Wie unsere Verfassung im Sozialrecht erodiert
Carlos A. Gebauer
Politiker haben es nicht leicht. Ihre Arbeit steht zunehmend in der Kritik. Doch sind manche Vorwürfe durchaus nicht gerecht. Denn immerhin muß man Parlamentariern zugestehen: Ihre Arbeit ist alles andere als einfach. Wer gleichzeitig so gewichtige Probleme wie den Hunger in der Welt, die Filmförderung, den Terror in Afghanistan, die Bundesgartenschau, die chemische Struktur der Erdatmosphäre, das Körperfett seiner Bürger und deren Zigarettenkonsum, die Informationsansprüche über den Inhalt von Tiernahrung, die Überwachung privater Kontenbewegungen, das ethisch vertretbare Abschießen von Passagierflugzeugen und die europarechtlich einwandfreie Gleichstellung behinderter Frauen mit männlichen Migranten im Blick haben muß, der ist als gewissenhafter Mensch ohne Zweifel voll gefordert. So sollte man also anerkennen, wenn Verantwortliche eigens ihre persönliche Berufsausbildung abgebrochen haben, um sich selbstlos der Bewältigung dieser Aufgaben zu stellen.
Nicht anzuerkennen ist allerdings, wenn diese Entscheider bei ihrem vielfältigen Tun eines aus dem Blick verlieren: Unser Grundgesetz. Immerhin hat es uns über alle weltanschauliche Grenzen hinweg über Jahrzehnte wertvolle Dienste geleistet. Wenn seine Regeln im alltäglichen politischen Reformgeschäft verletzt oder gar ignoriert werden, dann muß die bürgerliche Nachsicht mit ideologisch projektverliebten Politiken ihr Ende finden. Dann ist Kritik gegen die allfälligen buchungstechnischen Abrechnungsgemetzel gefragt. Substantiiert und lautstark.
Das deutsche Sozialversicherungsrecht kollidiert inzwischen mit einer solchen Vielzahl von Verfassungsprinzipien, dass aus juristischer Sicht nachhaltigster Protest indiziert ist. Der Protest ist aus wenigstens zwei Gründen überfällig. Zum einen beherrschen bislang Protagonisten die Debatte, die das bestehende System noch intensivieren wollen, statt es tatsächlich zu modifizieren. Zum anderen imponiert bei den Verfechtern dieser populistischen Reformvariante regelmäßig die völlige Abwesenheit jeder verfassungsrechtlichen Kompetenz. Für den juristischen Beobachter will scheinen, als sei der gesundheitspolitische mainstream von der Überzeugung geleitet, die Volksgesundheit lasse sich effektiv nur gegen die Verfassung, nicht aber mit den Regeln des Grundgesetzes absichern. Genau das aber ist – trotz der wenig bekannten Identitäten zwischen § 1 SGB I und der DDR-Verfassung von 1949 – gesundheitssystematisch absurd und rechtspolitisch gefährlich.
Ein durchaus kennzeichnendes Beispiel für die Kollision des Sozialrechtes mit unserer Verfassung liefert der Gemeinsame Bundesausschuss. Bei nüchterner juristischer Betrachtung kommt man kaum umhin, ihn als rechtsdogmatisches Monstrum zu bezeichnen. Warum ist das so?
Kenner wissen: Der Gemeinsame Bundesausschuss legt den Umfang medizinischer Leistungen innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung normativ verbindlich fest. Das bedeutet: Medizinische Maßnahmen dürfen nur dann zu Lasten des Versicherers durchgeführt werden, wenn der Ausschuss dies zuvor erlaubt hat. Der von diesen Maßnahmen persönlich betroffene Patient hat aber weder auf dessen Zusammensetzung, noch auf seine Entscheidungen irgendeinen Einfluß. Der zwangsversicherte Bürger muß die Vorentscheidung über seine Gesundheitsversorgung statt dessen praktisch wehrlos hinnehmen. Seine Einflussmöglichkeiten über Bundestags- oder Sozialwahlen auf dieses Gremium sind dermaßen homöopathisch verdünnt, dass sie faktisch irrelevant bleiben.
Der Ausschuss ist also demokratisch nicht legitimiert. Das aber ist mit der grundgesetzlichen Regel unvereinbar, dass alle Staatsgewalt vom Volke auszugehen habe. In der juristischen Fachliteratur erhebt sich daher bereits der Vorwurf, seine Machtfülle assoziiere absolutistische Strukturen.
Doch die Existenz eines solchen Ausschusses verletzt nicht nur unser Demokratieprinzip. Nach ihrem Selbstverständnis ist die Bundesrepublik Deutschland auch Rechtsstaat. Zum Rechtsstaatsprinzip gehört die Pflicht des Parlamentes, im Bereich bürgerlicher Grundrechte alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen. Was aber ist unter der Geltung dieser verfassungsrechtlichen Spielregel davon zu halten, wenn der Gesetzgeber in Sachen Gesundheit die Entscheidungshoheit auf einen Rat überträgt? Die Frage stellen heißt, sie mit einem schmetternden „Nichts!“ zu beantworten. Es sei denn, die juristische Differenzierungskunst wiese einen anderen Weg.
Tatsächlich hat das Bundessozialgericht systemstabilisierend ausgeführt, Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses dürften ebenso wie untergesetzliche Rechtsverordnungen gerichtlich geprüft und verworfen werden. Was nun ist damit gemeint?
Zunächst dies: Je komplizierter eine Gesellschaft arbeitsteilig organisiert ist, desto komplizierter – sagt man – müssen auch die Rechtsregeln sein, nach denen diese Gesellschaft handelt. Wenn aber ein Kernforscher, ein Investmentbanker, ein Byzantinist und ein Dermatologe am gemeinsamen Gartenzaun einander schon unmittelbar nichts mehr zu sagen haben, weil sie sich gegenseitig jenseits schmutziger Witze nicht verstehen, wie sollte dann ein Parlament aus Studienabbrechern von sozial-, theater- und literaturwissenschaftlichen Fakultäten sachgerechte Gesetzesregeln für alle formulieren?
Die Eltern des Grundgesetzes haben diese Probleme vorausgeahnt. Sie schufen daher für das Parlament die Möglichkeit, beispielsweise die Bundesregierung zu ermächtigen, das Nähere durch Verordnung zu regeln. Damit würde – so das Kalkül – der gesamte Sachverstand der Fachbeamtenschaften aus den Ministerien zur Schaffung kompetenten Rechtes herangezogen werden können. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht stets gemahnt, dass sich das Parlament nie seiner Verantwortung als gesetzgebender Körperschaft entäußern dürfe.
Das Bundessozialgericht will also analog jener Gedanken die Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses möglichst noch rechtsstaatlich retten. Im Ergebnis aber scheitert dieser Versuch. Denn ein Parlament müsste seinem „Beauftragten“ auch mit auf den Weg geben, welche Zwecke die Ermächtigung erfüllen, welches Programm verwirklicht werden und mit welchen Regelungen der Bürger rechnen können soll. Ist der Zweck des Gesundheitssystems vielleicht, dass alle Bürger gleich lang leben? Muss der Ausschuss also ein Programm verwirklichen, durch das den statistisch Längerlebenden Leistungen beschnitten werden, um die statistisch Frühersterbenden lebenserwartungsmathematisch an einen Einheitswert heranzuführen? Mit welchen Regelungen muß hierbei gerechnet werden? An alledem fehlt es bei der Aufgabenbeschreibung für den Gemeinsamen Bundesausschuss völlig. Im Gegenteil. Das Gesetz erteilt ihm sogar noch einen Freifahrtschein für weitere Aufgaben und subunternehmerische Ausgründungen. Mit dem Rechtstaatsprinzip ist all dies nicht zu vereinbaren.
Jüngere Formulierungen des Bundesverfassungsgerichtes lassen kaffeesatzlesend erahnen, dass der Ausschuss seinem näheren Ende entgegensieht. Alleine die Vorstellung, dass seine sämtlichen Entscheidungen der unmittelbaren gerichtlichen Kontrolle entzogen sind, stellt schließlich einen weiteren Verstoß gegen unser Verfassungsrecht dar. Denn mit staatlicher Justizgewährungspflicht ist nicht zu vereinbaren, wenn seine medizinischen Vor-Urteile wie nichtjustitiable Gnadenakte ausgestaltet sind. Der überfällige Tod dieses Gremiums stellt jedoch nicht nur das Sachleistungsprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung in Frage. Mit ihm stirbt auch die süße, aber tödliche Illusion von einer segensreichen Ausweitung des bestehenden Systems auf jedermann.
In der Öffentlichkeit wird nämlich eines bislang viel zu wenig diskutiert: Ein gesetzliches Zwangsversicherungssystem im Gesundheitsbereich, das sowohl über das Ob, als auch über das Wie der Versicherung befindet, führt (abgesehen von denen, die sich in einem bizarren Akt der Selbstgefährdung freiwillig dort versichern) unausweichlich zu einer körperlichen Enteignung eines jeden Einzelnen. Denn im gesetzlichen System bestimmen weder der Patient, noch sein Arzt über Art und Umfang der medizinischen Maßnahmen. Alle diesbezüglichen Entscheidungen werden vielmehr politisch und verwaltungstechnisch – derzeit vom Gemeinsamen Bundesausschuss – vorab getroffen.
Im Ergebnis führt dies zu Konstellationen, die sich schlechterdings nicht anders als grotesk bezeichnen lassen. Jeder Arzt kennt die Probleme, die sich aus einer unzureichenden Aufklärung des Patienten über die Risiken eines medizinischen Eingriffes ergeben können. Die Aufklärungspflicht hat nach der Rechtsprechung einen einfachen Grund: Es soll sichergestellt werden, dass keine Maßnahmen ergriffen werden, die nicht vollständig mit dem Patientenwillen übereinstimmen. Wörtlich formuliert das Bundesverfassungsgericht: „Art. 2 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes gewährleistet das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit als Freiheitsrecht, macht deshalb den ärztlichen Heilversuch vom Willen des Patienten abhängig.“ Wenn aber einerseits der autonome Wille des Patienten über seine Behandlung bestimmen soll, wie kann es dann andererseits mit jenem Grundrecht vereinbar sein, wenn fremdbestimmt behördlich über Therapie oder Nichttherapie entschieden wird?
Schließlich kann auch der üblicherweise zur Legitimation bemühte Schutz von Schwachen das gegebene System weder heute, noch gar in einer etwaigen Ausdehnung rechtfertigen. Denn zuletzt gehört auch das sogenannte Übermaßverbot zum Kernbestand des Rechtsstaates. Es besagt, dass der Staat all seine Ziele, mithin auch den Schutz Schwacher, mit dem je geringstmöglichen Eingriff in alle Grundrechte zu verfolgen hat. Die notwendige medizinische Versorgung der Schwächsten erfordert aber nicht die zwangsweise Versorgung auch der Stärksten mit Medizin zu Lasten der Allgemeinheit. Mehr Gesundheit für alle gibt es daher allenfalls mit dem, nie aber gegen das Grundgesetz. Wer das Gegenteil proklamiert oder die Erosionen des Verfassungsrechtes im Sozialrecht leugnet, der begibt sich auf einen rechtspolitisch riskanten Weg. Staatsbürger sind denkende Wesen, nicht nur gedachte. Wir schulden daher unserer Geschichte, den vielerorts lockenden Versuchungen der Kollektivismen entschieden entgegenzutreten.