Sportboote in der Götterdämmerung

Carlos A. Gebauer

Sie bleibt – nach wie vor – eine meiner Lieblings-Verordnungen: Die Verordnung über das Inverkehrbringen von Sportbooten. Anläßlich ihres anstehenden neunten Geburtstages hat der Gesetzgeber ihre alte Fassung außer Kraft gesetzt und ihr eine Neuveröffentlichung gegönnt. Pünktlich zum französischen Nationalfeiertag am 14. Juli 2004 wurde sie als 10. Verordnung zum Geräte- und Produktsicherheitsgesetz ausgegeben. Und wieder ist sie: Ein Traum!

Wir erfahren nicht nur grundlegend, was ein „Sportboot“ ist. Nein, auch Wert und Wesen von Wassermotorrad und Antriebsmotor werden erklärt. Es bleiben praktisch keine definitorischen Wünsche offen. Eindringlich wird dem Leser vor Augen geführt, daß ein Boot stets dann „unvollständig“ ist, wenn wesentliche Teile, die zu seinem Betrieb notwendig sind, fehlen. Leider wird nicht klargestellt, daß es umgekehrt durchaus auch Dinge gibt, die explizit fehlen müssen, um den Betrieb des Bootes zu ermöglichen. Zu denken ist hier selbstverständlich an ein Loch im Rumpf. Doch es wird sicher noch hinreichend Gelegenheit bestehen, diese Gesetzeslücke zu schließen.

Indem die Verordnung zum französischen Nationalfeiertag veröffentlicht wurde, hat der Verordnungsgeber gleichermaßen dezent wie kraftvoll einen tiefen europäischen Charakter dieses Regelwerkes manifestiert. Und tatsächlich: Die Verordnung setzt eine Richtlinie des Europäischen Parlamentes und des Rates in nationales Recht um. Es wird also fürderhin in keinem dem Mitgliedsstaaten der Europäischen Union mehr Unsicherheiten darüber geben können, was ein nach dem Zweitakt- oder Viertaktprinzip arbeitender Innenbordmotor ist. Gerde dies ist bekanntlich besonders wichtig für die Eigner von Zweitakt-Fremdzündungsmotoren. Denn diese dürfen nur noch innerhalb einer Übergangsfrist bis zum 31. Dezember 2006 in den Verkehr gebracht werden.

Nun war und ist kein Geheimnis, daß interkulturelle Mißverständnisse in der Geschichte häufig zu zwischenstaatlichen Konflikten geführt haben. Der Gesetzgeber hat diese Gefahr gesehen. Er ist ihr begegnet. Wenn also in dem zusammenwachsenden Europa etwa ein venezianischer Gondoliere den immer kürzer werdenden Weg über die Alpen nach – beispielsweise – Bayreuth finden sollte, so muß er keine Repressalien fürchten: Die Verordnung gilt mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht für seine Gondel. Wichtig ist alleine, daß das, was er als seine Gondel ansieht, auch nach den Definitionen des Gesetzes eine „Gondel“ ist. Er könnte sogar mit einem Kanu oder einem Kajak anreisen. All diese Wasserfahrzeuge sind – ganz unbürokratisch – von der Verordnung ausgenommen.

Trotz aller Freunde über die Leichtigkeiten dieser Sportboot-Gesetzgebung sind allerdings auch klare Worte der Warnung und Mahnung geboten: Wer seiner aufblasbaren Badehilfe etwa eine Vorrichtung für die Beseglung beifügt, der hat vor dem Wassergang unbedingt die nötige CE-Kennzeichnung und eine Kennnummer der zugelassenen Stelle aufzubringen. Andernfalls verläßt er definitiv den Rahmen des Erlaubten. Wird anstelle der Beseglung ein Außenbordmotor montiert, müssen dessen Geräusch- und Abgasemissionen zugleich den Sicherheitsanforderungen der Richtlinie entsprechen.

Bei aller Begeisterung für derartige legislative Feinarbeit darf indes eines nie aus dem Blick geraten: Die Bestimmung der meisten dieser Wasserfahrzeuge ist einheitlich, es geht um „Sport- und Freizeit-Zwecke“. Ein bißchen Freude an Gesetzeslektüre in der Freizeit wird also vorausgesetzt. Wer die nicht entwickelt, dem geht eher der Spaß, als das eigene Boot baden. Und unser Godoliere in Bayreuth könnte auf den Gedanken kommen, anstelle einer Konformitätsprüfung mit seiner Godel lieber rasch die „Götterdämmerung“ auf dem Grünen Hügel zu hören. Denn das dauert nicht so lange.

Bundescannabisgericht

von Carlos A. Gebauer

Ein Bekannter meint, der Konsum von Marihuana dürfe niemals legalisiert werden. Denn eine Unzahl von Juristen verlöre die Möglichkeit zu den spannendsten Diskussionen. Seine Frau jedoch glaubt, diese Diskussionen hätten einen anderen Hintergrund. Sie ist überzeugt, Ursache für viele Grabenkämpfe im Betäubungsmittelrecht sei, daß es zwei Sorten von Richtern gäbe: Die einen rauchten Gras und die anderen wollten genau das bekämpfen. Ich persönlich halte für völlig ausgeschlossen, daß ein deutscher Richter persönlich jemals mit Betäubungsmitteln auch nur in Kontakt gekommen sein könnte. Dennoch muß ich gestehen, daß die Literatur zu diesem Lebensbereich gewisse Besonderheiten aufweist.

Kürzlich hatte sich das Bundesverfassungsgericht wieder mit Cannabis zu befassen. Genauer gesagt: Mit 3,6 Gramm Cannabis aus der Hosentasche eines 20jährigen. Was war geschehen? Polizisten hatten den Mann kontrolliert, den Stoff sichergestellt und Anzeige erstattet. Die Staatsanwaltschaft beabsichtigte, die Sache mit geringem Erledigungsaufwand abzuschließen und beantragte bei dem zuständigen Amtsgericht den Erlaß eines Strafbefehls. (Das ist die unaufgeregteste Variante, eine Straftat zu sanktionieren. Der Täter bekommt Post, verzichtet auf Einspruch, zahlt eine Geldstrafe und gut ist.) Aber die Staatsanwaltschaft hatte ihre Rechnung ohne das Amtsgericht gemacht. Dort war nämlich ein Richter zuständig, der Cannabis-Delikte augenscheinlich als nicht strafwürdige Lappalie ansieht. Er unterschrieb also den Strafbefehl nicht, sondern bestimmte Termin zur Hauptverhandlung.

In der Hauptverhandlung war der Angeklagte geständig und das Gericht regte eine Einstellung des Verfahrens wegen geringer Schuld an. Das wiederum gefiel nun der Staatsanwaltschaft nicht, die ihre Zustimmung hierzu verweigerte. In dieser strafprozessualen Situation, die Kartenspielern das Wort „unentschieden“ auf die Zunge zaubern könnte, zog das Amtsgericht gleichsam den außerordentlichen Joker der konkreten Normenkontrolle. Nach dem Grundgesetz nämlich kann ein Gericht in einer Art Zwischenstreit das Bundesverfassungsgericht fragen, ob eine bestimmte verfahrensentscheidende Gesetzesbestimmung verfassungswidrig ist. Genau so geschah es hier. Nachdem es rasch Gutachten des Bundesgesundheitsministeriums und die Stellungnahmen einiger internationaler Sachverständiger zu der Frage eingeholt hatte, wie die Wissenschaft derzeit über Cannabis denke, erließ das Amtsgericht einen sogenannten Vorlagebeschluß an das Bundesverfassungsgericht.

Nur knapp zweieinhalb Jahre später entschied das Bundesverfassungsgericht bereits, daß es sich mit der Sache inhaltlich nicht auseinanderzusetzen habe. Denn der Vorlagebeschluß war unzulässig, weil das Amtsgericht gewisse Formalien übersehen hatte. Im übrigen wies es darauf hin, daß das soziale Leben von den sozialschädlichen Wirkungen des Umganges mit Drogen freigehalten werden sollte. Überdies sei der Gesetzgeber frei, Cannabis und Alkohol unterschiedlich zu behandeln (2 BvL 8/02).

Nach Lektüre solcher Entscheidungen verrühre ich den Saft einer Limette, frische Minzblätter, braunen Zucker, Eiswürfel und Sprudelwasser in einem Glas, fülle es auf mit Rum und wiederhole den Vorgang so lange, bis ich nicht mehr lesen kann.

Verantwortung, die

Detailanalyse eines Wortes

von Carlos A. Gebauer

Von den vielen Worten, die unsere gesellschaftlichen Diskurse prägen und beherrschen, ist das von der „Verantwortung“ eines der meistverwendeten. Auch die jüngste Weltgeschichte erscheint geradezu als ein Iron-Man-Contest der allseitigen „Verantwortungen“. Viele Gemeinschaften wollen sich aus Verantwortungsbewusstsein füreinander konstituieren. Und manch einer, der für einen anderen „Verantwortung“ übernehmen möchte, tut diesem in Wahrheit nichts Gutes, sondern reduziert im Ergebnis nur dessen eigene Handlungsspielräume. All dies gibt genug Anlass, das Wort „Verantwortung“ einer semantischen Detailanalyse zu unterziehen.

Von den vielen Worten, die unsere gesellschaftlichen Diskurse prägen und beherrschen, ist das von der „Verantwortung“ eines der meistverwendeten. Auch die jüngste Weltgeschichte erscheint geradezu als ein Iron-Man-Contest der allseitigen „Verantwortungen“. Viele Gemeinschaften wollen sich aus Verantwortungsbewusstsein füreinander konstituieren. Und manch einer, der für einen anderen „Verantwortung“ übernehmen möchte, tut diesem in Wahrheit nichts Gutes, sondern reduziert im Ergebnis nur dessen eigene Handlungsspielräume. All dies gibt genug Anlass, das Wort „Verantwortung“ einer semantischen Detailanalyse zu unterziehen.

Als Medizinrechtler hat mich immer schon Paragraph 1 des Fünften Sozialgesetzbuches der Bundesrepublik Deutschland fasziniert. In diesem heißt es (in der aktuellen Formulierung): „Die Krankenversicherung als Solidargemeinschaft hat die Aufgabe, die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu bessern.“ Und dann sagt die Norm: „Die Versicherten sind für ihre Gesundheit mitverantwortlich.“ Mit dieser Formulierung des deutschen Sozialgesetzgebers wird eine jahrhundertelange Tradition der Organisation von Gesellschaften in Subsidiarität erkennbar auf den Kopf gestellt. In der katholischen Soziallehre ist seit jeher anerkannt: Die Gemeinschaft ist nur für das zuständig, was nicht zuvorderst der Einzelne für sich selbst erledigen kann. Dreht man dieses Prinzip von Regel und Ausnahme in sein Gegenteil um (wie dies das zitierte Sozialgesetzbuch tut), droht sehr schnell Chaos. Sinnbildhaft ist dies in jedem Flugzeug zu erkennen. Dort wird man vor dem Start darauf hingewiesen, bei Druckverlusten in der Kabine nach herabfallenden Sauerstoffmasken zu greifen und diese schnellstmöglich auf die eigene Nase und auf den eigenen Mund zu pressen: „Erst dann helfen Sie anderen Mitreisenden!“ Es bedarf wenig Phantasie, um zu erkennen, was es bedeuten würde, diese aus sich selbst heraus evident vernünftige Regel in ihr Gegenteil zu verkehren. In anderen gesellschaftlichen Kontexten, die komplexer daherkommen, versteht das nicht jeder.

In einer zunächst semantischen Betrachtung des Begriffes von der „Verantwortung“ fällt auf, dass wir das Wort in zwei Richtungen verwenden. Zum einen beschreibt „Verantwortung“ die Verpflichtung, dafür Sorge zu tragen, dass ein bestimmter Lebensbereich wohlorganisiert und funktionsfähig zu unserer Verfügung steht. In einer zweiten Dimension bezeichnet „Verantwortung“ den Fall, dass ein Verantwortlicher seinen Aufgaben nicht gewachsen war und Schaden entstanden ist. Ersetzt er den entstandenen Schaden, übernimmt er für ihn die Verantwortung.

Eine weitere Annäherung an das, was „Verantwortung“ ausmacht, wird erleichtert durch einen Blick auf die Etymologie des Wortes. Jedes „Ant-Worten“ in diesem Sinne ist erkennbar zunächst geprägt durch die Vorsilbe „Ant“ und erst dann durch das anschließende „Wort“. Die Antwort ist daher im Kern ein Widersprechen. Der Gefragte wird mit einer Herausforderung oder einem Problem konfrontiert und er hat sich in Gegenrichtung zur Vorhaltung für einen Zustand zu rechtfertigen. Auf einen entsprechenden Vorwurf gibt er also sein Gegenwort. Er rechtfertigt sich somit und er steht für etwas ein.

Die Sprachgemeinschaft derer, die Deutsch miteinander sprechen, hat sich an dieser Stelle für die Verwendung des Wortes „Wort“ entschieden. Wir finden den Gedanken auch noch in dem Satz „Ein Mann, ein Wort.“ In der englischen Sprache ist zwar noch das „an-“ erhalten geblieben, um die gegenläufige Richtung der Darstellung auszudrücken. Das „Wort“ ist jedoch zum Schwur erstarkt. Wer Englisch spricht, gibt nicht eine Antwort, sondern eine „answer“. Im „-swer“ steckt das Schwören für die Verbindlichkeit des Erklärten.

Aus diesem Kontext wird immer deutlicher, worum es bei der „Verantwortung“ geht. Die Vorsilbe „ver-“ deutet im Deutschen in vielen Kontexten darauf hin, dass etwas, was zunächst in der Welt war, beseitigt wurde oder von Beginn an weggeschafft ist. Ein Gegenstand ist verschwunden, verbraucht, verwischt, vertrieben, verzehrt oder verrückt, Flüssigkeiten verschwinden oder verdunsten, Geräusche verklingen, Essen wird vertilgt oder ein reicher Mann verarmt. Arme und reiche Menschen versterben.

Damit wird deutlich, dass die „Verantwortung“ eines Menschen für einen Zustand oder einen Ablauf in ihrem Kern eines bedeutet: Der Verantwortliche beseitigt von vornherein ein ohne sein Handeln bestehendes oder drohendes Problem. Oder er schafft es fort, wenn es bereits entstanden ist. Der Verantwortliche steht daher mit seinem Wort und mit seinen Taten dafür ein, dass eine bestimmte Schwierigkeit für andere gar nicht erst entsteht oder aber beseitigt wird. Der Verantwortliche macht etwas gut oder er macht es wieder gut.

Wer aus schmerzvoll Geschehenem daher Verantwortung für die Zukunft übernimmt, der hat etwas aus der Geschichte gelernt. Und besonders schwierig ist es im gesellschaftlichen Diskurs, wenn einer sich anmaßt, Verantwortung für „künftige Generationen“ zu übernehmen. Denn er wird sich die Frage gefallen lassen müssen: Woher will er wissen, welche Probleme künftigen Generationen entstehen werden und wie sie sich mit welchen Mitteln dieser Probleme entledigen sollen?

Das Subjekt des Verantwortens – derjenige, der Verantwortung übernimmt – kann auch bei genauer Betrachtung niemals eine Gruppe von Menschen sein. Es kann niemals „die Gesellschaft insgesamt“ oder „wir alle“ sein, die Verantwortung übernehmen. Denn jeweils nur ein Einzelner kann für sich entscheiden, anderen sein Wort dafür zu geben, für die Beseitigung einer Schwierigkeit einstehen zu wollen. Selbst wenn mehrere Menschen dies in einer Gemeinschaft tun, bleibt ihre jeweils individuelle Verantwortung dafür, mit anderen zweckdienlich gemeinschaftlich zusammenzuwirken.

Auch die Frage nach der Zielperson oder dem Zielobjekt der Verantwortung macht deutlich, worum es geht: Man kann Verantwortung dafür übernehmen, dass andere Menschen keine Schwierigkeiten bekommen oder ihnen Probleme aus dem Weg geräumt werden. Die Verantwortung für ein Objekt ist jedoch in der Regel immer nur mittelbar wieder die Verantwortung für denjenigen, der aus diesem Objekt einen eigenen Vorteil ziehen will. Eine zu Boden gefallene Ming-Vase wird dem unachtsamen Bewacher nie den Vorwurf machen können, sich verantworten zu müssen. Wohl aber kann der Eigentümer der Ming-Vase den Verantwortlichen zu dieser Erklärung und zu diesem Einstehenwollen bewegen. Der typische Fall der Verantwortungsübernahme für einen anderen ist der eines Erwachsenen für ein Kind. Die innere Rechtfertigung dieser Verantwortungsbeziehung folgt aus dem besseren Wissen des Erwachsenen und seinem besseren Können. Dort, wo es kein besseres Wissen und kein besseres Können gibt, ist Verantwortung für andere praktisch undenkbar: Unfähigkeit und Unkenntnis können nie Legitimationsgrundlage für die Bevormundung eines anderen sein.

Wer also kann für einen Zustand „verantwortlich“ gemacht werden? Wer ist fähig, diese Verantwortung zu übernehmen? In Paragraph 827 BGB erläutert das Gesetz: „Wer im Zustand der Bewusstlosigkeit oder in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit einem anderen Schaden zufügt, ist für den Schaden nicht verantwortlich.“ Und in der entsprechenden Vorschrift des Strafrechtes, Paragraph 20 StGB heißt es: „Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.“

Im Umkehrschluss aus diesen beiden gesetzlichen Vorschriften erweist sich: Verantwortung setzt voraus, dass der Verantwortliche sich seiner Verantwortung bewusst ist, dass er im freien Willen zur Verantwortung handelt, dass er eine ungestörte Geistestätigkeit hierzu zur Verfügung hat, dass er aus einem gewissen Seelenfrieden heraus handelt und vor allem, dass er mit der hinreichenden Intelligenz ausgestattet ist, sein Tun abschätzen zu können.

Ein verantwortliches Mitglied einer Gemeinschaft muss folglich sein Tun bewusst erleben, mit eigenem freien Willen seelisch ausgeglichen handeln und über einen wachen Geist sowie über das für sein Handeln nötige intellektuelle Rüstzeug verfügen. Der Verantwortliche muss sein Handwerk beherrschen. Er muss sein Handeln zielgerichtet in einen zutreffend erkannten Kontext der Welt einfügen können. Er muss jederzeit erläutern können, welches Ziel er genau anstrebt und mit welchen Zwischenzielen er das erreichen möchte. Und er muss sein Handeln so ausrichten, dass er es jederzeit beenden kann, sofern sich die Bedingungen seines Handlungsplanes ändern.

Ebenso wie sich der Gedanke der „Subsidiarität“ am besten mit der Sauerstoffmaske in einem Flugzeug erklären lässt, gibt es auch eine Möglichkeit, den Horizont des eigenen Handelns und seiner Konsequenzen mit einem sehr eindrücklichen Bild zu beschreiben. Das Bild stammt aus Paragraph 3 Absatz 1 Sätze 3 und 4 der deutschen Straßenverkehrsordnung. Dort lesen wir: „Es darf nur so schnell gefahren werden, dass innerhalb der übersehbaren Strecke gehalten werden kann. Auf Fahrbahnen, die so schmal sind, dass dort entgegenkommende Fahrzeuge gefährdet werden könnten, muss jedoch so langsam gefahren werden, dass mindestens innerhalb der Hälfte der übersehbaren Strecke gehalten werden kann.“ Ähnlich wie bei den Sauerstoffmasken im Flugzeug ist auch bei dieser Norm aus sich selbst heraus verständlich, worum es geht. Würde die Norm dem Verkehrsteilnehmer gestatten, auf engen Straßen so schnell zu fahren, dass nötigenfalls mehr als die Hälfe der übersehbaren Strecke benötigt wird, um anzuhalten, wäre sie keine Anleitung zu vernünftigem Verhalten. Der Verkehrsteilnehmer würde sich also auch nicht verantwortlich verhalten.

Der Bamberger Psychologe Dietrich Dörner hat in seinem legendären Buch „Die Logik des Misslingens“ am Beispiel des Unfalles von Tschernobyl eindrücklich beschrieben, wie man sich in einem Umfeld bewegen muss, dessen Bedingungen einem unbekannt sind oder die sich ständig unvorhersehbar ändern. Man muss – will man hier „verantwortlich“ handeln – die Folgen seines eigenen Handelns ununterbrochen nach Kräften revidierbar halten. In meiner Sprache möchte ich formulieren: tastendes Handeln nach Maßgabe tastenden Denkens. Auch diese Maximen sollten im Grunde selbstevident sein. In der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland ist immer wieder klar gemacht worden, dass einem Gesetzgeber in einer Krise eine gewisse Einschätzungsprärogative zusteht, um unbekannte Sachverhalte für sich verstehend zu ordnen. Diese Einschätzungsprärogative – in der Sache: ein Privileg – ist jedoch mit der Verpflichtung verbunden, nicht nur die Lage, sondern auch den Einfluss des eigenen Handelns auf deren Entwicklung permanent neu zu evaluieren. Wer nur blind in eine ihm unbekannte Realität hineinarbeitet, der kann für sich nicht reklamieren, verantwortlich und also rechtlich einwandfrei gehandelt zu haben. Ein Arzt, der mit verbundenen Augen operiert, handelt nicht verantwortlich.

Da sich alles gesellschaftliche Handeln der Menschen in zeitlichen Kontexten ereignet, kann nicht erstaunen, dass gewisse Fragen die Menschheit immer wieder neu beschäftigt haben. Es kann aber insbesondere auch nicht erstaunen, dass die Menschen zu allen Zeiten einander ähnliche Antworten auf diese Herausforderungen gegeben haben. Erfahrungsgemäß lieben Menschen – als anthropologische Konstante – Stabilität und Sicherheit ihrer Lebensverhältnisse, im besten Falle im Guten. Wenn es uns gefällt, wie sich die Lage darstellt, sagen wir mit Goethe: „Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön!“ Und mit den Worten von Nietzsche hören wir: „Alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit!“ Wo es uns gefällt, da möchten wir bleiben. Wo die Umstände gut geordnet sind, da wünschen wir uns, dass sie es bleiben.

Unruhe hingegen und Änderungen sind nicht gern gesehen. Der internationale Code der Krankheitsdiagnosen (ICD-10) beschreibt in seinen Ziffern R45 ff. Nervosität, nervöse Spannungszustände, Ruhelosigkeit und Erregung, Unglücklichsein, Sorgen, Demoralisierung und Apathie, Reizbarkeit und Wut, Feindseligkeit und körperliche Gewalt, emotionale Schocks und Stress bis hin zu Suizidalität und Suizidgedanken als Symptome, die das Erkennungs- und Wahrnehmungsvermögen des Menschen betreffen und seine Stimmung negativ beeinflussen. Um diesen seelisch negativ erlebten Dispositionen zu entgehen, neigen wir Menschen seit jeher dazu, unsere Verhältnisse zu stabilisieren. Menschen streben nach unkündbaren Arbeitsverhältnissen, sie heiraten, um einander nicht zu verlieren, und selbst Verfassungsgeber schreiben in ihre Gesetzestexte, dass bestimmte Regularien mit einer „Ewigkeitsklausel“ versehen seien. Schwierig daran allerdings ist: Die Erde dreht sich weiter, das Leben schreitet fort, und nichts bleibt, wie es ist. Giuseppe Tomasi di Lampedusa hat in seinem Roman „Der Leopard“ den legendären Satz festgehalten: „Alles muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist.“ Wollen wir Stabilitäten, dann müssen wir uns also anpassen, so paradox dies auf den ersten Blick erscheinen mag.

Denn überall dort, wo derartige Anpassungsleistungen nicht stattfinden und gelingen, wo also die innere Struktur einer Vergangenheit sich an die fortschreitenden Änderungen der Umgebung nicht anpasst, da entstehen tektonische Spannungszustände, Materialüberlastungen und schließlich Ermüdungsbrüche. Im Vorlesungsskript „Materialermüdung“ des Siegener Werkstofftechnikers Prof. Dr.-Ing. habil. H.-J. Christ heißt es auf Seite 28 (ausdrücklich eingeschränkt auf die Behandlung von Einzeleffekten bei überschaubaren Bedingungen): „Bei planarer Gleitung bleiben die Stufenversetzungen in ihren Gleitebenen. Die Schraubenversetzungen löschen sich gegenseitig aus, da sie querleitfähig sind. Man beobachtet parallele Versetzungen in der Gleitebene, die senkrecht zum Vektor ausgerichtet sind.“ Schon dies macht klar, über welche komplexen und perplexen Abläufe wir reden. Kommt es einmal zu einer Kompressions- und Luxationsfraktur, ist auch jedem Arzt klar: Die Heilung wird kompliziert. Die Welt besteht erkennbar nicht aus Einzeleffekten und überschaubaren Bedingungen, sondern die Umweltbedingungen sind stets verwogener, als es sich die munterste Phantasie eines Menschen im Vorhinein erdenken könnte.

Doch nicht nur Materialermüdung oder komplizierte Knochenbrüche führen zu erheblichen Schwierigkeiten. Auch gesellschaftliche Kontinuitätsdisruptionen führen in Turbulenzen. Aufgestaute Anpassungsdefizite eruptieren dort dann unkontrolliert, bisweilen zeitgleich mit Synergie- und anschließenden Ketteneffekten. Interventionsmaßnahmen von außen wirken dabei meist perplexitätssteigernd. Der ehemalige britische Premierminister James Callaghan notierte im Jahre 1978 in seine Kabinettprotokolle, als er die desolate wirtschaftliche Entwicklung des Vereinigten Königreiches betrachtete: „Wir können nur alle Knöpfe gleichzeitig drücken und hoffen, dass etwas Wünschenswertes dabei entsteht.“ Und mehr noch: „Wenn ich ein junger Mann wäre, würde ich auswandern.“

Kippt eine endende alte Ordnung in einen solchen chaotischen Zustand, dann verlieren alle Gesellschaftsmitglieder ihre vormals stabil gehaltene Gewissheit, sich noch in sicheren, planbaren und beherrschbaren Umgebungen zu bewegen. Die Verunsicherung der Beteiligten entwickelt sich zu individueller Nervosität, Ruhelosigkeit, Unglück, Demoralisierung, Reizbarkeit und Feindseligkeiten bis hin zu körperlicher Gewalt. Die mimetische Theorie von René Girard (1923 bis 2015) besagt, dass menschliche Gesellschaften nur überleben, wenn es ihnen gelingt, Gewaltexzessen innerhalb ihrer Reihen auf Dauer zu begegnen. Konfliktursache zwischen ihnen ist regelhaft ein Nachahmungsverhalten. Schlägt die Friedlichkeit miteinander einmal in Gewalt gegeneinander um, wirkt dieses Verhalten der anderen ansteckend und führt zuletzt über sich aufschaukelnde „Ärgernisse“ zu Gewalteskalationen. Zu diesem Zeitpunkt ist der ursprüngliche Grund des Konfliktes längst vergessen und spielt keine Rolle mehr. Die Gewaltexzesse werden nur noch durch das Imitieren des jeweils anderen in Gang gehalten. In der neutestamentarischen Tradition wird der Versuch unternommen, diese Gewalteskalation dadurch zu unterbrechen, dass der Geschlagene dem anderen friedlich auch noch die andere Wange darbiete. Selten aber gelingt eine solche Deeskalation.

Die Geschichte der Menschheit zeigt, dass hier durchaus ein anthropologisches Muster erkennbar ist, das analog an den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik erinnert. Kollektive Verunsicherung führt zu erhitzten Bewältigungsversuchen, die sich durch alle Epochen immer neu wiederholen. Verunsicherte Massen neigen dann dazu, sich aus ihrer Mitte geeignet erscheinende „Sündenböcke“ auszuwählen, an denen sich die Verzweiflung und Orientierungslosigkeit gewaltsam austobt. Die historische Disruption der Reformation führte so aus der Renaissance hinein in die Bartholomäusnacht und in den Dreißigjährigen Krieg, die Französische Revolution mündete in ihren Wohlfahrtsausschuss und seine metzgernden Guillotinen. Die Weimarer Republik ist retrospektiv bereits der Auftakt zu den nationalsozialistisch induzierten Massengräbern. Der große Sprung nach vorne in China leitete eine Hungerkatastrophe ein, und Pol Pots Revolution führte schnurgerade in die entsetzlichen Killing Fields. Egal, auf welchem Kontinent man sich bewegt, überall zeigt sich das gleiche Bild: Auch die Verunsicherungen aus der Dekolonialisierung Ruandas waren der Urgrund für die Massenmorde an Hutus und Tutsis.

Angesichts der multiplen Weltkrisen, in denen sich unser Planet derzeit befindet, haben wir allen Anlass, darüber nachzudenken, wie die Menschheit – und hier: ein jeder Mensch mit einem jeden anderen Menschen im Einzelnen – demnächst damit umgehen möchte, um sich selbst zu erhalten. Derzeit wird die Welt wesentlich angeleitet von Menschen, die sagen, es werde demnächst nichts mehr so sein, wie es früher war. Sie reden von einer „Neuen Normalität“, von einer „Zeitenwende“, von einem „Reset“, sie verfolgen unterschiedliche „Agenden“, sie träumen von einer „Transformation“ der Welt und einer „Industriellen Revolution 4.0“. Die ganze Lebenswirklichkeit der Menschen soll durch Digitalisierung geändert werden. Aus dieser Perspektive betrachtet, kann nicht erstaunen, dass inzwischen verunsicherte Menschen in großer Anzahl psychologische Hilfe in Anspruch nehmen. Was also tun angesichts der Existenz in einem Epochenbruch? Was tun, wenn es George Bernard Shaw und Sidney Webb gelungen ist, den legendären Erdball auf dem fabianischen Bleiglasfenster in der Realität tatsächlich zum Glühen zu bringen?

Ich schlage vor, für ein individuell verantwortliches Handeln auch in gesellschaftlich unsicheren Umfeldern sieben Leitlinien des Handelns in den Blick zu nehmen:

Erstens: Sorgen Sie zuerst dafür, dass Ihre eigenen notwendigsten Bedürfnisse erfüllt sind, damit Sie anderen mit deren altruistischer Bereitstellung für Sie keine Kraft abziehen.

Zweitens: Seien Sie anderen dienlich, indem Sie für diese all das tun, was Sie selbst überblicken und beherrschen.

Drittens: Handeln Sie nicht in Situationen, die Sie nicht verstanden haben; Sie laufen sonst nur Gefahr, weitere Unsicherheit und Schäden zu fremdem und eigenem Nachteil zu verursachen.

Viertens: Ergreifen Sie lediglich Maßnahmen, deren Folgen Sie verlässlich überblicken, die Sie jederzeit umkehren können und deren Schäden Sie – sollten diese eintreten – im Ernstfall aus eigener Kraft ersetzen können und wollen.

Fünftens: Reflektieren Sie, dass es (auch) anderen schlecht geht, dass diese anderen Menschen eigene Ängste haben, und sorgen Sie dafür, dass diese Menschen durch Ihr Verhalten keine neuen Ängste und Sorgen entwickeln.

Sechstens: Verschweigen und bestreiten Sie es nicht, wenn Sie Fehler begangenen haben; Unwahrhaftigkeit zerrüttet Gemeinschaften.

Siebtens: Seien Sie standhaft, konsequent und verlässlich für andere und zwingen Sie niemanden Ihren Willen auf, insbesondere da nicht, wo Sie die Lage selber nicht verstehen.

Eine neue Ordnung kann und wird erst dann entstehen können, wenn und wo die wechselseitigen negativen Emotionen besiegt sind, Ängste überwunden werden und ein Vertrauen in gedeihliches Zusammenwirken wieder vorgelebt wird.

Hinweis: Dieser Artikel erschien am 2. Juni 2023 zuerst auf freiheitsfunken.info.

Demokra- …. wie?

Auf der Couch mit Raissa
Schüßlburnova

Als ich Jura studierte, lernten wir in der staatsrechtlichen Lektion zuerst dies: Es interessiere nicht „die“ Demokratie schlechthin. Vielmehr sei nur jene von Bedeutung, die in unserem Grundgesetz konkret vorgefunden werde.

Jene grundsätzliche Festlegung zu Beginn hatte einen handfesten tagespolitischen Hintergrund. Frühgrüne Diskussionen über Elemente der direkten Demokratie, Plebiszite und das imperative Mandat beherrschten die öffentliche Diskussion. Warum, hieß es, solle nicht der Wähler jede Detailfrage politisch unmittelbar wählend mitbeantworten dürfen? Und was spreche dagegen, den Mandatsträgern gleich definitive Anweisungen auf den Weg der Legislaturperiode zu geben? Gegenstand unserer Hausarbeiten wurde unter anderem das sogenannte „Rotationsprinzip“, nach dem Bundestagsabgeordnete nicht die volle Wahlperiode einen Parlamentsplatz besetzen, sondern ihn (und folglich auch das damit verbundene Öko-Dienstfahrrad in Bundeseigentum) mit einem weiteren Gewählten in zwei Tranchen teilen sollten.

Die Frage, wie man zu bewerten habe, wenn sich eine Mehrheit – ganz demokratisch – dafür entschiede, die demokratischen Regeln abzuschaffen, wurde allenfalls noch in rechtsphilosophischen Veranstaltungen gestreift. Unter Hinweis auf die fortgeschrittene Unterrichtsstunde ging man dem nicht weiter nach. Man verwies lediglich auf die sogenannte „Ewigkeitsgarantie“ in Artikel 79 Abs. 3 des Grundgesetzes, derzufolge die Schöpfer desselben entschieden hatten, an dieses Thema dürfe – auf ewig – nicht gerührt werden. Nachfragen, ob denn die Ewigkeitsklausel auch rückbezüglich für ihre Anordnung selbst gelte, blieben lächelnd unbeantwortet. Schließlich fragt ein Theologiestudent auch nicht, ob Gott so allmächtig ist, daß er eine Mauer bauen kann, die so hoch ist, daß er selber nicht mehr darüberspringen kann.

Nun wissen wir allerdings aus anderen Disziplinen, daß es immer gerade die Grundlagenkrisen sind, die Fortschritt und Spannung versprechen. Auch jenseits der Wissenschaften erfreut nichts ein neugieriges Herz mehr, als das Erforschen von unbegangenem Terrain. Nur so entwickelt sich Schokolade von Vollmilch-Nuß zu Noisette-Basilikum-Gorgonzola, von gewissen indischen Körperbeherrschungs-Werken ganz zu schweigen.

Die jetzt bald zwanzig Jahre öffentlich nicht weiter geführte Debatte über das beste Verständnis von „Demokratie“ scheint nun jedoch unvermittelt neu aufzubranden. Die fundamentale Strickliesel vom einstmals bunten Sonnenblumenparteitag hat sich mit dem status quo verwoben. Doch nun werfen neue Player mit den rechtsphilosophischen Farbbeuteln der Kritik. Einerseits legt der Gesetzgeber selbst mächtig vor, indem er beispielsweise mit der Version SoundsovielPunktNull des EU-Verfassungsvertrages das Gleichheitsprinzip aus dem Wahlrecht verbannen möchte. Andererseits keimen literarische Stimmen auf, die jene gewachsene Gestalt unseres deutschen (und europäischen) Verständnisses von „richtiger“ Demokratie zu diskutieren beginnen. Und diese Diskussion kommt durchaus noch wuchtiger daher, als beispielsweise die Darstellungen Hans-Herbert von Arnims, auch wenn der in seinem Werk über den „schönen Schein der Demokratie“ schon mit schweren kritischen Geschützen aufgewartet hatte. Welchen Sinn, fragte er, habe eine Wahlkampfschlacht zwischen zwei Spitzenkandidaten, wenn schon von vornherein feststehe, daß zuletzt jedenfalls der eine direkt und die andere über eine Landesliste in das Parlament einziehen werde.

Unter dem Titel „Die letzte Wahl“ meldet sich nun der Berliner Schriftsteller Florian Felix Weyh zu Wort und stellt praktisch alles, was wir bislang über Demokratie wussten, neuerlich unter vollständigen Rechtfertigungszwang. Sein Ansatz ist zunächst noch zurückhaltend. Er spricht nicht selbst zu seinen Lesern. Statt dessen schickt er die fiktive Tochter eines fiktiven (und vorsichtshalber auch schon verstorbenen) Psychiaters in das demokratietheoretische Rennen. Die Therapeutentochter habe entschieden, die Notizen ihres Vaters über die letzte Angsttherapie seines Lebens zu veröffentlichen. In dieser habe sich die ebenso seelisch verwirrte, wie anonyme Mitarbeiterin eines Ministeriums („Wir beschäftigen uns mit Verkehr“) zur Inanspruchnahme professioneller Hilfe entschlossen, da sie ihre Angst vor dem Zusammenbruch unserer Demokratie nicht mehr beherrschen könne: „51 Prozent der Deutschen halten die Demokratie nicht mehr für die beste aller Staatsformen“.

Die eigene Distanzierung von dem, was dann auf knapp 300 Seiten folgt, war ihrem Boten ob der Wucht seiner Fragen jedoch auch mit diesem Kokon der multiplen Rahmenhandlungen noch immer nicht groß genug. Die literarische Tochter läßt er vorsorglich ergänzend klarstellen, sie empfinde immer wieder Unbehagen hinsichtlich der Notizen ihres Vaters, der sicher das ein oder andere nur niedergeschrieben habe, um „den Leser bewusst aus der Fassung bringen zu wollen“.

Dann folgt aus dem Notizbuch des toten Psychiaters eine haute couture der demokratietheoretischen Grundlagenkrise, wie sie wohl kein Jurastudent zuvor je gesehen hat. Die demokratieskeptische Ministeriale scheucht ihren Therapeuten quer durch ihre sämtlichen Zweifel am Mehrheitsprinzip. Und der hält wacker dagegen! Je lauter die Patientin ihre verfassungsrechtlichen Ketten gegen die Gitterstäbe der staatstheoretischen Axiome schlägt, desto kenntnisreicher pariert der Arzt und rettet er die Idee der Demokratie gegen alle ihre Angriffe. Denn zwar gelte, daß der, der die Regeln der Wahl bestimme, die Macht im Staat nach seinem Gusto verteilen könne. Dies aber bedeute nicht zugleich, daß alles Wählen per se in Zweifel gezogen werden müsse. Im Gegenteil! Es komme vielmehr darauf an, die großen Möglichkeiten der guten Wahl zu retten und zu nutzen. Der demokratische Streit müsse also darauf gerichtet werden, das beste Ergebnis in der gemeinsamen Wahl zu finden. Dies sei der Wandel, dessen unser Land zu seiner Gesundung bedürfe: „In jedem biologischen System beschert Anpassungsfähigkeit die größte Überlebensgarantie, Gemeinschaften mit starren Normen gehen langfristig unter. … Ein Land, dessen Grundordnung von parteigebundenen Beamten beschlossen wurde, steht dem politischen Wettbewerb oder dem Wandel naturgemäß misstrauisch gegenüber.“

Warum also nicht die parlamentarische Stimmgewalt eines Abgeordneten daran messen, mit wie vielen Stimmen er selbst dorthin gewählt wurde? Warum nicht die „absolute Mehrheit“ an der wahren Mehrheit aller messen, statt an der Mehrheit nur der abgegebenen Stimmen? Warum nicht die Wiederwahl von Abgeordneten generell verbieten? Warum nicht politisch Desinteressierte von dem Wahlrecht ausschließen? Denn: „Wähler in Deutschland machen sich mehr Gedanken über die Farbe ihres Autos, als über die Funktionsweise ihres Staates“. Warum kein Transfergeldzensus: no representation without taxation? Warum nicht per sms wählen oder via Internet die politische Entscheidungsgewalt auf den Souverän selbst rückverlagern?

So und ähnlich lauten insgesamt 40 „Heilungsversuche“ an einer „leidenden Demokratie“. Und sie sind allesamt mindestens so bedenkenswert, wie das beglückend menschenfreundliche Ziel, dem Parlament die Budgetrechte wieder abzunehmen. Kurz: Eine hervorragende, kenntnisreiche und literarisch tief verwurzelte Arbeit, deren Lektüre jedem Staatsbürger, mindestes aber jedem Juristen mehr intelligente und konstruktive Kritik nahebringt, als wohl jedes traditionelle staatstheoretische Lehrkompendium.

Im Nachhinein wird klar, warum der Autor sich vorsorglich hinter so vielerlei literarischen Hecken geduckt gehalten hat. Seine Kritik ist in der Tat ebenso gewaltig, wie intelligent. Während man im Wilden Westen meist gleich erschossen wurde, wenn man zuviel wusste, fliegt man zwar hierzulande bislang nur bei Kerner raus. Für Mitarbeiter von Verkehrsministerien gilt jedoch anderes. Sie unterliegen neuerdings einer strenger beobachtenden Skepsis, wenn sie zu viele Fragen stellen. Vielleicht weil sie von Berufs wegen ein Rechtsfahrgebot propagieren? Dabei gilt doch für die Treue zur Verfassung sicher nichts anderes, als für die eheliche Treue: Solange Du nur mit den Augen anfasst, bist Du ok. Dennoch mag sinnvoll sein, daß Florian Felix Weyh für seine demokratische Perestroika gleichsam eine feminisierte Variante des Neuerers auf die literarische Therapeuten-Couch legt, auch wenn wenig wahrscheinlich ist, daß die Sachwalter der political correctness sich durch die 800 Seiten von Schüßlburners brennenden Demokratietöpfen gegessen haben. Ich jedenfalls muß einräumen, es noch nicht im Detail vermocht zu haben.

In einem Torweg nahe des Geschäftes „Zaras“ kollidierte ich unterdessen mit einem kleinwüchsigen Mann, der auf der falschen Bürgersteigseite halb rennend um die Ecke gebogen war. Für etwaige Verletzungsfolgen und Schadensersatz übergab er mir, selbst Anwalt, eilfertig seine Visitenkarte. Wir kamen in ein Gespräch und „RA Thust“ fragte mich: „Glauben Sie eigentlich, daß Kerner ein Rechter ist? Welchen Sinn hätte sonst gemacht, Eva Herman diesen Auftritt zu verschaffen?“ Ich wusste nicht, was er meinte. Er stand genau vor mir. „Sehen Sie: Wenn wir beide je nach rechts unter diesem Tor hervortreten, dann verlassen wir es in unterschiedliche Richtungen.“ Nachdenklich wählte ich meine Seite.

Ein Globaldorf namens Globadolf

Warum eine Weltregierung kein Glück sein kann

Erfolgreiche Staatswesen neigen seit jeher dazu, sich selbst mindestens als Großreich, besser aber noch gleich ganz als Weltreich zu sehen. Der neubabylonische Herrscher Nebukadnezar II soll von sich selbst gesagt haben, die Eroberung ferner Länder vom oberen bis zum unteren Meer und die Erschließung schwierigster Pfade habe einzig dem Ziel gedient, sein Volk üppig gedeihen zu lassen. Dass er bei dieser Gelegenheit gleich auch noch alle Unbotmäßigen tötete, steht seinem sagenhaften Ruf nicht entgegen. Bis heute muß jeder, der eine Fünfzehnliterflasche Champagner trinken will, zuerst den „Nebukadnezar“ öffnen.

Schon zuvor hatten die alten Ägypter bekanntlich den Anspruch erhoben, mit ihren Pyramiden gleich das Ewige an der Spitze mit dem Irdischen am Fuße architektonisch zu verbinden. Eine Nummer kleiner geht es praktisch nie. Anschließend waren die assyrischen Herrscher emsig damit befaßt, ihr Reich entlang des Mittelmeeres zu vergrößern. Und unwahrscheinlich ist, dass Alexander der Große – dessen politische Ambitionen bekanntermaßen ebenfalls nicht durch Bescheidenheit imponieren – jenen Großreich-Gedanken erst nach Osten exportieren mußte. Die Maurya-Dynastie dürfte von alleine auf die Idee gekommen sein, den gesamten indischen Subkontinent zu einer politischen Einheit zu verbinden. Noch weiter östlich ging aus der chinesischen Qin-Dynastie die Han-Dynastie und somit letztlich das bis heute geeinte China hervor. Um ein Haar hätte also auf unseren Computern „Made in Hana“ statt „Made in China“ gestanden. Römer und Byzantiner spielten dasselbe Spiel der großen Reiche, Mongolen und Azteken kein anderes und gegen das Britische Empire nimmt sich das Großprojekt namens Sowjetunion kartographisch durchaus übersichtlich aus.

Man darf also vermuten, dass absolute Macht nicht nur absolut korrumpiert, sondern von Alters her auch absolut Lust auf absolute territoriale Größe verschafft. Der Reiz, ein Reich zu regieren, in dem die Sonne niemals untergeht, scheint menschlich unwiderstehlich. Dem sympathischen philosophischen Standpunkt des individuellen Kosmopolitismus steht folglich komplementär die politische Nachfrage nach erdkreisrunder Herrschaft zur Seite.

Während sich die Altvorderen allerdings wegen ihrer beschränkteren technischen Möglichkeiten noch mit einer verhältnismäßig begrenzten Beherrschung von Landmassen bescheiden mußten, greift unser unterdessen heliozentrisch avancierter homo sapiens globalis lieber gleich ganz in die Vollen. Mutmaßlich vor dem Hintergrund, dass alle vorherigen Weltreiche aus merkwürdigen Gründen allesamt stets kollabierten, schuf der ganz moderne Machtmensch sich zunächst den Völkerbund und dann die Vereinten Nationen. Der lose Staatenbund der Genfer Liga, der 1920 künftigen Wahnsinn wie den des ersten Weltkrieges verhindern sollte, wurde nach dem Ende des zweiten dann 1946 liquidiert. Aus seinen Schwächen wollte man bei Gründung der UNO 1945 lernen, weswegen man ihr vorsorglich gewisse eigene Rechte gegenüber ihren Mitgliedsstaaten einräumte. Aus Schaden, heißt es, wird man klug. Immerhin sympathisch an der UNO ist, dass sie in einem Theater gegründet wurde. Gerade wir Deutschen mit unserer Republik aus einem Zoo in Bonn und einem Verfassungsgericht aus dem Schauspielhaus in Karlsruhe wissen derlei aggressionsfreie Friedfertigkeit zu schätzen.

Gleichwohl können derlei weltumspannende Allmachts- und Allzuständigkeitsambitionen eines mehr und mehr autonom agierenden Völkerrechtssubjektes nicht völlig unkritisch hingenommen werden. Immerhin waren es just in dem gerade vergangenen Jahrhundert jene Weltherrschaftsphantasien, die die Menschheit wie nie zuvor in ihrer Geschichte erdkreisumspannend an den Rand der eigenen physischen Vernichtung getrieben haben.

Unvergessen ist der Totalitätsanspruch eines Trierer Philosophen, der nicht irgendwelche Proletarier zur kollektiven Vereinsbildung aufrief, sondern gleich alle – aus allen Ländern! Unvergessen ist auch, dass seine Moskauer Adepten im Projekt der Russischen Revolution gleichsam nur den Ausgangspunkt einer dann ausdrücklichen Weltrevolution sehen wollten. Und egal, ob man nach der Kommunistischen Internationale oder nach der Sozialistischen Internationale blickt: Ihr Anspruch richtet sich ebenfalls stets auf den ganzen Globus. Mithin können die unsäglichen Gesänge der finstersten deutschen Periode nicht erstaunen, als man am deutschen Wesen selbstverständlich am liebsten auch gleich die ganze Welt genesen lassen wollte.

So streben die bösen Herrscher dieser Erde also genau wie ihr ewiger Widerpart, der globale Gutmensch, stets nach dem weltumspannenden Einfluß, nach der ein und einzigen Generallösung für alle Probleme dieser Welt. Alles aus nur einer Hand – auf dass sie uns nie schlage.

Woher allerdings die naive Hoffnung rührt, jene globale Weltherrschaft aus einer monopolen Quelle müsse dann stets auch eine menschenfreundliche sein, erschließt sich beim besten Willen – und mit dem nüchternen Blick auf die Geschichte eben dieser Welt – gerade nicht. Im Gegenteil. Nicht nur die Traditionen des weiland politisch zerklüfteten Europas zeigen, wie sehr des Menschen Leben gerade dort am erträglichsten und erquicklichsten geriet, wo jeder einzelne die permanente Chance zur individuellen Sezession unter die Regeln eines anderen Herrschers hatte. Wie wäre es wohl den Opfern der UdSSR oder der nationalen Sozialisten unter Hitler ergangen, wären deren Reiche bereits weltumspannend gewesen? Was, wenn seinerzeit nicht zumindest die USA eine Fluchtmöglichkeit vor der Vernichtung geboten hätten?

Man mag der jüngsten päpstlichen Enzyklika nachsehen, dass sie auf globale Einigkeiten setzt. Alles andere wäre für eine Kirche, die sich selbst als „καθολικός“ definiert, greifbar widersinnig. Aber eine auf überindividuellen Konsens gegründete Gemeinschaft ist nun einmal etwas anderes als eine unitär-zwangsweise Weltherrschaft, die den Anspruch erhebt, eine einheitliche Weltrepublik zu errichten und die als ihr Fernziel gar eine Weltinnenpolitik erstrebt. Beseitigt man aber das Streitpotential am Maschendrahtzaun, wenn man mit dem ranzigen Nachbarn eine Wohnungseigentümergemeinschaft gründet?

Eine allgegenwärtige, globale Weltregierung ist augenscheinlich die Art von Machtphantasie, bei der nicht nur Figuren wie Alice Schwarzer terminologisch auf sexualmedizinische Begrifflichkeiten zurückgreifen sollten. Hier geht etwas, nüchtern gesprochen, massiv in die falsche Richtung. Jahrhunderte der rechtsphilosophischen Erkenntnis, dass Gewalt stets geteilt sein muß, drohen in monopolbesoffene Vergessenheit zu geraten.

Wer glaubt, er könne die ganze Menschheit mit einheitlichen Ideen global beglücken, der hat offenkundig weder verstanden, was individuelle Würde besagt, noch wozu das Design einer geballt und totalhierarchisch durchstrukturierten Weltstaatsgewalt fähig ist. Wie sollen die Interessengegensätze einer weltweiten Menschheit ohne eine Chance zu individueller Bewegungsfähigkeit in notfalls andere politische, kulturelle oder religiöse Rahmenbedingungen friedlich gelöst werden? Durch herrschaftsfreien Diskurs im UNO-Sicherheitsrat? Durch bedingungslose Unterwerfung aller Menschen unter die Protokolle der Weisen von Kyoto? Durch G7-Gipfel? Oder G-8? G-20? G-192? Oder am besten gleich G-6,8 Milliarden? Wo liegt der menschenfreundlichste G-Punkt der One-World-Völkerverständigung?

Wenn wir nicht aufpassen, regiert eines Tages ein Hugo Chavez unsere Welt. Oder ein Kim Jong-il. Oder ein Robert Mugabe. Dann können wir unser globales Dorf gleich umbenennen. In Globadolf.

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