Hubschrauber(in)

von Carlos A. Gebauer

In einer mir bekannten Stadt an einem Wald steht ein Krankenhaus. Das besitzt nicht nur medizinische Einrichtungen, sondern auch einen eigenen Hubschrauber-Landeplatz. In der Nähe des Landeplatzes verläuft ein öffentlicher Spazierweg. Und das ist gefährlich, meinten die Herren der Stadt. Denn die Bürgerinnen und Bürger könnten ja möglicherweise im Gefahrenbereich stehen bleiben, wenn über ihnen landend ein Hubschrauber naht. Also sahen sie sich aus Gründen der sogenannten Verkehrssicherungspflicht gehalten, das Publikum auf die Risiken hinzuweisen, die von einem Hubschrauber für Fußgänger ausgehen. So ließen sie eine Tafel errichten, auf der es sinngemäß heißt, man solle nicht „nähertreten“, wenn gerade ein Helikopter vom Himmel schwebt. Um zu zeigen, daß die Warnung nicht nur zum Spaß erfolgt und einen ernsten Hintergrund hat, ließen sie die Tafel unterschreiben mit der Zeile „Der Oberbürgermeister“.

Es begab sich aber zu der Zeit, daß die Stadt Kommunalwahlen abhielt. Da wurden alle Männer und Frauen, die im Stadtrat weise die Geschicke des Ortes leiten, neu aus der Mitte der Bürgerschaft bestimmt. Und weil heute nicht mehr nur Männer zu bestimmen haben, wie eine Stadt regiert wird, kam es, wie es kommen durfte: Die Stadt erkor sich eine Oberbürgermeisterin.

Konnte aber das Hubschrauber-Warnschild am Stadtwald nun noch in seiner ursprünglichen Form aufrecht erhalten werden? Was würde geschehen, wenn ein Passant das Schild in Kenntnis der Nichtexistenz eines Oberbürgermeisters nicht ernst nähme und – beispielsweise – mit bloßen Händen in die Rotoren des Fluggerätes griffe? Müßte nicht die fürsorgliche Stadtverwaltung für seine dann zerzausten Hände haften?

Also wurde ein neues Schild bestellt, gefertigt und errichtet, mit der Unterzeile „Die Oberbürgermeisterin“. Ein Teilaustausch nur der untersten Zeile war zu riskant. Vielleicht hätte dies die Lesbarkeit haftungsbegründend beeinträchtigt. Und außerdem: Ein wenig beeindruckend sollte das glänzende Schild schon sein. Immerhin reden wir quasi von einem hoheitlichen Akt.

Es bedarf hier der weiteren Schilderung nicht, daß nur wenige Jahre später erneut Wahlen abgehalten wurden in der Gemeinde. Und wie es die Regeln der statistischen Streubreiten vorgeben, wurde nun wieder ein Mann Oberbürgermeister, der für das sauer verdiente Geld seiner Bürger ein weiteres Schild in neuerlich maskuliner Variante beschaffen ließ. Denn die ursprüngliche Tafel war nach Jahren öffentlicher Verwahrung in den endlosen Weiten der gemeindlichen Lagerhallen natürlich nicht mehr auffindbar.

Lange dürfe es nicht dauern, bis der amtierende Oberbürgermeister an einem Sonntag spazierengehend erschaudert, daß die Formulierung des Schildes inzwischen falsch ist. Denn nun muß man selbstverständlich orthographisch korrekt warnen, daß niemand „näher treten“ soll. Vielleicht rege ich für das nächste Schild an, zugleich zu vermerken: „Berühren verboten“. Am besten gleich auch politisch korrekt in Blindenschrift.

morbus adac

von Carlos A. Gebauer

Viele Krankheiten werden als „morbus …“ bezeichnet. Die älteren Hypochonder unter uns werden sich auf ewig in großer Zärtlichkeit an die ZDF-Sendung „Gesundheitsmagazin Praxis“ erinnern. Ein Moderator namens Hans Mohl präsentierte jeweils eine bestimmte Erkrankung, wies auf Gefahren hin und belehrte über Therapiemöglichkeiten. Die Ärzte des Landes wußten nach einiger Zeit: Am je nächsten Tage nach der Sendung erschienen bei ihnen massenweise Patienten mit genau der von Herrn Mohl am Vorabend beschriebenen Verdachtsdiagnose. Kenner tauften das sich stets wandelnde Krankheitsbild bald vereinfachend auf den Namen: „morbus mohl“.

Die Besonderheit jenes „morbus mohl“ war, daß er nicht den individuellen Körper einzelner Menschen befiel. Statt dessen handelte es sich um ein Phänomen, das die geistig-seelische Befindlichkeit gleich ganzer Bevölkerungsgruppen betraf. Und als solches war der „morbus mohl“ geradezu eine Art massenpsychologische Erscheinung.

Derartige Sozialmorbi haben das Ende der Sendungen von Hans Mohl überlebt. Wir beobachten heute lediglich auch anderweitige Formen solch kollektiver Befindlichkeits-Dramen. Aus der Vielzahl möglicher Beispiele fasziniert besonders der äußerst verbreitete „morbus adac“.

Der „morbus adac“ ist benannt nach seiner wohl augenfälligsten Erscheinungsform. Am klarsten tritt er nämlich zutage im Straßenverkehr. Als Namensgeber fungiert der allseits bekannte Automobilclub ADAC. Worum geht es?

Jeder deutsche Autofahrer kennt die Situation: Mitten in der Nacht bei strömendem Regen steht eine einsame Person im Scheinwerferkegel ihres fahruntüchtigen Pkw und blickt unter einem zerzausten Regenschirm hilflos in den geöffneten Motorraum. Noch während unsere Augen dieses Bild im rechten unteren Rand des Gesichtsfeldes konturenschwach erkennen – also in einem Zeitraum von näherungsweise 600 Millisekunden – reagieren Gewissen und Gasfuß entscheidungsfroh einheitlich. Wir fahren weiter und denken: Gleich kommt sowieso der ADAC und hilft. Viel kompetenter, als ich es je könnte.

Ob der ADAC jemals tatsächlich kommt – wir erfahren es nie. Aber wir spüren die Gewißheit, daß dieses Schicksal unseres Mitmenschen doch jedenfalls irgendwie geregelt ist und seine Probleme gelöst werden. Von einem anderen. Und genau wie auf der nächtlichen Straße, so verläßt sich auch im totalnormierten Sozialstaat ein jeder immer darauf, daß alles von einem irgendwie Zuständigen zuletzt geregelt wird. Die Probleme des Verbrechensopfers von der Polizei. Die Leiden des Schwerverletzten von dem Notarzt. Die Nöte des Arbeitslosen von der Arbeitsverwaltung und die Ängste des Nachbarn von einem Therapeuten. Auf Kosten der Krankenkasse.

So hat der „morbus adac“ uns alle eines Tages befallen. Und je mehr andere alles zu regeln und zu erledigen versprechen, und je mehr „wir Geld in das System pumpen“, wie man es nennt, desto mehr halten wir uns für freigekauft von dem schlechten Gewissen, weitergefahren zu sein. Mehr noch: Jeden Gewissensbiß therapieren wir flugs mit immer wieder neu geschaffenen Zuständigkeiten. So trinkt das Sozialsystem täglich Salzwasser gegen seinen Durst. Bis es austrocknet. Denn wer Nächstenliebe institutionalisiert, der tötet sie.

Uhren sind Wolken sind Hoffnung

Carlos A. Gebauer

Anfang August passieren oft schlimme Dinge. Der Erste Weltkrieg brach aus, Enola Gay verlor little boy, Marilyn Monroe schied aus dem Leben. Und in diesem Jahr tauchte „Die Zeit“ die ganze bundesrepublikanische Landkarte auf ihrem Titelblatt in satte, triefende, blutrote Farbe: „Deutschland rückt nach links“.

Die zum Titel gelieferten Ergebnisse einer aktuellen Umfrage zeichnen in der Tat ein bemerkenswertes Bild. Satte Mehrheiten unseres Volkes wünschten demnach einen „Mindestlohn“, Bahn, Post und Gaswerke sollen lieber in Staatsunternehmen geführt werden und sogar die Machtpositionen der Gewerkschaften dürften demnach eher noch größer werden, als sich endlich gesund zu schrumpfen.

Was ist nur los in Deutschland? Thomas E. Schmidt liefert in derselben „Zeit“ eine beachtenswerte Analyse. Denn Schmidt beschreibt das Erfolgsrezept der nun für Gesamtdeutschland wiedererwachten SED. Der weggefegte Eiserne Vorhang hat dem homo bundesrepublikanus seine heimelige, nestwarme Illusion der ewigen Wohlstandsbehaglichkeit hinfortgespült. Die Rundumglücklichpakete der Vollkaskogesellschaft mit ihren risikolos planbaren Existenzen und Karrieren lassen sich nicht mehr schnüren. Dennoch – oder besser: gerade deswegen – wünschen die Sozialstaatsjunkies auf Entzug eine Politik, die den Affen wieder vertreibt. Den gewesenen Schröders & Fischers, die alternativlos den ersten leisen Systemumbau wagen mußten, unterstellen die Neuen Hohepriester des Gesamtpräkariats daher nun eine Reparatur ohne Not. Und also beschreiben sie den Weg der infantilen Sozialuntertanen zurück in den Mutterschoß als mögliche Option. Mit dieser regredierenden Abkapselungsverheißung back to the uterus fangen sie in einer ungemütlich empfundenen globalen Welt die Sympathien des Statistikdeutschen. Daß diese Präkambriumpolitik mit ihrer Voodoo-Ökonomik wirkliche Lösungen nicht bringt, sondern sich in metaphysischen Traumzeichnungen verliert, steht dem Erfolg ihrer Sirenenrufe nicht entgegen. Im Gegenteil. Auf den Punkt trifft Schmidt: „An diesen vorvernünftigen Sehnsüchten politisch anzusetzen ist wahrhaft raffiniert, denn sie beziehen ihre Energie ja aus ihrer Unerfüllbarkeit. Sie mit realen Globalisierungsängsten kurzzuschließen ist höhere politische Kunstfertigkeit“.

Ist es um Deutschland also wieder einmal geschehen? Nicht unbedingt. Denn Uhren sind Wolken sind Hoffnung. Oder, anders gesagt: Unser Land muß nicht in jedem Falle das Schicksal des brasilianischen Ausflugdampfers teilen, der seine Gäste zum sight-seeing an den Traumküsten des Landes von einer Sehenswürdigkeit zur anderen schiffte. Als der Kapitän unbedachtsam nah einen Nacktbadestrand passierte, hatten die Schicksalsgötter entschieden. Von evolutionsgenetischer Magie geführt, stürmten alle Bordgäste nach backbord, unbeeindruckt von den warnenden, um Einsicht bettelnden Lautsprecherdurchsagen der verzweifelten Crew. Schlagseite, Kentern und Ende des Ausfluges waren eins.

Was also haben Uhren und Wolken und Hoffnung mit der drohenden Seenot unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung gemein? Nun, zum einen nichts, zum anderen alles. Aber langsam. Betrachten wir zuerst noch den sozialwissenschaftlich tomographierten homo semi-erectus, wie er uns zwischen Berchtesgaden und Westerland, zwischen Görlitz und Nettetal begegnet. Eingezäunt im Stabilitätenquadrat wähnt er sich gewappnet gegen jedwede Krise. Die fiktionsgleiche Ferne und Abstraktheit seines Zentralbanksystems beispielsweise wiegt ihn, politisch kunstfertig, kinderbettgleich durch alle Krisen. Die „Rheinische Post“ brauchte demnach passgenau kundenorietiert der spontanen Werdung von € 95.000.000.000 Scheingeld am 10. August nur sechs Zeilen zu widmen – immerhin halb so viel wie einer Wohltätigkeitsrallye von mit Pommes-Frites-Fett betriebenen Autos. Mehr noch, der Leitartikler schwärmte: „Gestern sorgte erst einmal die europäische Notenbank für Beruhigung. Die gigantische Geldspritze von fast 100 Milliarden Euro schaffte sofort klare Verhältnisse, der Geldmarkt war wieder im Lot“. Interessant an dieser Aussage ist weniger ihr Gehalt, als vielmehr ihr Zeitpunkt. Denn zeitgleich mit dem Andruck der Zeitung wälzte der währungspolitische Ausflugsdampfer EZB gleich die nächsten € 61.000.000.000 fiat money in das monetäre Wolkenkuckucksheim. Ob es eine höhere Macht so eingerichtet hat, daß ein semi-erectus im Krisenfall gleich katastrophengünstig den Kopf eingezogen hat, um gegen herabstürzende Träume gefeit zu sein?

Warum sollte er sich auch gerade halten? Erstens hat er – wenn es die Politik nur endlich gegen die obwaltenden fiesen Widerstände durchprügelt! – mindestlohngeschützt sowieso mit Bankenkrisen nichts am Hut. Zweitens bringt ihn die Staatsbahn zu immer stabilen Preisen steuersubventioniert auch an seinen noch so abseits gewählten Wohnort im strukturschwachen aber grundstückspreisegünstigen Zonenrandgebiet. Drittens kann ihn eine Staatspost zur Not sicher auch als Paket zur Arbeit befördern, wenn die Lokführergewerkschaft politstimmungskonform alle Gleise leerstehen läßt. Und schalkenullviertens kann ein privater Gashändler die Russen kaum so nachdrücklich zum Liefern veranlassen, wie Angela M. Wo genügend politischer Wille aufgebracht wird, da gilt bekanntlich: Primat der Politik schlägt Primat der Faktizität, schlägt Primat der Logik, schlägt Primat der Humanität. Beistandspakte brauchen feste politische Willensbildungen, nicht nur 1914. Wenn es dem Bürger zuviel wird, kann er sich ja beruhigen. Wie weiland Marilyn, vielleicht sogar auf Rezept. Hiroshima war schließlich im wesentlichen auch nur aus Gründen der Experimentalphysik besonders für gewisse Sprengversuche geeignet, Anfang August 1945. Die wiederum hatten gute politische Gründe für sich. Nur Spinner, heißt es, seien zimperlich.

Aber noch bleibt uns dies: Uhren sind Wolken sind Hoffnung. Bekanntlich wurde das intellektuelle Präkariat unseres Kulturkreises nicht seit jeher nur von habilitierten Bildungskatastrophen in die Irre geleitet. Unter den Berühmten waren auch Weise und Kluge. Einer der Größten hörte auf den Namen Karl Popper. Und aus seiner Feder erwächst uns Hoffnung. Nicht nur die sprachphilosophische Erotik des inhaltslosen Begriffes vom „Linkssein“ konnte er messerscharf entzaubern. Vor allem gegen den metaphysischen Gesamtdeterminismus des sozialistischen Historizismus setzte Popper auf das unvorhersagbare Individuum mit seiner ganzen Einzigartigkeit und Kreativität. Ließen sich nämlich restlos sämtliche Ereignisse unserer Welt – nach Kenntnis aller Regeln – vorhersagen, dann wären, sagte er, auch Wolken letztlich nichts anderes als Uhren. Doch Wolken seien Paradebeispiele für physikalischen Indeterminismus. Mehr noch: Auch Uhren selbst sind umgekehrt nur Zusammenballungen von Elementarteilchen, die bei genauester Betrachtung gerade nicht letztverbindlich voraussagbar funktionieren. Daher sind Wolken keine Uhren, sondern Uhren sind Wolken. Daher läßt sich der Lauf unserer kleinen Bundesrepublik auch nicht sozialempirisch determinieren. Jeder Tag ist also eine neue Chance für jeden Menschen, dem parareligiösen Glauben an das linksstaatlich gesteuerte Gesamtglück entgegenzutreten. Wann also sammeln sich die kreativen Individualisten an Bord beim Steuer, um dem Kentern zu begegnen?

Konsul Seehofer, Pjöngjang

von Carlos A. Gebauer

Neulich nachts im Traum hörte ich eine Stimme. Sie sprach: Der Gesundheitsexperte der CSU, Horst Seehofer, fordert die Einführung einer Bürgerversicherung. Dann, noch immer halb schlafend, hörte ich weitere Stimmen, die über seine Vorschläge diskutierten.

Was mich aus dem Schlaf hochfahren ließ, waren nicht die Ideen Horst Seehofers selbst. Ihm traue ich nämlich inzwischen die Behauptung zu, niemand habe die Absicht, eine Mauer zu errichten. Beunruhigend war, daß seine Zuhörer ihn durchgängig als „Gesundheitsexperten“ bezeichneten. Wer aber, fragte ich mich, ist wirklich ein „Gesundheitsexperte“? Der ehemalige Verwaltungsangestellte des Landratsamtes Ingolstadt? Oder vielleicht – ein Arzt?

Aber auch dann, wenn man Herrn Seehofer richtigerweise als Politiker im Bereich des Gesundheitswesens bezeichnet, wird sein derzeitiges Eintreten für eine „Bürgerversicherung“ nicht weniger problematisch. Denn gerade als Verwaltungsexperte müßte er die seit Jahrzehnten tagtäglich erwiesene Unmöglichkeit erkannt haben, die Gesundheit eines Volkes effektiv behördlich mit Krankenkassen verwalten zu können. Selten ist dies klarer beschrieben worden, als in einem soeben veröffentlichten Urteil des Bundessozialgerichtes (Az.: B 3 KR 18/03 R). Hier lesen wir nun höchstrichterlich bestätigt folgendes:

Besteht zwischen einer Krankenkasse und einem Krankenhaus Streit darüber, ob der versicherte Patient tatsächlich stationärer Hilfe bedarf, muß die Kasse sofort umfänglich tätig werden. Sie muß (noch während der Patient vielleicht schmerzgebeugt auf Hilfe wartet) mit ihren Sozialversicherungsfachangestellten und ihrem Medizinischen Dienst im einzelnen konkret darlegen und nachweisen, warum, wo und wann genau eine ambulante Behandlung dieselbe Aussicht auf Heilungserfolg bietet. Ihre Auffassung muß sie dem Krankenhaus und ihrem Versicherten mitteilen. Der Patient hat hierzu ein gesetzlich verbrieftes Anhörungsrecht. Bleibt die Kasse bei ihrem Standpunkt, hat sie ihrem Versicherten einen förmlichen Ablehnungsbescheid zuzustellen. Mit Rechtsbehelfsbelehrung. Und mit der Möglichkeit, binnen eines Monats Widerspruch gegen diese Ablehnung einzulegen. Kommt es auch dann zu keiner Einigung, muß das Sozialgericht entscheiden. Klagefrist: Ein weiterer Monat. Sollte sich ein menschenfreundlicher Sozialrichter schließlich ein bürgernahes Herz fassen und unbürokratisch entscheiden, dann hat der Patient vielleicht schon keine Schmerzen mehr.

So und nicht anders stellt sich die Lage in der gesetzlichen Krankenversicherung aktuell dar. Und diese Situation möchte Herr Seehofer nicht beseitigen. Sondern er möchte sie unter dem Titel „Bürgerversicherung“ auf weitere Bevölkerungskreise – übrigens auch auf Sozialrichter – ausdehnen. Redet so ein „Experte“?

Mich regt all dies viel zu sehr auf. Vielleicht sollte ich mich wegen der nächtlichen Stimmen auch einmal selbst zeitnah in kompetente ärztliche Behandlung begeben. Oder endlich einmal in Ruhe die Bedienungsanleitung zur Zeitschaltung meines Radioweckers lesen, damit ich – wenn es soweit ist – nicht mitten in der Nacht, sondern erst morgens die ersehnte Nachricht höre: Horst Seehofer ist dem Beispiel des vormaligen Sozialexperten Rudolf Drechsler und der Anregung Konrad Adams gefolgt und hat das Amt eines Konsuls übernommen. In Pjöngjang/Nordkorea.

Mehr Gesundheit durch weniger Grundgesetz?

Wie unsere Verfassung im Sozialrecht erodiert

Carlos A. Gebauer

Politiker haben es nicht leicht. Ihre Arbeit steht zunehmend in der Kritik. Doch sind manche Vorwürfe durchaus nicht gerecht. Denn immerhin muß man Parlamentariern zugestehen: Ihre Arbeit ist alles andere als einfach. Wer gleichzeitig so gewichtige Probleme wie den Hunger in der Welt, die Filmförderung, den Terror in Afghanistan, die Bundesgartenschau, die chemische Struktur der Erdatmosphäre, das Körperfett seiner Bürger und deren Zigarettenkonsum, die Informationsansprüche über den Inhalt von Tiernahrung, die Überwachung privater Kontenbewegungen, das ethisch vertretbare Abschießen von Passagierflugzeugen und die europarechtlich einwandfreie Gleichstellung behinderter Frauen mit männlichen Migranten im Blick haben muß, der ist als gewissenhafter Mensch ohne Zweifel voll gefordert. So sollte man also anerkennen, wenn Verantwortliche eigens ihre persönliche Berufsausbildung abgebrochen haben, um sich selbstlos der Bewältigung dieser Aufgaben zu stellen.

Nicht anzuerkennen ist allerdings, wenn diese Entscheider bei ihrem vielfältigen Tun eines aus dem Blick verlieren: Unser Grundgesetz. Immerhin hat es uns über alle weltanschauliche Grenzen hinweg über Jahrzehnte wertvolle Dienste geleistet. Wenn seine Regeln im alltäglichen politischen Reformgeschäft verletzt oder gar ignoriert werden, dann muß die bürgerliche Nachsicht mit ideologisch projektverliebten Politiken ihr Ende finden. Dann ist Kritik gegen die allfälligen buchungstechnischen Abrechnungsgemetzel gefragt. Substantiiert und lautstark.

Das deutsche Sozialversicherungsrecht kollidiert inzwischen mit einer solchen Vielzahl von Verfassungsprinzipien, dass aus juristischer Sicht nachhaltigster Protest indiziert ist. Der Protest ist aus wenigstens zwei Gründen überfällig. Zum einen beherrschen bislang Protagonisten die Debatte, die das bestehende System noch intensivieren wollen, statt es tatsächlich zu modifizieren. Zum anderen imponiert bei den Verfechtern dieser populistischen Reformvariante regelmäßig die völlige Abwesenheit jeder verfassungsrechtlichen Kompetenz. Für den juristischen Beobachter will scheinen, als sei der gesundheitspolitische mainstream von der Überzeugung geleitet, die Volksgesundheit lasse sich effektiv nur gegen die Verfassung, nicht aber mit den Regeln des Grundgesetzes absichern. Genau das aber ist – trotz der wenig bekannten Identitäten zwischen § 1 SGB I und der DDR-Verfassung von 1949 – gesundheitssystematisch absurd und rechtspolitisch gefährlich.

Ein durchaus kennzeichnendes Beispiel für die Kollision des Sozialrechtes mit unserer Verfassung liefert der Gemeinsame Bundesausschuss. Bei nüchterner juristischer Betrachtung kommt man kaum umhin, ihn als rechtsdogmatisches Monstrum zu bezeichnen. Warum ist das so?

Kenner wissen: Der Gemeinsame Bundesausschuss legt den Umfang medizinischer Leistungen innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung normativ verbindlich fest. Das bedeutet: Medizinische Maßnahmen dürfen nur dann zu Lasten des Versicherers durchgeführt werden, wenn der Ausschuss dies zuvor erlaubt hat. Der von diesen Maßnahmen persönlich betroffene Patient hat aber weder auf dessen Zusammensetzung, noch auf seine Entscheidungen irgendeinen Einfluß. Der zwangsversicherte Bürger muß die Vorentscheidung über seine Gesundheitsversorgung statt dessen praktisch wehrlos hinnehmen. Seine Einflussmöglichkeiten über Bundestags- oder Sozialwahlen auf dieses Gremium sind dermaßen homöopathisch verdünnt, dass sie faktisch irrelevant bleiben.

Der Ausschuss ist also demokratisch nicht legitimiert. Das aber ist mit der grundgesetzlichen Regel unvereinbar, dass alle Staatsgewalt vom Volke auszugehen habe. In der juristischen Fachliteratur erhebt sich daher bereits der Vorwurf, seine Machtfülle assoziiere absolutistische Strukturen.

Doch die Existenz eines solchen Ausschusses verletzt nicht nur unser Demokratieprinzip. Nach ihrem Selbstverständnis ist die Bundesrepublik Deutschland auch Rechtsstaat. Zum Rechtsstaatsprinzip gehört die Pflicht des Parlamentes, im Bereich bürgerlicher Grundrechte alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen. Was aber ist unter der Geltung dieser verfassungsrechtlichen Spielregel davon zu halten, wenn der Gesetzgeber in Sachen Gesundheit die Entscheidungshoheit auf einen Rat überträgt? Die Frage stellen heißt, sie mit einem schmetternden „Nichts!“ zu beantworten. Es sei denn, die juristische Differenzierungskunst wiese einen anderen Weg.

Tatsächlich hat das Bundessozialgericht systemstabilisierend ausgeführt, Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses dürften ebenso wie untergesetzliche Rechtsverordnungen gerichtlich geprüft und verworfen werden. Was nun ist damit gemeint?

Zunächst dies: Je komplizierter eine Gesellschaft arbeitsteilig organisiert ist, desto komplizierter – sagt man – müssen auch die Rechtsregeln sein, nach denen diese Gesellschaft handelt. Wenn aber ein Kernforscher, ein Investmentbanker, ein Byzantinist und ein Dermatologe am gemeinsamen Gartenzaun einander schon unmittelbar nichts mehr zu sagen haben, weil sie sich gegenseitig jenseits schmutziger Witze nicht verstehen, wie sollte dann ein Parlament aus Studienabbrechern von sozial-, theater- und literaturwissenschaftlichen Fakultäten sachgerechte Gesetzesregeln für alle formulieren?

Die Eltern des Grundgesetzes haben diese Probleme vorausgeahnt. Sie schufen daher für das Parlament die Möglichkeit, beispielsweise die Bundesregierung zu ermächtigen, das Nähere durch Verordnung zu regeln. Damit würde – so das Kalkül – der gesamte Sachverstand der Fachbeamtenschaften aus den Ministerien zur Schaffung kompetenten Rechtes herangezogen werden können. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht stets gemahnt, dass sich das Parlament nie seiner Verantwortung als gesetzgebender Körperschaft entäußern dürfe.

Das Bundessozialgericht will also analog jener Gedanken die Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses möglichst noch rechtsstaatlich retten. Im Ergebnis aber scheitert dieser Versuch. Denn ein Parlament müsste seinem „Beauftragten“ auch mit auf den Weg geben, welche Zwecke die Ermächtigung erfüllen, welches Programm verwirklicht werden und mit welchen Regelungen der Bürger rechnen können soll. Ist der Zweck des Gesundheitssystems vielleicht, dass alle Bürger gleich lang leben? Muss der Ausschuss also ein Programm verwirklichen, durch das den statistisch Längerlebenden Leistungen beschnitten werden, um die statistisch Frühersterbenden lebenserwartungsmathematisch an einen Einheitswert heranzuführen? Mit welchen Regelungen muß hierbei gerechnet werden? An alledem fehlt es bei der Aufgabenbeschreibung für den Gemeinsamen Bundesausschuss völlig. Im Gegenteil. Das Gesetz erteilt ihm sogar noch einen Freifahrtschein für weitere Aufgaben und subunternehmerische Ausgründungen. Mit dem Rechtstaatsprinzip ist all dies nicht zu vereinbaren.

Jüngere Formulierungen des Bundesverfassungsgerichtes lassen kaffeesatzlesend erahnen, dass der Ausschuss seinem näheren Ende entgegensieht. Alleine die Vorstellung, dass seine sämtlichen Entscheidungen der unmittelbaren gerichtlichen Kontrolle entzogen sind, stellt schließlich einen weiteren Verstoß gegen unser Verfassungsrecht dar. Denn mit staatlicher Justizgewährungspflicht ist nicht zu vereinbaren, wenn seine medizinischen Vor-Urteile wie nichtjustitiable Gnadenakte ausgestaltet sind. Der überfällige Tod dieses Gremiums stellt jedoch nicht nur das Sachleistungsprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung in Frage. Mit ihm stirbt auch die süße, aber tödliche Illusion von einer segensreichen Ausweitung des bestehenden Systems auf jedermann.

In der Öffentlichkeit wird nämlich eines bislang viel zu wenig diskutiert: Ein gesetzliches Zwangsversicherungssystem im Gesundheitsbereich, das sowohl über das Ob, als auch über das Wie der Versicherung befindet, führt (abgesehen von denen, die sich in einem bizarren Akt der Selbstgefährdung freiwillig dort versichern) unausweichlich zu einer körperlichen Enteignung eines jeden Einzelnen. Denn im gesetzlichen System bestimmen weder der Patient, noch sein Arzt über Art und Umfang der medizinischen Maßnahmen. Alle diesbezüglichen Entscheidungen werden vielmehr politisch und verwaltungstechnisch – derzeit vom Gemeinsamen Bundesausschuss – vorab getroffen.

Im Ergebnis führt dies zu Konstellationen, die sich schlechterdings nicht anders als grotesk bezeichnen lassen. Jeder Arzt kennt die Probleme, die sich aus einer unzureichenden Aufklärung des Patienten über die Risiken eines medizinischen Eingriffes ergeben können. Die Aufklärungspflicht hat nach der Rechtsprechung einen einfachen Grund: Es soll sichergestellt werden, dass keine Maßnahmen ergriffen werden, die nicht vollständig mit dem Patientenwillen übereinstimmen. Wörtlich formuliert das Bundesverfassungsgericht: „Art. 2 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes gewährleistet das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit als Freiheitsrecht, macht deshalb den ärztlichen Heilversuch vom Willen des Patienten abhängig.“ Wenn aber einerseits der autonome Wille des Patienten über seine Behandlung bestimmen soll, wie kann es dann andererseits mit jenem Grundrecht vereinbar sein, wenn fremdbestimmt behördlich über Therapie oder Nichttherapie entschieden wird?

Schließlich kann auch der üblicherweise zur Legitimation bemühte Schutz von Schwachen das gegebene System weder heute, noch gar in einer etwaigen Ausdehnung rechtfertigen. Denn zuletzt gehört auch das sogenannte Übermaßverbot zum Kernbestand des Rechtsstaates. Es besagt, dass der Staat all seine Ziele, mithin auch den Schutz Schwacher, mit dem je geringstmöglichen Eingriff in alle Grundrechte zu verfolgen hat. Die notwendige medizinische Versorgung der Schwächsten erfordert aber nicht die zwangsweise Versorgung auch der Stärksten mit Medizin zu Lasten der Allgemeinheit. Mehr Gesundheit für alle gibt es daher allenfalls mit dem, nie aber gegen das Grundgesetz. Wer das Gegenteil proklamiert oder die Erosionen des Verfassungsrechtes im Sozialrecht leugnet, der begibt sich auf einen rechtspolitisch riskanten Weg. Staatsbürger sind denkende Wesen, nicht nur gedachte. Wir schulden daher unserer Geschichte, den vielerorts lockenden Versuchungen der Kollektivismen entschieden entgegenzutreten.

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