösungen des Systems aus seiner Umwelt und sein Eintauchen in ein Universum der realitätsfernen Eigengesetzlichkeiten beschreiben das Phänomen Gesundheitswesen noch nicht annähernd abschließend. Auch in seinem Inneren herrschen Regeln, die – im Vergleich zur sonstigen Welt außerhalb – schlichtweg paradox sind. Diejenigen Krankenkassen nämlich, die bezogen auf ihre eigene, individuelle Haushaltslage mehr Geld durch Beiträge einnehmen, als sie für Gesundheitsleistungen ausgeben, haben hieraus keinerlei Vorteil. Insbesondere können sie diesen Vorteil auch nicht an ihre versicherten Mitglieder weitergeben. Denn mit einem weiteren Konstrukt namens „Risikostrukturausgleich“ müssen sie ihre Mehreinnahmen an diejenigen anderen Krankenkassen abführen, die mehr ausgeben, als sie einnehmen. Böse formuliert heißt dies nichts anderes als: Von Mißwirtschaft kann man profitieren. Niemand hat je Verantwortung über eigenes Geld, weil jeder immer alles aus einer fremden Tasche bezahlt.

Das gesundheitspolitische Experiment der Bundesrepublik, Geld aus Gründen der vermeintlich höheren Gerechtigkeit abschaffen zu wollen, damit sich der Arme genauso viel Medizin leisten kann wie der Reiche, ist aus historischer Sicht allerdings ebenso verwunderlich wie gefährlich. Denn nicht das erste Mal in der jüngeren Geschichte wird damit versucht, einen besseren, gerechteren politischen Zustand durch die Abschaffung von Geld herbeizuführen.

Allerdings befindet sich die Bundesrepublik bei diesem Versuch in wenig schmeichelhafter Gesellschaft. Genau der gleiche Gedanke von der Abschaffung des Geldes lag nämlich auch den politischen Aktionen der russischen Revolution zugrunde.

Der sogenannte Kriegskommunismus zwischen 1918 und 1921 zentralisierte die Produktion und Verteilung von Gütern vollständig. Privater Handel wurde verboten und das Geld abgeschafft. Landwirtschaftliche Erzeugnisse mußten bei staatlichen Stellen abgegeben werden. Von dort wurden sie nach Bedürfniskriterien verteilt. Um das Eintreiben der Lebensmittel sicherzustellen, setzte der Staat Beschaffungskommandos ein. Mit allgemeiner Arbeitspflicht versuchte er, die infolge abgeschafften Geldes fehlende individuelle Motivation zur Produktion zu ersetzen. Denn das Problem war schnell, daß Bauern, denen regelmäßig entschädigungslos ihre Ernte requiriert wurde, nicht mehr weiter anbauen wollten – wozu auch? Ihr persönlicher Bedarf wurde ja seinerseits durch Zuteilung gedeckt.

Erst nachdem buchstäblich Millionen Menschen verhungert waren, führte Lenin höchstselbst unter der Bezeichnung „Neue Ökonomische Politik“ wieder marktwirtschaftliche Spielregeln – und insbesondere Geld als Steuerungsmechanismus der Güterverteilung – ein.

Die systematischen Parallelen zu den gegenwärtigen Schwierigkeiten des deutschen Staatsgesundheitssystems sind ebenso augenfällig, wie erschreckend. Hier wie dort ist Geld als Steuerungsfunktion im Verteilungsmechanismus eliminiert, das Sachleistungsprinzip ersetzt die unmittelbare Bezahlung. Hier wie dort ist privater Handel verboten, der Kassenarzt darf keinen privatrechtlichen Vertrag mit einem Kassenpatienten über Behandlungsleistungen schließen. Hier wie dort zentralisiert sich der betroffene Markt in staatlicher Hand. Ärzte, die ohne Kassenzulassung arbeiten wollen, haben praktisch keine Existenzmöglichkeit. Schon jetzt sind 90% aller Patienten Kassenangehörige. In der Diskussion steht, ausnahmslos die gesamte Bevölkerung in das Staatsgesundheitswesen zu überführen. Die Verteilung der Leistungen erfolgt hier wie dort nach Bedürfniskriterien. Der Kassenpatient erhält medizinische Leistungen dann und nur dann, wenn sie objektiv erforderlich sind. Hier wie dort ist die Verteilung staatlich kontrolliert. Behörden überwachen die Notwendigkeit von Behandlungen und die Angemessenheit der Vergütung. Experten für medizinische, verwaltungswissenschaftliche und mikroökonomische Details schwärmen derzeit von der qualitätsoptimierenden Wirkung extensiver Totalkontrollen. Im sogenannten Hausarzt-Modell soll die freie Arztwahl des Patienten eingeschränkt werden. Man stelle sich vor, die Regierung erließe ein Gesetz, mit dem die freie Wahl des Friseurs eingeschränkt würde. Welcher Protest erhöbe sich wohl? Daß das Volk noch schweigt, erstaunt. Hier wie dort fehlt die durch Geld angestoßene individuelle Motivation für den Leistungsanbieter, seine Leistungen zu erbringen. An die Stelle von Geld als Leistungsanreiz treten Zwangsmaßnahmen wie die Drohung, bei budget-taktisch geschlossener Arztpraxis gegen Quartalsende die Zulassung entzogen zu bekommen .

Die Totalitarisierung derartiger Systeme entspringt ebenso zwangsläufig ihren eigenen Prämissen. Ebenso, wie das Sowjet-System seinen Bürgern die Ausreise verbot, droht das staatliche Gesundheits-System der Bundesrepublik seinen Kassenärzten inzwischen mit mehrjährigen Berufs- und Kontrahierungsverboten, wenn sie ihre Kassenarzt-Zulassung konzertiert zurückgeben. Selbst ganze Kassenärztliche Vereinigungen, die im Rahmen ihrer Selbstverwaltungsmöglichkeiten organisierten Protest übten, können nach geltendem Recht der Bundesrepublik Deutschland bereits liquidiert werden. Ebenso, wie das Sowjet-System mit weltrevolutionärem Anspruch expansive Politik betrieb, diskutieren Gesundheitsexperten nunmehr sogar die totale zwangsweise Ausweitung der gesetzlichen Versicherungspflicht auf die ausnahmslos gesamte Bevölkerung. Folgerichtig ist daher auch, daß offen darüber diskutiert wird, private Krankenversicherungen schlicht zu verbieten.

Wer so denkt und redet, der muß wissen, daß solche Eingriffe sowohl in die Gesundheits- und Finanz-Dispositionen des Einzelnen, als auch in die Vertrags- und Eigentumspositionen der privaten Krankenversicherer nicht ohne massivste Auswirkungen auf das staatliche und verfassungsrechtliche System der Republik bleiben können.

Denn der aus juristischer und namentlich staatsrechtlicher Sicht wohl faszinierendste Aspekt dieser Phänomene ist, daß die Ausbreitung jenes planwirtschaftlichen Gesundheits-Systems sich schlechterdings überhaupt nicht in den verfassungsmäßigen Rahmen des Grundgesetzes fügt oder auch nur fügen ließe.

Während die Wirtschafts-Theoretiker der Russischen Revolution mit ihrem Kriegskommunismus in einen vergleichsweise rechtsfreien Raum vordrangen, müssen sich die Vordenker eines extensiven und expansiven Staatsgesundheitswesens in der Bundesrepublik eigentlich in den ihnen von der Verfassung gesetzten Grenzen bewegen. Die an jedem Berührungspunkt zwischen diesem Gesundheits-System und der grundgesetzlichen Rechtswirklichkeit entstehenden Konflikt- und Kollisionspunkte sind jedoch von immenser Größe. Jeder Versuch, diese Kollisionen verfassungsgemäß abzufedern und unter Wahrung der Grundrechte einer gangbaren Konkordanz zuzuführen, produziert notwendig seinerseits einen ganz umfangreichen gesetzgeberischen Aufwand. Es bedarf erheblicher Eingriffe in den Gesamtorganismus der Rechtsordnung, um deren Abstoßungsreaktionen gegen den sich ausweitenden Fremdkörper eines wirtschaftspolitischen Sondersystems im Gesundheitswesen zu unterdrücken. Die Pirouetten der Rechtsprechung zum Kassenarztrecht geben über dieses Phänomen eloquent Auskunft.

Die jahrzehntelange Novellierung von täglich einer Vorschrift ist demgemäß nicht mehr erstaunlich, sondern geradezu von vornherein in der Systematik angelegt. Die Sicherung der Existenzbedingungen eines derartigen Gesundheits-Systems als einer Art virtueller DDR inmitten einer rechtsstaatlich und prinzipiell marktwirtschaftlich organisierten Umgebung generiert zwangsläufig die ungeheuerlichsten normativen Probleme. Der Versuch, das Inkompatible kompatibel zu machen, kann aber tatsächlich allenfalls immer nur wiederholt werden. Gelingen kann ein solches Projekt nie.

Denn wie wollte man beispielsweise die verstaatlichte Bezahlung von Gesundheitsdienstleistungen organisieren, ohne daß die bezahlende Behörde eigene Kenntnis von dem einzelnen Behandlungsgeschehen hätte? Wenn sie aber solcher Kenntnis bedarf: Wie ist das Interesse des behandelten Bürgers an seinen intimen Gesundheitsdaten gegenüber dieser staatlichen Behörde effektiv zu schützen? Darf der Staat des Grundgesetzes alle Krankheiten seiner Bürger in allen Einzelheiten kennen? Wenn zutrifft, daß das Informationsinteresse des Fürsorgestaates größer ist als das eines Polizeistaates, dann muß gefragt werden: Ist das noch das System der Bundesrepublik?

Nicht weniger problematisch ist: Körper und Gesundheit des einzelnen genießen den Schutz der Grundrechte. Wenn man den einzelnen aber zwingt, so viel Mittel seiner Arbeitskraft – also: Geld – in ein auf nur notwendige und ausreichende medizinische Zuteilungs-Versorgung beschränktes System einzuzahlen, daß ihm zuletzt nicht genug Geld übrig bleibt, um zusätzlich selbst weitere Vorsorge für individuell gewünschte, optimierte Hilfe zu treffen, dann ist auch das verfassungswidrig. Denn es stellt nichts anderes dar, als eine Art körperlicher Teilenteignung des einzelnen.

Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang namentlich auch die sogenannte „Positivliste“ für Medikamente. Sie besagt bekanntlich nichts anderes, als daß staatlich dekretiert wird, welche Medikamente helfen und welche nicht. Diejenigen Medikamente, die nicht positiv auf der Liste aufgeführt werden, dürfen von Kassenärzten nicht zur Kostenlast der Krankenkasse verordnet werden. Der zwangsweise gesetzlich Krankenversicherte wird damit der Möglichkeit beraubt, zu Lasten seiner eigenen – von ihm mit erheblichen Teilen seines Einkommens finanzierten! – Kasse Medikamente zu erhalten, die er und sein Arzt übereinstimmend als für die Therapie seiner Krankheit geeignet erachten.

Geradezu perfide ist eine weitere Auswirkung dieser Konstruktion: Die Kampflinie im Streit um die Ressourcenverteilung im Gesundheitssystem verläuft nämlich damit nun exakt durch das ärztliche Behandlungszimmer. In das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patienten wird das Mißtrauen über die kostenunabhängige Verschreibung des richtigen Medikamentes hineingetragen. Die Positivliste verkehrt damit das Prinzip des Grundgesetzes wiederum in sein Gegenteil: Gestattet ist nicht mehr alles, was nicht verboten ist, sondern nur noch, was ausdrücklich erlaubt ist. Wer einen Kassenarzt nach alledem noch als Freiberufler mit Therapiefreiheit bezeichnet, der hat entweder nicht verstanden, oder er redet in Träumen. Gesundheitspolitik wird damit zur Nahtstelle, an der die gesamte Republik aufzuplatzen droht.

Selbstverständlich haben auch unter der Geltung des Grundgesetzes die Wahrung von Freiheits- und Eigentumsrechten nicht ausschließliche Priorität. Die Bundesrepublik ist auch ein sozialer Staat, das heißt in Freiheitsrechte darf gesetzlich eingegriffen werden, um soziale Ziele zu verwirklichen. Indes stößt diese Einschränkungsmöglichkeit ihrerseits an Grenzen, wenn die Erreichung des sozialen Zieles schlicht unmöglich ist, absehbar verfehlt wird und nur unter Einführung von weiteren Paradoxa gelingt.

So ist beispielsweise nicht einzusehen, warum der Geschäftsführer einer GmbH mit einem Jahresarbeitsentgelt von bis zu EUR 45.900,– einerseits als so sozial schutzbedürftig angesehen wird, daß er zwangsweise staatlich krankenversichert sein muß, andererseits aber deswegen, weil er Geschäftsführer ist, als Arbeitgeber für die Abführung der Sozialversicherungsbeiträge aller anderen Arbeitnehmer seiner Firma persönlich mit seinem Privatvermögen haftet. Ist er nun also potentieller Patient, der selbst geschützt werden muß, oder ist er Arbeitgeber, vor dem andere geschützt werden müssen?

Zum Rechtsstaatsprinzip unseres Staates gehört nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, daß die Rechtsordnung widerspruchsfrei zu sein hat und der Normadressat nicht mit gegenläufigen Regeln konfrontiert wird. Wenn aber derjenige, der nach dem Gesetz höchstpersönlich für den Krankenversicherungsschutz seiner Mitarbeiter einzustehen hat, von demselben Gesetzgeber als zu schwach definiert wird, um seinen eigenen Krankenversicherungsschutz privat zu organisieren, dann handelt der Gesetzgeber widersprüchlich, rechtsstaatswidrig und also gegen die Verfassung.

Daß der soziale Zweck einer staatlichen Gesundheits-Sicherung in der praktizierten Weise nicht zu erreichen ist und also die Einschränkung von Freiheitsgrundrechten ungerechtfertigt ist, erweist sich nicht zuletzt aus folgender Erkenntnis: Dem bestehenden System gehörten bei seiner Gründung im Jahre 1883 nur rund 10% der deutschen Bevölkerung an. Es handelte sich um ersichtlich schutzbedürftige Menschen aus dem Niedrigstlohnsektor. Bis zum Jahr 2003 erweiterte sich der Kreis dieser Zwangsversicherten auf jetzt 90% der Bevölkerung.

Es ist nichts dafür ersichtlich, warum ein System, das mit einer 90%igen Beteiligung der Bevölkerung wirtschaftlich dauermorbid ist, es nicht auch mit einer 100%igen Beteiligung wäre. Es ist weiterhin nichts dafür ersichtlich, warum eine im Jahre 1883 zu 10% schutzwürdige Bevölkerung im Jahre 2003 zu 100% schutzbedürftig sein könnte, zumal nunmehr erkennbar ein weitaus höheres Bildungs-, Ausbildungs- und Informationsniveau dieser Bevölkerung besteht, als vor 120 Jahren.

Was also ist zu tun? Aus dem Dargelegten wird offenbar: Die prinzipielle Weigerung des bestehenden Systems, dem Patienten zu gestatten – aber auch zuzumuten – selbst Geld für Gesundheitsleistungen in die Hand nehmen zu müssen, zieht eine schier unabsehbare Reihe von Folgeschwierigkeiten nach sich. Nur wenn diese Wurzel aller Probleme beseitigt wird, kann eine nachhaltige Reparatur des verirrten Systems überhaupt gelingen.

Erst wenn sich das System besinnt, auf die Steuerungs-, Regelungs-, Kontroll- und Qualitätssicherungsfunktionen von Geld zurückzugreifen, erst dann ist die Bedingung der Möglichkeit einer Neujustierung geschaffen. Wie überall sonst im Wirtschaftsleben kann der mit Geld gesteuerte Marktmechanismus instrumentalisiert werden, um einer Ressourcenverschwendung am Ursprungsort – nämlich noch im Behandlungszimmer des Arztes – entgegenzuwirken, um mutwillige Manipulationen erkennbar zu machen und um erste Qualitätskontrollen durch die Patienten selbst zu ermöglichen.

Über die Gründe, warum dies nicht längst geschehen ist, muß nicht einmal mehr lange philosophiert werden. Die kollektive Verschwendungssucht der vergangenen Jahrzehnte, die erkennbar unzureichenden systemtheoretischen, verfassungsrechtlichen und historischen Kenntnisse der gestaltenden Personen, die erheblichen eigenen Interessen der an diesem eigenwilligen Verteilungsmechanismus Beteiligten und ihr fröhlicher Tanz um das goldene Sozialversicherungsverhältnis, all diese Faktoren mögen unberücksichtigt bleiben. Entscheidend ist, daß nunmehr endlich klar und offen die Verteilungsfrage gestellt und politisch beantwortet wird.

Die Versuche, über eine Ablösung des Zusammenhanges zwischen Leistungswert und Gegenleistungswert und durch anstelle dessen reine behördliche Zuteilungsmaßnahmen die simple Wahrheit zu kaschieren, daß nichts von nichts kommt, sind beendet. Das Experiment des abgeschafften Geldes ist juristisch, ökonomisch, historisch und systematisch beendet, aber noch fehlt der klärende gesundheitspolitische Mauerfall. Die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung beginnt zu erkennen, daß sie ihr eigenes Leben selbst besser und effektiver regeln kann, als mit Hilfe einer staatlichen Behörde und deren nach verordneten Bedarfskriterien zuteilenden Beamten. Wer die Bedeutung finanzieller Eigenverantwortung noch nicht kennt oder an ihrem Wert nicht glaubt, der mag auf einem Betriebsausflug seine Kollegen zu einem Essen einladen. Er wird sich wundern, wie dann selbst der sonst Sparsamste unverdrossen die besten Speisen und das teuerste Getränk bestellt.

Mit der Wiedereinführung des Geldes als Steuerungsmittel auch in das Gesundheitssystem ist insbesondere – entgegen der beliebten, gleichwohl aber insgesamt unzutreffenden Polemik interessierter Kreise – keine Aufkündigung des sogenannten Solidarprinzips oder der so bezeichneten solidarischen Finanzierung verbunden. Jede private Versicherung ist eine Solidargemeinschaft. Solidarische Finanzierung bedeutet aber nicht, daß ohne jeden sachlichen Grund die Beiträge für ein Risiko ausgerechnet an der individuellen Einkommenssituation des Versicherten anknüpfen müssen.

Dabei muß insbesondere das Gesundheitssystem nicht zwingend staatlich organisiert sein. Wer wegen der unstreitig existentiellen Bedeutung der Gesundheit das Gegenteil behauptet, verkennt einen elementaren Umstand: Auch Essen und Trinken sind für Menschen existentielle Daseinsvoraussetzungen. Gleichwohl sind die Verteilung von Speisen und Getränken in Deutschland nicht staatlich organisiert und Hungersnöte blieben aus.

Schleichend hat sich über Jahrzehnte die Rede von Deutschland als von einem „Sozialstaat“ durchgesetzt. Schleichend haben sich aus dieser Rede die absurdesten Konsequenzen hergeleitet. Kaum jemand beachtet jedoch, daß unser Grundgesetz einen „Sozialstaat“ überhaupt nicht kennt. Die Verfassung will wörtlich einen „sozialen Staat“. Das aber ist markant etwas anderes, als ein Sozialstaat.

Eine Gesellschaft, die sich zunehmend individualisiert, ein Staat, der dies toleriert und multikulturelle Entwicklungen fördert, ein Gemeinwesen, das weltanschauliche Neutralität und Toleranz als Wert erkennt – warum muß in diesem Umfeld ausgerechnet das Gesundheitswesen uniformiert und gleichgeschaltet sein? Warum kann nicht hier – wie andernorts – eine effektive und kostengünstige, durch Marktmechanismen preiskontrollierte, private Risikoabsicherung geschehen? Woher rührt der – durch keinerlei Fakten untermauerte und im Gegenteil durch das Marodieren ausnahmslos aller Säulen des staatlichen Sozialsystems ebenso unverständliche wie dennoch vielfache unerschütterte – Glaube an eine allumfassende Problemlösung ausgerechnet durch staatliche Behörden?

Nur eine radikale Umkehr von dem gegenwärtigen Kurs, nur ein konsequentes Abstandnehmen von jedem Gedanken an seine Fortführung, Ausweitung oder Intensivierung und nur eine unbeirrte Privatisierung können verhindern, daß die nachfolgende Generation zusammen mit dem Gesundheitssystem gleich auch den gesamten Gesellschaftsvertrag kündigt. Diejenigen, die einen marktgerechten Versicherungsbeitrag an ein privates Versicherungsunternehmen nicht aus eigener Kraft bezahlen können, verdienen Schutz und Hilfe. Sie haben Anspruch auf eine allgemein getragene – und also steuerfinanzierte – Subventionierung, soweit die Erhaltung ihrer Gesundheit ihre wirtschaftliche Kraft übersteigt. Dies ist eine bare Selbstverständlichkeit in dem sozialen Staat unseres Grundgesetzes. Ansprüche auf Aufrechterhaltung besonderer, geldloser Wirtschaftsbiotope vom Zuschnitt des gegenwärtigen Staatsgesundheits-Systems hat aber schlichtweg niemand.

Am Ende seines Lebens – tragischerweise für das Volk mit Stalin nicht darüber hinaus – hatte Lenin die Bedeutung des Geldes als eines sozialen Steuerungsmittels verstanden und ihm in der Neuen Ökonomischen Politik seinen Platz wieder eingeräumt. Die Wirtschaft erholte sich rasch. So kann es auch mit dem deutschen Gesundheitssystem gelingen.

Wissen ist Schmerz – Eine kleine Sonate in EU-moll

Über die Richtlinie 2004/27/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 31. März 2004 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodex für Humanarzneimittel

Wer Verbraucher über die Existenz und Wirkung von Arzneimitteln informieren möchte, der wird hieran nach europäischem Recht weitgehend gehindert. Der Duisburger Rechtsanwalt Carlos A. Gebauer nähert sich diesem für Kranke so unerfreulichen Thema in Gestalt einer anderen europäischen Tradition: In der von keiner staatlichen Macht geschaffenen, klassischer Sonatenhauptssatzform.

Einleitung

Das Lied vom Schmerz klingt in drei Stimmen. Die erste Stimme singt ein Mann, der Schmerzen hat. Er singt sie, in der Regel, eher laut. Vor allem dann, wenn jahrelange Therapie sein Leiden nicht beendet hat. Die zweite Stimme singt sein Arzt, der ihm wohl helfen will, doch ihm nicht helfen kann, weil er die Medizin nicht kennt, die hier benötigt wird. Die dritte Stimme schließlich hat nur Pause. Weil sie dem Mann gehört, der Hilfe weiß und Mittel kennt, doch der davon nicht singen darf. Ganz selten nur und ausnahmsweise, äußerst leise, entschlüpft auch ihm ein kleiner Ton. Doch den hört praktisch keiner. Und all das klingt in EU-moll.

Worum geht es?

Der erste Sonatensatz: Exposition

Mit Richtlinie vom 6. November 2001 hatten das Europäische Parlament und der Rat angeordnet: Für verschreibungspflichtige Medikamente darf in Europa nicht geworben werden!

Gleiches galt für nichtverschreibungspflichtige Medikamente, sofern diese „erstattungsfähig“ sind, also von einer Krankenversicherungsbehörde bezahlt werden müssen. Auch die kostenfreie Abgabe von Medizin zum Zwecke der Verkaufsförderung wurde untersagt. Allenfalls behördlich genehmigte Impfkampagnen blieben von dem Verbot ausgenommen.

Wer Gesetze zu lesen versteht, der fragt angesichts solcher Regelungen natürlich sofort: Warum soll über existierende Medizin nicht offen und öffentlich geredet werden dürfen? Welche Ziele werden mit derartigen Kommunikationshemmnissen verfolgt?

Nahe liegt, zu vermuten, dass natürlich bestimmte Interessen geschützt werden sollen. Zum Beispiel das Interesse der Patienten, nicht in unerträglichem Profitinteresse eines Pharma-Herstellers mit unhaltbaren medizinischen Glücksversprechungen zum sinnlosen Kauf gefährlicher Medizin bewogen zu werden.

Gesetzt etwa den Fall, Chemikern der Firma Merck gelänge, mit einem wasserlöslichen Pulver dergestalt auf Netzhaut und Trommelfell einzuwirken, dass bestimmte politische Äußerungen völlig aus der individuellen Wahrnehmung ausgeblendet würden; wer würde ein solches Pulver nicht unverzüglich erwerben wollen? Ohne jede Rücksicht auf alle Nebenwirkungen? Bekanntermaßen gehört es aber seit jeher zum Kerngehalt aller Politik, ihren Bürgern den Schutz von Körper und Gesundheit als eines ihrer dringendsten Anliegen zu vermitteln. Folglich werden wir auf die Erfindung dieses segensreichen Pulvers (und auf seine Vorstellung in TV-Spots) bis auf weiteres vergeblich warten müssen.

Denn das Europäische Parlament und der Rat haben – trotz vielerlei Kritik an den beschriebenen Regelungen – an ihren Kommunikationsverboten festgehalten. Am 31. März 2004 bestätigten sie ihren Kurs und erneuerten nochmals den einschlägigen Artikel 88 ihrer Richtlinie. Weiterhin dürfen Hersteller ihre potentiellen Kunden nicht über die Existenz von Medizin werbend informieren. Statt dessen wurde ein Artikel 88a in die Direktive eingefügt. Nun soll auf Basis eines Berichtes binnen dreier Jahre ein Weg zur „hochwertigen, objektiven, zuverlässigen und werbefreien Information über Arzneimittel und andere Behandlungsmethoden“ gefunden werden.

Werfen wir also – solange es noch nicht durch eine weitere Europäische Richtlinie verboten ist – einen anderen Blick auf diese Regelung. Wagen wir es, in guter alter europäischer Tradition die Perspektive zu wechseln. Versetzen wir uns in die Lage eines multimorbiden Schmerzpatienten, der seit drei Jahren leidend und bewegungsunfähig vor seinem heimischen Fernsehgerät sitzt und der Waschmittelwerbung lauscht. Er selbst verfügt nicht über einen Internet-Zugang und seine Ärzte haben infolge aufwendiger Berichtspflichten im Qualitätsmanagement bislang nicht die Zeit gefunden, das ihm helfende Medikament zu entdecken.

Erfreut dürfte dieser Patient (zwischen den Werbespots im Fernsehen) die Berichterstattung hören, dass nun die Hemmnisse beim Handel mit Arznei in Europa abgebaut und ein freier und sicherer Verkehr mit Medikamenten verwirklicht werden sollen1. Weniger erfreut wird er vielleicht sein, festzustellen, dass nur in Verkehr gebracht werden darf, was die Behörde für „angemessen“ hält2, und dass zunächst Stellen zur Marktüberwachung und zur Inspektion geschaffen werden müssen, um Sanktionen bei Verstößen effektiv durchsetzen zu können3. Denn für Kranke gilt bekanntlich: Zeit ist Schmerz. Nichtwissen auch.

Das Leiden des Generalinsuffizienten wird demnach noch etwas andauern, bis die angestrebten hochwertigen, objektiven, zuverlässigen und werbefreien Informationswege etabliert sind. Wir drücken inzwischen von hier aus alle europäischen Daumen, dass der Bericht nach Art. 88a im Laufe des Jahres 2007 schneller fertig sein wird, als der Sterbeprozeß unseres Beispielspatienten.

Doch für individuelle Einzelschicksale kann sich ein Staatsgebilde für mehrere hundert Millionen Menschen nun einmal nicht interessieren. Das wäre erkennbar zu aufwendig. Und es entspräche auch nicht dem Selbstverständnis der genannten Richtlinie. Denn deren Sinn und Zweck ist dezidiert, mit allen ihren Vorschriften „in erster Linie dem Schutz der öffentlichen Gesundheit“ zu dienen4.

Nun gehört diese „öffentliche Gesundheit“ nicht nur in der Europäischen Union, sondern ganz traditionell auch in ihren Mitgliedsstaaten zu einem elementaren rhetorischen Topos der Mehrheitsfindung. Wer könnte schon gegen „öffentliche Gesundheit“ als einem Wert an sich argumentieren? Erst ein zweiter, nachdenklicherer Blick auf diesen Begriff macht zaudern: War ich selbst eigentlich schon einmal öffentlich krank? Oder kenne ich irgendjemanden, dessen Gesundheit öffentlich beeinträchtigt war?

Derlei Gedanken führen unausweichlich zu folgender Erkenntnis: Wer sich unwohl fühlt, der leidet stets äußerst individuell, alleine und privat. Die Öffentlichkeit hat sich noch nie übergeben. Sie hat noch nie gehinkt. Und das öffentliche Blut wurde noch nie dialysiert. Denn öffentliches Blut gibt es genauso wenig, wie öffentliche Gesundheit.

Gesundheit ist demnach – ebenso wie Krankheit – immer privat und nie öffentlich. Wenn also zum Kerngehalt aller Politik gehört, Leben, Körper und Gesundheit ihrer Bürger schützen zu wollen und ernst zu nehmen, dann müssen auch diese hochindividuellen Lebensbereiche politischen und rechtlichen Respekt genießen. Oder ist irgendein legitimes überwiegendes, mich einschränkendes öffentliches Interesse denkbar, wenn ich meinen zusammengefallenen Lungenflügel wieder zu entfalten wünsche?

Mit welchem Recht wird mir verunmöglicht, alle auch nur irgend denkbaren Informationen und Kommunikations-Chancen zu nutzen, wieder individuell zu Atem zu kommen? Eine Europäische Richtlinie, die durch Gesetzesautorität meine Aussicht auf Luft in der Lunge schmälert, minimiert, ausschließt, kann niemals legitim sein! Öffentliche Gesundheit kann niemals private Krankheit rechtfertigen!

Folgerichtig kann es auch nicht legitim sein, Herstellern von Medizin einerseits und Patienten andererseits das offene Reden über Arznei und also über die Chancen von Heilung oder Linderung zu verbieten. Das Recht, wissen zu dürfen, setzt das Recht, reden zu dürfen voraus. Wer das Kommunizieren verbietet, der verbietet das Wissen. Aber es ist keine politische Legitimation dafür denkbar, einen Kranken vom Wissen über sein Leiden und dessen mögliche Beendigung fernzuhalten.

Immerhin handelt es sich bei den von der Richtlinie betroffenen Produkten nicht um pharmakologischen Hokuspokus. Denn solcher würde kaum zu einer „Verschreibungspflicht“ führen. Und auch die miterfassten nichtverschreibungspflichtigen Arzneien müssen einen therapeutischen Zweck erfüllen; sonst würden sie nicht von den Gesundheitsbehörden bezahlt werden.

Halten wir also fest: Der freie Westen, zu dem sich die Europäische Union zählt, respektiert nicht nur das Individuum mit seinen unveräußerlichen Rechten. Er hält insbesondere auch den Schutz des Lebens sowie die Meinungsfreiheit für zentrale Werte des menschlichen Zusammenlebens. Anders als Diktaturen der Vergangenheit, die das Weitergeben bestimmter Informationen verboten, die Meinungen unterdrückten, die Sprachen verboten und Namen änderten, herrschen hier bei uns Redefreiheit, Meinungsfreiheit und Kommunikationsfreiheit. Wo das demokratische Volk selbst souverän sein und herrschen soll, da muß es über die Bedingungen seines Lebens sprechen können. Ein jedes Vorenthalten von Informationen würde das Besserwissen des einen gegenüber dem Wenigerwissen eines anderen bedeuten. Für eine freie und gleiche Gesellschaft gibt es keine Legitimation für medizinische Bevormundung. Zu diesem individuellen Recht auf Wissen gehört notwendig auch das individuelle Recht auf Irrtum. Ein solcher Irrtum hat anerkanntermaßen sogar seine medizinische Rechtfertigung. Wer dies in Frage stellen wollte, der müsste konsequent auch die ärztliche Gabe eines Placebos verbieten.

Der zweite Sonatensatz: Durchführung

Wozu führt die heute gegebene rechtliche Lage mit ihren Werbe-, Rede- und Sprechverboten?

Sie führt nicht nur zu der Unmöglichkeit, über die verhältnismäßig immer wenigen Augen und Ohren der Ärzte hinaus auch die überwältigende Mehrheit der Millionen von Augen und Ohren potentiell betroffener Patienten zu erreichen. Sie bedeutet heute in erster Linie, dass Werbung praktisch nur für medizinischen Unsinn erlaubt ist. Wir verbieten also weltweit agierenden, hoch qualifizierten Pharma-Unternehmen, öffentlich-werbend über ihre Produkte zu berichten. Wir verbieten es ungeachtet einer argwöhnisch über diese Branche wachenden Weltpresse. Wir verbieten es, obwohl eine jede der Herstellerfirmen allzeit um ihren Ruf fürchten muß, wenn sie unzutreffende Informationen verbreitet. Wir verbieten es, obwohl das erkennbar qualifizierteste Personal für diese Hersteller arbeitet. Wir verbieten es, obwohl staatliche Behörden über die allgemeine Zulassung und anschließende Verschreibungspflicht der betroffenen Produkte wachen. Wir verbieten es, obwohl stets erst approbierte Ärzte die Verschreibung des Medikamentes vornehmen müssen. – Warum eigentlich verbieten wir, darüber zu reden?

Statt dessen erlauben wir (und das mit guten Gründen!) jedem ganz unbekannten Kräuter-Junkie aus der Provinz, der im Vollmond irgendein völlig unwirksames Element hinter dem Haus im Boden vergräbt, um es bei Neumond auszubuddeln und es anschließend seinen Gläubigen öffentlich als Geheimtip gegen Was-auch-immer anpreist, seinem Geschäft nachzugehen.

Sind wir nicht auch sonst (und namentlich in anderen Europäischen Richtlinien) peinlich genau darauf bedacht, Verbraucher über alles und jedes schriftlich gut lesbar aufzuklären und das Publikum über jedes noch so unwichtige Detail zu informieren? Woher rührt dieser offenkundige gesetzliche Wertungswiderspruch in der öffentlichen Kommunikation?

Mehr noch: Finden wir nicht an anderer Stelle der Europäischen Gesetzgebung das geradezu gegenläufige Phänomen: Indem der Gesetzgeber andernorts mit feinen Regelungsmechanismen verbietet, für Tabak und/oder gewisse alkoholische Getränke zu werben, bringt er zum Ausdruck, den jeweiligen Gegenstand der Untersagungen für gefährlich und beseitigungswürdig zu halten. Warum nur werden nach der hier interessierenden Richtlinie erlaubte, wirksame und anerkannte Medikamente mit Zigaretten und Zigarren gleichgestellt?

Wollte man wirklich die „öffentliche Gesundheit“ – verstanden als die größte mögliche Gesundheit aller an dieser Öffentlichkeit privat teilnehmenden Menschen – fördern, dann müsste die offene Kommunikation über jedes derart zugelassene medizinische Produkt konsequent frei gestattet sein. Statt dessen verlässt sich das Recht der Europäischen Richtlinie auf eine eigentümlich vergröberte Kommunikation. Ein jeder Patient darf nur dann teilhaben an den Segnungen einer Arznei, wenn die ihn behandelnden Ärzte geradezu umständehalber rechtzeitig von der Existenz dieser Medizin wissen. An die Stelle eines offenen Dialoges zwischen Herstellern und Patienten treten behördliche Gremien, die über eine Zulassung des Produktes (und seine Verschreibungspflicht) entscheiden und Ärzte, die – hoffentlich – um seine Wirkung wissen. Indes gehört auch zu aller Kommunikation zwischen Menschen durch das Nadelöhr einer Verwaltungsstruktur die elementare Leuchtturm-Erkenntnis: Je weiter der Weg der Botschaft, desto geringer der verlässliche Informationsgehalt. Wird dies aber der Bedeutung von Gesundheit in Europa gerecht?

Wenige Themen erschüttern das menschliche Bewusstsein so, wie das der Gesundheit. Und aus genau diesem Grunde erscheint eine jede Befassung mit dem Thema so besonders prädestiniert für politische Einflussnahmen: Wer die Ängste um ihre Gesundheit zu verstehen und zu beruhigen vermag, der kann Macht ausüben über die Menschen seines Landes. Kann aber beruhigen, wenn eine Europäische Richtlinie uns Bürgern verbietet, mit Herstellern von Medikamenten unmittelbar in einen Dialog zu treten? Oder droht hier Gefahr für unsere Gesundheit?

Der dritte Sonatensatz: Reprise

Kritiker haben bemerkt, der Sinn des Werbeverbotes könne zuletzt nur darin entdeckt werden, dass die Budgets der zur Zahlung verpflichteten Gesundheitsbehörden vor einer belastenden Steigerung der Arznei-Nachfrage eines informierten Publikums geschützt werden sollen.

In neuer Gestalt erscheint uns also hier wieder derselbe Irrglaube, mit dem beispielsweise der deutsche Gesetzgeber seit langem meint, Preise zum Wohle der Patienten-Öffentlichkeit kontrollieren zu müssen. Wir erinnern uns: Apothekenpreise müssen nach dieser Doktrin Festpreise sein, damit niemand im Epidemie-Falle die Preise anbietergünstig erhöhe. Daß mit diesem Dogma im gleichen Fall gerade auch jeder Anreiz für ortsferne Anbieter vereitelt wird, genau das benötigte und gewollte Medikament just schnell dorthin zu transportieren, wo es gebraucht wird, haben die Gesetzesmacher auch nach Jahrzehnten der Praxis noch immer nicht verinnerlicht.

Augenscheinlich ist dies der Unterschied zwischen Menschen, die frei auf einem Markt agieren und einer Politik, die glaubt, sinnvolle und „sozialverträgliche“ medizinische Versorgungsstrukturen aus parlamentarisch-bürokratischer Ferne aufbauen zu können: Was freier Handel in Tagen als wünschenswert erkennt, kann eine Planwirtschaft auch in Jahrzehnten nicht lernen. Letztlich ist genau dies der Grund, aus dem ich – als bekennender Hypochonder – die Profit-Interessen eines jeden Pharma-Herstellers so sehr liebe. Wenn es mir schlecht geht, dann wünsche ich mir das exakt geeignete Medikament. Sofort! Hier!

Wie elend und hilflos wirken demgegenüber ein politischer Budget-Schutz und der Unsinn von Festpreisen oder Preiskontrollen. Wer könnte auch denken, dass er im Ernstfall hier einen „Schwarz“-Markt – wenn es um Menschenleben geht! – tatsächlich verhindern kann? Wo Goldgräberstimmung herrscht, da wird es immer Schaufeln und Siebe geben! Im Überfluß und zu bemerkenswert günstigen Preisen.

Doch statt diese Naturgesetze anzuerkennen und statt den aussichtslosen Kampf gegen die ökonomische Schwerkraft aufzugeben, werden immer neue Richtlinien ersonnen und andernorts anerkannte Standards auf dem Altar der sozialen Planwirtschaft geopfert. Während andernorts mit Verve und allem Nachdruck der Urheberschutz gestärkt und bewehrt wird, fördert der Gesetzgeber auf dem Gebiet der Medizin Generika und mithin nichts anderes als legalisierten Ideendiebstahl.

Der neue Art. 88a unserer Europäischen Richtlinie schickt sich sogar an, seinen objektiven Informator des Gesundheitspublikums gänzlich neuen Haftungsregelungen zu unterwerfen. Wie anders sollte es auch gehen, wenn man denjenigen, der sich auskennt und der für die Richtigkeit seiner werblichen Behauptungen – wie im wirklichen Leben – haften müsste, von der Informationsmöglichkeit ausschließt. Wieder also muß sich die soziale Planwirtschaft ein neues Rad erfinden, weil sie die bekannten und bewährten Methoden nicht akzeptieren mag. Ein Tor, der glaubt, man könne ein solches neues Recht binnen kurzem funktionsfähig schaffen.

In diesem Kontext kann kaum erstaunen, wenn nun auch noch gesundheitssystematische Hyper-Projekte wie das der allgemeinen elektronischen Gesundheitskarte auf den legislativen und technischen Weg gebracht werden. Wer Gesundheit nicht mehr als hochindividuelles Phänomen für einen unverwechselbaren einzelnen Menschen begreift, sondern nur noch als ein irgendwie budgetrelevantes Datum für öffentliche Versorgungsstrukturen, den müssen die Diktaturpotentiale derartiger Mega-Datenbänke auch nicht bekümmern. Wer aber umgekehrt aus dem Paradigmen-Wechsel von Gleichberechtigung zu Gleichstellung die ersten Keime einer neu heraufdrohenden Gleichschaltung entdeckt, der wird sich solchen Uniformisierungen aller europäischen Menschen zu einem einzigen Statistik-Körper entgegenzustellen haben. Bürger sind Individuen und keine Daten-Cluster, Menschenwürde und Personalität erfordern mehr als nur indirekte Kommunikationen zwischen Patienten und ihren Helfern.

Aus all diesen Gründen hat unser Kulturkreis seine deklarierten Menschenrechte stets als unveräußerlich angesehen. Doch ebenso unveräußerlich muß das Recht sein, über medizinische Chancen und Risiken sprechen zu dürfen. Die soziale Planwirtschaft der Europäischen Gemeinschaft beschreitet daher jedenfalls auf humanmedizinischem Gebiet kaum noch einen legitimen Weg. Sie wird sich statt dessen abkehren müssen von der nun lange genug praktizierten staatlichen Übung, menschliche Gesundheit zum Gegenstand politischer Entscheidungen unter der Geltung des demokratischen Mehrheitsprinzips zu machen. Die politische Vorstellung, alles und jedes politisieren zu können oder gar zu müssen, ist an den individuellen Körpern ihrer Bürger an eine definitive Grenze geraten. Das körperliche Wohlbefinden eines Menschen kann nicht beständig wechselnden Mehrheitsentscheidungen unterworfen werden.

Entfesseln wir also die Kreativität hunderter Millionen EU-Bürger auch auf medizinischem Gebiet! Lassen wir sie unmittelbar mit den Spezialisten für medizinische Produkte kommunizieren! Erlauben wir den Herstellern, in ihrer eigenen Verantwortung über die Ergebnisse ihrer Arbeit zu berichten! Und lassen wir sie sich der allgemeinen Kritik aussetzen, wenn ihre Anpreisungen von der Realität nicht erfüllt werden!

Oder sollte es etwa auch im Jahr 2007 noch irgendeinen Menschen in Europa geben, der die kommunikativen Erkenntnisgewinne einer nicht staatlich organisierten Internet- und Mobilkommunikation für geringer hält, als einen behördlich strukturierten Dialog? Falls ja: Warum sollten wir ihm noch Macht über unsere Gesundheit einräumen?

Coda

Wissen, heißt es, ist Macht. Nichtwissen – auch infolge von Kommunikationsverboten – ist folglich Ohnmacht. Aber über seinen Körper darf kein Mensch in Europa mehr politisch ohnmächtig sein. Dagegen stehen unsere Menschenrechte und unsere Verfassungswerte insgesamt.

Wer sich demgegenüber in seiner Politik bei der humanmedizinischen Mittelzuweisung von budgetären Knappheiten leiten lässt, der stellt sich außerhalb dieser Rechte- und Wertegemeinschaft. Er räumt allenfalls ein, mit seinem insuffizienten sozialen Planwirtschaften genau dort gelandet zu sein, wo er den Markt stets zu stehen verdächtigt: Bei der Hilflosigkeit der benachteiligten Menschen.

Mithin erweist sich hier, wie überall: Wo der Staat eingreift, geht es den Menschen zuletzt schlechter, als zuvor. Nur die freiwilligen und staatsfreien Standards haben Aussicht auf eine sinnvolle und dauerhafte Existenz. Genau wie die Sonatenhauptsatzform.

1vgl. Ziffer (2) vor Art. 1 der Richtlinie 2004/27/EG
2a.a.O. Ziffer (16) vor Art. 1
3a.a.O. Ziffer (19) und (20) vor Art. 1
4a.a.O. Ziffer (4) vor Art. 1

Einer werfe des anderen Stein?

von Carlos A. Gebauer

Unser Grundgesetz garantiert das Demonstrationsrecht. Die Demonstrationsfreiheit ist – genau wie die Meinungsfreiheit – eine der tragenden Säulen unseres Staates. Wie sollte ein Volk sich auch selbst regieren können, wenn ihm verboten wäre, seine Ansichten auszutauschen?

Fraglich ist aber, ob das bloße Meinen und Demonstrieren ausreicht, um ein Gemeinwesen zu organisieren. Denn so viele Parolen man auch ruft, so viele Plakate man schwenkt und so viele Leserbriefe man verfaßt: Ein Feld ist damit noch nicht geerntet, ein Brot nicht gebacken, ein Teller nicht gespült und die Wunde eines kranken Mannes nicht gepflegt.

Es wollte mir scheinen, als habe auch Stefan K. aus Gelsenkirchen in diese Richtung gedacht, als ich am 20. August 2004 seinen Leserbrief zu den aktuellen „Montagsdemonstrationen“ in der Westdeutschen Allgemeinen las: Wenn man heute etwas erreichen wolle, schrieb er, „muß man es selbst in die Hand nehmen“. Also, dachte ich, will er sich nicht länger auf andere verlassen, sondern höchstpersönlich anpacken, um seinen und den Wohlstand seines Volkes zu mehren. Weiter aber schrieb er: „Also, Leute, geht endlich auf die Straße und kämpft für Eure Interessen und Rechte“.

Gegen wen und was genau aber, fragte ich mich, will er „kämpfen“? An wen richtet sich sein Protest? Wie meint er, müßten die Dinge gestaltet sein? Genau an dieser Stelle geben bislang weder Stefan K., noch auch die Spruchbänder der Demonstranten eine tragfähige Antwort – von Ohrfeigen, Mittelfingern, Trillerpfeifen, Eiern oder gar Steinen ganz zu schweigen. Und exakt liegt eine Grundschwierigkeit des Protestes in Massengesellschaften: Kein Plakat ist groß und keine Megaphon-Durchsage lang genug, um den vorhandenen, abertausenden, ineinander verhedderten Regeln ein schlüssiges Alternativmodell entgegenhalten zu können.

Je regulierter eine Welt wird, desto weniger Menschen verstehen sie. Und je weniger die Menschen sie verstehen, desto weniger sind sie bereit, in ihr zu leben. Wer die Loyalität von Bürgern will, der muß ihnen Regeln geben, die ihnen nachvollziehbar sind. Was immer die Sorgen und Ängste der einzelnen Demonstranten seien, eines eint ihren Protest jedenfalls: Das Gefühl, ohnmächtig einer Verwaltungsmaschinerie ausgeliefert zu sein, deren Funktionsweise nicht mehr nachvollziehbar ist. Ihr gemeinsames Kopfschütteln ist die Wurzel ihrer demonstrierenden Solidarität. Welcher „normale“ Mensch weiß noch, was er wann und wie für wen tun darf, ohne gegen irgendwelche Vorschriften zu verstoßen, wenn nicht einmal „Experten“ sicher sind? Wer weiß, an wen er sich verläßlich und vertrauensvoll wenden kann, wenn er existentielle Probleme hat?

In der Verworrenheit dieser Verhältnisse und der Undurchschaubarkeit ihrer Regeln liegt jedoch auch die Kernbotschaft für Stefan K. und die seinen: Jeder, der für sich ein Recht fordert, der fordert ganz zwangsläufig für einen anderen eine entsprechende Pflicht. Paradoxerweise also demonstrieren die Stefan K.s damit auch maßgeblich gegen sich selbst. Denn je mehr Rechte wir schaffen, desto mehr Pflichten entstehen. Und Menschen, die all dies verwalten. Genau das aber war der Ursprung unserer heutigen, bedrückenden Unübersichtlichkeit.

Deswegen sollten wir schlicht für Regeln demonstrieren, die Menschenmaß haben. Denn es wird der mächtigsten Sozialverwaltungsbehörde nie gelingen, mein Leben so gut zu ordnen, wie ich es mit meinen Händen und denen meines Nachbarn kann. Man muß uns nur lassen.

Mindestlohn für Manager

von Carlos A. Gebauer

Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Peer Steinbrück ist möglicherweise ein kluger Mann. Kürzlich ließ er verlauten, er wolle nun eine neue Experten-Kommission einberufen. Diese solle einen „Ethik-Kodex“ vorbereiten, der sich – neben anderen wichtigen Themen – zu den Gehältern für Manager verhalte.

Der Feld-, Wald- und Wiesen-Konsument alltäglicher Agenturmeldungen wird diese Mitteilung – ebenso wie ihr Bahn-, Bus- und Schreibtisch-Konsument – wahrscheinlich gelesen und durch die sinnreichen Raster seines Ultrakurzzeitgedächtnisses sofort in den Papierkorb verschoben haben. Aus Gründen, die mir unklar sind, blieb mein Blick aber auf auf dieser Nachricht kleben. Ein Gefühl sagte mir: Irgendetwas war hier besonders. Ich hielt inne und besann mich.

„Ethik“ klingt gut und „Kodex“ wirkt auch nicht gefährlich. Grobe Vorstellungen davon, was ein Ethik-Kodex sein könnte, stellten sich zügig ein. Angestrebt war offenbar eine Art Benimm-Regelung. Trotzdem blieb eine Art Hilflosigkeit. Ich beschloß, die Sache systematisch anzugehen. Ein in Fragen der Philosophie und des Rechtes beschlagener Freund half.

Wir taten zunächst für einen Augenblick so, als verstünden wir „Ethik-Kodex“ so wenig wie beispielsweise „Tetropotassiumpyrophosphatsodiumbenzoat“. Wir zerlegten den Begriff also zur Aufklärung in seine Teile und stellten fest: Ethik ist die Wissenschaft vom guten Handeln und ein Kodex ist ein in sich abgeschlossenes Regelwerk. Plötzlich lichtete sich der Nebel unseres zögernden Unverständnisses und wir fragten: Was legitimiert eigentlich den Ministerpräsidenten eines Bundeslandes, Philosophen zu versammeln, um Leitlinien für eine moralisch wertvolle Manager-Vergütung zu finden? Uns war klar: Nichts!

Nach dem Verfassungsrecht kommt Ministerpräsidenten die Aufgabe zu, an Staatsgewalten teilzuhaben. Staatsgewalt verwirklicht sich in Gesetzen, Verordnungen, Verwaltungsakten und Gerichtsentscheidungen. Nirgendwo aber wird ein Ministerpräsident aufgerufen, durch Expertenkommissionen Maßstäbe für menschliches Handeln außerhalb dieser Staatsgewalt setzen zu lassen. Die Einsetzung einer solchen Kommission ist daher nichts anderes, als etwa die Einberufung einer Konferenz internationaler Schneider zur Neuregelung von Üblichkeiten zum Krawattenbinden oder die Einholung eines Gutachtens über aktuelle Haarschnitt-Konventionen. Der Ministerpräsident ist hier nirgendwo berufen, zu handeln.

Es bleibt die Frage, was ihn dennoch antreibt. Möglicherweise hat sich die Erkenntnis Bahn gebrochen, daß es Dinge gibt zwischen Himmel und Erde, die der Regelungs- und Bestimmungsmacht von Staat und Politikern nicht zugänglich sind. Möglicherweise hat der Ministerpräsident erkannt, daß man die höchstindividuelle Zahlungsbereitschaft von Menschen für bestimmte Leistungen mit Gesetzen ebensowenig erreicht, wie man beispielsweise Appetit auf Äpfel an jedem Dienstag dekretieren kann. Möglicherweise hat er gelernt, daß eine Spitzenvergütung mit Gesetzen genausowenig mit Erfolg nach oben limitiert werden kann, wie die Höhe eines Mindestlohnes nach unten. Möglicherweise verbreitet sich auch das Wissen, daß man die Leidenschaft eines Ausbilders ebensowenig herbeiverfügen kann, wie das Geld für eine Lehrlingsvergütung. Und möglicherweise will der Ministerpräsident in weiser gesetzgeberischer Zurückhaltung einfach nur das Vernünftige mit der Kraft einer überzeugenden Begründung, statt mit Staatsgewalt aussprechen. Dann wäre er möglicherweise ja tatsächlich ein kluger Mann.

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